Читать книгу Empty Souls - Lena Clostermann - Страница 5
Kapitel ZWEI
ОглавлениеIch schlage die Augen auf und weiß bereits, dass es Morgen ist. Ich wache jeden Tag noch vor der Sirene auf – diesem Ton, der mir innerlich immer noch eiskalt den Rücken herunterläuft. Ich bleibe jeden Morgen still liegen und starre die mir so bekannte leblose Decke an. Sie scheint genauso einsam zu sein wie ich.
Wir schlafen in riesigen Lagerhallen mit Dutzenden Abtrennungen. Die Decken sind weit oben, und es erinnert eher an Hallen für Vieh. Ich habe mir nie richtig ein Gefängnis vorstellen können, doch ich kann mir vorstellen, dass es hier weitaus schlimmer sein muss als dort. Jeder hat hier seine eigene Pritsche, die unbequem ist, doch wenn der Tag sich neigt, ist man ziemlich froh darüber und will nur noch in den Schlaf flüchten.
Es gibt noch Hoffnung, flüstere ich mir immer wieder selbst zu, denn wenn ich keine Hoffnung mehr hätte, wäre ich kein Stück besser als diese leeren Hüllen. Denen wurde es verboten zu hoffen. Ich glaube, die sind nicht in der Lage zu hoffen. Das ist ein kleines, bedeutendes Stück davon, was der Menschheit genommen wurde.
In meinen Ohren rauschen die unangenehmen, piepsigen und lauten Töne, und mein Kopf fühlt sich an, als würde er gleich explodieren. Alles in mir spannt sich an, und mir wird wieder klar, in welcher Welt ich nun lebe.
Es ist nicht nur ein schlimmer Traum oder irgendein Film, der bald enden wird, auch kein Buch, in dem ich mich verloren habe. Nein, es ist die pure Realität.
»E0225, steh auf und zieh dich endlich an«, sagt der Junge neben mir, der in meinem Abschnitt ist. Er ist vor einem halben Jahr hier angekommen, sieht ziemlich ungepflegt aus und ist unbegabt, was das Kämpfen angeht. Sogar der Jüngste von unserem Abschnitt kann ihn übertrumpfen. Wie er heißt, weiß ich nicht. Ich kenne keinen einzigen Namen, nur unsere Nummern kenne ich, die Nummern, die sie uns gegeben haben, als wir hierhergekommen sind. Somit haben sie uns alles weggenommen. Sie behandeln uns wie Objekte. Sie sind Objekte.
Ein Abschnitt hat jeweils um die zehn Leute, aber ich weiß noch immer nicht, wie viele Abschnitte es insgesamt in dieser Einheit gibt. Obwohl ich schon lang genug hier bin, kann ich nicht einmal erahnen, wie viele Personen hier sind. Doch ich weiß, dass es eine beachtliche Menge sein muss.
»Meines Wissens dürfte es dich nicht interessieren, was ich mache, E0998«, sage ich mit kräftiger Stimme und ohne einen Hauch von Emotion. Nur so kann ich überleben.
Er nickt ab und dreht sich um, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, ohne einen Einwand, ohne Rechtfertigung, ohne Emotion. Da ist einfach nichts.
Tatsächlich ist es ziemlich ernüchternd, keine Reaktion von jemandem zu bekommen, doch man gewöhnt sich mit der Zeit daran. Wir werden hier nach Alter geordnet, die Kleinsten gehören zum Sektor A und die Größten im Alter von zwanzig zum Sektor F. Wenn man den Sektor F erreicht hat, wird man als Soldat eingesetzt oder bekommt andere Aufgaben, was für welche, ist uns allerdings nicht bekannt. Ich gehöre noch zum Sektor E, die Jüngsten sind hier sechzehn Jahre alt, und jeder von uns hat mit seinem Eintritt in E eine eigene Waffe bekommen, als Zeichen dafür, dass wir geradezu voll ausgebildet sind und bald in den letzten Sektor übergehen werden. Die Waffe gibt mir ein bisschen das Gefühl von Sicherheit, doch Kindern und Jugendlichen eine Waffe in die Hand zu drücken, wäre früher doch unvorstellbar gewesen. Beim kleinsten Anzeichen von Widerstand hat jeder das Recht zu morden, da ist es egal, ob jemand acht, elf oder neunzehn ist.
Genau das ist der Knackpunkt, denke ich. Die Kinder fühlen nichts, und sie werden niemals psychisch am Ende sein, sondern machen sich nichts daraus. Für sie ist das nur eine Angelegenheit, die sie erledigt haben. Mehr nicht.
Mehr wird es nie wieder für sie sein.
Langsam.
Langsam versuche ich zu verstehen.
Doch wie? Wie soll ich bloß?
Zwischen Traum und Realität.
Wie soll ich bloß?
Ich ziehe den Reißverschluss der Uniformjacke zu und schlüpfe in meine schwarzen Stiefel. Die dunkelgrüne Uniform ist zu einem Zeichen geworden, dem Zeichen der Einheit, und ich hasse es, sie jeden Tag anziehen zu müssen. Das Wappen der Einheit sticht in einem satten, und doch leichten, Pastellgold heraus wie auch meine Nummer. Wir sehen auf den ersten Blick wie echte Soldaten aus, doch auf den zweiten Blick sind wir alle noch Kinder und Jugendliche. Alle Neuen tragen die ersten paar Monate graue Overalls, die mich immer an Strampler erinnern. Riesige Strampler.
Die hellblonden Haare hängen mir bis knapp unter die Brust. Ich binde sie schnell zu einem strengen Zopf zusammen und atme tief ein. Zusammen mit den anderen aus meinem Abschnitt trete ich in den kühlen Morgen, und der Geruch von verbranntem Metall steigt mir in die Nase. Dieser Tag wird noch schlimmer werden, versichert mir meine innere Stimme.
Ich tue dasselbe wie jeden verdammten Morgen, trete emotionslos auf die Plane, recke mein Kinn in die Höhe und starre ununterbrochen auf die Rednertribüne. Ich spüre förmlich die Blicke. Für die anderen muss ich wohl ziemlich interessant sein, denn ich musste mich, um nicht als Wache entlarvt zu werden, von ganz unten hocharbeiten. Eines muss man den Hüllen lassen, sie fühlen zwar nichts, doch sie nehmen ihre Aufgaben unglaublich ernst und sind beachtlich zielstrebig. Sie würden alles dafür tun, um ihr Ziel zu erreichen, egal was oder wer ihnen im Weg steht. Sie würden jedes Hindernis beseitigen. Sie sind wie Besessene, die gesteuert werden.
Ich stehe nun auf der Plane, von unzähligen Hüllen umzingelt. Noch immer habe ich Angst, überhaupt zu atmen, doch das lasse ich mir natürlich nicht anmerken, denn die Furcht, mich mit irgendetwas zu verraten, ist unglaublich groß.
Der Oberste ist der Leiter dieser Einheit, und was er sagt, das gilt. Er steht auf der Rednertribüne und blickt in die Masse. Die schwarzgrauen Haare hat er sich glatt zurückgestrichen, und seine Gesichtszüge strahlen kein bisschen Sympathie aus. Meistens hält er am Anfang einer Woche eine Ansprache, die geschätzt zehn Minuten dauert. Zehn Minuten, in denen sich keiner erlaubt, einen Mucks von sich zu geben. Zehn Minuten, in denen eine einzige Stimme die gesamte Macht demonstriert. Er redet über Veränderungen und Neuigkeiten, was mich an das Morgenkaffeeradio erinnert, das ich immer mit meinen Eltern gehört habe. Ich spüre den inneren Stich bei dem Gedanken an sie. Ich darf nicht daran denken, darf mir die Bilder nicht vor Augen führen. Ich darf nicht und ich kann nicht. Es wäre ein zu hohes Risiko. Sie könnten sehen, dass ich anders bin – merken, dass ich fühle.
Heute ist Montag, also hält er nun seine Rede. Ich schweife gedanklich immer wieder ab, weil ich es nicht mehr ertrage, ihm zuzuhören. Ich traue mich nicht, mich umzublicken, doch ich weiß bereits, welches Bild sich mir bieten würde. Die Plane ist das Zentrum der gesamten Einheit, so gesehen das Herzstück. Das Hauptgebäude des Obersten gleicht einem gigantischen Wolkenkratzer, der sich hoch in den Himmel streckt.
»Nun versammelt euch bei euren Ausbildern, Soldaten!«, brüllt er in das Mikro.
Es ist das Zeichen, dass wir uns nun zu unseren täglichen Trainingseinheiten begeben dürfen, in denen wir Dinge wie Schießtraining, Nahkampf, Kampftechniken, Überlebenstraining und Fachwissen in verschiedenen Gebieten erlernen. Sie bilden uns zu Soldaten aus, doch es ergibt keinen Sinn, denn niemand weiß, für welchen Krieg.
Mit meinem Abschnitt mache ich mich auf den Weg zur Schießhalle, wo unser Ausbilder G40 bereits auf uns wartet. Er begleitet uns bereits, seit ich vor zwei Jahren hier ankam. Er hat kurz geschorenes Haar und ich schätze ihn auf Ende zwanzig. Er zieht immer seine Augenbrauen nach unten, um uns strenger zu mustern.