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Zwei

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Ich nahm Brieftasche, Notizbuch und Federmäppchen aus meiner Strohtasche und liess sie auf der Ablage neben der Bibliothekstür. Zwei Mädchen aus meinem Kurs kamen gerade heraus, und wir lächelten einander zu. Ich wusste ihre Namen nicht mit Bestimmtheit. Sie trugen beide einen weissen Tob,5 und eine war besonders hübsch, mit ihren tiefen Grübchen und funkelnden Augen. Sie kamen aus der Provinz, und ich war ein Mädchen aus der Hauptstadt, darum waren wir keine Freundinnen. Ihretwegen machte mich meine Kleidung zum ersten Mal im Leben verlegen: meine zu kurzen Röcke und zu engen Blusen. Viele kleideten sich wie ich, ich fiel nicht auf. Trotzdem fühlte ich mich unwohl in Gesellschaft dieser Mädchen aus der Provinz. Ich nahm ihre bescheidene Anmut wahr, den Tob, der ihre schlanken Körper bedeckte – reine weisse Baumwolle über den Armen und auf ihrem Haar.

Im Erdgeschoss der Bibliothek schnauften die Klimaanlagen, und die Fächer an der Decke surrten. Ich legte meine Sachen auf den Tisch und musterte die Regale. Etwas Russisches, um ihm näherzukommen und ihm etwas zu sagen zu haben. Marxistische Theorie, Dialektik. Nein, davon würde ich gar nichts verstehen. Schliesslich griff ich nach einem dicken Wälzer im Regal und nahm Platz, um in einer Sammlung übersetzter Gedichte zu lesen.

Ich verstand die Zeile »Ich überlebte all mein Sehnen«6. Aber ich wusste nicht, woher dieses Verständnis kam. Ich führte ein glückliches Leben. Meine Eltern liebten mich und waren stets grosszügig. Im Sommer machten wir in Alexandria, Genf und London Urlaub. Es gab nichts, was ich nicht hatte, nicht haben konnte. Keine Träume verrosteten, und keine Wünsche wurden begraben. Und trotzdem lauerte in mir manchmal Schmerz wie von einer verheilten Wunde und Traurigkeit wie von einem vergessenen Traum.

»Ich mag russische Schriftsteller«, gestand ich Anwar beim nächsten Mal, denn es gab ein nächstes Mal, eine zweite Chance, die nicht so zufällig wie die erste war. Wir gingen zusammen an der Post und an der Universitätsbuchhandlung vorüber.

»Wen denn?«

»Puschkin«, sagte ich, aber meine Antwort beeindruckte ihn nicht.

»So«, sagte er, »hilfst du mir ein paar Flugblätter verteilen?«

»Ich kann nicht. Ich habe meinem Vater versprochen, ich würde mich nicht in Studentenpolitik einmischen.«

Er zuckte die Achseln und hob die Brauen, wie um zu bemerken: Wer sagt’s denn?

»Was sind denn deine eigenen politischen Ansichten?«, fragte er.

»Ich weiss nicht. Ich hab keine.«

»Was soll das heissen, du weisst es nicht?«

»Jeder scheint jedem die Schuld zu geben.«

»Gut, aber jemand muss die Schuld auf sich nehmen für das, was geschieht.«

»Und warum?«

»Damit diese Leute den Preis zahlen können.«

Diese Bemerkung gefiel mir nicht: den Preis bezahlen.

»Dein Vater steht dem Präsidenten nahe?«

»Ja, sie sind befreundet.«

»Bist du ihm schon mal begegnet?«

»Natürlich. Und er ruft meinen Vater zu Hause an, und ich gehe ans Telefon.«

»Einfach so«, sagte er lächelnd.

»Ja, ganz normal. Einmal vor Jahren, als ich noch in der Grundschule war, rief er an, und ich antwortete auf sehr englische Weise mit hello.« Ich hielt einen eingebildeten Hörer ans Ohr, äffte mich selber nach und sagte: »Hello, 44959.« Es gefiel mir, wie Anwar mich beobachtete, mit amüsierten Blicken. »Daraufhin«, fuhr ich fort, »wurde der Präsident wütend und sagte: ›Sprich anständig, Kind! Sprich arabisch mit mir.‹«

Anwar brach in Gelächter aus. Es freute mich, dass ich ihn zum Lachen gebracht hatte.

»Ich unterhalte mich gern mit dir«, sagte er langsam.

»Warum?« Ja, so bekam man Komplimente zu hören. Fragt doch, warum.

Wenn ich Jahre später zurückschaute und mich an Zeichen verborgener Anspannung hinter der Fassade der Heiterkeit zu erinnern versuchte, denke ich an das ständige Ringen, das ich einfach hinnahm. Der Geruch nach Staub und Kloaken rang mit dem Duft des Jasmins und der Guaven, und keiner war stärker. Der Blaue Nil strömte aus dem Äthiopischen Hochland, und die Sahara drang vor, doch weder der eine noch die andre gewann. Omar wollte weggehen. Die ganze Zeit wollte Omar weggehen, und ich, sein Zwilling, wollte bleiben.

»Warum durfte Samîr und ich nicht?«, fragte er Baba beim Mittagessen. Wir assen aus Porzellantellern mit Silberbesteck. Wir wischten uns den Mund mit Servietten ab, die täglich gewaschen und gebügelt wurden.

»Weil Samîrs Noten nicht gut genug waren«, sagte Mama. Sie war frisch vom Friseur zurück, und das Haar floss in Wellen über ihre Schultern. Sie roch nach Haarspray und Zigaretten. Ich wünschte, ich wäre so bezaubernd wie sie, offen und grosszügig und mit der Gabe, stets das Richtige zu sagen und im richtigen Moment zu lachen. Eines Tages würde ich es schaffen.

»Aber ist es denn fair«, kam ich Omar zu Hilfe, »dass der mit den schlechten Noten ins Ausland darf und der mit den guten Noten hierbleiben muss?« Samîr war unser Cousin, der Sohn von Onkel Sâlich, Mamas Bruder. Samîr war jetzt am Atlantic College in Wales, wo er das internationale Abitur machte.

»Kommst du auch noch?« Baba funkelte mich an.

»Nein, ich will nirgendwohin gehen. Ich will hier bei euch bleiben.« Ich lächelte Mama an, und sie erwiderte das Lächeln. Wir standen einander zu nahe, als dass ich sie hätte verlassen mögen, um im Ausland zu studieren.

»Nadschwa ist sehr patriotisch«, sagte Omar sarkastisch.

»Das solltest du auch sein«, tadelte Baba.

»Esst jetzt, und streitet später«, sagte Mama, aber sie achteten nicht auf sie.

»Ich will nach London gehen. Ich hasse es, hier zu studieren.« Es war Omar ernst. Ich hörte es seiner Stimme an, dass es ihm ernst war.

»Das tut dir gut«, sagte Baba. »Härtet dich ein wenig ab. Dieser ganze Privatunterricht hat dich verwöhnt. An der Universität siehst du, wie man auf der anderen Seite lebt. Du wirst verstehen, wie dein Land wirklich ist und in was für einem Umfeld du einmal arbeiten wirst. Als ich so alt war wie du …«

Omar stöhnte, und ich befürchtete schon eine Szene. Ich schluckte leer und hatte Angst, dass Baba herumschreien und Omar davonlaufen würde. Dann konnte ich den ganzen restlichen Tag herumtelefonieren und ihn suchen.

Ich stand allein unten im Garten. Mein Verehrer fuhr auf seinem Rad vorbei. Seine Kleider waren schrecklich und seine Frisur fürchterlich. Es war nicht schmeichelhaft, von seinesgleichen bewundert zu werden. Ich fühlte den wohlbekannten Ärger in mir aufsteigen. Aber es machte Spass, sich über ihn zu ärgern. Ich warf ihm finstere Blicke zu, obwohl ich wusste, dass ihn jede Reaktion nur noch ermutigen würde. Er grinste hoffnungsvoll und pedalte davon. Ich wusste tatsächlich rein gar nichts von ihm.

»Komm mit, Nadschwa«, sagte Mama. Sie trug ihren uniblauen Tob und schwarze Sandalen mit hohen Absätzen. Sie trommelten gegen den Marmor der Vorderterrasse. Mama hielt eine Plastiktüte voller Lutscher und Süssigkeiten in der Hand.

Mûssa, der Fahrer, brachte den Wagen, und das Knirschen von Kies rührte die Nachmittagsstille auf. Er öffnete den Schlag für sie und holte im Haus noch mehr randvolle Plastiktüten mit alten Kleidern und zwei Dosen selbstgemachte Kekse. Ich erkannte Omars altes Coca-Cola-T-Shirt und ein rosa Kleid, das ich nicht mehr trug, weil es aus der Mode war.

»Wo gehst du hin?« Ich konnte ja Mamas bedeckter Kleidung entnehmen, dass es kein angenehmer Ort war.

»Cheshire Home«, sagte sie und nahm auf dem Rücksitz Platz. Sie sagte »Cheshire Home« so munter, als wäre ein Besuch dort ein Vergnügen. Dazu war bloss Mama imstande.

Ich zögerte ein wenig. Die dünnen, verrenkten Glieder der Kinder verstörten mich, und ich ging lieber zur Gehörlosenschule mit. Dort konnten die Kinder zwar nicht richtig sprechen, aber sie rannten sorglos herum und nahmen mit wachen, verständigen Augen auf, was sie nicht hören konnten.

Trotzdem setzte ich mich neben sie in den Wagen, und als Mûssa den Motor anliess, öffnete sie ihre Tüte und gab mir einen Minzkaugummi.

»Du hättest mal das Waisenhaus sehen sollen, zu dem deine Tante mich gestern geschleppt hat!«, sagte sie. »Im Vergleich dazu ist Cheshire das Paradies. Unglaublich, wie dreckig es dort war.«

Ich rümpfte angewidert die Nase und war erleichtert, dass sie am Morgen gegangen waren, als ich an der Uni war. So hatten sie mich nicht mitschleppen können.

»Und sie haben rein gar nichts«, fuhr sie fort. »Aber kann das eine Entschuldigung dafür sein, die Kinder nicht zu waschen?«

Sie erwartete keine Antwort von mir. Mûssa lächelte und nickte auf seinem Fahrersitz, als spräche sie mit ihm. So war sie eben. So redete sie. Manchmal war sie lebhaft, und manchmal war sie bedrückt und still. Und seltsamerweise war sie auf Partys und Hochzeiten oft kühl und nachdenklich, während sie in kritischen Momenten zu ihrer Hochform auflief. Wenn ich hörte, wie sie über das Waisenhaus sprach, wusste ich, dass sie keine Ruhe geben würde. Sie würde an allen Fäden ziehen und meinem Vater und Seiner Exzellenz in den Ohren liegen, bis sie bekam, was sie wollte.

Cheshire Home war schattig und kühl und lag in einem freundlichen Teil der Stadt mit Bungalows und alten grünen Gärten. Ich beneidete meine Mutter um die Natürlichkeit, mit der sie mit ihren Tüten voll Süssigkeiten und Keksen ins Haus segelte, während ihr Mûssa alles Übrige nachtrug. Die Kinderschwester, Salma, hiess sie wie eine alte Freundin willkommen. Salma war sehr grossgewachsen und dunkel, mit hohen Wangenknochen und strahlend weissen Zähnen. Ihre langweilige weisse Uniform konnte ihrer eleganten Erscheinung nichts anhaben: Sie wirkte würdevoll, mit weissen Strähnen im Haar. »Gratuliere«, sagte sie zu mir, »du hast es an die Universität geschafft.« Sie hatte mich schon lange nicht mehr gesehen.

»Du hältst dieses Heim gut in Schuss«, begann Mama Salma zu loben.

»Ach, früher war Cheshire noch besser.«

»Ich weiss, aber es ist immer noch gut. Da war ich doch gestern in dem Waisenhaus da, und es starrte vor Dreck, unglaublich.«

»Wo war das denn?«

Der Saal war gross, mit einer Tafel auf einer Seite und ein paar Kindertischen und -hockern. Eine Reihe von Betten stand an der Wand, und dazwischen lagen da und dort ein paar Bälle und Spielsachen. Sie kamen mir bekannt vor – vielleicht hatte Mama sie bei einem früheren Besuch mitgebracht. Ein paar Plakate an der Wand erklärten, wie wichtig das Impfen sei, und daneben hing ein schreckliches Bild von einem Baby mit Pocken. Salma brachte Stühle für Mama und mich, während sie selbst auf einem Kinderhocker Platz nahm. Die Kinder kämpften sich in ihren Laufstühlen zu uns, und manche robbten über den Boden. Ein Junge aus dem Süden war sehr schnell, weil er seine Arme und ein Bein ungehindert gebrauchen konnte.

»Jetzt einer nach dem andern, und ich gebe euch die Lutscher«, sagte Mama. Ein Ansatz zu einer Schlange bildete sich, verlor sich jedoch im Gewimmel der ausgestreckten Hände. Mama gab jedem Kind einen Lutscher.

»John«, rief Salma dem Jungen aus dem Süden zu, »hör mit diesem Herumkaspern auf, und hol dir deinen Lutscher!«

Er hievte sich mit einem lässigen Grinsen in unsere Richtung, und seine Augen leuchteten.

»Welche Farbe möchtest du?«, fragte ihn Mama.

»Rot.« Seine Augen schossen hierhin und dorthin, als ob er alles kritisch prüfen oder an etwas anderes denken würde.

»Hier. Da hast du einen roten«, sagte Mama. »Das ist der letzte rote, alle übrigen sind gelb.«

Er nahm den Lutscher und begann ihn auszuwickeln. »Ist das dein Auto da draussen?«, fragte er.

»Ja«, antwortete Mama.

»Was geht dich das an?«, schimpfte Salma mit ihm.

Er ignorierte sie und wandte kein Auge von Mama. »Was für ein Auto ist es?«

»Ein Mercedes«, sagte Mama lächelnd.

Er nickte und lutschte an seinem Stängel. »Ich fahr mal einen grossen Laster.«

»Dummer Junge«, lachte Salma, »wie willst du denn mal fahren?«

»Schaff ich schon«, sagte er.

»Mit bloss einem Bein?« Salma zog spöttisch amüsiert die Brauen hoch.

Da veränderte sich etwas an ihm: sein Blick. »Du brauchst zwei Beine, um ein Auto zu fahren«, fügte Salma hinzu. Er machte kehrt und schleppte sich davon.

»In Europa gibt es Spezialanfertigungen«, sagte ich, »für Leute ohne … für Behinderte.« Zum ersten Mal seit unserer Ankunft hatte ich den Mund aufgemacht; meine Stimme klang dämlich, und alle ignorierten mich.

Auf einmal stiess John einen Tisch um und schleifte einen Hocker durch den Saal, mit dem er nach allen Seiten schlug.

»Hör auf, John, benimm dich!«, brüllte Salma.

Er achtete nicht auf sie und stiess den Hocker durch den Saal. Wäre der nicht mit einem anderen Hocker zusammengestossen, so hätte er Salma voll getroffen.

»Wart nur, ich rufe die Polizei.« Salma stand auf. »Sie sollen kommen und dir eine Abreibung verpassen.«

Er muss ihr geglaubt haben, denn er hielt inne und wurde ganz still. Er lehnte sich an die Wand. Sein Bein stand in einem bizarren Winkel ab, und er neigte den Kopf gegen die Wand, den Lutscher im Mund. Auf einmal still.

In der Stille hörten wir das Weinen. Sie war vielleicht elf oder zwölf, ein ganz dünnes Mädchen mit Gehschienen an beiden Beinen und einem rosa Kleid, das zu klein für sie war. Wie sollte sie mal heiraten, wie sollte sie arbeiten können …? Das dürfe ich nicht fragen, sagte Mama immer, es habe keinen Zweck, das zu denken, wir dürften einfach nicht aufhören mit den Besuchen.

»Warum weint sie?«, fragte Mama Salma.

»Ich weiss nicht.«

»Komm und nimm dir einen Lutscher«, rief Mama dem Mädchen zu, aber es hörte nicht auf zu weinen.

»Los jetzt, komm dir deinen Lutscher holen!«, schrie Salma das Mädchen an.

»Lass sie, Salma. Sie braucht Zeit.« Als das Mädchen sich nicht rührte, ging Mama zu ihr hinüber, gab ihr Schleckzeug und streichelte ihr zerzaustes Haar. Es nützte nichts. Sie sass mit den Süssigkeiten im Schoss wimmernd da, bis unser Besuch vorüber war. Erst als wir aufstanden, um zu gehen, sah ich, dass sie sich beruhigte und den Lutscher auswickelte. Sie blinzelte vornübergebückt, und Schleim tropfte ihr aus der Nase über den Mund. Es war ein Kampf für sie, den Lutscher auszuwickeln und ihn in den Mund zu kriegen. Ich hatte geglaubt, ihr Problem seien die Beine, aber auch mit den Händen stimmte etwas nicht.

Minarett

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