Читать книгу Iria - Blut wie Regen - Lea Loseries - Страница 6
Dicke Luft
ОглавлениеDie Luft wurde mit jeder Sekunde dicker. Der Schweiß auf seiner Stirn immer mehr.
Und der Drang, nervös mit seinen Finger auf den Tisch zu trommeln immer
unerträglicher. Dies war einer der schrecklichsten Augenblicke in Eljoschs Leben.
Hier saß er also, mit zusammengebissenen Zähnen, ihm gegenüber Borost, umringt
von einer Arme, deren Waffen weder Schwerter, Gewehre noch Giftgas waren,
sondern einfach nur Kameras, Mikrofone und Diktiergeräte. Borost schien ganz ruhig
zu sein. Mit einem charmanten Lächeln eröffnete er das Gespräch. Eljosch wusste,
dass dieses Lächeln nicht ihm gegolten hatte, sondern den Millionen von Frauen, die
dies alles hier früher oder später mitverfolgen würden. „Ich, Christian Borost,
Vertreter der Bürgerinitiative „Heimat Südland“, besuche heute den Präsidenten von
Iria, um ihm einige wichtige Fragen zu stellen und mich mit ihm zu unterhalten.“
Statt noch einen Moment zu warten und Eljosch wenigstens das Recht zu lassen,
seinerseits einen Gruß zu äußern, legte er los. „Herr Präsident, wie stehen Sie
persönlich zum irianischen Bürgerkrieg? Fühlen Sie sich nicht verbunden mit den
Südirianern, die damals ihr Leben lassen mussten? Sie selbst kommen doch auch aus
dem Süden, richtig?“ Am liebsten wäre Eljosch aufgesprungen und hätte dem Typen
vor ihm das Lächeln mit einer einzigen Bewegung aus dem Gesicht gewischt. Borost
wusste genau, wer er war und woher er kam. Jeder wusste das. Und sein Aussehen
machte es den Leuten auch nicht schwer, nach seinem Ursprung zu fragen. Eljosch
hatte dunkle Haut und schwarze, zu einem Zopf zusammengebundene Rastalocken.
Als er an der Universität in Noctu Politik studiert hatte, hatten alle seine Professoren
ihm dringendst geraten, sich zu Gunsten der Seriosität eine neue Frisur zuzulegen.
Schließlich weckte ein schwarzer Politiker wie er schon genug Misstrauen.
Schwarzer. Sie hatten ihn wirklich als Schwarzen bezeichnet. Immer noch konnte
Eljosch die Wut von damals spüren. Ja, es stimmte, seine Vorfahren kamen nicht aus
Iria, sondern aus der anderen Welt. Aber er kannte seine leiblichen Eltern nicht und
hatte solange er denken konnte, bei einer irianischen Familie im Ring Torpedú gelebt.
Er war Irianer. Voll und ganz. An dem Tag, an dem er zum Präsidenten des Landes
gewählt worden war, waren endlich alle seine Zweifel bezüglich seiner Heimat und
seines Ursprungs weggewischt worden. Die Leute hatten ihn nicht aufgrund seines
Äußeren beurteilt. Nein, sie hatten ihm Respekt und Vertrauen entgegengebracht.
Ihm, der im Vergleich mit anderen Politikern authentisch und ehrlich wirkte und sich
für die Menschen einsetzte. Und jetzt, in einer Zeit, in der die politische Lage
sowieso schon so heikel war, machte Borost das alles wieder zunichte. „Ja, meine
Heimat liegt im Ring Torpedú.“, antwortete Eljosch knapp, „Und natürlich fühle ich
mich mit den Südirianern verbunden. Genauso, wie ich mich mit jedem Irianer
verbunden fühle.“ Das war die perfekte Antwort, lobte er sich in Gedanken, gut
gemacht, Eljosch. Borost lächelte böse. Beinahe so, als hätte er genau mit diesen
Worten gerechnet. Also machte er weiter. „Kämpfe in erster Linie für deine eigenen
Leute.“ Das war alles, was Borost sagte. Doch Eljosch gönnte ihm nicht die
Genugtuung, den Präsidenten vor ihm verblüfft zu sehen. Stattdessen erwiderte er
formell: „Ich glaube, ich habe ihre Frage nicht ganz verstanden.“ Wieder lächelte
Borost still in sich hinein. Dann verkündete er: „Es war ein Zitat. Wie ich sehe, kennt
unser Präsident das neue Evangelium noch nicht besonders gut. Aber das macht ja
nichts. Schließlich wird er genug Zeit haben, diese Lektüre nachzuholen.“ Jetzt
runzelte Eljosch unwillig die Stirn. Es dämmerte ihm etwas. „Das neue Evangelium
sagen Sie? Ich muss zugeben, dass ich diesen Namen noch nie gehört habe.“ „Aber,
aber. Sie haben doch bestimmt auch von dem sensationellen Fund gehört.“ Borost
wartete eine Weile, doch Eljoschs kaltes Schweigen war nicht zu brechen. Also fuhr
er theatralisch fort: „Oben im Norden, mitten im Land der Finsternis, wurde ein
Schriftstück gefunden, das in der Lage sein wird, die Herzen unserer Brüder und
Schwestern zu erhellen.“ Jetzt war Eljosch klar, wovon er sprach. Trotzdem ließ er
ihn zappeln. „Ach ja?“, fragte er interessiert, „Was ist das genau für ein Schriftstück?
Bitte drücken Sie sich klarer aus.“ „Es ist“, Borost holte tief Luft, „das fünfte
Evangelium. Es stammt aus der Zeit, in der Jesus gelebt hat und wurde von einem
seiner Jünger höchstpersönlich aufgeschrieben. Sie sollten es wirklich lesen.“ Borosts
verschlagener Blick verriet Eljosch, dass sich nichts Gutes anbahnte. Dennoch verzog
sich sein Gesicht ausnahmsweise einmal zu einem gutmütigen Lächeln. Schließlich
wollte kein Land einen Präsidenten mit eisernen Gesichtszügen. „Ach, das meinen
Sie.“, sagte er lächelnd, „Ja, davon habe ich gehört. Mir ist zu Ohren gekommen,
dass das Schriftstück gerade von Experten überprüft wird und dabei sehr interessante
Dinge entdeckt wurden. Zum Beispiel...“ „Gut.“, unterbrach ihn Borost forsch, „Sie
schweifen ab. Das hier soll keine Talkshow werden. Kommen wir zu meiner nächsten
Frage. Können Sie sich vorstellen, endlich ein Programm zu entwickeln, dass sowohl
politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche als auch kulturelle Gleichheit von Nord
und Süd in den nächsten Jahren gewährleistet?“ Eljosch schwieg. Das war dünnes
Eis. Wenn er behaupten würde, er könne es, würde er scheitern und als Lügner
abgestempelt werden. Außerdem würden dann die Nordirianer über ihn herfallen, die
es sich nicht leisten konnten, dass die staatlichen Ausgaben an sie gekürzt oder ihnen
gar noch etwas von ihren privaten Einkommen weggenommen wurde. Und wenn er
nein sagte, würden ihn die Südirianer zu Staub zerfetzen. Sie wären enttäuscht und
würden sich von ihm im Stich gelassen fühlen. Nein, das durfte er nicht zulassen.
„Ich merke, dass Sie ein wenig Zeit benötigen, um Ihre Erinnerungen an dieses
kleine Problemchen wieder aufzufrischen.“, spottete Borost, „Ich bin Ihnen gerne
dabei behilflich. Schon seit Jahrzehnten ist der Norden dem Süden in allen Belangen
des gemeinschaftlichen Lebens weit voraus. Die Leute wollen Veränderung, sie
wollen Gerechtigkeit. Wussten Sie, dass tausende von Anträgen abgelehnt wurden,
die Südirianer an Universitäten im Norden gestellt haben? Und das mit der
Begründung, dass sie durch ihren südirianischer Bildungsstand nicht die nötigen
Vorkenntnisse besäßen, um erfolgreich ihren Abschluss zu machen. Das ist
Diskriminierung!“ Borost hatte sich in Fahrt geredet. Jetzt ging er sogar so weit, dass
er als Zeichen der Abscheu auf den Boden spuckte. Eljosch sah ihm dabei zu.
Äußerlich gefasst, aber in seinem Inneren brodelte es. So ein skrupelloses Miststück.
Borost war jedenfalls ein guter Schauspieler. Wäre da nicht das verschlagene Blitzen
in seinen Augen gewesen, hätte Eljosch ihm alles, was er sagte, abgenommen. Aber
er wusste, dass dieser Mann auf etwas ganz anderes hinaus wollte. Und dazu nutzte
er die Bühne, die ihm das Amt als Leiter einer Bürgerinitiative verschaffte. Eljosch
meinte, sich daran zu erinnern, vor kurzem eine Statistik gelesen zu haben, die eben
das besagte, was Borost ihm gerade vorgetragen hatte. Allerdings war bei der
Erstellung dieser Grafik nicht berücksichtigt worden, dass auch viele Leute aus dem
Norden nicht angenommen worden waren und ob die abgewiesenen Südirianer
überhaupt die Grundvoraussetzungen mitgebracht hatten, die für jeden, egal, ob aus
dem Norden oder dem Süden galten, wurde auch nicht erwähnt. Eljosch kochte vor
Wut. Er musste antworten. Schnell. „Mir ist bewusst, dass es in unserem Land immer
noch innere Differenzen gibt, die aus dem Weg geräumt werden müssen. Auch wenn
ich bezweifle, dass sich diese Unterschiede so äußern, wie Sie behaupten. Seit
meinem Amtsantritt arbeite ich gemeinsam mit anderen Politikern daran, den Süden
voranzubringen. Aber Qualität hat ihren Preis. Wir brauchen Zeit und die
Unterstützung der Menschen.“ Im nächsten Moment riss Eljosch überrascht die
Augen auf. Borost hatte direkt vor seiner Nase mit der Faust auf den Tisch
geschlagen. So hatte er sich bis jetzt noch nie aufgeführt. „Eben da liegt das
Problem!“, zischte er, „Sie arbeiten seit drei Jahren daran, seit Sie Präsident sind.
Und es hat sich nichts verändert. Finden Sie das nicht ein bisschen fragwürdig?“
Eljosch starrte auf den silbernen Ring, den Borost an seinem Finger trug, während er
antwortete. Ein Ring mit dem Symbol einer Schlange. „Ich möchte Sie daran
erinnern, dass ich nicht allein die Regierung bin. Alles, was wir beschließen,
beschließen wir gemeinsam. Das ist der Vorzug und zugleich das Laster einer
freiheitlichen Demokratie.“ Noch bevor er geendet hatte, spürte Eljosch, wie Borosts
böser Blick ihn durchbohrte. Er würde sein Ansehen vollends in den Schmutz ziehen,
wenn Eljosch nicht gleich etwas unternahm. Also startete er einen Gegenangriff. „So
weit ich weiß, ist das hier kein Interview.“, sagte er freundlich. In Gedanken fügte er
hinzu: Und vor allem kein Verhör. Aber statt so leichtsinnig zu sein, dies zu äußern,
sagte er: „Also gestatten Sie mir bitte, auch Ihnen eine Frage zu stellen. Ich würde
mich zum Beispiel gerne über die Hetzkampanien unterhalten, von denen Straßen
und Medien erfüllt sind. Sie enthalten haufenweise Verleumdungen und stacheln die
Leute dazu an, zu hassen, statt ihre Anliegen so zu äußern, dass man konstruktiv
darauf eingehen kann. Es gibt Probleme, das will ich nicht bestreiten, aber muss so
etwas denn sein?“ Mit einer schnellen Bewegung zog er ein Foto unter der
Tischfläche hervor und hielt es Borost unter die Nase. Es zeigte eine verunstaltete
Brücke, auf der in verschmierter schwarzer Farbe geschrieben war: „Nieder mit dem
Norden!“ Eljosch wartete einen Augenblick, bis er sicher sein konnte, dass Borost
sich das Bild angesehen hatte. Dann erklärte er: „In letzter Zeit gab es viele solcher
Vorfälle. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wer die Drahtzieher sind. Wir
können nicht einmal sagen, ob es sich um Einzeltäter oder eine organisierte Gruppe
handelt. Haben Sie einen Tipp für mich?“ Interessiert fixierte er Borost mit seinen
braunen Augen. So, als würde er wirklich erwarten, von ihm einen Namen genannt zu
bekommen. Doch darauf wollte er eigentlich gar nicht hinaus. Und das wusste auch
Borost. Er verzog nämlich beleidigt das Gesicht. „Ich kann Ihnen versichern, dass
weder ich noch meine Leute etwas damit zu tun haben. Das ist unter unserer Würde.
Erstrebenswerte Wahrheiten muss man nicht auf Brückenbögen schmieren!“ Er
schnaubte verächtlich. „Wenn das unsere Vorgehensweise wäre, säße ich ja wohl
kaum hier. Es tut mir wirklich leid, Sie enttäuschen zu müssen. Dafür habe ich noch
einen weiteren Punkt, über den wir uns unterhalten können.“ Eljosch registrierte
ruhig, wie Borost umständlich auf seinem Stuhl herumrutschte, bis es ihm schließlich
gelungen war, sich angenehm zu positionieren. Dann schaute er dem Präsidenten so
fest in die Augen, dass dieser fast überrascht geblinzelt hätte. Bis jetzt hatte Eljosch
den blauhaarigen Clown immer für etwas beschränkt gehalten, doch von heute an
wusste er, dass er nicht zu unterschätzen war. „Wie Sie wissen, wurden in den letzten
Monaten viele Menschen verhaftet. Darunter sogar ganze Familien. Und zwar, weil
sie einem Bund angehörten, der viele Verbrechen begangen hat. Jedoch war
keineswegs jedes seiner Mitglieder in diese Verbrechen involviert. Warum lässt die
Regierung die Unschuldigen, die selbst Opfer einer Täuschung geworden sind, als sie
sich dieser Gruppe angeschlossen haben, nicht frei?“ Borosts Augen hatten sich zu
schmalen Schlitzen verengt. Eljosch holte tief Luft.
Montag, 1./2. Stunde.
Der Klassenraum war erfüllt vom Gähnen und schläfrigem Gemurmel. Vorne stand
Fräulein Quietsch und stellte gerade ihre Materialien aufs Lehrerpult. Dabei fischte
sie einige alte Arbeitsblätter aus ihrer Tasche hervor, die sie einzeln zusammenknüllte
und in den Papierkorb warf. Leider traf sie nicht immer. Meist daneben. Aber sie
kümmerte sich nicht darum. Marie schaute ihr dabei zu, wie sie unruhig in ihren
pinken High Heels auf und ab lief und sah das Unglück schon kommen. Wenig später
traf es ein. Während Fräulein Quietsch der Klasse den Plan für die heutige Stunde
eröffnete, tänzelte sie unruhig auf und ab und stolperte dabei über einen der
Papierknödel. Mit einem kurzen Aufschrei fiel sie auf die Knie. Die halbe Klasse
kicherte. Das Beste war, dass sich nun auch die Gesichtsfarbe der Lehrerin der ihrer
Schuhe angepasst hatte. Rosa. Arme Fräulein Quietsch. Der Rest der Stunde verging.
Für die einen quälend langsam, für die anderen wie im Flug. Marie und Hedwig
waren ganz in ihrem Element. Sie quatschten sich gegenseitig auf Englisch voll und
beteiligten sich begeistert am Unterrichtsgespräch. Sogar Leo fand das Thema
interessant. Es ging um die verschiedenen Urlaubsziele in Iria, sowie diverse
Traditionen und Bräuche. Er nahm sich fest vor, einmal die Hallen von Regun zu
besuchen, ein uraltes Bauwerk, dass vor zehn Jahren im südlichen Teil von Paläar-
Ungiau freigelegt worden war und, wenn man Fräulein Quietsch in diesem Bereich
Glauben schenken durfte, die architektonischen Überreste eines bisher völlig
unbekannten Volkes verkörperte. Neben ihm saß Jonas und versuchte krampfhaft,
Leos Schrift zu entziffern, um überhaupt irgendetwas auf seinem Blatt stehen zu
haben. Er war in Englisch eine Niete. Noch dazu kam, dass er sich heute sowieso
nicht besonders wohl fühlte, was wohl auch damit zusammenhing, dass sie in der
nächsten Doppelstunde statt Mathe zu haben, einen Hebräisch und einen
Griechischkurs besuchen würden, um ihnen ihr bevorstehendes Leid vor Augen zu
führen und sie vor die Wahl zu stellen, welche Art der Qual die mildere war. Endlich
kam die zwanzigminütige Pause. Jonas schlenderte gemeinsam mit seinen Freunden
über den runden Innenhof, dessen Zentrum ein fröhlich vor sich hin plätschernder
Springbrunnen bildete. „Wie war eigentlich dein Urlaub?“, fragte Marie ihn, während
sie ihre Finger in das angenehm kühle Wasser eintauchte, um sich ein wenig
Erleichterung von der sommerlichen Hitze zu verschaffen. „Gut.“, antwortete Jonas,
„Ihr wisst ja, dass Tyra, also Professor Ferono, echt nett ist. Und es war schön, für ein
paar Wochen mal etwas anderes zu sehen als nur das hier.“ Er deutete auf das
Gebäude hinter sich, ein robustes, mit Efeu bewachsenes Schloss aus hellem Stein.
„Aber irgendwann hat es mich dann auch genervt. Wusstet ihr, dass Lisa auf einem
Trip für gesunde Ernährung ist?“ Hedwig lachte auf. „Armer Jonas.“, sagte sie dann,
„Ich nehme an, dass sie sogar selbst kocht und du deshalb fast nichts „Vernünftiges“
mehr zu essen kriegst?“ „Korrekt.“, Jonas stöhnte, „Sie hat auch schon versucht, mir
eine Süßigkeitensperre aufzuerlegen. Zum Glück war sie damit nicht erfolgreich.“
Leo grinste. „Das wäre bei dir wohl niemand.“, sagte er dann. „Und Hedwig, wie
war es bei dir Zuhause? Ist dir die Decke auf den Kopf gefallen?“ Hedwig verzog das
Gesicht. Dann sagte sie scherzhaft: „Fast. Das waren die ersten Ferien, die ich
verbracht habe, ohne mich ein einziges Mal mit Jonas zu treffen. Aber Erwin war der
perfekte Ersatz.“, sie grinste. Dann sagte sie besorgt: „Ich hoffe nur, dass er oben im
Zimmer nichts anstellt. Er ist es nicht mehr gewohnt, so lange Zeit alleine zu
verbringen.“ „Das wird er schon schaffen.“, beruhigte Marie ihre Freundin. Dann
wurde sie ernst und fragte leise: „Habt ihr eigentlich irgendetwas davon gehört, wie
es mit dem „Schlüssel der Macht“ weiter gegangen ist, nachdem wir weg waren?“
„Ich glaube, es gibt niemanden, der nicht davon gehört hat.“, sagte Jonas und
verdrehte die Augen, „Die Organisation ist komplett zerschlagen. Viele Leute wurden
verhaftet. Aber es ist nicht so leicht, sie zu verurteilen, weil es zu wenig Beweise
gibt. Vor einer Woche hat ein Politiker den Vorschlag geäußert, die Sache einfach auf
sich beruhen zu lassen und sie als vergangen anzusehen. Sprich: es gibt keine Strafen
und alles ist wieder in bester Ordnung.“ Er machte eine kurze Pause und strich sich
nachdenklich eine Strähne seines blonden Haares aus dem Gesicht „Immerhin soll
darauf geachtet werden, dass sich so eine Gruppe nicht wieder neu formiert.“ „Wie
bitte?“, fragte Leo wütend, „Das kann ja wohl nicht wahr sein. Die haben so viele
Menschenleben auf dem Gewissen und es wird einfach totgeschwiegen?“ Hedwig
zuckte bedauernd mit den Schultern und stürzte die Lippen. „Das ist eben der
einfachste Weg, sich aus weiteren Schwierigkeiten herauszuhalten.“
„Hallo Jonas!“ Die motivierte Stimme seiner Schwester machte ihn wahnsinnig.
Missmutig erwiderte er den Gruß und schaute sich in dem Unterrichtsraum um. An
den Wänden hingen an einer Schnur aufgereiht seltsame Zeichen, die wohl das
hebräische Alphabet darstellen sollten. Diese Aufmachung erinnerte Jonas an seine
Grundschulzeit, in der er und seine Klassenkameraden sich mit Feuereifer auf jeden
neuen Ausmalbuchstaben gestürzt und ihn danach stolz präsentiert hatten. Aber das
hier war keine Grundschule. Hinter dem Lehrerpult stand Frau Nalisa und bat die
Besucher, sich auf die Stühle in der hintersten Reihe zu setzen. Ihre Klasse war
aufgeteilt worden. 45 Minuten nahmen sechs von ihnen am Hebräischunterricht teil
und die anderen sechs besuchten die Griechischklasse, danach wurde getauscht. Als
Jonas sich umsah, fiel ihm auf, dass ungefähr die Hälfte der Schüler in diesem Raum
eine Klasse über seiner Schwester sein mussten. Na super, dachte er, dann müssen
wir ja auf dem Niveau der Siebtklässler mitarbeiten. Er empfand diese
Infoveranstaltung als reine Zeitverschwendung. Er wusste sowieso schon, dass er
Hebräisch wählen würde. Genau wie Lisa. Sie würde ihn zwar nicht abschreiben
lassen, ihm aber helfen, wenn er wie so oft auf dem Schlauch stand. Zehn Minuten
lang erklärte Frau Nalisa ihnen etwas über den Unterrichtsinhalt. Das Einzige, woran
Jonas sich erinnern konnte, war, dass die älteren Schüler auf einem höheren Niveau
arbeiteten als die jüngeren und dass die Sechstklässler gerade dabei waren, ihre
ersten hebräischen Sätze zu übersetzen und danach zu formulieren. Ein paar Minuten
später schreckte Jonas auf. Er fürchtete schon, er sei während der Ausführungen der
Lehrerin eingeschlafen, stellte dann aber mit einem Blick auf die Uhr erleichtert fest,
dass das nicht sein konnte. Den Rest der Stunde verbrachten sie damit, die
verschiedenen Tischgruppen zu besuchen. Jede von ihnen hatte eine eigene kleine
Station vorbereitet. Nachdem Jonas also vom einen Tisch zum anderen gewankt war,
versucht hatte, zu begreifen, dass man hebräische Texte von von rechts nach links
liest und zig verschiedene Buchstaben ausgemalt hatte, die für ihn alle gleich
aussahen, war es endlich vorbei. Er hoffte inständig, dass Professor Xynulaikaus
seinen Griechischunterricht wenigsten etwas spannender gestalten würden, glaubte
aber nicht so recht daran. Doch nicht alle von seinen Klassenkameraden schienen die
Stunde genauso langweilig empfunden zu haben wie er. Hedwig, die die ganze Zeit
über bei ihm gewesen war und irgendwie nicht geschnallt hatte, dass sich ihr Freund
neben ihr beinahe zu Tode langweilte, schien von dem Unterricht positiv überrascht
zu sein. „Das ist ja gar nicht so langweilig, wie ich dachte.“, sagte sie, als sie sich
gemeinsam mit ihrer Gruppe auf den Weg zum nächsten Raum machten. Jonas
konnte daraufhin nur ungläubig eine Augenbraue hochziehen.
Am Nachmittag wusste Jonas, welche Sprache er wählen würde. Griechisch. Leo und
Hedwig hatten seine Entscheidung überrascht zur Kenntnis genommen, Lisa war
entsetzt gewesen. „Wie willst du denn bitte Griechisch lernen ohne meine Hilfe?“
Daraufhin hatte Jonas ihr geantwortet, dass er doch nicht so dumm war, wie sie von
ihm dachte und dass ihm Professor Xynulaikaus Unterricht um Meilen besser
gefallen hatte als Frau Nalisas „offenes Lernen“, das ihn in seine Kindheit
zurückversetzt hatte. Marie hatte sich über seine Entscheidung gefreut. Auch sie war
sich jetzt sicher, dass sie Griechisch wählen würden, auch wenn sie am liebsten beide
Sprachen gleichzeitig belegt hätte. Sie freute sich darauf, Jonas bei den
Hausaufgaben zu helfen und das im Unterricht Besprochene noch einmal mit ihm
durchzugehen, hatte ihm aber unmissverständlich klar gemacht, dass sie ihn
keineswegs würde abschreiben lassen. Aber das hatte Jonas auch schon so erraten.
Typisch Marie. Das Einzige, was er bedauerte, war, dass sich Leo und Hedwig
tatsächlich für den anderen Kurs entschieden hatten und sie auf diese Weise weniger
Zeit miteinander verbringen würden. Leo hatte auf seinen Einwand hin nur
geantwortet: „Du siehst mich jeden Tag direkt nach dem Aufstehen. Reicht dir das
denn nicht?“ Und später hatte er mit skeptischem Blick hinzugefügt: „Und denk ja
nicht, dass ich jetzt auch Griechisch wähle, nur um von morgens bis abends bei dir zu
sein. Ich werd mich auch so noch genug um dich kümmern.“
Sobald die zarten Flügel sich rührten, raschelte es. Und jedes Mal, wenn es raschelte,
spitze Erwin die Ohren und fixierte mit seinen großen, braunen Augen verzückt die
beiden kleinen Terminkalender, die vor seiner Nase hin und her flatterten.
Dummerweise beachteten ihn weder Marie noch Hedwig. Sonst wäre ihnen vielleicht
der Gedanke gekommen, dass Erwin die neuen Mitbewohner für ein originelles
Spielzeug hätte halten können. Die beiden Mädchen saßen auf ihrem Zimmer und
machten sich mit den merkwürdigen Helfern bekannt. Schließlich waren sie dazu
verpflichtet worden, von den Fähigkeiten der Terminkalender Gebrauch zu machen
und da es für die lebendigen Wesen dort keine Bedienungsanleitung gab, mussten sie
sich mit dem Dialog begnügen. Hedwig saß zusammengekauert auf ihrem Bett und
musterte die beiden Flugobjekte argwöhnisch. Seit Professor Hermann ihnen zwei
der Dinger auf ihr Zimmer gebracht hatte, war zwischen Marie und ihr eine unsichere
Stille eingekehrt. Sie trauten sich nicht, sich zu unterhalten, aus Angst, die
Terminkalender würden ihren Senf dazugeben. „Ähm“, machte Hedwig und räusperte
sich, „Hallo erst mal. Wer seid ihr überhaupt?“ Im Chor und mit hoher Stimme
antworteten die beiden: „Der Terminkalender ist stets zu Ihren Diensten.“ Das hatten
die Mädchen jetzt schon tausend mal gehört. Schließlich schwirrten die kleinen
Dinger überall im Schulgebäude herum und verunsicherten jeden, der vorbeikam mit
ihrer sich immer wiederholenden Floskel. Man war nirgendwo mehr vor ihnen sicher.
„Könnt ihr eigentlich auch etwas anderes sagen?“, fragte Marie interessiert, „Wie
heißt ihr zum Beispiel?“ „Bitte geben Sie uns einen Namen.“, antwortete der
monotone Sprechgesang. So langsam reifte in Marie die Überzeugung heran, dass es
sich bei dieser Spezies doch nicht um echte, irianische Tiere handelte, sondern um
eine Art Roboter. Leise fragte sie an ihre Freundin gewandt: „Ist das wirklich eine
Tierart?“ Hedwig zuckte mit den Schultern. „Ich habe noch nie etwas davon gehört.“,
murmelte sie, „Aber Iria ist und bleibt dir ein Rätsel, ganz egal, wie lange du schon
hier lebst.“ Das gefiel Marie. In ihrer Welt gab es natürlich auch viele Sachen, die
man sich nicht erklären konnte, aber die meisten von ihnen waren negativ. Wie schön
es doch wäre, wenn auch bei ihr zu Hause plötzlich so ein Terminkalender ins
Zimmer schweben und ihr das Datum der nächsten Klassenarbeit ansagen würde!
Doch ihre Meinung über die kleinen, fliegenden Wesen sollte sich noch schlagartig
ändern. „Na gut.“, sagte Marie dann und wandte sich wieder an die Terminkalender.
„Wer von euch gehört denn jetzt wem?“ Ohne zu antworten, setzte sich einer von
ihnen auf Maries Schulter, der andere auf Hedwigs. „Dann wäre das also geklärt.“,
meinte ihre Freundin. Das Heft auf ihrer Schulter war leicht und es kitzelte jedes Mal
ein bisschen, wenn die silbernen Flügel ihre Wange streiften. „Ist es dir wirklich ganz
egal, wie ich dich nenne?“, fragte Hedwig, während sie den Terminkalender musterte.
Dieser antwortete nur unpersönlich und in freundlicher, einfältiger Tonlage: „Bitte
wählen Sie einen Namen aus.“ „Dann heißt du jetzt Gundula.“, antwortete Hedwig,
ohne weiter zu überlegen. Marie musste ein Lachen unterdrücken. Dann überlegte
sie, welchen Namen sie ihrem Unterstützer geben könnte. Ihr fiel partout nichts ein.
„Wie wär´s mit Herbert?“, fragte Hedwig unverblümt. Doch Marie musterte sie nur
kopfschüttelnd. „Du heißt Sternchen.“, sagte sie schließlich. Nun war Hedwig
mindestens genauso erschrocken über den Namen, den Marie gewählt hatte, wie
diese über Gundula. „Sternchen.“, wiederholte sie, als sei das ein schlechter Scherz.
„Ja, warum nicht? Mein Terminkalender soll einen schönen Namen haben.“, konterte
Marie selbstsicher. „Alles klar.“, sagte Hedwig und tippte sich an die Stirn. Die
nächste Zeit verbrachten sie damit, auf Anweisung der Terminkalender ihnen ihre
Termine für die nächste Woche zu diktieren. Die beiden Mädchen wunderten sich,
wie die Wesen sich das alles merken konnten. Nach einiger Zeit griff Hedwig sich
unvermittelt das in der Luft schwirrende Sternchen und schlug es auf. Sie staunte
nicht schlecht. Die erste Seite war beschrieben. Und zwar genau mit den Terminen,
die Marie gerade genannt hatte. Als Hedwig den Kalender wieder losließ, hatte sie
den Eindruck, als hätte er sich wegen ihrer groben und spontanen Handlung
erschrocken. Jedenfalls schwirrte er, ohne ein Wort zu sagen, in Eiltempo davon und
suchte sich ein sicheres Plätzchen auf einem kleinen, schwarzen Stück Teppich. Dass
dieser Teppich die behaarte Schnauze des mittlerweile eingeschlafenen Erwins war,
bemerkte Sternchen zu spät. Schon war Erwin aufgesprungen und jagte
schwanzwedelnd und kläffend dem kleinen blauen Heftchen hinterher, während er
mit seinen Pfoten danach schlug. In Windeseile floh der Terminkalender auf den
Kleiderschrank. Hedwig versuchte, den noch immer umherspringenden Erwin zu
beruhigen und schimpfte mit ihm, als er sich auch noch die Frechheit herausnahm,
sich an ihrer Gundula zu vergreifen. Zum Glück schien die Gute um einiges
intelligenter zu sein als ihre Arbeitskollegin. Sie brachte sich nämlich
geistesgegenwärtig in Sicherheit und zwar so, dass sie immer noch in der Nähe des
Hundes war, allerdings ohne, dass dieser sie erwischen könnte. Dort thronte sie nun
und Marie hatte das Gefühl, als schaue sie mit schadenfrohem Blick auf den
aufgeregten Hund herab. Marie schnaubte innerlich. Gundula.
Die Tasten waren glatt. Jedes mal, wenn seine Finger den Ton wechselten, spürte er
die kleine Rille, die sich zwischen die einzelnen Tasten grub. Und jedes Mal, wenn
eine Note mit Vorzeichen kam, stiegen seine Finger einen kleinen Berg hinauf, um
die kürzere und dunklere Taste zu erwischen. Doch das spürte er gar nicht mehr. Er
war vollkommen in der Melodie versunken. Er war nicht konzentriert. Er schaute
nicht angestrengt auf die Noten vor ihm, um ein neues Stück zu erlernen, denn er
kannte es bereits. Einmal hatte er es gehört und seitdem nie wieder vergessen. Die
Musik, die sich in seinem Kopf abspielte, war deckungsgleich mit der, die er
erzeugte. Er musste nur noch auf die Noten schauen, die sich vor seinen Augen zu
Bildern zusammenfügten, um zu wissen, an welcher Stelle er sich gerade befand. Er
war ganz ruhig. Er dachte nicht und doch war sein Gehirn vollauf mit der Melodie
beschäftigt. Nicht damit, den richtigen Ton zu finden. Nicht damit, fehlerfrei zu
spielen. Er fiel in eine Art Trance. Wenn sein Geisteszustand so blieb und er nicht
versuchen würde, seine Finger zu kontrollieren, würde er das Stück fehlerfrei zu ende
spielen können. Ein paar Sekunden später klangen die Töne in seinem Kopf nur noch
nach. Er hatte es geschafft. Leo riss sich zusammen. Jetzt musste er zurück in die
Wirklichkeit. Erstaunt fasste er zusammen, was er beim Spielen festgestellt hatte. Es
war das erste Mal gewesen, dass er von dem Musikzimmer in seiner Schule
Gebrauch machte. Der ganze Raum war vollgestopft mit den verschiedensten
Instrumenten und Notenbüchern aus allen erdenklichen Genres. Das Klavier klang
gut. Es war anscheinend vor nicht allzu langer Zeit gestimmt worden. Leos Gedanken
wanderten wieder zurück zu seinem Freund, der jetzt allein oder besser gesagt,
bewacht von zwei Terminkalendern, in seinem Zimmer saß und schmollte. Sie hatten
sich gestritten. Leo stöhnte bei dem Gedanken daran.
„Wie nennst du deinen Terminkalender?“, fragte Leo seinen Freund. Er hoffte, seine
eigene Fantasie würde durch Jonas meist wahnwitzige Ideen beflügelt werden. Jonas
überlegte. Dann eröffnete er mit melancholischer Stimme: „Ich glaube, ich nenne ihn
Sigor.“ Auf einen Schlag breitete sich eine unangenehme Stille im Raum aus. Selbst
die beiden Terminkalender hatten aufgehört zu fliegen, sodass das nervige Geraschel
allmählich verebbt war. „Sigor?“, Leos Stimme war tief und schwer. „Sigor.“,
bestätigte Jonas, „Wie mein Vater.“ Der trotzige, in sich gekehrte Gesichtsausdruck
zeigte Leo, womit sein Freund die ganze Zeit über innerlich beschäftigt gewesen war.
Jonas Vater war ein Mitglied des „Schlüssels der Macht“ gewesen, hatte sich als
Lehrer in Firaday eingeschleust, um herumzuspionieren und war dann irgendwann
im Nichts verschwunden. Leo konnte nicht verstehen, was Jonas an so einem Vater
fand, von dem er bis zum letzten Schuljahr nichts gewusst hatte, weil dieser die
Familie schon vor über elf Jahren verlassen hatte. „Du redest von deinem Vater, als
sei er tot.“, sagte Leo deshalb dumpf. „Vielleicht ist er das ja auch.“, Jonas Augen
funkelten, „Wenn ja, dann werde ich ihn finden und aufklären, wie es zu seinem Tod
kommen konnte.“ Leo konnte nicht anders, als resignierte den Kopf zu schütteln.
„Ach, Jonas, wie willst du das denn anstellen?“ Jonas sah ihn bitter an. „Ich habe
die Ferien dazu genutzt, um mir einige Anhaltspunkte über ihn zu suchen. Ein alter
Mann hat mir gesagt, dass er sich angeblich zuletzt am Bahnhof in der Nähe des
Antiochia Riffs aufgehalten hat und in einen Zug nach Liemir gestiegen ist.“ „Ein
alter Mann?“, Leo zog die Augenbrauen hoch, „Woher kannte der denn deinen
Vater?“ „Weiß ich nicht.“, beichtete Jonas mit gleichgültiger Miene, „Ich habe mich
mit ihm unterhalten, während Tyra und Lisa Stunden in so einem blöden
Kunstmuseum verbracht haben.“ „Und was war das für ein Mann?“, hakte Leo
skeptisch nach. Jonas schnelle Antwort ließ seine Augen größer werden. „Ein
Obdachloser eben.“ „Was? Der kann dir doch alles Mögliche erzählen.“ Leo
schüttelte verärgert den Kopf. „Du solltest auf irgendsoeinen Typen, der dir mal
zufällig über den Weg läuft, nicht hereinfallen.“ „Und wenn es die einzige Spur
ist?“, fragte Jonas mit zusammengekniffenen Augen. Leo konnte immer noch nichts
weiter tun, als mit dem Kopf zu schütteln. Er war total baff. Was war bloß mit seinem
Freund los? „Ich verstehe dich einfach nicht.“, sagte er, seufzte dann und überlegte
kurz, ob er das, was ihm auf der Zunge lag, wirklich sagen sollte. Schließlich
entschied er sich dafür. Immerhin waren es eigentlich nur Tatsachen, die Jonas
längst kannte. „Ich kann dir sagen, weshalb er am Antiochia Riff war. Und du weißt
es genauso gut wie ich. Erinnerst du dich?“ Provozierend schaute er Jonas in die
Augen. Doch der reagierte nicht. „Am Antiochia Riff hat uns deine liebe Schwester
Chila abgefangen, um uns mitzunehmen und elendig verrecken zu lassen.“ Bei der
Erinnerung an dieses Erlebnis lief es Leo immer noch eiskalt den Rücken hinunter.
Dann fuhr er bestürzt fort: „Weißt du nicht mehr? Die wollte Marie den Kopf
abhacken! Bestimmt hatte dein toller Vater ursprünglich vor, ihr dabei zu helfen, uns
in ihr Hauptquartier Ulrügio zu bringen. Mensch, Jonas, wach doch auf! Sigor
Maschael ist ein Biest! Du warst ja nicht dabei, als er in Belorroun unschuldige
Schüler misshandelt hat. Du hast ja nie gespürt, wie es sich anfühlt, von so einem
wie eine Kakerlake behandelt zu werden. Mit so viel Verachtung und...“ „Halt den
Mund!“, brüllte Jonas. Sein Kopf war hochrot angelaufen und er hatte die Händen
zu Fäusten geballt. Außerdem zitterte er. Leo wusste nicht, ob vor Wut oder Trauer.
„Das sind alles Lügen, die ihr euch da ausgedacht habt! Du und Marie! Und Lisa
kann auch nicht Recht haben, wenn sie behauptet, dass unser Vater ein gefühlloses
Schwein war, das sich mit Leib und Seele so einer schrecklichen Organisation
verschrieben hat! Das stimmt alles nicht! Er ist doch immer noch mein Vater.“
Danach hatte Jonas ihn so hasserfüllt angestarrt, dass Leo beschlossen hatte,
schleunigst den Raum zu verlassen. Er hatte es mit der Angst zu tun bekommen. So
hatte sich Jonas nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen aufgeführt. Leo hatte
keine Ahnung, was mit ihm los war, aber er vermutete, dass durch die Verluste, die er
im letzten Jahr erlitten hatte, einfach eine Sicherung bei ihm durchgebrannt war. Er
tat Leo leid. Es schmerzte ihn, dabei zuzusehen, wie sein bester Freund verrückt
wurde. Hoffentlich würden sie sich bald wieder vertragen.