Читать книгу Minarett - Leila Aboulela - Страница 16
Fünf
ОглавлениеIch sprang in den Pool, und das Januarwasser war ein Schock. Ich tauchte hustend und atemlos wieder auf. »Eiskalt«, prustete ich.
»Du bist verrückt«, rief Randa unter dem Schirm eines Tischchens am Pool hervor. Sie trug eine glamouröse Sonnenbrille und ass ein überbackenes Käsesandwich. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu schwimmen und zu schwimmen, bis mir warm wurde. An der Oberfläche, die die Sonne den ganzen Morgen beschienen hatte, war das Wasser noch warm. Darunter war es viel kälter, darum schwamm ich nicht unter Wasser. Ich erreichte das flache Ende, stiess mich mit den Füssen an der Mauer ab und wendete, um im Bruststil zum tiefen Ende zurückzukehren. Ein paar Ausländer aalten sich dick mit Ambre Solaire eingeschmiert auf Liegestühlen in der Sonne und lasen Sidney Sheldon,9 aber ich hatte den ganzen Pool für mich.
Es dauerte drei Längen, bis ich nicht mehr steif vor Kälte war und es zu geniessen begann. Meine Augen brannten vom Chlor, und ich spürte seinen vertrauten Geschmack im Mund. Meine Arme und Beine teilten das Wasser und schafften mir Raum, um vorwärtszukommen. Gestern war ich an Anwar vorbeigelaufen, ohne hallo zu sagen – er hatte mit ein paar Freunden die neusten Wandzeitungen angeschlagen. Es hatte mir gutgetan, ihn zu ignorieren. Er wartete auf mich, als ich aus der Buchhaltungsvorlesung kam, und lächelte freundlich, als ob nichts gewesen wäre. Er dachte, ich würde mit ihm spazieren gehen, aber ich bog mit ein paar Mädchen einfach zur Cafeteria ab. Ich fühlte beim Schwimmen immer noch einen dumpfen Groll auf ihn.
Als ich aus dem Pool stieg, schlang ich ein Tuch um meine Mitte und setzte mich neben Randa.
»Der Bademeister konnte kein Auge von dir lassen«, sagte sie.
»Sehr lustig.« Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er trug ein gelbes Poloshirt über der Badehose. Er war Eritreer.
Ich nahm meinen Kamm aus der Tasche und begann damit an meinem Haar zu ziehen. Ich hatte kein so schönes und glattes Haar wie Mama.
»Willst du es dir nicht unter der Dusche waschen?«
»Nein.« Nach dem, was sie mir von dem Bademeister erzählt hatte, mochte ich mich nicht unter die Duschen stellen, die gleich neben ihm waren.
»Dann hat er dich gut im Blick«, kicherte sie.
»Genau.« Ich fühlte mich unbehaglich, ganz ohne Grund. Mama hatte nichts dagegen, dass ich schwimmen ging, solange ich keinen Bikini trug, aber seitdem ich an der Uni war, fühlte ich mich unwohl dabei, selbst in meinem schwarzen Einteiler.
»Mein Dad hat mir heute mein Flugticket gekauft«, sagte Randa.
»Nein!«
»Doch. Nächsten Samstag fliege ich ab. Und am Montag beginnt das Semester.«
Ich zählte die Tage: Es blieben noch zehn.
»Wir geben eine Abschiedsparty für dich«, sagte ich.
»Wunderbar!«
Ich versuchte mir vorzustellen, wohin sie gehen würde. Sie ging nicht nach London, sondern nach Wales. »Mein Cousin Samîr ist auch dort«, sagte ich, »am Atlantic College. Weisst du was, er hat gesagt, sie müssen klettern und anderen Sport draussen betreiben. Es gehört zum Lehrplan. Er kann dir alles erzählen; er ist gerade in seinen Weihnachtsferien hier.«
Ich zog meinen Stuhl unter dem Schirm hervor, damit die Sonne mein Haar trocknen konnte: meine Strähnen voll Chlor. Ich musste schnell nach Hause und es waschen und legen, denn ich hatte noch einen Abendkurs.
Ich trug meinen Jeansrock an dem Abend. Es war mein Lieblingsteil, eng und mittellang und hinten geschlitzt. Er hatte zwei Seitentaschen und einen Reissverschluss vorn, wie eine Hose. Dazu trug ich meine rote Kurzarmbluse mit den blauen Blümchen am Kragen. Die Frisur war mir ausnahmsweise geraten: Mein Haar war wellig, statt sich wild zu locken. Mein Aussehen war mir an dem Tag wichtiger als sonst. Als wollte ich gut aussehen, um Anwar zu ärgern oder um ihm zu zeigen, dass er mir egal war.
Er war nicht da, als ich um fünf an der Uni war. Ich war spät dran für meine Vorlesung, weil Omar mit Samîr ausgegangen war und ich den Fehler gemacht hatte, auf ihn zu warten. Eine Brise wehte um die Bäume, als ich die Abkürzung über den Rasen nahm. Der Küchengehilfe der Mensa breitete eine grosse Palmfasermatte im Gras aus. Er rollte sie aus und zupfte daran, um sie im genau richtigen Winkel hinzulegen.
Die Wirtschaftsvorlesung war gut an dem Abend – Rostows Modell,10 das ich begriff und das mir völlig einleuchtend schien. Unser Land sollte eines Tages abheben wie ein Flugzeug, und wir müssten bloss laufen und unsere Entwicklung beschleunigen, und dann gehe es vorwärts, langsam zuerst, aber dann immer schneller, weg von unserer Rückständigkeit und schneller und schneller, bis zum lift-off, take-off. Wir würden gross werden, normal wie all die anderen reichen Länder im Westen, wir würden sie einholen. All das schien mir kristallklar, und ich schrieb es in mein Notizheft und wünschte, Omar wäre hier, denn ich wusste, Rostow hätte ihm auch gefallen. Aber dann schob der Professor seine Brille über die Nase und sagte: »Und jetzt die marxistische Kritik an Rostows These der Unterentwicklung.« Also war das alles nicht wahr. Wir würden nicht abheben. Rundum begannen die Studenten mit den Füssen zu scharren, zu zappeln und zu murren, es sei Gebetszeit. Der Professor ignorierte sie. »Wie die Geschichte zeigt, sind nicht alle entwickelten Nationen Rostows Modell gefolgt …« Das Murren wurde lauter, zwei mutige Jungs gingen einfach hinaus, und ein paar Mädchen begannen zu kichern. Der Professor gab nach und sagte: »Zehn Minuten Pause.«
Alle drängten zur Tür. »Er ist eben Kommunist, darum sind ihm die Gebete egal«, sagte meine Banknachbarin, das hübsche Mädchen mit den Wangengrübchen, lächelnd. Sie eilte an mir vorbei und rief nach ihren Freundinnen, ihre hochhackigen Schlupfschuhe schlugen gegen ihre Fersen. Sie trug heute einen blauen Tob und sah darin noch einnehmender aus. Alle Mädchen trugen weisse Tobs am Morgen und farbige am Abend. Ich sah sie gerne sich verwandeln vom einfachen morgendlichen Weiss zu blauen und rosa Blumen und lebhaften Mustern in kühnen Farben.
Ich verliess als Letzte den Saal. Draussen sah ich Anwar angeregt mit dem Professor plaudern wie mit einem alten Freund. Ich ging an ihnen vorbei zum Garten und setzte mich auf die Eingangsstufen, um den Betenden zuzuschauen. Nicht alle beteten. Mädchen wie ich ohne Tob oder Hidschab beteten nicht, und wer von den jungen Männern Mitglied der Front war, wusste man gleich, weil sie auch nicht beteten. Die anderen versammelten sich auf der Palmfasermatte, aber es war zu wenig Platz darauf für alle. Wer zu spät kam, musste sich mit dem Gras begnügen. Unser Mathematikdozent, ein Muslimbruder, breitete sein weisses Taschentuch auf dem Rasen aus. Er stand neben dem Gärtner, und ihre Schultern berührten sich. Der Student, der als Vorbeter amtete, rezitierte den Koran mühelos und in lebhaftem Ton. Ich bestaunte die Tobs der Mädchen, das bunte Meer, das von vereinzelten Windstössen aufgewühlt wurde. Und als sie sich niederbeugten, raschelte der Polyester im Gras.
»Warum ignorierst du mich?« Das war Anwars Stimme neben mir. Ich fühlte mich gestört – wobei, wusste ich nicht. Ich stand auf und ging wieder Richtung Hörsaal zurück. Jetzt sah ich die betenden Studenten nicht mehr, und auf einmal war ich von Neid erfüllt. Es war eine urplötzliche, irrationale Aufwallung. Was gab es da zu beneiden?
Anwar folgte mir. Wir standen allein vor dem Hörsaal. Er packte mich am Oberarm. »Spiel nicht mit mir.«
»Wenn hier jemand wütend ist, dann bin ich es.« Ich wollte ihm meinen Arm entziehen, aber er hielt ihn immer noch fest.
»Ist es wegen dem, was ich neulich in dieser Rede gesagt habe?«
»Ja, es ist wegen dem, was du neulich in der Rede gesagt hast.«
Er liess meinen Arm los. »Das hat doch mit dir nichts zu tun …«
»Es ist mein Name. Es ist mein Vater.«
»Du nimmst es persönlich. Sieh doch das grosse Ganze an.«
»Ich will nicht das grosse Ganze sehen.«
»Weisst du, wie die Leute über ihn reden?«
»Ich will es gar nicht wissen.«
»Sie nennen ihn Mister Zehn Prozent. Und weisst du, warum?«
»Hör auf.«
»Du kannst nicht einfach den Kopf in den Sand stecken. Du musst erfahren, was er treibt. Er missbraucht seine Stellung in der Regierung. Er kassiert eine Provision für jedes Geschäft, das die Regierung mit einer ausländischen Firma abschliesst.«
Anwar benutzte ein Wort, »Provision«, das in meinen Ohren förmlich und harmlos klang. »Und wennschon!«, höhnte ich.
Er senkte die Stimme, aber sein Ton war schärfer. »Er veruntreut Geld. Euer Lebenswandel – dein neues Auto, euer neues Haus. Deine Familie wird von Tag zu Tag reicher … Siehst du nicht, wie korrupt das ist?«
Mein Zorn war wie ein Vorhang zwischen uns. »Wie kannst du es wagen, solche Lügen über meinen Vater zu verbreiten! Mein Vater, das bin ich. Meine Familie, das bin ich.«
»Versuch doch zu begreifen. Meine Gefühle für dich und meine politische Einstellung sind zwei verschiedene Dinge. Es ist schon schlimm genug, dass man mich auslacht, weil ich mit dir gehe.«
»Dann lass mich doch in Ruhe. Lass mich einfach in Ruhe, und niemand lacht dich aus.«
Er schnaubte verärgert, drehte sich um und ging. Ich betrat den Hörsaal, doch er war nicht leer. Ein Mädchen im Hidschab sass darin und feilte an ihren Nägeln. Vermutlich hatte sie das ganze Gespräch zwischen mir und Anwar gehört. Was tat sie hier, statt draussen mit den andern zu beten? Sie hatte vermutlich ihre Tage. Ich setzte mich und begann, um mir meine Gelassenheit zu beweisen, eine Einladungsliste für Randas Abschiedsparty zusammenzustellen.