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Fernweh
ОглавлениеDas Rauschen des Meeres hörte sich in seinen Ohren an wie Donnergrollen. Vor
seinem geistigen Auge sah er die riesigen Wassermassen, die sich an den Felsen
brachen und wieder neu sammelten. Unter seinen Füßen spürte er den körnigen Sand.
Kleine Steinchen, über Jahrtausende oder gar Jahrmillionen hinweg zu kleinstem
Staub verarbeitete Partikelchen. Und das alles sollte mithilfe des Meeres vor ihm
geschaffen worden sein. Er spürte, wie seine Füße an Halt verloren und er nach
hinten taumelte. Nur ein ganz kleines bisschen. Dann hatte er sein Gleichgewicht
wiedergefunden. Vielleicht war es auch nur Einbildung gewesen. Doch da kam auch
schon die nächste Welle und spülte einen Teil des Sandes unter seine Füßen hinfort,
sodass er tiefer und tiefer sackte und sich seine Füße allmählich im Sand vergruben.
Bis zu den Knien war ihm das klare, blaue Meerwasser gespritzt, dessen Salz er
schon beim bloßen Einatmen der Luft schmecken konnte. Er wartete. Er atmete tief
ein und aus. Zu früh, um die Augen zu öffnen. Er wollte das hier genießen, er wollte
einfach da sein, ohne sich über das Gedanken zu machen, was er gehört hatte. Was
die Leute schon alles reden… Sein Hirn hatte er mittlerweile so gut wie
ausgeschaltet. Es war, als würde er im Stehen schlafen. Durch diesen
tiefenentspannten Zustand, in den er gefallen war, hatte er jegliches Zeitgefühl
verloren. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon mit geschlossen Augen an dem
kleinen Badestrand an der Westküste von Sousiz gestanden und dem Atem der
Wellen gelauscht hatte. Wenn da überhaupt etwas war, um das er sich gerade
Gedanken machte, dann war das seine Sorge um die Möwen, die hoch über seinem
Kopf kreisten. Bei meinem Glück, dachte er sich, kriege ich am Ende noch einen auf
den Kopf gekackt. Nach und nach schien es Jonas, als würde das Donnern der Wellen
in unregelmäßigen Abständen immer lauter und lauter werden, bis er schließlich
bemerkte, dass er nicht nur unten, bis zu seinen Knien, sondern am ganzen Körper
nass war. Seine Beine waren durchweicht vom salzigen Meerwasser, sein Oberkörper
von dem Regen, der urplötzlich in Sturzbächen auf ihn herab prasselte. Es war schon
den ganzen Tag lang verdächtig schwül gewesen und so war es eigentlich nur eine
Frage der Zeit gewesen, bis das nächste Sommergewitter hereinbrach. Jonas öffnete
die Augen. Die ehemals ruhige See lag jetzt vor ihm wie ein sich gegen den Himmel
aufbäumendes Tier. Dort oben zuckten grellweiße Blitze und fanden in den
gewaltigen Wassermassen ihren Tod. Die Wolken waren dunkellila verfärbt und alles
in allem sah es aus, als wäre diese Landschaft einzig und allein dazu kreiert worden,
sich an ihr zu erfreuen und über sie zu staunen. Allerdings hatte dieses Schauspiel
seinen Preis. Langsam wurde es ungemütlich. Der Regen war nun nicht mehr
lauwarm, sondern kalt. Und Jonas wurde auch kalt. Kurzentschlossen wandte er den
Wellen den Rücken zu und rannte über den Strand auf ein kleines, mit Holzbalken
erhöhtes und an der Westseite mit einer Eiche gesäumtes Ferienhaus zu. Seine
Schwester sah ihn schon von Weitem. Lisa stand auf der überdachten Terrasse, die
Haare offen und in ihrem Sommerkleid, das nun vom Wind aufgeblasen wurde,
sodass sie aussah wie ein lila Luftballon. Mit ihrem Kopfschütteln kommentierte sie
Jonas Wiederkehr, der auf dem Weg zum Haus noch einmal ausgerutscht und mit
dem Gesicht voran in den nassen Sand gefallen war und sich jetzt mühsam die paar
Stufen zu ihr hoch quälte. „Du stehst da jetzt schon seit einer Stunde. Das Gewitter
wütet aber schon seit fünfzehn Minuten. Hast du das denn nicht gemerkt?“, fragte sie
statt einer Begrüßung. Jonas zuckte mit den Schultern. Es war ihm ziemlich egal.
Sollte sie doch denken, was sie wollte. Ihm für seinen Teil tat es gut, seinen Körper
endlich einmal wieder zu spüren. Die Kälte, die langsam in seinen Gliedmaßen hoch
kroch, die durch den Sand aufgescheuerten Knöchel und die pitschnasse Kleidung,
die an seiner nackten Haut klebte. Es war die willkommene Abwechslung zu den
endlosen Shoppingtouren, Museumsbesuchen oder heißen, faulen Strandtagen, die
hinter ihm lagen. Endlich mal wieder Natur erleben, dachte er. Es erinnerte ihn an
früher. Genauer gesagt an das letzte Schuljahr, als er mit seinen Freunden Hedwig,
Leo und Marie von einer brenzligen Situation in die andere gestolpert war und etliche
Nächte unter freiem Himmel, fernab der Zivilisation, verbracht hatte. Da war das hier
etwas ganz anderes. Seine Tante, Professor Tyra Ferono, Schulleiterin eines
berühmten Internats namens Firaday, hatte ihm und seiner Schwester versprochen,
mit ihnen in den Urlaub zu fahren. Und zwar wie richtige Touristen. Vorbei mit
Abenteuern und Aufregung. Entspannung wir kommen. Mittlerweile war Jonas in das
Wohnzimmer des kleinen Häuschens getreten, das an einer Seite riesige Fenster hatte,
durch die er das Naturschauspiel draußen weiter beobachten konnte. Er schnappte
sich ein auf dem Sessel liegendes Handtuch und rubbelte sich damit ab, ohne sich
vorher auszuziehen. Dann öffnete er den Küchenschrank und schnappte sich ein paar
große, einzeln verpackte Schokoladenkekse. Er wollte sich gerade mit seinen immer
noch triefend nassen Klamotten auf das Sofa fallen lassen, als Lisa ihn missbilligend
musterte. „Du wirst fett, wenn du weiter so viel futterst.“, sagte sie mit einem
unwilligen Stirnrunzeln. „Bin ich eh schon.“ Jonas legte die Kekse jetzt beiseite und
ging Richtung Bad, um sich nun doch noch neue Kleidung anzuziehen. „Geht´s dir
eigentlich gut?“, rief Lisa ihm noch hinterher. Sie machte sich Sorgen um ihren
kleinen Bruder. Zwar hatte die Erholung der letzten Wochen ihm gutgetan, aber da
war etwas, das ihm schwer zu schaffen machte. Es nagte an seiner sonst so
fröhlichen, offenen Art und hatte ihn nun schon so manches Mal dazu getrieben, sich
stundenlang zu verkriechen ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Früher wäre
das undenkbar gewesen. Damals war er ein richtiges kleines Plappermaul gewesen.
Das war er auch noch immer, aber irgendwie schien er sich zu verändern. Er nahm
nicht mehr mit der gleichen Begeisterung an Familienausflügen teil wie noch vor ein
paar Jahren. Manchmal hatte sie den Eindruck, er würde am liebsten alleine irgendwo
hingehen, ohne sie und seine Tante noch weiter ertragen zu müssen. Auf ihre Frage
erhielt Lisa auch nach einigen Sekunden der Stille wie selbstverständlich keine
Antwort. Noch so eine Macke, deren Entwicklung sie ihm nie zugetraut hätte. Jonas
hatte sich da in irgendetwas verfangen…
Ein paar Stunden später, als das Gewitter längst vorüber war und auch die nassen
Fußabdrücke, die er überall in der Wohnung verteilt hatte, nicht mehr zu sehen
waren, saß Jonas mit seiner Tante und Lisa am Tisch und öffnete einen an ihn
adressierten Umschlag. Die beiden Frauen aßen Mittagessen, aber er hatte keinen
Hunger. Zumindest nicht auf Salat. Der Brief, den er in den Händen hielt, stammte
von Leo, seinem besten Freund. Staunend strich Jonas über die Anschrift des
Absenders und die fremd aussehende Briefmarke, mit der er den Brief versehen hatte.
Das waren also Dinge aus der anderen Welt. Leo lebte in einem Land namens
Deutschland, von dem Jonas vorher noch nie etwas gehört hatte. Sein Heimatland Iria
war zusammen mit ein paar anderen Länder schon seit hunderten von Jahren vom
Rest der Welt abgeschnitten und er hatte keine Ahnung, wie die Piloten der
Flugzeuge, die die Schüler immer zu Ferienbeginn und -ende zwischen Iria und der
anderen Welt hin- und herflogen, das bewerkstelligen konnten. Aber er hatte sich
vorgenommen, irgendwann hinter dieses Rätsel zu kommen. Kurz darauf hielt er ein
liniertes Blatt Papier in den Händen, das aussah, als sei es aus einem Schulblock
gerissen worden. Der linke Rand war unsauber abgetrennt und an einigen Stellen
hing noch der Papierstreifen mit den kleinen Löchern, die eigentlich dazu bestimmt
waren, die einzelnen Blätter an einen Ringhefter zu binden. Er erkannte Leos
Handschrift sofort wieder und fing gespannt an zu lesen.
Hallo Jonas,
ich dachte, ich sollte mich mal wieder bei dir melden. Ich hoffe, du
hast schöne Ferien und deine Familie treibt dich nicht zu sehr in den
Wahnsinn. Meine nervt mich nach wie vor, aber seit letztem Jahr ist
die Situation bei uns zu Hause viel besser geworden. Du kannst dir gar
nicht vorstellen, was für Augen meine Brüder gemacht haben, als ich
angefangen habe, ihnen von all unseren Erlebnissen zu erzählen. Ich
glaube, sie waren sogar ein ganz kleines bisschen neidisch. Jedenfalls bin
ich jetzt dank dessen, was passiert ist, hier zu Hause eine Art Held.
Und als diesen respektiert mich sogar meine kleine, aufmüpfige
Schwester! Außerdem habe ich langsam kapiert, dass ich mich nicht von
ihr beeinflussen lassen muss. Es ist unglaublich, aber es gelingt mir
mittlerweile immer besser sie zu ignorieren, auch wenn sie mir von früh
bis spät mit glitzernden Plastikponys und Nagellack vor meiner Nase
herumwedelt. Ich sehe keinen Grund mehr, mich darüber aufzuregen.
Wenn mich aber jemand in den Wahnsinn treibt, dann ist das Marie.
Jedes Mal, wenn wir uns treffen, erzählt sie mir, wie sehr sie Firaday
vermisst. Und natürlich dich und Hedwig. Diese Verrückte kann es kaum
abwarten, endlich wieder die Schulbank zu drücken! Aber das ist ja
nichts Neues. Wie geht es dir? Wie geht es Hedwig? Ist ihr Haar
immer noch so dunkelrot wie früher? Meins hat nämlich ein wenig an
Farbe verloren. Das versuche ich mir zumindest einzureden, denn hier
nennt mich jeder zweite „Karottenkopf“ und das kann man irgendwann
nicht mehr hören. Was machst du so? Es wäre cool, wenn du mir
zurückschreibst.
Leo
Schmunzelnd sah Jonas von seiner Lektüre auf. Das war wieder mal typisch für Leo.
Er ging wegen alles und jedem an die Decke. Und dann war da natürlich noch Marie,
die immer die besten Noten hatte und manchmal Gefahr lief, ihre Nase etwas zu tief
in ihre Schulbücher zu stecken. Und Hedwig. Es war schon eine Ewigkeit her, dass er
mit ihr gesprochen hatte. Sie war die Ferien über zu Hause und bis jetzt hatte er
einfach noch nicht daran gedacht, sie anzurufen. Wortlos stand er auf und griff nach
dem Telefon. „Jonas!“, die vorwurfsvolle Stimme seiner Tante ließ ihn innehalten.
„Du musst etwas essen! Was ist denn mit dir? Bist du krank?“, besorgt musterten ihn
die sonst immer so fröhlich funkelnden Augen seiner Tante. Jonas schüttelte den
Kopf. „Ich will nur Hedwig anrufen.“, sagte er schnell. Seine Tante nickte. „Okay.“,
meinte sie, „Aber danach isst du mit uns!“ Ohne weiter darauf einzugehen, wählte
Jonas Hedwigs Nummer. Dann ging er raus auf die Terrasse und schloss die Tür
hinter sich, um zu verhindern, dass der gesamte Hofstaat mithörte. „Hallo?“, nach ein
paar Sekunden meldete sich eine tiefe Männerstimme am Apparat. Hedwigs Vater.
„Hallo Emil. Kann ich mit Hedwig sprechen?“ „Ach, du bist es Jonas!“, die Stimme
am anderen Ende klang erfreut. Jonas kannte Hedwigs Eltern gut. Ihre Familien
waren befreundet gewesen, schon lange Zeit bevor seine Mutter an Krebs erkrankt
und vor fast genau einem Jahr gestorben war. Seitdem hatte Jonas ab und zu ein paar
Tage bei Hedwig und ihrer Familie übernachtet. „Wie geht es dir?“ Emil schien
ehrlich interessiert. Und Jonas wusste, dass er eine ehrliche Antwort erwartete. „Ganz
gut.“, meinte Jonas. „Der Strand ist schön. Aber mit der Zeit wird es echt langweilig,
immer nur das Gleiche zu sehen...“ „Du hast recht.“, Emil lachte, „Vielleicht ist es
doch ganz gut, dass die Schule bald wieder anfängt. Dann habt ihr wieder etwas zu
lachen. Ist sonst alles in Ordnung?“ Jonas zuckte innerlich zusammen. Er kannte
diesen bohrenden Unterton nur allzu gut. Jetzt holte er tief Luft. „Ja, alles bestens“,
sagte er und hoffte, Emil würde sich mit dieser Antwort zufrieden geben. Das tat er
wohl oder übel auch. „Warte kurz.“, sagte er, „Ich hole Hedwig.“ „Hallo Jonas!“ Die
aufgeregte Stimme seiner Freundin war wie frisches Wasser auf ausgetrockneten
Lippen. „Hast du das in den Nachrichten gesehen?“, fragte sie mit bebender Stimme.
Jonas sog scharf Luft ein. Zwar hatte er schon seit einer Ewigkeit kein Fernsehen
mehr geguckt, weil seine Familie wie die meisten anderen Irianer gar keinen
Fernseher besaß, aber er konnte sich denken, wovon Hedwig sprach. Dennoch hatte
er nicht die geringste Lust, ihr es jetzt auch noch erläutern zu müssen. Deshalb fragte
er leichthin: „Was denn?“ „Die haben antike Schriften gefunden!“, Hedwigs Stimme
überschlug sich fast, „Irgendwo weiter im Norden. Das ist ungeheuerlich! Die
könnten aus der Zeit von Jesus stammen und berichten von seinem Wirken auf der
Erde.“ „Ach, echt?“, Jonas zog die Stirn in Falten. Es kam ihm seltsam vor, dass
gerade jetzt, wo in Iria ein Umbruch in alle Richtungen stattfand, ein neues
Evangelium gefunden worden sein sollte, von dem vorher nie ein Mensch gehört
hatte. „Ja!“ Hedwig war total begeistert. Er konnte sie sich lebhaft vorstellen, wie sie
dastand; mit geröteten Wangen und weit offenen Augen. „Das ist doch noch ein
weiterer Beweis dafür, dass es Jesus tatsächlich gegeben hat. Und auf diese Weise
können wir noch mehr von ihm erfahren.“ „Meinst du?“, fragte Jonas etwas
zögerlich, „Ich habe gehört, dass der Inhalt dieser Schriften einige heftige Streits
ausgelöst hat. Selbst hier, in einer Touristengegend, kriegen sich die Leute darüber in
die Haare, weil der Stoff echt ganz schön provozierend ist. Außerdem, was meinst du
damit, „ein Beweis dafür, dass es Jesus tatsächlich gegeben hat“? Willst du mir weiß
machen, dass es ihn jetzt nicht mehr gibt?“ Hedwig verdrehte die Augen, was Jonas
natürlich nicht sehen konnte und wodurch eine kurze Pause entstand.
„Entschuldigung, das war dumm formuliert.“, lenkte sie ein, „Natürlich gibt es ihn
immer noch. Aber halt nicht als Mensch, hier, bei uns. Du weißt schon, was ich
meine.“ Jonas nickte ohne ein Wort zu sagen. Nach einer Weile des Schweigens
fragte er: „Wie geht’s dir?“ „Gut.“, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.
„Ich spiele jeden Tag mit Erwin. Er kann jetzt schon ein paar super Tricks, die ich dir
unbedingt zeigen muss, wenn wir wieder in der Schule sind. Und wie geht’s dir? Du
bist irgendwie so ruhig.“ „Gut.“, antwortete Jonas sporadisch. Dann gab er sich einen
Ruck. „Weißt du“, fing er an, „mir macht die ganze Entwicklung hier im Land
einfach Sorgen. Schon nachdem wir den Schlüssel der Macht vernichtet haben und
sich dieser verbrecherische Geheimbund aufgelöst hat, gab es wieder neue
Spannungen zwischen Nord- und Südirianern. Und das nur, weil es vor vielen Jahren
mal einen heftigen Bürgerkrieg gab. Jetzt wird die ganze längst versunkene Schlacke
wieder hervorgeholt. Und nicht nur deshalb kriegen sich die Leute in die Wolle.
Wohin du auch blickst, überall in Iria siehst du nur Spaltungen, Spaltungen und
Spaltungen. Und außerdem kaputte Familien, so wie meine eine ist.“ Jonas spürte
einen Stich in seinem Brustkorb, als er das sagte. Der Geheimbund, von dem er
gerade gesprochen hatte, hatte aus Menschen bestanden, die einen Pakt mit dem
Teufel geschlossen hatten. In ganz Iria hatten sie unter der Oberfläche Verbrechen
begangen und niemand hatte sie aufhalten können. Sein Vater und seine beiden
Schwestern Chila und Lisa waren Mitglieder des Bundes gewesen. Chila war tot,
Lisa hatte sich zum Glück komplett davon losgesagt und sein Vater, Sigor Maschael,
der eine Zeit lang als Lehrer in Firaday gearbeitet hatte, hatte sich nach dem Zerfall
der Organisation in Luft aufgelöst. Jonas hatte keine Ahnung, wo er sich befinden
mochte. „Och Jonas.“, Hedwig stöhnte, „Nun werd nicht wieder gleich depressiv. Du
hast es doch sehr gut. Genieße die letzten Ferientage mit deiner Tante und deiner
Schwester und mach dir um unsere Politik keine Sorgen. Das wird sich schon wieder
einrenken. Die Politiker und die Presse machen doch sowieso immer einen Wirbel
um nichts.“ Jonas schien immer noch nicht überzeugt. Dennoch fiel ein Teil der
Anspannung der letzten Tage von ihm ab. Dann erzählte er Hedwig, wie er auf einer
Schifffahrt ganz in der Nähe einer Gruppe Delfinen begegnet war. „Delfine?“, wie zu
Anfang war Hedwigs Stimme laut und aufgeregt. Er konnte ihr die Begeisterung
anhören. „Das ist ja der Wahnsinn!“, rief sie, „Warum bin ich nicht mitgekommen,
ich hätte die mal so gerne aus der Nähe gesehen.“ Jonas versicherte ihr, dass sie dazu
in ihrem Leben noch genug Gelegenheit haben würde und legte dann schließlich auf.
Etwas zu spät fiel ihm ein, dass seine Tante ihn ja dazu nötigen wollte, etwas von
dem ekligen Salat zu essen, den seine Schwester zubereitet hatte. Aber jetzt war es
schon zu spät. Er stand wieder neben ihnen am Tisch und würde um eine Portion
Grünzeug wohl nicht herumkommen.
„Michelle!“ Der Ruf hallte durch die gesamte Wohnung. Doch nichts rührte sich.
Entnervt machte sich Marie auf den Weg zum Zimmer ihrer kleinen Schwester,
vorbei an Umzugskartons und halbfertig gepackten Taschen. Als sie eintrat, stach ihr
der Grund, warum ihre kleine Schwester nicht reagiert hatte, sofort ins Auge. Sie lag
auf ihrem Bett und hörte Musik, den Ton hatte sie voll aufgedreht. „Michelle!“,
verärgert riss ihr Marie die Kopfhörer aus den Ohren. Den darauf folgenden Protest
überhörte sie. „Räum dein Geschirr weg.“, sagte sie stattdessen in einem Ton, der
keinen Widerspruch duldete. „Wenn du so weiter machst, stapeln sich deine
schmutzigen Teller bald in der ganzen Küche!“ Murrend stand die Neunjährige auf
und durchquerte den kleinen Flur mit fünft großen Schritten. Doch ehe sie
verschwunden war, erschien auch noch Edmund auf der Bildfläche. Mit seinem
unwiderstehlichen Zahnlückenlächeln grinste ihr kleiner Bruder Marie an. „Kannst
du mir etwas vorlesen?“, fragte er seine Schwester in zuckersüßem Tonfall. Marie
nickte. Wer konnte da schon nein sagen? Dann sagte sie: „Wenn du nach den Ferien
in die Schule kommst, kannst du bald schon alleine lesen.“ Edmund verzog das
Gesicht. In leicht weinerlichem Tonfall gab er zu: „Ich will gar nicht in die Schule
kommen.“ „Warum nicht?“, fragte Marie überrascht, „Du hast dich doch schon die
ganze Zeit darauf gefreut.“ „Ja, aber...“, Edmund verstummte bekümmert. Dann
meinte er: „Aber wenn ich dann in die Schule komme, müssen wir umziehen. Und
ich will nicht umziehen.“ „Aber das ist doch gar nicht schlimm.“, versuchte Marie
ihn aufzumuntern, „Du bekommst ein eigenes Zimmer und wir haben viel mehr
Platz.“ „Trotzdem.“, beharrte der Kleine und verschränkte demonstrativ die Arme.
Marie schüttelte verständnislos den Kopf. Sie war froh, endlich aus dieser mickrigen,
viel zu kleinen Wohnung zu entkommen. Außerdem würden sie sowieso nur ein
Stockwerk tiefer, in eine der größeren Wohnungen ziehen, denn Frau Schneider, Leos
Mutter, hatte es doch tatsächlich geschafft, Maries Mutter einen Job als Sekretärin zu
besorgen. Zwar war ihre Familie nach wie vor von den Sozialleistungen abhängig, da
ihre Mutter nur halbtags arbeiten konnte, aber es war immerhin schon wesentlich
besser als früher, als sie noch jede Woche einem anderen Minijob nachgegangen war
und nie gewusst hatte, was als Nächstes kommen würde. Marie freute sich. Sowohl
auf den Tag des Umzugs als auch auf Edmunds Einschulung, denn danach würde sie
wieder gemeinsam mit Leo in ihre Schule nach Iria fliegen und ihre Freunde Jonas
und Hedwig wiedersehen.
Die letzte Ferienwoche verging schneller als erwartet. Es war immer dasselbe; noch
während man sich fragte, wie man die viele Zeit nutzen sollte, die sich einem nun
bot, verstrich Minute um Minute, bis man schließlich zu nichts mehr von dem kam,
was man sich vorgenommen hatte. In Maries Zimmer stapelten sich Bücher und
Hefte, die Hälfte davon war auf Englisch. Schon tausend mal hatte ihre Mutter sie
dazu gedrängt, diese Berge von bedruckten Seiten endlich in einem der
Umzugskartons verschwinden zu lassen, doch Marie hatte sich geweigert. Ihre freie
Zeit, die sie nicht mit Leo oder ihrer Familie verbrachte, hatte sie dazu aufgewendet,
zu lesen und ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Außerdem hatte sie sich gründlich
Gedanken darum gemacht, welche zweite Fremdsprache sie im kommenden
Schuljahr wählen würde. Zur Auswahl standen Hebräisch und Griechisch, beides
Sprachen, von denen sie immer noch nicht wusste, ob sie sie jemals in ihrem Leben
brauchen würde. Trotz sorgfältiger Überlegungen schwankte sie immer noch
zwischen beiden hin und her. Am Tag zuvor hatte sie sich mit Leo getroffen und mit
ihm darüber gesprochen.
„Wenn ich könnte, würde ich weder Hebräisch noch Griechisch wählen.“, murrte
Leo und zog sich geräuschvoll die Nase hoch, während er versuchte, in seine viel zu
engen Markenschuhe zu schlüpfen. „Bestimmt lernen wir die Sprachen nicht mal so,
wie sie heute gesprochen werden, sondern nur in den alten Dialekten, in denen die
Bibel geschrieben wurde. Und was soll man damit schon anfangen, wenn man kein
Theologiestudium absolvieren will? Kennst du irgendein Land in Iria, in dem
Griechisch gesprochen wird?“ Gerade wollte Marie ihren Freund unterbrechen und
ihn darauf hinweisen, dass sich ein Land niemals in einem anderen befinden könne
und dass Iria bestimmt noch irgendwelche Nachbarländer habe, in denen man
verschiedene Sprachen gebrauchen könne, als Leo schon fortfuhr. „Und kennst du
irgendeine Region außerhalb von Griechenland, in der sich die Leute auf Griechisch
grüßen? Oder willst du etwa Hebräisch wählen, nur um an jüdischen Gottesdiensten
teilnehmen zu können? Das ist doch total dämlich. Wozu müssen wir den Mist
überhaupt lernen?“ „Sei doch froh.“, konterte Marie, „Immerhin musst du so kein
Französisch wählen.“ Leo schnaubte. „Das wäre ja noch schöner.“ Währenddessen
folgte Marie ihrem Freund durch die luxuriöse Glastür hindurch in den großen
Garten, auf dessen penibel gepflegtem Rasen schon seine Freunde warteten, mit
denen er sich zum Fußballspielen verabredet hatte. Als Marie die Jungen sah,
verdüsterte sich augenblicklich ihr Gesichtsausdruck. Sie waren allesamt mindestens
genauso groß wie Leo, der im Sommer einen irren Wachstumsschub gemacht hatte
und wahrscheinlich alle älter als er. Jeder von ihnen trug Stollenschuhe und das
Trikot der Fußballmannschaft, in der sie spielten. Marie fühlte sich unwohl. Sie war
drei Köpfe kleiner als die anderen und dazu kam, dass sie, falls sie überhaupt
mitspielen würde, wozu ihr soeben alle Motivation schwand, Schwierigkeiten
bekommen würde, den Ball zu treffen. Ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie
Fußball gespielt und das war in Sinistro, einer Nachbarschule von Firaday gewesen
und zwar anlässlich eines großen Turniers. Jetzt raunte sie Leo leise zu: „Vielleicht
hätte ich gar nicht kommen sollen.“ „Ach Quatsch.“, Leo machte eine wegwerfende
Handbewegung. „Du bist hier doch sowieso schon halb zu Hause. Du kannst
kommen und gehen, wann du willst und wenn die Typen damit ein Problem haben,
werde ich ihnen meine Meinung sagen.“ Marie schmunzelte. Trotzdem musste sie
sich ein wenig später Mühe geben, Leos Freunde nicht allzu argwöhnisch zu
mustern. „Hey!“ Ein großer, braunhaariger Junge klopfte Leo auf die Schulter.
„Lange nicht gesehen. Gut, dass du wieder mal zu Hause vorbeischaust.“ „Wir
hatten ja keine Ahnung, wo du die ganze Zeit über warst, bis uns deine Mutter das
von so einer komischen Schule im Ausland gesteckt hat. Hat sie dich echt dahin
abgeschoben? Ist ja voll krass.“, meinte ein anderer. „Ich wäre froh, wenn ich auf
ein Internat gehen könnte.“, tönte ein blonder Junge mit großen, braunen Augen,
„Dann müsste ich meine Alten nicht mehr Tag für Tag ertragen.“ Von allen Seiten
Zustimmung. Nur Marie rümpfte die Nase. Der Junge neben ihr roch übelst nach
Schweiß, was bestimmt daran lag, dass er sich bereits aufgewärmt hatte. Die
durchsichtige Körperflüssigkeit rann ihm in Bächen übers Gesicht. Dann kam, was
kommen musste. „Und wer ist die da?“, einer der Jungen deutete auf Marie. Dann
verzog er das Gesicht. „Etwa deine Freundin? Also wirklich Leo, da hätte ich mehr
von dir erwartet. An der ist doch nichts Besonderes.“ Gelächter brandete auf. Marie
stand, von einem Fuß auf den anderen tretend, da und überlegte, was sie sagen
sollte. „Ich bin Marie.“, erklärte sie schließlich mit erhobener Stimme und fixierte
den Jungen, der so blöd gefragt hatte, mit einem vernichtenden Blick. Das schien den
Riesen zu verwirren, denn er senkte langsam seinen Blick. Davon angespornt setzte
Marie hinzu: „Und ja, ich bin Leos Freundin, aber nicht so, wie ihr denkt. Ich stehe
nicht wirklich darauf, mich vor sabbernden Jungs zu positionieren und mich von
ihnen knutschen zu lassen, wenn ihr das meint.“ Verächtlich starrte sie vom einem
zum anderen. Eine äußerst unangenehme Stille breitete sich über die Anwesenden
aus. Nur Leo schien belustigt. Grinsend schüttelte er den Kopf. „Sie meint das nicht
so.“, versuchte er Maries Verhalten vor seinen Freunden zu rechtfertigen, „Sie ist
nur ein bisschen...“, er suchte nach den richtigen Worten, fand aber keine. Also
umschrieb er das, was er meinte. „Sie hat einfach einen etwas anderen Sinn für
Humor. Also passt lieber auf, was ihr sagt, sonst wird es euch todernst genommen.“
Er grinste dümmlich. Für das, was er dann sagte, hätte Marie ihn am liebsten
kopfüber in eine der Mülltonnen gesteckt, die überall am Straßenrand verteilt
standen. „Sie hat übrigens schon alle Schullektüren gelesen, die für dieses Jahr auf
dem Lehrplan stehen. Und sie kennt den Duden auswendig!“ Marie spürte, wie die
Röte in ihren Wangen aufstieg. Nicht aus Scham. Nein, es war ihr total egal, was
Leos Freunde von ihr dachten, sondern einfach nur aus Wut. Unsanft stieß sie Leo in
die Seite und zischte: „Träum weiter!“ Fast hätte sie sich als Nächstes umgedreht
und wäre beleidigt nach Hause gegangen, aber da brach auf einmal schallendes
Gelächter los. Einer der Jungen, der große mit den braunen Haaren, hatte
angefangen zu lachen und nacheinander stimmten alle anderen mit ein. Marie hielt
verwirrt inne, bis der Braunhaarige sie grinsend und unter Lachtränen ansah und
sagte: „Cool, dann braucht Leo sich in der Schule ja nicht mehr anstrengen, wenn
du neben ihm sitzt. So eine Freundin hätte ich auch gerne.“ Er grinste. Dann fragte
er: „Lass mich raten, du kannst kein Fußball spielen, richtig?“ Marie schüttelte
genervt den Kopf. Dann sagte sie: „Wieso, muss man das können? Dem Ball
hinterherrennen kann ich schon, aber mit dem Treffen ist das so eine Sache. Ich geh
dann wohl lieber.“ Sie hatte sich schon umgedreht und ein paar Schritte gemacht, als
sie plötzlich spürte, wie sie jemand am Arm festhielt. „Wieso denn so eilig?“, wieder
war es der Braunhaarige, der sie ansprach. Insgeheim fragte Marie sich, warum er
sie nicht einfach in Ruhe lassen konnte. „Spiel doch mit.“, gab er schließlich den
Grund für sein Verhalten preis, woraufhin er einige entgeisterte Blicke von seinen
Kumpels erntete. Als er sie bemerkte, fragte er provozierend: „Was denn? Lasst sie
doch mitspielen, das wird bestimmt lustig.“ Sein kindisches Kichern verriet, dass er
es ernst meinte. Marie verzog das Gesicht und schaute zu Leo. Der sah sie bittend
an. „Also schön.“, gab sie schließlich nach, woraufhin ihr der Braunhaarige
grinsend auf die Schulter klopfte. „Gut.“, sagte er, „Ich bin übrigens Marco. Letztes
Jahr haben Leo und ich zusammen im Verein Fußball gespielt. Das war, als er noch
so groß war wie du.“
Wasser. Die kühle Flüssigkeit rann ihr in Sturzbächen die Kehle hinunter. Sie konnte
gar nicht genug davon bekommen. Ihr war schrecklich warm und ihre Knie waren
grün vor Pflanzensaft. Mehrmals war sie über ihre eigenen Füße gestolpert und hatte
den Rasen geküsst. Sehr zur Freude der Jungen. Doch mittlerweile war sie von allen
akzeptierte worden. Sie saßen jetzt schwitzend und keuchend neben ihr im Gras und
stürzten den Inhalt ihrer Wasserflaschen hinunter. Trotz der Erschöpfung war die
Stimmung ausgelassen. Vor allem Marco schien glänzende Laune zu haben. „Warum
kannst du eigentlich auf einmal so gut spielen?“, fragte er Leo, „Bei dem letzten
Spiel, an das ich mich erinnere, wurdest du schon nach einer Minute ausgewechselt,
weil du dich mit der Gegnermannschaft kein bisschen messen konntest. Habt ihr auf
eurem Internat auch ein Fußballteam?“ Leo schüttelte den Kopf. „Wir haben
Bibelkicker.“, erklärte er. Jetzt lagen von einem Moment auf den anderen vier
verdutzte Blicke auf ihm. „Bibelkicker?“, wiederholte der braunäugige Junge mit
den blonden Haaren, „Was soll das denn bitte sein? Kickt ihr da ein altes Buch vor
euch her?“ Seine Kumpels lachten bei dieser Vorstellung. „Nein.“ Leo seufzte. Dann
fing er an zu erklären. „Bibelkicker ist so ähnlich wie Fußball, nur ohne Torwart.
Oder besser gesagt: Der, der am weitesten hinten steht, verteidigt das Tor, ihr wisst
schon.“ Die anderen nickten. „Ja und?“, fragte einer der Jungen dann ungeduldig,
„Was hat das jetzt mit der Bibel zu tun?“ „Warte doch mal ab.“, beschwerte sich
Leo, „Ich bin doch noch gar nicht fertig mit Erklären. Jedes mal, wenn ein Tor
geschossen wird, wird eine Karte mit einer Frage gezogen, die sich nun mal auf die
Bibel bezieht. Wenn die Mannschaft die Frage beantworten kann, zählt das Tor, wenn
nicht, dann eben nicht.“ Leo wartete ab, wie seine Freunde darauf reagieren würden.
Marco und der Blonde runzelten unwillig die Stirn, während die beiden anderen gar
keine Reaktion zeigten. „Du immer mit deiner Bibel.“, maulte der Blonde
schließlich, „Ich dachte, das wäre langsam vorbei. Ich hab den
Konfirmandenunterricht gerade erst hinter mir, jetzt will ich endlich meine Ruhe
haben von diesem Schwachsinn.“ Leo verdrehte die Augen. Er hatte keine Lust,
darüber zu streiten. „Warum fragst du dann?“, gab er nur mürrisch zurück. Der
Blonde zuckte mit den Schultern. Zehn Minuten später machten sie sich bereit für ein
zweites Spiel. Der Ball flog über die Wiese hinweg und hinterließ hin und wieder
Abdrücke auf dem ebenmäßigen Rasen, genauso wie die Stollenschuhe, die sich
erbarmungslos in den Boden bohrten. Irgendwann knallte eine Autotür. Leos Eltern
waren wiedergekommen. Sein Vater war auf einer Besprechung gewesen und seine
Mutter beim Frisör. Als Leo sie sah, wie sie sich durch den Garten auf den Weg zum
Haus machten, rief er ihnen ein kurzes: „Hallo!“, zu, das seine Mutter mit einem
freundlichen Kopfnicken erwiderte. Dann verschwand sie im Haus. Sein Vater
hingegen kam auf die Jugendlichen zu. Während er ging, hatte er seinen Blick fest
auf den Boden gerichtet, aus dem das Gras an manchen Stellen herausgerissen
worden war und wo sich jetzt Löcher aus braunem, schmierigem Erdboden in die
vorher so glatte Rasenfläche gefressen hatten. Als Leo ihn kommen sah, dachte er
sich erst nichts dabei. Er spielte einfach weiter und passte Marie gerade den Ball zu,
die daraufhin versuchte, ihn ungelenkt an Marco weiterzugeben. Da spürte er, wie
ihn jemand herumriss. Kurz darauf starrte er in die blauen, ernsten Augen von Herrn
Schneider, dem Chef einer großen Firma, die Autoreifen herstellte. „Was soll das
hier?“, fragte er leise. Leo merkte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ein
unangenehmes Gefühl machte sich in ihm breit. „Was?“, fragte er und erwiderte den
durchdringenden Blick seines Vaters, nichtsahnend, was für ein Problem dieser hatte.
Eine Sekunde später hielt Leo sich die Ohren zu. Der Mann vor ihm hatte
unvermittelt angefangen und brüllen und das direkt vor seinem Gesicht. „Bist du
wahnsinnig?“, schrie er, „Ich habe den Rasen erst vor kurzem von unserem Gärtner
neu bepflanzen lassen und du verschandelst ihn, indem du hier mit deinen Freunden
Fußball spielst!“ Plötzlich hatte sich die ruhige, willensstarke und durchdringe
Maske des soliden Geschäftsmannes in ein rotes, vor Wut verzerrtes Gesicht
verwandelt. Sein Vater hatte sich vor seiner Familie nie gut beherrschen können und
Leo und seine Brüder schon so manches mal zusammengebrüllt. Jetzt packte er
seinen Sohn am Arm. „Du sagst deinen Freunden jetzt sofort, dass sie nach Hause
gehen sollen und für den Schaden hier kommst du auf. Weißt du eigentlich, wie teuer
so etwas ist?“ Erst jetzt begriff Leo. Vage erinnerte er sich daran, wie sein Vater ihm
vor einigen Tagen stolz von seinem neuen Projekt, der Erneuerung des Rasens,
berichtet und ihn gebeten hatte, zum Fußballspielen die kleinere Rasenfläche auf der
Hinterseite des Hauses zu benutzen. Leo war nur mäßig interessiert gewesen und
hatte deshalb nur mit einem Ohr zugehört, seinem Vater dann aber versprochen, ihm
das Projekt nicht zu versauen. Und jetzt? Jetzt hatte er es einfach vergessen. Wie
hatte er nur so dumm gewesen sein können… Hektisch schaute er von seinen
Freunden, die wie erstarrte dastanden, wieder zu seinem Vater und von ihm aus
schließlich zu Marie. Er wusste, dass sie die einzige von seinen Freunden war, die
sein Vater mochte. Und wahrscheinlich war sie auch die Einzige, die er überhaupt
kannte. Von Leos Fußballfreunden wusste er ja nicht einmal die Namen. Würde
Marie nicht irgendetwas für ihn gerade biegen können? Oder hatte er durch seine
dumme Aktion jetzt auch noch ihr Ansehen vor seinem Vater zerstört? Jetzt schaute
er wieder in das harte Gesicht seines Erzeugers. „Es tut mir Leid.“, stammelte er,
„Ich habe es einfach vergessen.“ „Ja, ja, vergessen!“, tönte sein Vater und bäumte
sich vor ihm auf, „Ich vergesse mich auch gleich!“ Dabei machte er den Eindruck,
als würde er sich wirklich jeden Augenblick auf seinen Sohn stürzen, was er bis jetzt
allerdings noch nie getan hatte. Trotzdem hatte Leo keinen Zweifel daran, dass
genau das heute passieren würde, wenn seine Freunde nicht schnellstmöglich von
hier verschwänden. Er schluckte. „Tut mir Leid, Leute.“, sagte er dann mit belegter
Stimme, „Ihr müsst jetzt gehen...“ In diesem Moment wusste er, dass ein großer Teil
der lockeren Freundschaft, die er mit einigen von ihnen gepflegt hatte, zerstört war.
Die vorwurfsvollen, stummen und anklagenden Blicke der Jungen, als sie sich auf
den Weg nach Hause machten, blieben in seinem Gedächtnis haften. Jetzt war nur
noch Marie da. „Tut mir wirklich Leid, Herr Schneider.“, sagte sie leise, aber nicht
ängstlich. „Ich sage noch meiner Schwester Bescheid und dann gehe ich, wir müssen
jetzt sowieso nach Hause.“ Leo betrachtete Marie, wie sie so dastand, in ihrem rosa
T-Shirt mit dem schlanken Oberkörper und den schmalen Händen, ihr gegenüber der
massige, vor Wut rasende Mann. Doch irgendwie schien sein Vater auf Marie
wesentlich weniger einschüchternd zu wirken als auf ihn, obwohl er, Leo, nur wenige
Zentimeter kleiner war als der Mann. „Mach das.“, brummte Herr Schneider. Immer
noch war sein Gesicht verfärbt, doch er ließ seine Wut nicht an Marie aus. „Das
Chaos hier ist ja auch nicht deine Schuld, sondern allein die meines Sohnes.“ Mit
einem unbeschreiblichen Ausdruck in den Augen sah er Leo an. Dann wandte er sich
ab. Das hinderte seinen Sohn allerdings nicht daran, die letzten Worte noch
aufzuschnappen. Sie klangen in seinem Herzen nach wie das Geräusch von
zerberstendem Ton. „Nicht einmal das kriegt er auf die Reihe.“
Marie schüttelte in Erinnerung an den gestrigen Tag den Kopf. Sie mochte Herrn
Schneider. Sie mochte seine besondere Art, die auf die meisten eher abstoßend
wirkte, weil sie nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten. Trotzdem wusste sie,
dass Leo darunter litt. Sein Vater hatte oft solche Ausraster. Und zum Schuldigen
machte er immer den Sohn, der ihm als Erstes über den Weg lief. Meistens war das
Leo. Hinzu kam, dass er fast immer arbeitete und nur wenig Zeit für seine Familie
hatte. Seufzend ließ Marie sich auf ihr Bett fallen. Insgeheim fragte sie sich, ob sie
auch solche Probleme mit ihrem Vater gehabt hätte, wenn er noch leben würde. Er
war vor vielen Jahren umgekommen und hatte seine Kinder nicht aufwachsen sehen.
Aber so war das nun mal. Es klopfte. Marie stieß genervt Luft aus. Dann stand sie auf
und öffnete die Tür des nunmehr ziemlich kahlen Zimmers. Vor ihr stand ein blondes
Mädchen in einer teuren Jeans mit Glitzersteinchen und einem bunten, bauchfreiem
Top. Ihre Haare waren von pinken Strähnen durchzogen und eine Wolke von süßlich
duftendem, teuren Parfüms umgab sie. Es war Sarah-Annabell, Leos Schwester. Sie
war genauso alt wie Maries Schwester Michelle und klingelte regelmäßig bei ihnen,
um mit ihr zu spielen. Wenn Marie ehrlich war, fühlte sie sich in der Gegenwart
dieses Mädchens etwas unwohl. Leo hatte ihr oft erzählt, wie sie ihn Tag für Tag in
den Wahnsinn trieb und je öfter Marie beobachtete, wie sie mit ihrer Schwester
umging, desto mehr hatte sie zugeben müssen, dass das, was Leo der Kleinen
unterstellte, keineswegs aus der Luft gegriffen war. Herrisch und arrogant hatte er sie
genannt und noch vieles mehr. „Was ist denn?“, fragte Marie und bemühte sich, nicht
zu abweisend zu klingen. „Michelle hat gesagt, du hast so viele Bücher. Kann ich mir
die mal angucken?“ Es war mehr ein unwillig aufgebrummter Befehl als eine Frage.
Marie murmelte nur: „Natürlich.“ Und versuchte dann, so schnell wie möglich zu
verschwinden. Vorher fiel ihr Blick noch auf die beiden Mädchen. Da wo Sarah-
Annabell selbstsicher, launisch und kindisch war, war Michelle eher in sich
zurückgezogen, nachdenklich und manchmal eine Spur zu erwachsen. Hoffentlich
geht das gut!