Читать книгу Iria - Blut wie Regen - Lea Loseries - Страница 5
Eine falsche Bestellung
Оглавление„Wann muss ich wieder los?“ Eljosch Kanidis war es, als säße er auf heißen Kohlen.
Vor einer halben Stunde erst war er wieder nach Hause gekommen und jetzt stand
urplötzlich seine persönliche Beraterin und Managerin auf der Matte, um ihn auf den
nächsten Termin vorzubereiten. Und das nach einer durchwachten Nacht! „In einer
Stunde findet das Gespräch mit Herrn Borost im Verhandlungssaal statt. Bis dahin
solltest du alle relevanten Fakten überflogen haben und für einen angeregten
Austausch gewappnet sein. Und du sollten duschen!“ Kristina verzog das Gesicht.
Sie kannte Eljosch jetzt schon seit Jahren. Eigentlich war sie mehr als nur seine
engste Vertraute, was die Arbeitsangelegenheiten betraf. Sie ihm zu einer Freundin
geworden. Und als solche konnte sie sich sogar erlauben, den Präsidenten von Iria
persönlich von zu Hause abzuholen, um ihn daran zu hindern, einen wichtigen
Termin in den Sand zu setzen. Er schnaubte. Und während er versuchte, sich seiner
stinkenden Socken zu entledigen, wetterte er: „Wenn Emanuel noch bei uns wäre,
wär das alles nicht passiert. Er wüsste, wie man mit so einer Situation umgehen soll.“
Wütend stampfte er auf, wodurch er in die warme Kaffeepfütze trat, die sich soeben
aufgrund seiner Unachtsamkeit auf den Fußboden ergossen hatte. „Wie konnte er uns
nur im Stich lassen? Das ist verantwortungslos. Am liebsten würde ich ihn verklagen,
zur Rechenschaft ziehen und dann...“ „Und ihn dann wieder bei jeder wichtigen
Entscheidung im Land zu Rate ziehen, ich weiß.“, Kristina schürzte die Lippen. „Ich
vermisse ihn auch. Aber das ist keine Ausrede, um nicht zur Arbeit zu gehen. Jetzt
beeil dich.“ Eine Dreiviertelstunde später saß der Präsident von Iria im
Verhandlungssaal und war mit voller Konzentration in die Papiere vertieft, die er
studierte. Es blieb ihm viel zu wenig Zeit, um sich richtig auf das Gespräch
vorbereiten zu können. Er war ja schon froh, selbst nicht zu spät gekommen zu sein.
Aber wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass keine Zeit der Welt ihm
tatsächlich die Möglichkeit gegeben hätte, sich auf Borost vorzubereiten. So ein
Mann wie er machte immer nur Ärger. Eljosch räusperte sich. Er war perfekt gestylt,
jede einzelne Strähne seines langen Haares saß richtig. Und er würde heute, wie an
jedem anderen Tag auch, wieder erfahren, ernst und durchsetzungsfähig wirken, so,
wie man es von einem Staatsoberhaupt eben erwartete. Aber in seinem Inneren
rumorte es. Die Tür sprang auf. Herein kam ein asketisch wirkender, dünner Mann in
Anzug, dessen elegantes Erscheinungsbild durch seine eisblau gefärbten Haare
gänzlich ins Lächerliche gezogen wurde. Borost. Es war ihm schleierhaft, wie eine
Bürgerinitiative so einen zu ihrem Sprecher hatte wählen können. Er kam zehn
Minuten zu früh. „Guten Tag, Herr Präsident.“, sagte er und reichte dem
Angesprochenen die Hand. Eljosch machte sich nicht die Mühe, von seinen
Unterlagen aufzublicken. „Sie sind zu früh.“, stellte er fest, ohne sich jegliche
Emotionen anmerken zu lassen. „Ich weiß.“, bestätigte Borost, „Ich bin ein bisschen
früher dran, weil ich sie warnen wollte.“ Er hatte sich mittlerweile einen Stuhl
genommen und sich dem Präsidenten direkt gegenüber gesetzt. Seine langen
Fingernägel ließ er ungeduldig über den Tisch kratzen. Eljosch blickte auf und
fixierte sein Gegenüber. Ohne mit der Wimper zu zucken. Doch Borost gab sich nicht
einmal Mühe, dem Blickkontakt standzuhalten. Wahrscheinlich ist er wieder bekifft,
ärgerte sich Eljosch und zog die Mundwinkel nach unten. „Sie warnen den
Präsidenten?“ Er fand sich gut in seiner Rolle als Autoritätsperson. Sehr gut sogar.
Hätte er sich selbst gegenüber gesessen, er hätte es mit der Angst zu tun bekommen,
so kalt und schneidend war sein Ton. Doch Borost war zu unaufmerksam, um dies
überhaupt wahrzunehmen. Oder aber er hatte Nerven aus Stahl. „Um sie zu warnen,
ganz Recht.“ In Borosts Stimme lag Abscheu und er machte keinen Hehl daraus, dass
er den Präsidenten abgrundtief hasste. „Ich habe mir nämlich Unterstützung
mitgenommen.“ Sofort dachte Eljosch an bezahlte Schlägertrupps, die ihm auflauern
würden, wenn er nicht das machte, was dieser Lackaffe vor ihm von ihm verlangte.
Die kommen eh nicht an mich dran, dachte er grimmig. „Die Presse ist bei mir.“
Eljosch zuckte zusammen. Für einen kurzen Moment verlor er die Fassung. „Sie
haben was?“, fragte er, ohne seine Überraschung ganz verbergen zu können. „Unser
Gespräch hier werden heute Millionen von Menschen mitverfolgen.“, eröffnete
Borost, „Sie haben doch sicherlich nichts dagegen, oder?“ Eljosch holte tief Luft.
Und ob er etwas dagegen hatte! Er wusste ganz genau, dass es für ihn übel aussehen
würde, wenn Borost die Reporter in der Hand hielt. Er war ein Meister der
Täuschung und ganz egal, was er ihm heute antworten würde, es würde zu seinen
Ungunsten ausgelegt werden. Und selbst wenn Borost die Leute nicht geschmiert
hatte, die Presse war ein nicht zu zähmendes Tier, das im einen Moment ein
Regenwurm und im nächsten ein Tiger sein konnte. Außerdem hatte Eljosch die
letzten 36 Stunden nicht geschlafen und seine Vorbereitung war miserabel gewesen.
Na super! Pressebesuche musste man anmelden, das, was Borost hier machte, war
illegal. Gerade wollte er ihm das unter die Nase reiben und die Besprechung absagen,
als er daran dachte, was für Konsequenzen das haben würde. Also blieb er cool.
„Natürlich habe ich nichts dagegen.“, versicherte er, „Unsere Bürger sollen ja
schließlich über alles, was in der Politik passiert, Bescheid wissen und mitreden
dürfen, richtig?“ „Richtig.“, Borosts schmieriges Lächeln zeigte ihm, dass er verloren
hatte.
Der Qualm nahm ihm fast den Atem. Er versuchte, die Luft anzuhalten und durch die
grauen, dichten Schwaden davonzurennen. Doch es gelang ihm nicht. Er konnte sich
einfach nicht losreißen, sosehr sein Körper sich auch gegen die Stricke, die ihn
hielten, aufbäumte. Er war gefangen. Er hörte das Knistern der Flammen, konnte
aus den Augenwinkeln Feuerzungen hervorschnellen sehen. Dann sah er nur noch
weiß. Ein blendendes Weiß, genauso schrecklich wie der Schmerz, der ihn durchfuhr.
Er schrie. Es war grauenvoll. Sein ganzes Dasein war nur noch Schmerz.
„Suro? Suro!“ Von einem Moment auf den anderen war er hellwach. „Ja?“, fragte er
perplex, noch während sein Oberkörper hochschoss, „Was ist denn?“ Er blickte in
das ungeduldige Gesicht seiner Chefin, Professor Ferono. Ihr Blick sagte alles. Er
war eingeschlafen, hier, im Lehrerzimmer. Wie das nur? Aber die Angelegenheit,
wegen der Professor Ferono ihn sprechen wollte, schien wichtig zu sein, sodass ihm
eine peinliche Szene erspart blieb. „Ist der Satz Englischbücher für die neue fünfte
Klasse endlich geliefert worden? Ich warte schon seit Tagen darauf.“ Er stöhnte. „Ja,
kann sein.“ Ihm war gerade nicht nach nachdenken zumute. Da fiel ihm wie von
selbst etwas ein. „Doch, warte mal. Ich glaube, da ist ein Paket angekommen, unten
in der Eingangshalle.“ Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, verschwand Professor
Ferono. Sie hastete in den großen, mit rotem Teppich ausgekleideten Raum, der nur
durch die an den Wänden hängenden Fackeln und dem eisernen Kronleuchter erhellt
wurde, der einige Zentimeter von der Decke baumelte. Das Licht war warm und
gemütlich. Angestrengt suchten ihre Augen den Fußboden nach einem Paket ab. Und
fanden es. Dort stand es, direkt in der Mitte. Sie lief darauf zu, stolperte, fing sich
wieder. Dann nahm sie eine Schere aus der Tasche ihres roten Lehrerumhangs und
ritzte damit das Klebeband auf, mit dem das Päckchen sorgfältig verschnürt worden
war. Das gelang ihr nicht sofort. Noch während sie daran herumbastelte, hörte sie,
wie in einem der beiden Türme eine Tür knallte. Danach vernahm sie, wie Schritte
die Treppe hinunter polterten. Sie musste nicht einmal aufsehen, um zu wissen, dass
es ihr Neffe war. „Was ist das?“ Interessiert kam Jonas auf sie zu. „Englischbücher.“,
antwortete Professor Ferono knapp und hoffte, ihn mit dieser Auskunft in die Flucht
zu schlagen. Doch weit gefehlt. Stattdessen gab Jonas ein langgezogenes „Aha“ Von
sich und fragte: „Kann ich dir helfen?“ Wenig später standen sie beide da und
versuchten das Paket zu öffnen, während Lisa Frau Igwanodow, der Reinigungskraft
der Schule, zur Hand ging, um alles für die Rückkehr der anderen Schüler
vorzubereiten. Nach zehn Minuten hatte Jonas Ungeduld gesiegt und verleitete ihn
dazu, so sehr an dem Deckel zu ziehen, dass er schließlich mit einem ekligen Ritsch
aufsprang. Dabei rief er triumphierend „Ha!“ Gerade wollte er nachschauen, ob die
Englischbücher der neuen fünften Klasse genauso hässlich waren wie seine eigenen,
als ihn ein Geräusch stutzig machte. In dem Karton knisterte und raschelte es. Es war
ein Geräusch, als würden abertausende Blätter aneinander gerieben werden. Dann sah
er verdutzt zu, wie aus dem offenen Karton plötzlich ein Schwarm kleiner, blauer
Terminkalender herausflog. Zuerst hielt er sie für Drohnen, doch dann musste er
schreckensbleich feststellen, dass es sich tatsächlich um kleine Papierheftchen mit
silbernen Flügelchen handelten, die sich innerhalb weniger Sekunden im ganzen
Raum ausgebreitet hatten und ihn mit ihrem unverwechselbarem Rascheln erfüllten.
„Tolle Englischbücher. Warum hatten wir so welche nicht?“ Kopfschüttelnd musterte
er seine Tante, die mit offenem Mund versuchte, die kleinen fliegenden Dinger
wieder einzufangen. „Aber… das hatte ich doch gar nicht bestellt!“ Doch für Reue
war es jetzt zu spät. Schon ließ sich ein kleiner Terminkalender auf ihrer Schulter
nieder. „Guten Tag.“, die Stimme war sanft und hoch, „Der Terminkalender ist stets
zu Ihren Diensten.“ „Können die sprechen?“ Jonas kam aus dem Staunen gar nicht
mehr heraus, während er die kleinen Flugkörper fasziniert anstarrte. „Was ist denn
hier los?“ Gerade war Lisa in die Halle gekommen und konnte über das Chaos, das
sich da vor ihr erstreckte, nur entgeistert den Kopf schütteln. „Wer hat hier gerade
geredet? Jonas, warst du das?“ „Nein… das war der Terminkalender!“ Und schon
ließ sich ein weiteres kleines Flugobjekt auch auf Lisas Schulter nieder und sprach
sie mit derselben Formel an wie zuvor Professor Ferono. Lisa konnte ihren Augen
nicht trauen. „Was soll denn das?“, fragte sie perplex, „Kommen wir so oft zu spät,
dass du eine Armee von Terminkalendern auf deine Schüler loslassen musst?“ „Das
muss ein Missverständnis sein!“ Verzweifelt warf Professor Ferono die Arme in die
Luft. „Die Lieferung ging bestimmt an jemand anderen!“ „Viel Spaß beim
Zurückschicken. Die fängst du nie mehr ein.“, sagte Lisa trocken und verließ
kopfschüttelnd den Raum.
Er hatte alles bestens vorbereitet. In seiner rechten Hand hielt er eine Taschenlampe
und in seiner linken ein Karte. Nur für den Fall, dass er sich entgegen seiner
Erwartungen verlaufen sollte. Aber das würde nicht passieren. Er kannte diesen Wald
in- und auswendig. Auch über seine Bewohner hatte er genug Informationen
gesammelt, um ihnen endlich einmal selbst begegnen zu können. Das würde die
Forschung in diesem Land immens vorantreiben. Und er wäre derjenige, dem man es
zu verdanken hätte. Selbstsicher strich Tilo sich eine lockere Haarsträhne aus der
Stirn. Einer seiner potenziellen Kunden hatte dafür gekämpft, ihn mit einem Team
erfahrener Jäger auf seiner Mission unterstützen zu dürfen. Als ob er das nicht selbst
schaffen würde. Und außerdem: die Gierungen hatten noch nie einen Menschen
angefallen. An sich waren sie harmlose Tiere, hatten aber Eigenschaften, die man
sich in manchen Bereichen würde zunutze machen können. Aber vorher musste man
sie gründlich beobachten und dann einen Plan ausarbeiten, wie man sie am besten
einfangen konnte. Jetzt war er am Waldrand angekommen. Bedrohlich ragten die
finsteren Wipfel der Bäume gen Himmel. Dieser Anblick machte ihm jedes Mal aufs
Neue zu schaffen, auch wenn er das nur ungern zugab. Doch jetzt blieb keine Zeit für
lächerliche Schauermärchen. Er knipste seine Taschenlampe an, deren Licht gegen
das der vom Himmel lachenden Sommersonne ein Witz war und machte einen
beherzten Schritt in den Wald hinein. Noch ehe er sich versah, wurde es vollkommen
dunkel. Trotz des Lichts der Taschenlampe brauchte er einen Moment, bis sich seine
Augen an die Finsternis gewöhnten. Die Luft war feucht und schwül. Schon nach
wenigen Sekunden klebten ihm seine Outdoorklamotten wie maßgeschneidertes
Leder an der Haut. Er atmete tief durch. Das war also sein Wald. Langsam und
bedächtig ließ er den Leuchtkegel der Taschenlampe durch die Umgebung wandern.
Überall standen Bäume mit schwarzen Stämmen und auf dem Boden lag kein
einziger abgebrochener Ast. Stattdessen war ihm, als ginge eine Art Wasserdampf
von dem Untergrund aus, der ihm die Sicht erschwerte und das Licht, das er durch
die Taschenlampe erhielt, beinahe nutzlos machte. Er stieß einen leisen Fluch aus.
Wie sollte er die Tiere bei diesen Lichtverhältnissen beobachten? Langsam tastete er
sich voran. Es war ein komisches Gefühl. Zum ersten mal in seinem Leben konnte er
sehen, wohin er in lief. Oder: viel eher meinte er, sehen zu können, wohin er lief. Bis
jetzt hatte er sich immer im Stockdustern durch den Wald getastet und war jedes Mal
an sein Ziel gekommen. Doch jetzt war es anders. Der Schein der Taschenlampe, so
nutzlos er auch sein mochte, verlieh ihm ungeahnte Sicherheit. Er ging schneller.
Bald würde er am Ziel sein. Er hoffte, dass er sie finden würde. Anderenfalls musste
er dem Wald noch weitere Besuche abstatten, bis er sie endlich fand. Er dachte an
Jemina. Sie würde ganz verrückt sein vor Stolz auf ihn, der zu ihrem Wohl die
schlimmsten Gefahren auf sich nahm und die Gierungen zähmen würde. Er ging
weiter. Immer weiter und weiter. Er wunderte sich. So schnell wie er ging, müsste er
den Wald eigentlich schon längst durchquert haben und am andern Ende wieder
herauskommen. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass seine tiefe, schwere
Dunkelheit plötzlich vom Tageslicht durchflutet werden würde und den Blick auf das
steinerne Schloss am anderen Ende freigeben würde, in dem er zur Schule gegangen
war. Firaday. Die meisten Erinnerungen, die er mit seiner Zeit dort verband, waren
gut. Er lächelte innerlich. Was würde wohl der alte Professor Hermann sagen, wenn
er erfuhr, dass es einem seiner ehemaligen Schüler gelungen war, eine der wohl
seltsamsten Geschöpfe ganz Irias zu fangen, zu erforschen und für die Zwecke der
Menschen nutzbar zu machen? Ob er überhaupt noch unterrichtete? Tilo wollte, dass
es so war. Langsam, ganz langsam stieg ein Gefühl der Ungeduld in ihm auf.
Vermischt mit einer kleinen Prise Unbehagen. Um sich abzulenken, fing er leise an
zu pfeifen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, zu welchem Lied die Melodie
gehörte, aber er mochte sie. Da war es ihm plötzlich, als habe er in seiner Nähe einen
Schatten gesehen. Er hörte auf zu pfeifen, hielt inne und lauschte. Doch da war
nichts. Absolut nichts. Nur nach wie vor die charakteristische Stille. Wenn es doch
nur auch bei ihm zu Hause so ruhig wäre! Nichtsahnend ging er weiter. Bis er
plötzlich meinte, Geräusche zu hören. Er konnte sie beim besten Willen nicht genauer
definieren. Manchmal dachte er, es sei ein Schmatzen, dann wieder ein Schreien oder
ein Grunzen. Und jetzt ein langgezogener, wehklagender Laut. Wie der eines
verwundeten Tieres. Tilo hielt die Luft an. Langsam wurde es ihm hier zu
ungemütlich. In diesem Moment wünschte er sich, er hätte doch auf
den Kunden gehört und wäre nicht alleine hierher gekommen. Jetzt war ihm alles
egal. Er wollte hier nur noch raus. Die Mission konnte auch bis morgen warten. Er
fing an zu rennen. Verfolgt von den merkwürdigen Geräuschen und unheimlichen
Schatten. Er war schon eine geraume Zeit lang umhergeirrt, als er endlich erkannte,
dass es keinen Zweck hatte. Keuchend und schwitzend blieb er stehen und spitzte die
Ohren. Er hörte nichts mehr. Alles war ruhig und auch die Schatten waren
verschwunden. Ob er sich das vielleicht alles nur eingebildet hatte? Das wäre gut
möglich. Man sagt ja, dass das menschliche Gehirn sich nicht vorhandene Reize
einbildet, wenn es zu lange nichts wahrnehmen kann. Trotzdem. Er war jetzt viel zu
erschöpft, um seine Zielobjekte noch stundenlang zu beobachten. Mit einem leisen
Stöhnen faltete er die Karte auseinander und erhellte sie mit dem Strahl seiner
Taschenlampe. Er konnte alles genaustens sehen. Es war eine besondere Karte. Ein
kleiner grüner Punkt zeigte ihm immer an, wo er sich gerade befand. Tilo stutzte. Das
war unmöglich. Er war mitten im Wald. Kilometerweit entfernt von Firaday und
Miniklu, der kleinen Stadt, von der aus er gestartet war. Sein Herz setzte für einen
Moment aus. Er hatte sich wirklich verlaufen. Das hätte er sich niemals zugetraut.
Gott sei Dank hatte er die Karte mitgenommen! In Gedanken formulierte er ein
stummes Dankgebet und ging dann, die Augen auf die Karte gerichtet, weiter. Er war
zuversichtlich, sein Ziel bald zu erreichen. Doch seine Umgebung machte es ihm
nicht so leicht. Wieder fingen diese Geräusche an. Und dieses Mal wurden sie immer
lauter und lauter, bis er sie einfach nicht mehr ignorieren konnte. Sie waren wirklich
da! Panik erfasste ihn. Und Angst. Hektisch leuchtete er die Umgebung um sich
herum ab, konnte aber nichts weiter erkennen, als schwarze, undefinierbare Schatten,
die sich von allen Seiten auf ihn zu bewegten. Er wollte schreien. Aber aus seinem
Mund drang kein Ton. Tief und krampfhaft sog er Luft ein. Er wollte nicht sterben.
Da war doch Jemina, seine Verlobte. Was sollte sie ohne ihn machen? Wenige
Stunden zuvor war er doch noch dazu im Begriff gewesen, die Welt zu verändern.
Warum geschah jetzt so etwas? Von einem Moment auf den anderen, er konnte sich
nicht erklären, warum, löste sich seine Schockstarre und er fing wie ein Irrer an zu
rennen. Er wusste nicht, ob er wirklich davonrannte oder sich nur im Kreis drehte,
jedenfalls tat ihm die Bewegung gut. Und er schrie. Er schrie so laut er konnte. Zu
seinem größten Entsetzen erhielt er eine Antwort. Ein lauter, grässlicher,
quietschender Schrei. Diesem einen Schrei folgten weitere, bis sich das Ganze
schließlich zu einem einzigen Gebrüll verwandelt hatte. Es war zwecklos. Er saß in
der Falle. Tilo hörte auf zu laufen. Wenn das hier das Ende sein sollte, dann war es
gut. Er hatte keine andere Wahl, als es zu akzeptieren. Alles, was er tun konnte, war,
darauf zu vertrauen, dass dieses Leben nicht das Ende war. Er dachte an Jemina. Es
tat ihm weh, sie vor seinem inneren Auge zu sehen. Inständig betete er für sie. Dann
sah er sie. Sein Mageninhalt entleerte sich. Seine Hose war nass und durchweicht, der
Boden vor ihm von einer gelben, glibberigen Flüssigkeit bedeckt. Das Dunkle
bäumte sich vor ihm auf. Das Letzte, was er sah, war eine messerscharfe Kralle, die
im Licht seiner Taschenlampe aufblitzte, um daraufhin einen starken, kurzen
Schmerz in seiner Brust zu erzeugen. Dann sackte er in sich zusammen. Der kleine,
grüne Punkt auf seiner Karte löste sich in Luft auf.
Ein Geruch nach frischem Gebäck und Süßwaren lag in der Luft. Es wäre schon fast
angenehm gewesen, wenn nicht überall Leute umher gehastet wären, die Leo und
Marie entweder fast umrannten oder ihnen ihre Ellenbogen beim Vorbeigehen
unsanft in die Rippen stießen. Die große Halle war erfüllt von Stimmen, aber vor
allem von dem Rollen der tausenden von Koffern, die über den gefliesten Boden
fuhren. Die beiden Freunde mussten sich den ein oder anderen Fluch von
ungeduldigen Passanten anhören und wurden von einer Art hilflosen Mitleids
überrannt, sobald sie die Bettler in ihren vor Schmutz starrenden Klamotten am Rand
des Geschehens sitzen sahen. Sie waren spät dran. Der Flieger würde in
fünfundvierzig Minuten den Flughafen verlassen. Nur hatten sie keine Ahnung, wie
sie ihn finden sollten. „Hat Jonas dir geschrieben, wo wir hin müssen?“, erfolglos
versuchte Marie, gegen den Lärm anzukämpfen. „Was?“, brüllte Leo, „Ich verstehe
dich nicht!“ „WOHIN MÜSSEN WIR?“ Marie gab sich alle Mühe, so laut wie
möglich zu schreien und endlich schien Leo zu verstehen. Er zuckte mit den
Schultern. „Keine Ahnung.“ In der nächsten Minute ließen sie sich einfach von dem
Strom aus Passanten mitreißen. Schließlich kamen sie sogar an einer altbekannten
Stelle vorbei. Marie erinnerte sich, wie sie hier im letzten Jahr zum ersten Mal auf
Carenszura, Jonas Schwester, gestoßen waren. Ihr echter Name war Chila gewesen.
Doch ihr würden sie zum Glück nie wieder begegnen. Sie war tot. Nach einer Weile
konnte Marie nicht mehr an sich halten. Es machte sie wahnsinnig, dass Leo einfach
so die Führung übernommen hatte, ohne zu wissen, wohin sie überhaupt mussten.
Noch dazu kam, dass sie sich Vorwürfe machte, erst so spät losgekommen zu sein.
Unsanft zerrte sie ihren Freund am Ärmel und bedeutete ihm energisch, ihr zu folgen.
Dieser schüttelte zwar den Kopf, ließ sich dann aber widerwillig mitreißen. Marie
führte ihn durch den nicht enden wollenden Strudel aus Menschen zu einem etwas
ruhigeren Bereich des Flughafens. Dort gab es einen Auskunftsschalter.
„Entschuldigung?“, sprach Marie die Dame an, die dahinter stand, „Wissen sie, wann
der Flieger nach Iria geht?“ Die Augen in dem Gesicht mit den sympathischen Zügen
weiteten sich. „Wohin?“, fragte die junge Frau, „Iria?“ Marie wurde etwas
unbehaglich zumute. Warum hatte Jonas sie nicht einfach abholen können, so wie
letztes Mal? „Ja.“, versuchte sie zu erklären, „So weit ich weiß, geht heute ein
Sonderflug zu einem Ort namens Iria.“ Die Frau runzelte zwar überrascht die Stirn,
machte sich aber immerhin die Mühe, den Namen in ihr Suchprogramm einzugeben.
Dann rief sie überrascht auf. „Tatsächlich.“, sagte sie und sah Marie freundlich an,
„Das habe ich gar nicht gewusst. Euer Flug geht in einer halben Stunde von Terminal
2, Gate 1,3.“ „Dankeschön.“, verabschiedete sich Marie und zog Leo mit sich. Dieser
wehrte sich und riss sich schließlich los. „Was soll das denn?“, blaffte er, „Gate 1,3?
Will die uns verarschen?“ Marie zuckte mit den Schultern. „Ist doch möglich, dass es
für den Iria-Flieger ein extra Gate gibt, das normalerweise nicht mit dazugehört. Aber
das muss irgendwo hier ausgeschildert sein.“ Suchend schaute sie sich um. Dann
stieß sie einen triumphierenden Pfiff aus und deutete auf ein Schild über ihnen. „Das
war vor zwei Wochen noch nicht da.“, maulte Leo und beeilte sich, mit Marie Schritt
zu halten. Die Kleine heizte ihm ganz schön ein. Noch dazu kam, dass sie ihm
einfach ihre fette Tasche um die Schulter gehängt hatte, die er nun schleppen musste.
Sie brauchte sich nur noch um den kleinen Rollkoffer zu kümmern. Das nächste Mal
würde er ihr seine Hilfe nicht mehr anbieten. „Das haben sie da bestimmt extra
aufgehängt.“, äußerte Marie ihre Vermutung in Bezug auf das Schild. Doch das
Reden hielt sie keineswegs davon ab, zu gehen. Ganz im Gegenteil: Während sie
sprach, steigerte sie ihr Tempo noch, bis sie schließlich fast rannte. „Jetzt warte doch
mal!“, rief Leo ihr verärgert schnaufend hinterher. Als er sie endlich eingeholt hatte,
meinte er: „Mein Vater hätte uns auch sonst mit dem Privatjet meines Opas dahin
fliegen können. Dann hätten wir uns diese ganze Hetzerei erspart. Aber du wolltest ja
nicht.“ Marie lachte verschmitzt. „Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“, fragte
sie, während sie im Slalom durch die Absperrungen kurvte. „Ich weiß doch ganz
genau, dass nicht jeder x-beliebige Pilot einfach so nach Iria fliegen kann. Das ist auf
keiner einzigen Karte eingezeichnet, schon vergessen? Und nur Irianer, die eine
entsprechende Ausbildung gemacht haben, wissen, wie man dort hin und wieder
zurückkommt.“ Leo schnaufte. Nach fünf Minuten waren sie bei Gate 1,3
angekommen. Völlig verschwitzt und außer Atem. Im Vergleich zu der überfüllten
Halle war der Bereich hier geradezu leer. Nur hin und wieder beobachteten sie ein
paar Leute in ihrem Alter, genauso bepackt wie sie, die sich gerade von ihrer Familie
verabschiedeten oder sich auf ihren Handys herumtippend die Zeit vertrieben. Beim
Stichwort Handy fiel Leo wieder ein, dass Handys in Iria tabu waren. Er würde
seines schon hier im Flughafen abgeben müssen. Dies war die letzte Gelegenheit, um
noch einmal seine WhatsApps zu checken. Eine Sekunde später wünschte er, er hätte
es nicht getan. Seine kleine Schwester Sarah-Annabell, die als Einzige aus ihrer
Familie von dem peinlichen Status, den man erstellen konnte, Gebrauch machte,
hatte jedes einzelne ihrer Beautyprodukte abfotografiert, die Fotos zusammengefügt
und sie kommentiert. Er wusste, dass es nicht ratsam war, sich das jetzt anzugucken.
Nach dem Gerenne würde ihm das den letzten Atem rauben. Marie hatte alles
mitbekommen. Grinsend schaute sie auf sein Display. „Na? Willst du nicht die Tipps
und Tricks deiner Schwester durchforsten? Wer weiß, vielleicht hat sie eine gute Idee,
wie du deine Pickel loswirst.“, feixte sie, woraufhin Leo ihr einen Knuff in die Seite
versetzte. Dann erzählte er ihr düster von der abendlichen Prozedur, die seit neustem
in ihrem Hause stattfand. Seit Sarah-Annabell mit ihren gerade mal neun Jahren
durch den Sexualunterricht in der Schule auf den Trichter gekommen war, dass sie
sich vielleicht schon in der Pubertät befand, hatte sie angefangen, ihr gesamtes
Zimmer umzuräumen und ihre Mode umzustellen. Aus ihrem quietschrosa
Prinzessinnenschloss war eine ebenso grässliche Beautyhöhle geworden, in der sie
nach dem Abendbrot immer verschwand, um darauf mit einem durch eine
Schneckenschleimmaske verunstaltetem Gesicht wiederzukommen. Als Leo seiner
Freundin das erzählte, musste sie lachen. Dann machte sie ihn auf die anderen
Jugendlichen aufmerksam. „Was meinst du?“, fragte sie, „Ob die wohl auch in Iria
zur Schule gehen?“ „Bestimmt.“, antwortete Leo, „Guck sie dir doch an. Die sind
genauso wenig motiviert wie du und ich.“ Erst in diesem Moment fiel ihm auf, was
er da gerade gesagt hatte und er fügte korrigierend hinzu: „Ich meine: nur wie ich. Du
brennst ja richtig auf Unterricht.“ „Gar nicht wahr.“, protestierte Marie beleidigt. Und
um wieder vom Thema abzulenken, meinte sie: „Den Jungen da vorne habe ich schon
mal in Sinistro gesehen. Willst du dich nicht mit ihm über Bibelkicker unterhalten?“
Leo sah Marie mit einem Gesichtsausdruck an, als hätte sie ihn gefragt, ob er denn
nicht Lust hätte, sich einen Pudel mit pinken Haaren zu kaufen. „Wieso sollte ich?“,
fragte er und kniff die Augen zusammen, „Ich kenne den Typen nicht.“ Marie
stöhnte. Typisch. Bloß nicht zu aufgeschlossen sein. Der Miesepeter Leo würde ihr
mit seiner pessimistischen Art noch den ganzen Flug über auf die Nerven gehen.
Doch dann fiel ihr etwas auf, das ihre Laune noch immens verschlechterte. Auf
einmal erschien auf der digitalen Fluganzeige ein roter Text, der besagte, dass der
Iria-Flieger mit mindestens einer Stunde Verspätung abfliegen würde. Sie stöhnte.
Die nächsten paar Stunden sah man zwei dutzend Schüler, die sich lustlos auf die
gepolsterten Wartesitze rund um das Gate verteilt hatten und gedankenverloren auf
ihr Flugzeug warteten. Leo schaute sich bei YouTube ein Katastrophenvideo nach
dem anderen an, allerdings nur so lange, bis sich Marie über den Lärm beschwerte
und ihn fragte, was so toll daran sei, Menschen leiden und sterben zu sehen. Seine
aufgebrachte Antwort war: „Darum geht es doch gar nicht! Die versuchen
aufzuklären, wie die Unfälle passieren konnten und wie man sich davor schützen
kann!“ Und mit einem abschätzigen Blick auf Marie fügte er hinzu: „Und das, was
ich mache ist allemal besser, als einen historischen Roman auf Englisch zu lesen. Das
Mittelalter, ich bitte dich! Da weiß ja sogar ich alles drüber, was man wissen muss.
Wozu braucht man also noch Bücher?“ „Ach ja?“, skeptisch zog Marie ihre Augen zu
Schlitzen zusammen, „Und das wäre?“ „Machtmissbrauch, Krankheit, Krieg,
Aberglaube. Also Mord und Totschlag.“ „Ist doch gar nicht wahr!“, maulte Marie,
„Natürlich war das Mittelalter ein dunkles Zeitalter, aber wusstest du zum Beispiel,
dass es auch schon damals Leute gab, die sich für Freiheit eingesetzt haben? Sie sind
von Dorf zu Dorf gezogen und haben den Menschen Lesen und Schreiben
beigebracht, damit sie die Bibel und andere damals wichtige Schriften selbst lesen
konnten.“ „Und dann wurden sie geschnappt und nach einer hochnotpeinlichen
Befragung auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“, führte Leo die Geschichte zu ende,
„Was für ein Pech aber auch! Dann kannst du dir gar keine Autogramme mehr von
ihnen holen.“ Maries Gesichtsausdruck veränderte sich. Jetzt war sie stinkwütend.
„Das ist nicht lustig.“, sagte sie und fixierte Leo dabei mit einem so düsteren Blick,
dass er für zehn Minuten die Klappe hielt. Irgendwann bekamen sie Hunger. Sie
kauften sich zwei überteuerte Brötchen und spazierten dann zurück zum Gate, um die
neue voraussichtliche Abfahrtszeit zu erfahren, bis zu der sie noch eine
Dreiviertelstunde warten mussten. Also beschlossen sie, sich in dem nah gelegenem
Shop umzusehen. Marie war gerade vor einem Regal mit allerlei billigem Schmuck
stehen geblieben, den sie nur mäßig interessiert betrachtete, als sie plötzlich etwas
Feuchtes im Nacken spürte. Dazu ein Pumpgeräusch und Leos kindisches Lachen.
Erst dann roch sie es. Oder besser gesagt: Sie konnte den Gestank nicht mehr
ignorieren. „Ihh!“, rief sie und fügte dann mit zugehaltener Nase hinzu: „Ist das
Männerparfüm?“ Leo grinste schadenfroh. „Nein.“, eröffneter er dann, „Aber es ist
das weiblichste Frauenparfüm, das ich jemals gerochen habe.“ „Das stinkt wie
Walkotze!“, beschwerte sich Marie und machte eine Geste, als müsse sie sich
übergeben. Da hörte sie, wie sich ihnen Schritte näherten. Gefolgt von einem großen
Mann mit Glatze. Er schien aus einem unerfindlichem Grund wütend zu sein. „Hey,
was macht ihr da?“, rief er und riss Leo unsanft die Parfümflasche aus der Hand.
„Bist du wahnsinnig, das ist doch keine Probe! Das neue Hip-Parfüm kostet 80€.
Hast du so viel Geld mit dabei?“ Als Leo ungläubig den Kopf schüttelte, fing der
Mann einfach an, ihn vor sich her zu stoßen. „Na dann hau ab!“, schimpfte er, „Du
hast Hausverbot! Wenn du innerhalb einer Minute nicht verschwunden bist, musst du
mir das Parfüm ersetzen!“
Ein paar Sekunden später stolperten Leo und Marie etwas verwirrt aus dem Laden
heraus, gefolgt von einem Kassierer mit hochrotem Kopf. Als er endlich laut
schimpfend wieder verschwunden war, konnte Leo nicht mehr an sich halten. „80€
für Walkotze!“, prustete er, „Wer kauft so etwas denn bitte?“ „Scheinbar genug
Leute.“, antwortete Marie trocken. Schnell warf sie einen Blick auf die Uhr. „Noch
zehn Minuten. Endlich! Wir kommen unserem Ziel immer näher.“ Dann fügte sie
düster hinzu: „Das heißt: wenn die mich überhaupt in das Flugzeug einsteigen lassen.
So wie ich stinke, würde ich mich mir nicht mal auf hundert Metern Entfernung
nähern!“
Marie durfte einsteigen. Und zu ihrer Überraschung beschwerte sich wirklich
niemand über den seltsamen Geruch. Mit dem ersten Fuß, den sie in das Flugzeug
setzte, atmete sie auf. Die an den Wänden mit Bibelversen verzierten Abteile ließen
sogleich Erinnerungen ihn ihr aufkommen. Erinnerungen an ein zweites Zuhause. Sie
konnte es gar nicht erwarten, endlich dort anzukommen. Den Flug über sprach sie
mit Leo kein Wort. Die meiste Zeit über hatte dieser die Augen sowieso geschlossen,
doch sie traute ihm nicht. Wahrscheinlich tat er nur so, als würde er schlafen. Es wäre
nicht das erste Mal. Ihre Vermutung wurde bestätigt, als sie fast schon angekommen
waren. Da öffnete Leo nämlich von einem Moment auf den anderen die Augen, setzte
sich kerzengerade auf und schaute aus dem Fenster. Selbst er schien Vorfreude auf
die kommende Zeit zu verspüren, auch wenn er das niemals zugegeben hätte. Ein
paar Minuten später war die Maschine schon auf dem Platz nahe des Bahnhofs in
Miniklu, einer Kleinstadt nahe Firaday, angekommen. Sie konnten Jonas und Hedwig
schon von Weitem erkennen. Die beiden standen auf der anderen Seite der Straße und
winkten ihren beiden Freunden zu. Sobald sie bei ihnen angekommen waren, ging
das große Begrüßen los. Glücklicherweise hatte Hedwig Erwin, ihren Labrador-
Schäferhundmischling nicht mitgenommen, sonst hätte er die mit Koffern und
Taschen bepackten Kinder so lange angesprungen, bis ihnen ihr gesamtes Gepäck aus
der Hand gefallen wäre. „Hi!“, Hedwig strahlte und umarmte zuerst Marie und dann
Leo, wobei sie erstaunt von seinem Wachstumsschub Notiz nahm. Dann war Jonas an
der Reihe. Auch er umarmte seine beiden Freunde. Doch Marie merkte sofort, dass
etwas nicht stimmte. In seine Stirn hatte sich eine kleine Falte gegraben, die vorher
noch nicht dagewesen war. Davon abgesehen, waren seine sonst strohblonden Haare
ein kleines bisschen länger und dunkler geworden. Und er schien seine Aufgabe als
Plappermaul nicht mehr ganz so ernst zu nehmen, denn an seiner Stelle musste
Hedwig sie über die neuen Ereignisse in der Schule informieren. „Ihr erratet nie, was
Professor Ferono passiert ist!“, lachte sie und strich sich eine dunkelrote Haarsträhne
aus der Stirn. „Schieß los!“, forderte Leo sie gespannt auf. „Sie hat sich statt einem
Satz Englischbücher fliegende Terminkalender liefern lassen!“, Hedwig prustete vor
Lachen. „Fliegende Terminkalender?“, Marie zog die Stirn in Falten, „Sind das
Roboter?“ „Ach, Quatsch.“, Jonas grinste, „Das sind echte Terminkalender mit
Flügeln. Sie können sogar sprechen.“ „Ist klar.“, Leo schnaubte, „Das glaube ich
nicht, bevor ich es sehe.“ „Du wirst es sehen.“, versicherte Jonas ihm mit einem
Lächeln auf den Lippen. Dann war er plötzlich wieder ernst. „Allerdings hat die
Sache auch einen Haken. Sie kann die Dinger nicht einfangen und wieder
zurückschicken. Deshalb wird jetzt jeder Schüler dazu verpflichtet, so ein Teil zu
nutzen.“ „Na und?“, fragte Hedwig mit großen Augen, „Was ist daran so schlimm?“
„Ich hab halt keine Lust, mich um so ein Teil kümmern zu müssen.“, meinte Jonas,
eine Spur zu mürrisch für seine Verhältnisse, „Was ist, wenn man das füttern und
putzen muss?“