Читать книгу Sogitta - Lea Dienhart - Страница 8

2. Kapitel

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Es dauerte nicht lange, da hatte das ganze Dorf beschlossen zu fliehen, denn die Drachen würden garantiert ein weiteres Mal angreifen. Jetzt war der Moment also gekommen! Die Drachenwelt versuchte, das Versteck des Schmieds aus den Einwohnern herauszuquetschen, denn auf ihn hatten sie es ja abgesehen, und Sogitta würde von nun an ein Dorf voller Angst und Furcht sein.

„Mama, wann kommt Papa wieder?“, schluchzte Lilla. Doch sie wusste, dass Agiza die Antwort auf ihre Frage ebenso wenig wusste wie das Mädchen selbst.

„Ach meine Lilla, ich weiß es nicht. Du musst tapfer sein, hörst du? Du musst schrecklich tapfer sein.“

Erst jetzt sah Lilla die tiefe Wunde in Agizas Bein, die ihr der Drache wohl mit dem Schwanz verpasst hatte. Agizas schmerzverzerrtes Gesicht versuchte ein klägliches Lächeln. Sie nahm die Hand ihrer Tochter, während sie das Salz ihrer Tränen schmeckte.

Lilla begriff. Sie begriff, dass ihre Mutter nicht mit den anderen zusammen fliehen würde. Sie begriff, dass es ihr dafür an Kraft fehlen würde.

„Lilla. Du musst tapfer sein. Du musst fliehen. Ich werde hier bleiben, Lilla. Sei tapfer!“

Da fiel Lilla ihrer Mutter in die Arme. Sie war sich sicher, dass Agiza es schaffen würde. Denn sie war diejenige, die tapfer sein musste! Und das würde sie auch sein. Irgendwann einmal, irgendwann würden sie alle drei wieder in Sogitta zusammensitzen. Alle drei! Lilla, Mama und Papa.

„Auf Wiedersehen, Mama! Sei tapfer, ich werde es auch sein!“

Agiza lächelte. „Was für eine tolle Tochter ich doch habe“, dachte sie und drückte Lilla einen fetten Schmatzer auf die Wange.

Schon bald begannen die Vorbereitungen für die Flucht. Die letzten noch übrig gebliebenen Lebensmittel wurden zusammengerafft und das letzte Wasser aus dem Brunnen geholt. Lilla bestand darauf, ihren Teddy in dem Schrotthaufen zu suchen, auch wenn jedes überflüssige Gewicht Fürchterliches verursachen könnte.

Der Weg ins Nachbardorf Fulmen war weit, es war heiß und die Vorräte waren knapp. Zwei Mäuse gab es in Sogitta an Haustieren, mehr nicht. Die Kinder wurden mithilfe der Erwachsenen auf die Rücken der Tiere gehoben. Sie durften zuerst reiten. Sechzehn Kinder drängelten sich allein auf einer Maus, auf der anderen waren es immerhin fünfzehn. Die Kinder, die noch übrig geblieben waren, mussten sich auf die Rücken der starken Männer setzen.

Lilla dachte an ihren Vater. Hoffentlich lebte er noch! In ihr stiegen wieder die Tränen hoch. Da! Der Startruf der kräftigen Männer ertönte und Lilla krallte sich mit beiden Händen im Fell der Maus fest, während sie verzweifelt versuchte, zu ihrer Mutter zurückzuschauen. Doch sie schaffte es nicht! Hinter ihr saßen noch elf andere Zwergenkinder, die ihr die Sicht versperrten.

Daher rief sie so laut sie konnte: „AUF WIIEDERSEEEHEN!“

Sie hörte die Antwort ihrer Mutter und merkte an ihren Rufen, wie schnell sie sich aus ihrer Heimat entfernten. Es tat Lilla in der Seele weh, ihre Mutter so alleine zurücklassen zu müssen, doch sie erinnerte sich daran, was Agiza ihr zum Abschied gesagt hatte: „Du musst tapfer sein, hörst du? Du musst schrecklich tapfer sein.“ Lilla biss die Zähne zusammen. Eine große Zwergenträne kullerte ihr die Wange herunter. „Auf Wiedersehen Mama“, flüsterte sie ein letztes Mal, „ich weiß, dass du es schaffen wirst!“ In Gedanken hörte sie ihre Mutter antworten: „Du hast recht! Ich weiß, dass ich es schaffen werde!“ Da schloss das Mädchen seine Augen und sank in einen tiefen Traum ...

Als Lilla wieder erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Erst jetzt bemerkte sie, dass außer ihr alle schliefen. Sie fragte sich, ob es nicht gefährlich sei, einfach so ungeschützt auf dem Langen Weg zu rasten. Sie blickte hinter sich. Da saß Rofon. Auch er schlummerte tief und fest. Wie lange sie wohl schon so da lagen?

Weiter hinten sah sie, dass auch einer der kräftigen Männer wach war. Lilla kletterte vorsichtig am Fell der Maus herunter und ging leise zu ihm.

„Entschuldige ...“

„Aaah! Musstest du mich so erschrecken, Kleine? Geh brav schlafen wie die anderen!“

„Ich kann nicht schlafen!“

„Pssst! Leise! ... Ich darf nicht schlafen. Ich bin zwergenmüde! Aber ich muss Drachenwache halten.“

„Lass mich wachen, du kannst schlafen!“

„Pssssst! Ich weiß nicht. Du bist ein Kind. Ich bin ein kräftiger Mann.“

„Ruh dich aus, dann kannst du auch Kinder tragen, wenn wir weitergehen! Wann gehen wir eigentlich weiter?“

„Die anderen haben gesagt, ich soll sie wecken, wenn die Sonne schon fast untergegangen ist. Pass auf! Halte du Wache! Wenn die Abenddämmerung beginnt, musst du mich wecken! Aber pass wirklich gut auf, sonst könnte es das Ende für uns alle sein!“

„Okay. Gute Nacht!“ Lilla war beeindruckt, dass ein so kräftiger Mann ihr vertraute. Sie setzte sich auf den Boden und betrachtete den Himmel. Irgendwie war es schön, die Verantwortung für ein ganzes Dorf zu tragen, aber irgendwie war es auch unheimlich. Lilla hatte immer gedacht, es gäbe keine Drachen. Früher hatte Papa ihr des Öfteren Geschichten über diese großen Ungeheuer erzählt. Lilla schluckte, als sie an Mazzo dachte. Sie hatte bislang geglaubt, er habe nur Spaß gemacht – jetzt aber wusste sie, dass sie sich wohl geirrt hatte.

Der Himmel war klar. Keine Wolke war zu sehen. Lilla schaute sich um. Hinter sich sah sie das Ende des Waldes, der zu Sogitta gehörte. Sie schauderte. Ein kalter Luftzug strich über ihre Beine. Einen kalten Luftzug an einem heißen Tag zu spüren, wenn man auf der Flucht ist und alle um einen herum schlafen, ist gruseliger als es sich anhört. Vor allen Dingen wenn ...

„Aaah!“ Lilla zuckte zusammen. Etwas hatte sie am Arm berührt! „Mensch Rofon! Du hast mich total erschreckt! Warum schläfst du nicht?“

„Du schläfst ja auch nicht!“

„Ich halte Drachenwache.“

„Darf ich nicht mit dir zusammen wachen?“

Lilla seufzte. Sie fühlte sich außerordentlich erwachsen. Ohne Eltern, weit entfernt von Sogitta ein fliehendes Dorf vor Drachen zu beschützen – das machte man schließlich nicht alle Tage. „Setz dich“, sagte sie so erwachsen, wie es der Papa immer tat, wenn ein Kollege kam.

„Es tut mir furchtbar leid für dich … die Sache mit Mazzo. Ich kann mir denken, wie du dich fühlst.“

„Nein!“

„Wie nein?“

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich fühle!“ Lilla wendete sich von Rofons Blick ab und schaute in den Himmel. „Keiner kann das!“

Da seufzte Rofon. „Du hast recht. Keiner kann das.“

Lilla merkte, dass Rofon weinte. Ihr war klar, dass es auch für ihn sehr schwer gewesen sein musste, sich von seiner Heimat zu trennen. Lilla bereute es, so grob mit ihm umgegangen zu sein. „Tut mir leid“, sagte sie und legte ihm den Arm um die Schultern, „ehrlich.“ Rofon blickte auf und hatte ein ganz verweintes Gesicht.

Ein trauriger Anblick war das! Überall schlafende, eng zusammen gepferchte Zwerge auf Mäusen oder auf dem heißen, sandigen Boden – und mittendrin zwei kleine weinende Zwergenkinder, die sich gegenseitig Mut machten. Was war das für ein trauriger Anblick!

Die Stunden vergingen kriechend langsam! Aber kein Drache ließ sich blicken. Das war Lilla auch ganz recht so. Neben ihr war Rofon erneut eingeschlafen, er hatte sich zusammengerollt wie eine Katze, nur war er viel kleiner.

Lilla dachte an ihre Mutter. Lilla dachte an ihren Vater. Lilla weinte, immer mehr! Sie nahm sich fest vor, die Drachen alle zu bekämpfen, sobald sie kamen! Sie wollte nicht mehr fliehen. Fliehen! Aus der eigenen Heimat! Nein. Doch nicht sie! Sie würde kämpfen, bis es nicht mehr ging, kämpfen, bis es keine Drachen mehr gab! Alles wollte sie tun! Alles – nur nicht fliehen!

Lilla wischte sich die Tränen mit einem Rockzipfel aus dem Gesicht. Sie musste sich beruhigen. Es war anstrengend sich aufzuregen, und sie durfte keine Kraft vergeuden. Denn Kraft brauchte ein Zwergenkind auf jeden Fall, wenn es sich ohne Eltern auf den Weg zu einem neuen Zuhause machte. Eine Menge Kraft! Kraft und Mut.

Langsam wurde es dunkler auf dem Langen Weg. Die Sonne musste zu Bett gehen. Während Lilla das dachte, lächelte sie ein bisschen. Es war albern sich vorzustellen, wie der Mond der Sonne befiehlt, sich schlafen zu legen. Aber es tat gut.

Lilla weckte Rofon. „Rofon! Aufwachen! Wir müssen weiter!“ Sie lief zu dem eigentlichen Drachenwächter und weckte auch ihn auf. Lilla fiel jetzt erst ein, dass es von den Bürgern doch eine schlechte Idee gewesen war, nachts zu laufen. Dann war es doch ganz dunkel! Aber immerhin war es der Entschluss vieler Zwerge, die sich bestimmt etwas dabei gedacht hatten.

Es dauerte nicht lange, bis der Kräftige alle aufgeweckt hatte. Er half Lilla, Rofon und den anderen Zwergenkindern auf die Maus, dann ging es auch schon weiter.

Lilla war sehr müde, genau wie während der ersten Etappe, aber dieses Mal schlief sie nicht. Sie fühlte sich wesentlich besser als am Tag zuvor. Schön kühl war es, anders als tagsüber. Das spürte man schon deutlich, obwohl die Sonne ja noch gar nicht ganz untergegangen war. Lilla drehte sich um. Das lächelnde Gesicht von Rofon gab ihr neue Hoffnung. Genauso hatte er gelächelt, als sie sich das erste Mal gesehen hatten. Da waren beide noch kleine Zwergenbabys gewesen. Wie groß sie jetzt schon waren! Lilla war beeindruckt. Damals hätte sie niemals gegen einen Drachen gekämpft. Damals hatte sie mit ihrem Teddy gekämpft und Rofon hatte zugeguckt. „Toll max tu tas!“, hatte er immer gesagt und gelacht. Und sie hatte immer geantwortet: „I kämpema gege di großte Drakse von der Welt!“ Sie waren immer schon sehr gute Freunde gewesen. Und jetzt kämpften sie nicht mehr nur gegen Teddys, jetzt kämpften sie tatsächlich gegen die Angreifer von Sogitta! Gegen echte, große, starke Drachen!

Lilla aber vermisste die unbeschwerte Zeit sehr, in der sie sich um nichts hatte kümmern müssen. Sie dachte daran, dass sie und Rofon dieses Jahr noch eingeschult werden sollten. Und jetzt? Würden sie im Nachbardorf die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen? Lilla kam sich wirklich schon etwas zu groß für den Kindergarten. Obwohl man üblicherweise, und so auch in Sogitta, in Zwergendörfern das letzte Jahr Kindergarten zum Lesen und Schreiben lernen nutzte. Wieder musste sie an Rofon denken und es fiel ihr schwer, den Blick von ihm abzuwenden. Aber dennoch tat sie es.

Man sah immer noch die letzten Strahlen der Sonne. Lilla wollte nicht schlafen. Sie dachte daran, wie sie zu Hause immer gebettelt hatte, länger aufbleiben zu dürfen. Sie spürte die Schweißperlen der Maus in ihren zitternden Händen. Sie spürte die Steine, die sich durch die Pfoten des Tieres bohrten. Wie schwer es für diese kleinen Wesen sein musste, von einem Tag auf den anderen ein Reittier zu werden! Eigentlich mochte Lilla Mäuse nicht besonders. Doch an diesem Abend hatte sie Mitleid mit den Tieren.

Vor sich sah sie das Licht der Fackeln, welche die kräftigen Männer in ihren Händen trugen. Rechts und links konnte man schemenhaft die Umrisse der Blassen Steppe erkennen. Der Steppe, die Sogitta vom Nachbardorf Fulmen trennte.

Irgendwann meinte Lilla, Rufe gehört zu haben. Ihr fielen fast die Augen zu, nur mit großer Mühe konnte sie es verhindern. Plötzlich fiel ihr auf, dass sich etwas verändert hatte ... doch sie wusste nicht, was. Hinter ihr saß Rofon und zählte die Steine, über die die Maus lief. Und jetzt auf einmal wusste Lilla, was hier falsch war!

„HAAAALT!“, schrie sie aus voller Kehle, „AAANHAAALTEEN!“

Es war die Maus! Natürlich!

Die Rufe! Lilla hatte sich nichts eingebildet. Es war eindeutig! Die Maus, die hätte hinter ihnen sein sollen, war nicht hinter ihnen! Es war kein Getrampel war mehr zu hören!

„STOOPP! SO HALTET DOCH AAN!“

Als keine Reaktion kam, sprang Lilla ab. Ja! Sie sprang von einer laufenden Maus ab! Was wohl Agiza gesagt hätte, wenn sie das gesehen hätte! So schnell ihre kleinen Zwergenbeine sie trugen, lief sie nach vorne zu den kräftigen Männern. „So wartet doch!“, schrie sie. „Wir haben die Maus verloren! Die zweite Maus ist nicht mehr hinter uns!“

Endlich blieben die Männer stehen. „Was sagst du da? Die Maus folgt uns nicht mehr?“

Lilla blickte in ein Gesicht, das sie ernst musterte. Es war der Drachenwächter, der sie angesprochen hatte. „Jawohl!“

„Männer!“, schrie der Zwergerich. „Wir kehren um! Los!“

„Bist du noch gesund, Florlep?“, rief ein kräftiger Mann weiter vorne. Und ein anderer: „Warum sollten wir umkehren, Florlep?“

„Eine Maus folgt uns nicht mehr, Sir! Alle Zwerge umdrehen!“

Ja, und was nun passierte, kann man sich ja denken. Alle Bürger machten auf der Stelle kehrt, um die vermisste Maus zu finden. Sie mussten nicht lange laufen – schon bald sahen sie sie. Die Maus lag mitten auf dem Weg, ihre vier Pfoten von sich gestreckt. In diesem Moment sagte niemand mehr etwas. Selbst die Kräftigen wagten es nicht, die Stille zu durchbrechen. Um die bewegungslose Maus herum saßen, lagen und standen Zwergenkinder.

„Sie ist tot!“, rief eines verzweifelt. „Sie ist einfach zusammengebrochen! Ich hab schon vorher gemerkt, dass sie nicht mehr laufen kann, aber ich dachte, das ist normal. Und jetzt ist sie tot! Ich bin schuld!“

Florlep setzte sich neben das kleine Zwergenkind. „Dieses Unglück konntest du nicht vorhersehen“, versuchte er es zu beruhigen. „Du kannst nichts dafür. Vielleicht ist sie ja auch gar nicht tot, sondern nur sehr erschöpft.“ Doch er irrte sich – leider.

Mit ernster Miene trugen die Männer die Maus an den Wegesrand.

„Lasst uns schnell weitergehen! Wir haben keine Zeit zu verlieren“, sagte einer.

Jetzt hatten sie also für den Rest des weiten Weges nur noch eine einzige Maus. Der kräftigste aller Zwerge bestand jedoch darauf, diese Maus erst einmal nicht zu reiten. Alle waren einverstanden, sie wollten nicht noch die letzte Maus verlieren. Der alte Jusche vom ehemaligen Obst- und Gemüsehandel weinte ein paar bittere Tränen. Die tote Maus war seine Hausmaus gewesen.

Von dem Moment an wurde der Marsch um vieles schwerer. Die kleinen Zwergenkinder klagten teils über verstauchte Füße oder Müdigkeit. Sie kamen viel langsamer vorwärts. Eine Stunde war es nun her, dass Lilla ihre Drachenwache beendet hatte. Die Nacht war mittlerweile stockfinster geworden, denn der Mond, der eigentlich die Pflicht gehabt hätte zu leuchten, hatte sich hinter einer großen Wolkenwand verborgen. Die Einwohner Sogittas setzten ihren Weg in dieser Nacht mit nicht mehr Licht als allein dem einer schwachen Fackel fort. Lilla malte sich aus, wie es wohl enden würde, wenn die Fackel erlosch. Nein! Sie wollte es sich lieber nicht vorstellen. Lieber nicht! Sie wollte lieber an das Nachbardorf denken. Dort würden sie nach einem Unterschlupf fragen und hoffentlich würde es für sie die Möglichkeit geben, sich bei Rofon und seinen Eltern mit einzuquartieren. Das Mädchen wollte auf keinen Fall in ein Heim. Sie hatte Angst, dass man sie gegen ihren Willen in eines stecken würde.

Nach einer Zeit, die Lilla schrecklich lang vorkam, durften einige Kinder wieder auf der Maus reiten. Der andere Teil kam beim nächsten Wechsel an die Reihe. Lilla musste auf den Mäuserücken verzichten, während Rofon den Platz vor allen anderen am Mäusekopf einnahm. Lilla ging neben den kräftigen Männern und den anderen Kindern her. Ihr Magen knurrte! Aber sie wollte nicht fragen, wann es etwas zu essen geben würde, sie wollte erwachsen, groß und stark sein! Nicht quengelig!

Es fiel Lilla schwer, so erwachsen zu sein, doch noch schwerer fiel es ihr daran zu denken, dass sie ganz alleine war. Die Mutter zurückgelassen in Sogitta und der Vater entführt von Drachen. Wie sehr sie sich jetzt nach ihrem Zuhause sehnte! Sie würde vielleicht sogar freiwillig spülen!

Die Nacht kroch elendig langsam vorbei. Lillas Füße brannten, und auch die anderen, Kinder wie Erwachsene, quälten sich mit jedem Schritt, den sie zurücklegen mussten. Zum Glück war die Zeit des Mauswechsels bald gekommen. Aber Rofon würde sich dann den gleichen Qualen aussetzten müssen, welche Lilla endlich hinter sich gebracht hätte.

Neben ihr lief Tolla, die Tochter des Bürgermeisters. Sie war ein Jahr älter als Lilla. Tolla war auch schon sehr erwachsen. Nicht nur, weil sie schon seit einem Jahr in die Schule ging, nein, auch weil sie mit den kräftigen Männern mitgegangen war. Den ganzen Weg! Sie war noch nicht geritten! Aber Lilla konnte sie dennoch nicht leiden. Sie wollte bloß vor den Kleineren angeben!

„Na, Kleine“, sagte sie plötzlich zu Lilla.

Diese erwiderte nichts darauf. Mazzo hatte ihr immer gesagt: „Wenn jemand etwas Falsches sagt, ohne zu wissen, dass es falsch ist, musst du diskutieren. Wenn jemand dagegen absichtlich falsche Behauptungen macht, so ignoriere ihn!“ Lilla hatte keine Lust sich mit Tolla zu unterhalten. Hinter sich hörte sie, wie Tolla fragte, ob sie denn froh sei, endlich wieder reiten zu dürfen. Lilla ärgerte sich! Trotzdem nahm sie sich vor, nicht mehr auf Tolla zu achten.

Das war leicht, denn in dem Moment kündigte der Kräftigste einen Wechsel an. Lilla fiel ein Stein vom Herzen. Endlich durfte sie sich ausruhen! Schnell lief sie zu der Maus, um noch einen guten Platz auf ihrem Rücken zu ergattern. Doch sie war die Letzte, die aufsteigen durfte! Der Mäusehintern war wirklich der unbequemste Platz auf einer Maus. Kaum saß Lilla, ging die Maus schon weiter. Lilla fragte sich, ob sie eher verhungern oder von der Maus herunterfallen würde.

Zuerst einmal aber schlief sie ein. Und fiel in einen ganz tiefen Schlaf. Sie träumte, dass hinter ihrem Rücken plötzlich Wegmonster auftauchten und sie wütend zerkratzten, verprügelten und schließlich fraßen!

Lilla schaukelte wild auf dem Hintern der Maus hin und her. Sie schwitzte im Schlaf. Im Magen des Monsters schrie Lilla wie wild herum, sie kratzte, biss und schlug verzweifelt um sich.

Plötzlich spürte sie einen Ruck! Es war, als würde sie fliegen. Doch schon landete sie wieder. Auf dem Boden! Lilla schlug die Augen auf. Ja! Sie lag wirklich auf dem Boden! Vor sich sah sie die Maus laufen und hinter sich spürte sie gähnende, unheimliche Leere! Ihre Kleider waren verschwitzt.

Plötzlich meinte sie, etwas zu hören. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Mit angsterfülltem Blick sah sie verzweifelt zu, wie die Maus sich immer weiter entfernte! Hinter ihr schienen die Monster immer näher zu kommen! Näher und näher und NÄHER!

„AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAh!“

Lillas Schrei verdampfte wie Nebel im Nachthimmel. Sie zitterte an allen Gliedern, sie atmete ruckartig wie eine Dampfmaschine und ihr Herz veranstaltete einen Sprintwettbewerb! Aber nicht nur ihr Herz. Auf einmal konnte sich Lilla wieder bewegen. Sie rannte schneller als jemals zuvor! Sie schrie lauter als jemals zuvor und jagte den Langen Weg entlang. Es war schrecklich! Die rabenschwarze Nacht nahm ihr den Atem. Sie war der einzig leuchtende Fleck in der Dunkelheit. Sie rannte und rannte und rannte! Immer und immer schneller! Bis sie schließlich nach einer Wegbiegung die Maus wieder erblickte. Doch noch war diese sehr weit entfernt. Lilla rannte die letzten Meter in Rekordzeit, wobei ihr Hals schmerzte. Sie hatte Angst, bei dem nächsten Meter, den sie laufen musste, in sich zusammenzubrechen. Lilla spürte ihre Beine kaum! Fast war sie angekommen. Es waren nur noch ein paar Schritte, ein paar schmerzhafte Schritte, die das Mädchen zurücklegte, bevor sie, so in Fahrt, wie Lilla gerade war, sich mit ganzer Kraft vom Boden abstieß und auf den Mäuserücken sprang. Vor ihr fragte jemand: „Wo warst du?“ Doch Lilla hörte es nicht mehr. Sofort schlief sie erschöpft ein.

Zur gleichen Zeit kämpfte Rofon damit, beim Laufen nicht schlappzumachen. Er hatte von alledem, was mit Lilla geschehen war, nicht das Geringste mitbekommen. Ihn quälten seine schmerzenden Füße und sein riesiger Hunger. Trotz allem war er stolz auf sich, denn er hatte die Führer dazu überreden können, bei Anbruch des Tages eine Essenspause einzulegen. Und diese zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang würde er schon noch durchhalten. Denn zwei Stunden waren nur ein Sekündchen verglichen mit dem, was schon geschehen war und noch kommen würde! Rofon freute sich! Rofon freute sich, weil der Tag nahte.

Dazu muss man wissen, dass ihn ohnehin schon immer eine riesige Angst vor der Dunkelheit plagte. Vor einigen Jahren, als er mit Lilla im Kindergarten übernachten durfte, hatte er sämtliche Kinder und Erzieher nachts geweckt. Alle hatten ihn ausgelacht, bis auf Lilla. Rofons Eltern mussten mitten in der Nacht kommen, um ihren Sohn abzuholen. Er hatte sich damals in Grund und Boden geschämt! So klein hatte er sich gefühlt.

Doch anders als Lilla fühlte er sich auch jetzt verdammt klein! Wie er dort wanderte, zwischen all den kräftigen Männern. Wie er floh vor den größten Ungeheuern der Welt. Mal ganz ehrlich, war er bei der Flucht zu irgendetwas nütze? In diesem Augenblick konnte Rofon ja nicht ahnen, dass ihn alle Bürger Sogittas später einmal mehr als nur nötig haben würden. Rofon tauchte aus seinen Gedanken auf. „Die Sonne!“

Tatsächlich! Im Osten konnte man blasse rötliche Streifen sehen. Es war die Sonne! Rofon vergaß seine müden Beine. Er sprang durch die Gegend und machte auf dem harten Boden Radschläge und Purzelbäume! Es war ein wunderschöner Sonnenaufgang. Die matten roten Strahlen verfärbten sich orange und gelb, und es wurden immer und immer mehr. Der Aufgang der Sonne schien nicht nur für Rofon ein Neuanfang zu sein. Hunderte kleiner Blümchen hier und da öffneten ihre Blüten und blicken gierig in das Licht der Sonnenstrahlen. Über ihren Köpfen sangen zahlreiche Vögel.

„Essenspause!“, rief ein Kräftiger von vorne, was zur Folge hatte, dass Rofon auf ihn zulief und ihn umarmte. Verlegen schaute der Zwergenmann dem Jungen nach. „Komischer Knabe“, murmelte er kopfschüttelnd.

Rofon hingegen war hellauf begeistert. Die Männer hatten schon bald alle Reste der Lebensmittel auf dem Boden ausgebreitet. Rofon lief zu Lilla, um sie zu wecken. Lilla war nicht die Einzige, die auf der Maus geschlafen hatte. Doch alle waren schnell wach zu kriegen, mit der Nachricht, dass es nun Essen geben würde.

Nach dem Essen starteten die Zwerge und Zwerginnen mit neuer Zuversicht in den Tag. Jetzt sollten wieder alle wandern, damit die Maus sich ausruhen konnte.

Lilla unterhielt sich ein bisschen mit Rofon. „Glaubst du, wir kommen noch in dieser Nacht an?“, erkundigte sie sich bei ihrem Kumpel, während die junge Zwergin mit ihren braun-roten Haaren herumspielte.

„Weiß nicht.“ Rofon schaute Lilla nicht an. Sein Blick klebte an seinen zerlaufenen Schuhen. Hier und da hatten sie Löcher, so groß wie Pflaumenkerne.

„Was glaubst du, wann wir ankommen?“

„Weiß nicht. Vielleicht morgen.“ Er beobachtete jeden seiner Schritte, während er Lilla seine nicht unbedingt vielsagende Antwort gab. Als sie in Sogitta aufgebrochen waren, waren die mittlerweile vom Staub der Steppe bedeckten Schuhe noch ganz neu gewesen. Nun fühlte er sich wie ein armer Zwergenjunge ohne Geld, ohne Essen, ohne Besitz.

Lilla merkte, dass Rofon wohl nicht die allergrößte Lust hatte, sich zu unterhalten. Sie sah, wie er zu seinen Eltern ging, die ihm liebevoll über den Kopf wuschelten. Wie gerne wäre auch sie jetzt bei ihren Eltern gewesen. Neben ihr war bloß diese Blasse Wüste soweit das Auge reichte! Nur am Wegesrand standen – aufgereiht, wie von einem Gärtner gepflanzt – gelbe, blaue, grüne, türkise, rote und rosa Blümchen.

Die Sonne brannte den Zwergen auf die Köpfe. Schweißperlen tropften von ihren Gesichtern. Tolla pflückte Blumen, um sich einen Sonnenschutz zu flechten. Eigentlich mochte es Lilla gar nicht, anderen etwas nachzumachen, schon gar nicht, wenn diese so arrogant waren. Doch schließlich lief auch sie zu den Blumen und pflückte sich welche.

Man muss bedenken: Das Dorf Sogitta war zwar nicht groß, aber es hatte doch mindestens hundert Einwohner. Bald hatte fast jeder von ihnen einen Sonnenschutz, nur die kräftigen Männer und ein paar kleine Jungen wollten nicht. Sie meinten, Blumenkränze seien nur etwas für Mädchen.

Lilla dachte: „Sind sie doch selbst schuld, wenn ihnen die Sonne bald ein Loch in den Kopf brennt!“

Es sah sehr witzig aus – wie auf einer großen Hochzeit, bei der ein ganzes Dorf eingeladen war! Die fünf kräftigen Männer gingen mit zwei Jungen ohne Kopfbedeckung ganz vorne. Dahinter folgten die 90 großen und kleinen, dünnen, dicken und kugelrunden Zwerge und Zwerginnen. Jeder mit einem Blumenkranz auf dem Kopf. Der Bürgermeister war so stolz auf seine Tochter, dass er den kräftigen Männern befahl, sie zu tragen. Jetzt sah es noch komischer aus!

So wie es aussah, ging es aber ganz und gar nicht zu auf dem Langen Weg … Die Kräftigen beschimpften den Bürgermeister lauthals, weil er ihnen die zusätzliche Anstrengung aufgebrummt hatte, seine Tochter zu tragen!

Lilla stimmte den Männern zu. Es war wirklich eine Frechheit, den stärksten Zwergen ihre Kraft nicht für den Weg zu gönnen. Irgendwann wurde dem Bürgermeister diese Meckerei dann doch zu viel. Er ließ seine Tochter wieder selbst gehen. Tolla war – wie nicht anders zu erwarten – danach nicht gut auf ihren Vater zu sprechen.

„Armer Bürgermeister“, dachte Lilla. Doch wie sollte das Mädchen denn anders werden, wenn er sie dermaßen verwöhnte. Lilla suchte Rofon zwischen all den Wandernden. Ah! Da war er! Jetzt sprach er mit Krolle. Lilla beschloss kurzerhand, zu den beiden zu gehen.Die Jungen gingen etwas abseits von den anderen, Lilla sah, wie Krolle sich zu ihr umdrehte.

„Hallo Krolle! Na, wie findest du diese Wanderung?“

Krolle war eigentlich ein begeisterter Wandersmann. „Öde“, sagte er. „Die Sonne brennt und mein Sonnenschutz ist kaputt.“

„Mach dir doch einen neuen“, schlug Lilla vor, merkte aber sofort, dass es dumm gewesen war, das zu sagen. Am Wegesrand standen keine Blumen mehr! Sie gingen auf einem Weg, der nur noch von Steppe umgeben war! „Nimm meinen.“ Lilla nahm ihren Kranz vom Kopf und hielt ihn Krolle entgegen.

Dieser zögerte.

„Nun nimm schon!“

Schnell griff Krolle nach dem Kranz und setzte ihn auf. Seine Gesichtsfarbe verwandelte sich rötlich. Dankbar sah er Lilla an und brachte aber nur ein klägliches „Danke“ zustande.

Lilla konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Beschämt wandte Krolle sich ab. Wie peinlich! Lilla ließ die beiden alleine. Sie mochte es nicht, wenn jemand so rot war.

Sogitta

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