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Kapitel VIER
ОглавлениеWo viel Gefühl ist, ist auch viel Leid. (Leonardo da Vinci)
»E0225, konzentrier dich, sonst wirst du es nicht richtig hinbekommen!«
G40 zeigt mit dem Finger auf mich, und mein Magen zieht sich unweigerlich zusammen. Nicht richtig hinbekommen, jemanden zu töten …
»Ich werde alles tun, um es richtig auszuführen«, sage ich und ziele abermals mit meiner Waffe, als ich plötzlich aus dem Augenwinkel bemerke, dass ein Junge mir zuschaut. Ich war so mit meiner Haltung beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkt habe, dass G40 nicht allein ist.
»E0225, lass dich von dem Neuling nicht ablenken. Deine Leistungen sind äußerst wichtig.«
Ich sehe den Jungen kurz an. Mit seinen grünen Augen mustert er mich. Etwas krampft sich tief in mir zusammen und ich nehme ein deutliches Ziehen wahr. Verdammt, ich werde jetzt nicht wegen eines Jungen aus der Rolle fallen! Und doch bin ich innerlich merkwürdig nervös. Kurz – nur ganz kurz – bleibt mir unter seinem Blick die Luft weg. »Hallo, ich bin E0225.«
Er erwidert meinen Blick. Der Ausdruck kommt mir anders vor, irgendwie lebendiger als der Ausdruck bei den anderen Hüllen. »Hallo E0225, ich bin E0489«, sagt er.
G40 schaut mich kurz an. »Die Kennenlernstunde ist beendet. Soldat, du wirst E0225 jetzt zuschauen. Und du, E0225, musst mehr Kraft in den Armen aufbauen.« Dann geht er weg und lässt mich mit dem Neuen allein.
Der Junge muss ungefähr in meinem Alter sein. Seine dunkelblonden Haare kleben an der verschwitzten Stirn, als wäre er schon länger unterwegs gewesen. Seine Augen strahlen in einem ähnlichen Grün wie meine, nur dunkler. Er ist außerdem ziemlich groß, und in seinem Gesicht sind einige Blutergüsse und kleinere Schrammen zu erkennen. Ein kleiner, silberner Ring steckt in seiner linken Augenbraue, was auffällt, zumal es ihn individuell macht. Er trägt den grauen Overall, der mich an einen Strampler erinnert, doch an ihm sieht er männlich aus.
Er wirkt ziemlich angespannt. Vielleicht hat er das Mittel erst vor Kurzem injiziert bekommen. Vielleicht wurde er ja erst ganz frisch aufgelesen und hierhergebracht. Ich bin die Blicke aus leeren Augen gewöhnt, doch unter seinem fühle ich mich durchdringbar.
Ich muss mir meinen Respekt selbst verdienen, auch bei dem neuen Schönling. Mit einer Drehung zur Zielscheibe hebe ich die Waffe, fokussiere auf das Ziel, und mit einem lauten Knall verlässt die Kugel den Lauf. Sie trifft genau ins Schwarze. Ich drehe mich mit einem strammen Ruck um und schaue ihn gerade in die Augen. Mein Blick ist kalt und starr, und genau das soll er zu spüren bekommen. Mir fällt auf, dass er gut einen Kopf größer ist als ich und leichte Muskeln seinen Körper attraktiv machen, doch davon lasse ich mich nicht beirren.
»Genau richtig, E0225«, sagt er, und ich glaube, mir wird übel. Er sollte Respekt haben oder sich zurücknehmen, doch stattdessen sagt er, dass es genau richtig war?
G40 kommt erneut zu uns. »Glückwunsch, du hast jetzt einen Schützling, E0225. Der Oberste persönlich meint, es wäre eine gute Förderung für dich.«
Nein! Nein, alles, bloß das nicht. Jeder weiß, was es heißt, einen Schützling zu bekommen. Du hast ihn allein für eine Zeit lang zu unterrichten, und er weicht dir nicht von der Seite.
»E0225, du kannst ja schon mal damit anfangen, ihn fürs Schießen fit zu machen. Für die anderen Stunden bist du entschuldigt, also nimm ihn ruhig etwas härter ran.«
»Danke, Sir G40.« Meine Stimme ist zu leise.
Alle anderen aus dem Abschnitt verlassen die kleine Halle zusammen mit G40.
Wir sind allein. Na super. Er denkt, dass ich es nicht merke, wie er mich von der Seite anschaut.
»Hattest du schon mal eine Waffe in der Hand?«, frage ich.
»Ja, das eine oder andere Mal schon.« Seine Stimme kommt mir etwas tiefer vor als eben.
Ich werde ihm zuerst paar grundlegende Dinge zeigen.
»Versuch einfach mal, die Zielscheibe zu treffen.«
Er nimmt die Waffe, schaut sie kurz an, bis er seinen Arm langsam hebt und – perfekt trifft. Er ist ziemlich gut. Nur darf er unter keinen Umständen mitbekommen, wie beeindruckt ich bin.
»Schöne Leistung, E0489. Ich denke, wir werden gut kooperieren.«
Oh verdammt, wenn er wüsste, dass ich wach bin, wäre ich die Zielscheibe von eben. Von wegen kooperieren. Er dreht sich nicht um, sondern schaut nur auf sein getroffenes Ziel. Ich bin geschockt. Er sollte nicht so gut sein. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Jeder neue Tag birgt ein Risiko, entdeckt und injiziert zu werden, aber mit einem Schützling erweitert sich das Risiko rasant.
Ich frage mich, wie er wohl früher war. Was für ein … Mensch er war. Was für ein Mensch ich bin, verkrochen in mein Inneres, weit weg von alldem, was mir eine Riesenangst macht, weit weg von diesen Psychopaten und weit weg … von mir selbst. Aber eines weiß ich – ich werde nicht kampflos aufgeben. Niemals. Ich schulde es unendlich vielen, nicht aufzugeben, aber besonders mir selbst. Eigentlich dürfte ich nicht über solche Sachen nachdenken. Ich habe mir angewöhnt, derartige Gedanken bei ihrem Auftauchen direkt nach hinten zu schieben, einzusperren und zu verstoßen, sodass nicht einmal die Gefahr besteht, wegen irgendetwas in meiner Mimik aufzufallen.
Doch das ist er. Er befreit meine Gedanken, doch ich sollte das zu verhindern wissen.
Es ist Zeit, etwas zu essen. Ich halte meinem Schützling ein Tablett hin, und er nimmt es, ohne mich anzuschauen und ohne ein Wort zu sagen. Die Kantine ist relativ leer. An der Essensausgabe zeige ich ihm, wo er seine Nummer eingeben muss, um seine Ration zu bekommen.
Er setzt sich mir gegenüber hin und isst seine Kost. Das Essen ist einfach, es dient lediglich dazu, uns bei Kräften zu halten.
»E0225, hast du keinen Hunger?«, fragt mich mein Schützling.
»Nein, habe ich nicht.«
Tatsächlich gab es Tage, an denen ich mir überlegte, diese Welt einfach zu verlassen, einfach aufzustehen und zu zeigen, dass ich wach bin, mich selbst umbringen oder einfach nichts mehr essen. Doch ich kann es nicht. Meine Zeit ist noch nicht zu Ende, und ich habe den Willen, zu überleben, der mich hoffentlich bald hier rausbringen wird.
Wir sitzen an einem Fenster, und ich starre hinaus auf die Plane. Alles nur grau, ohne einen Fleck Farbe. So farblos und leer, genau wie die Leute hier.
Der Tag geht ohne Zwischenfälle zu Ende. Mein Schützling schläft friedlich eine Armlänge von mir entfernt. Ich hingegen muss mich in den Schlaf zwingen.
In der vergangenen Nacht wurde ich von Träumen heimgesucht, die verwirrend und schrecklich waren. Selbst als nun die Sirene erklingt, bleibe ich bewegungslos auf meinem Feldbett liegen. Ich stehe total neben mir und würde mich am liebsten irgendwo verstecken und weinen. Ich möchte einfach nur etwas fühlen. Doch ich muss mir nun selbst innerlich einen Tritt geben, da es hier um mein Überleben geht.
Langsam setze ich mich auf und versuche, alles zurückzudrücken. Jetzt gibt es nur noch diesen Tag und meine Aufgaben, ohne eine Regung von Emotionen. Ich stelle mich auf die Beine, die sich noch ein wenig weich anfühlen, und schnappe mir meine Sachen, um zum Hygienetrakt zu gehen. Mein Schützling ist bereits wach und wartet auf Anweisungen.
»E0489, heute sind wir dran mit unserer Körperhygiene. Folge mir einfach«, sage ich zu ihm.
Wir setzen uns in Bewegung, und noch immer muss ich an meine Träume denken. Ich betrete mit meinem Schützling die alternativen Räume, in denen wir duschen und uns pflegen. »Wir haben nicht viel Zeit, also beeil dich«, sage ich und gehe in eine der offenen Duschen, wo ich mich auszuziehen beginne.
Hier gibt es keine Geschlechtertrennung oder Sichtschutzkabinen, denn keiner schämt sich. Anfangs musste ich mich dazu zwingen, mich nicht zu schämen oder rot zu werden. Ich mache die Dusche an, und das eiskalte Wasser wäscht den groben Schmutz von mir. Schnell trockne ich mich mit dem einzigen Handtuch ab, das ich habe, und ziehe meine Uniform an.
Zu meiner Überraschung ist mein Schützling auch schon fertig und hat sich sein nasses Haar zur Seite gestrichen.
»Was steht als nächstes auf dem Plan, E0225?«, fragt er mich ausdruckslos.
»Nahkampf. Bald sind die Prüfungen«, sage ich nur und gebe ihn ein Zeichen, dass er mir folgen soll.
Wie so oft frage ich mich, wie ich den Rest des Tages überstehen soll. Gerade im Nahkampf ist es extrem schwer, nicht aufzufliegen. Es gibt so vieles, worauf ich achten muss. Deshalb musste ich auch so gut werden. Damit ich gewinne und niemand mich irgendwie in irgendeiner Hinsicht verletzen kann. Natürlich bekomme ich hier und da mal was ab, aber nie war es etwas Schwerwiegendes. Anfangs hatte ich viele Verletzungen, doch G40 ließ mich für jede Verletzung, die ich mir zuzog, immer zur Strafe eine Runde allein laufen.
Als wir in der Halle ankommen, spricht uns G40 an. »Ihr müsst nächste Woche euer Bestes geben, weil wir eure Bewertungen machen. Nutzt daher alle die Zeit zum Trainieren.«
Als ich mich gerade fertig machen will, tritt G40 zu mir. »E0225, du wirst mit deinem Schützling trainieren und die Bewertung ebenfalls mit ihm durchführen.«
Das kann doch nicht wahr sein! Er ist viel stärker und einen Kopf größer als ich! So langsam geht mir der Typ richtig auf die Nerven. »Selbstverständlich, Sir G40«, sage ich, ohne ihn anzusehen.
»Und, E0225 – vergiss die Technik nicht.«
Wenn er genauso gut im Nahkampf ist wie in den anderen Trainingseinheiten, werde ich zurückgestuft, und so schwinden auch meine Chancen auf einen Einzelauftrag. Verdammt! Und er wird mich fertigmachen.
Da bin ich also, stehe im Ring und warte darauf, dass mein Schützling mich blamiert. Konzentrier dich, Ava, die Jahre waren nicht umsonst, nur um jetzt in einem Ring zu sterben.
»E0225, ich bin so weit.«
Das ist mein Stichwort. Ich nehme Anlauf, drehe die Hüfte, um mehr Schwung zu bekommen, und versetze ihm einen Hieb in die Seite. Zugleich will ich ihm den Ellenbogen in die Schläfe rammen, nur hat er den, bevor ich das tun kann, im Griff und wirft mich wie eine Puppe gegen die Wand. Es geht zu schnell. Ich stürze zu Boden und merke, dass die Wucht noch auf mir lastet.
Ich stehe auf, als ob nichts wäre. Brennender Schmerz. Die Mauer, Ava, stell dir deine Mauer bildlich vor. Ich trete wieder zu ihm und diesmal täusche ich an. Dann versuche ich, seine Beine wegzutreten. Es gelingt mir, und im nächsten Moment sitze ich auf ihm und schlage ihm ins Gesicht, wieder, wieder und wieder.
Ich sehe Ausschnitte von meinem früheren Leben. Wie normal alles früher schien. Bruchstücke von Bildern, die ich mit aller Kraft zurückzudrängen versuche. Es ist wie in einem Rausch. Ich zeige beinahe meine Wut und Verzweiflung.
Er fängt meine Faust ab, dreht meinen Arm schmerzhaft um. Ich weiß, ich werde gleich in der Falle sitzen, versuche mich zu drehen, ihn irgendwo zu treffen, und doch sitzt er im nächsten Augenblick auf mir.
Verdammt! Ich kann mich nicht befreien. Ich schaue auf. Er blutet heftig an Lippe und Nase. Das war ich. Ich war das! Mein ganzer Körper brennt. Ich bin dazu gezwungen, das Brennen und Stechen zuzulassen. Etwas anderes bleibt mir nicht übrig.
Er hebt die Faust, und es geht wie in Zeitlupe. Ich spüre den Aufprall, spüre den entsetzlichen Schmerz, und mir bleibt die Luft weg. Ich kann nicht einmal einen Ton von mir geben. Ich weiß, dass meine Augen vor Schmerzen tränen. Meine Augen sind weit offen – ein Fehler. Ein verdammt großer Fehler.
Er schaut gerade hinein. Ich weiß nicht, ob er den Schmerz in meinen Augen sieht, aber er ist abgelenkt. Ich zittere, und meine Brust schnürt sich unmittelbar zu. Ich schaue ihm in die Augen, was ich sofort bereue, aber ich sehe etwas in seinen dunkelgrünen Augen. Ich muss sofort den Blick abwenden, doch ich kann nicht. Diese Augen …
Mir wird gerade bewusst, dass er immer noch auf mir sitzt und mich anstarrt. Als ich jetzt endlich meinen Blick von ihm löse und wieder die Kontrolle gewinne, …
»Stopp!«, schreit G40. Alle schauen sich zu ihm um und hören auf zu kämpfen. »Soldaten, essen gehen! Und danach kommt der theoretische Teil.«
Ohne meinen Schützling eines Blickes zu würdigen, gehe ich mit den anderen vom Abschnitt zur Mensa. Ich weiß, er müsste etwas in meinen Augen gesehen haben, doch vielleicht habe ich Glück und täusche mich. Mein Kopf schmerzt sehr. Ein eisiger Wind wallt gerade durch mich hindurch und mich fröstelt.
Der Weg dauert ungefähr zehn Minuten. Zehn Minuten voller Schweigen. Zehn Minuten im Wind des aufziehenden Gewitters. Bald wird auch dieser Tag zu Ende gehen.
Nachdem wir gegessen und uns den Rest des Tages der Theorie gewidmet haben, liegen wir jetzt endlich alle in unseren Feldbetten. Mit dem durchdringenden Piepton gehen die Lichter aus. Es ist dreiundzwanzig Uhr. Eine weitere schreckliche Nacht steht an.
Nun habe ich entsetzliche Schmerzen.