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Ihr wart doch Freundinnen

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Das ältere Mädchen, Kristina, stiehlt Zucker aus dem Zuckerschrank und leugnet es hinterher ab. Das macht sie, damit Signe die Schuld bekommt. Die Hausfrau hat keine Kraft, sich um die Kinder zu kümmern. Ihr Magen bereitet ihr Schmerzen. Sie liegt mager und blass in der Kammer und bekommt kaum Essen hinunter. Aber Kaffee kann sie trinken. Süßen Kaffee. Signe schlägt gerade Stücke vom Zuckerhut, der durch Kristina immer weniger wird, als die Hausfrau nach einem Schluck Kaffee ruft.

„Na, hat sich die Zuckermagd mal wieder selbst bedient?“, gluckst die alte Kata.

Signe schüttelt den Kopf. Die Hausfrau seufzt, ist zu schwach, um zu schimpfen. Kristina ist wie vom Erdboden verschluckt. Signe hat sie mehrere Male mit großen Zuckerstücken im Mund erwischt.

Die kleine Lisa ist flink wie ein Eichhörnchen und krabbelt gern auf Signes Schoß. Der kleine Körper wärmt so schön. Signe genießt die kurzen Augenblicke, wenn Lisa auf ihrem Schoß sitzt. Steckt ihre Nase in Lisas Haar und atmet den süßen Kleinkind-Duft ein.

Es ist Samstag. Samstags findet großer Hausputz statt. Signe gießt Wasser auf die Holzdielen des Hauses: Küche, Wohnraum und Schlafplatz für sie und die alte Kata. Die Flickerlteppiche hat sie schon auf die Vortreppe hinausgetragen. Sie streut Scheuersand auf die Nässe und fängt an zu scheuern.

Signe ist barfuß, den einen Fuß auf dem Birkenbesen, scheuert und scheuert sie. Sie spielt, dass sie übers Eis rutscht. Dann geht es leichter. Manchmal ist es schwer, das Gleichgewicht zu halten, und sie muss sich am Schrank oder einer Wand festhalten. Dann scheuert sie weiter.

„Aua!“ Sie schreit vor Schmerz auf.

In ihrem rechten Fuß brennt es wie Feuer. Sie muss sich auf einen Schemel setzen und ihre Fußsohle untersuchen. Ein langer Splitter ist in den Fuß gedrungen.

Kristina hat den Schrei gehört und kommt aus der Kammer gestürzt, in der sie sich aufhalten sollte, während Signe putzt. „Faule, faule Signe!“, schreit sie begeistert.

Der Fuß tut zu weh, als dass Signe sich jetzt um sie kümmern könnte.

Auf der Vortreppe poltert es. Die alte Kata kommt aus dem Schuppen mit dem Arm voller Weißmoos. Aber sie lässt es fallen, als sie Kristina herumhüpfen sieht.

„Raus mit dir in die Kammer, Mädchen!“, schimpft sie.

Und Kristina hat es eilig. Die alte Kata kneift, und sie kann man nicht mit Petzen beeindrucken.

„Der Fußboden wird auch nicht sauberer, wenn du dahockst und glotzt“, sagt die Alte im selben Atemzug.

Signe richtet sich auf, kann aber nicht aufhören mit Jammern. Ohne ein Wort drückt die alte Kata sie auf den Schemel und legt sich ihren Fuß auf den Schoß. Ihre Hände sind sanft, obwohl die Haut rau wie Kiefernrinde ist. Sie legt die Lippen an die Fußsohle und saugt. Kata saugt und knabbert, bis der blutige Splitter zwischen ihren Lippen steckt. „Pfui, was für ein hässliches Ding!“ Sie spuckt es in den Scheuersand und legt Weißmoos auf den Klapptisch. Und Signe scheuert weiter mit dem Besen.

Die alte Kata hat zu fast allem eine Meinung. Außerdem kennt sie Heilmittel gegen viele Krankheiten. Aber sie hält es für gefährlich, sich zu waschen.

„Man friert sich Zehen und Finger ab“, sagt sie, „kriegt den Brand oder alle möglichen Krankheiten“, wenn Signe Waschwasser fürs Bad wärmen will.

Signe schaut auf den schmutzigen Fußboden, wo sich Essensreste, Asche, Rattendreck und Speichel vom Bauern mischen. Während sie mit dem Birkenbesen herumfährt, schielt sie zu König Oskar. Sein Porträt hängt als Öldruck über der Ausziehbank, die heute hoch beladen ist mit Matratzen und Bettzeug. König Oskar folgt Signe mit dem Blick. Er sieht sie an der Tür und er sieht sie, wenn sie hinterm Herd vorguckt. Der Blick des Königs ist herrisch, er möchte, dass sie ihr Bestes gibt. Glitzernde Orden schmücken seine Brust, und die Schulterklappen sind mit Gold verziert. Ob das richtiges Gold ist? Wie das in der Sonne glänzen muss! Manchmal hat sie Angst, der König könnte aus dem ovalen Rahmen an der Wand steigen, so intensiv verfolgt er ihre Tätigkeiten.

Majestät ist streng. Das rabenschwarze Haar und die aufgezwirbelten Schnurrbartspitzen deuten darauf hin. Bestimmt gefällt es ihm nicht, dass sie Rutschbahn spielt.

Signe versucht mit ihrem nackten Fuß auf dem Besen würdiger zu schrubben. Schiebt eine Haarsträhne zurück, die sich aus dem Zopf gelöst hat. Eine fleißige Untertanin will sie sein. Kann dem König sogar zeigen, wie hübsch sie knicksen kann. Signe stellt den einen Fuß hinter den anderen und verneigt sich tief vor König Oskar, den Blick auf den Scheuerboden gerichtet.

Auf der Vortreppe poltert es. Die alte Kata steht wieder auf der Schwelle und tut so, als würde sie besonders an einem Kaffeefleck reiben.

„Oh, oh!“, jammert sie. „Lass fallen, was du in den Händen hast. Such nach dem Hund. Er hat sich losgerissen. Und du wirst doch so gut mit ihm fertig.“

Signe wischt sich die Hände an der Schürze ab, zieht eilig Strümpfe und Stiefel an. Der Bauer ist draußen zum Fischen und Ludde gehorcht nur ihm und Signe.

„Ludde!“, ruft sie in den Wald.

Sie biegt in den Pfad ab, den der Hund und der Bauer gehen, wenn sie Hasen oder Waldvögel jagen. Vom Himmel fällt mit Schnee gemischter Regen und sie zieht Katas verschlissenen Lodenmantel enger um sich.

„Lieber Ludde!“

Nur Signe nennt ihn so. Die anderen lachen über den Kosenamen. Für sie ist Ludde ein Wachhund, dem sie sich nicht zu nähern wagen. Aber Ludde ist Signes Trost geworden. Ihm hat sie von ihrer Sehnsucht nach Alice erzählt. Und von ihrem geheimen Plan, ihren Vater zu suchen. Ludde versteht sie. Er wackelt mit seinem spitzen Kopf und winselt ein bisschen. Die grauen Augen sehen in sie hinein. Und er sagt niemandem etwas weiter.

Bei einer großen krummen Kiefer bleibt sie stehen. Legt die Hände wie einen Trichter um den Mund und ruft über die Heidelichtung. Sie wartet mucksmäuschenstill und lauscht. Es tropft von den Bäumen und ein Rabe schreit. Bald darauf antwortet der Rabenpartner und der schwarze Vogel fliegt über die Tannenwipfel zu einem Felsen. Sie verfolgt seinen Flug mit dem Blick.

„Unserm Herr gefällt der Ruf der Raben nicht“, pflegt Kata zu sagen, wenn der Rabe ruft. Sie ist der Meinung, es sei der Vogel des Teufels und dass der Rabe Unheil ankündige. Signe schaudert. Will jetzt nicht an Schreckliches denken.

Wasser dringt ihr in den einen Stiefel. Ihre Zehen werden starr vor Kälte. Sie bückt sich und sieht einen Spalt zwischen Leder und Schuhsohle. Dort, im Blaubeerreisig, hängt ein graues Haarbüschel. Sie nimmt es und schnuppert daran. Doch, die derben Strähnen riechen streng und bekannt. Von irgendwo kommt ein winselnder Laut und sie späht in alle Richtungen. Der Wind hat zugenommen und das Tropfen von den Bäumen wird stärker. Die Haare kleben ihr in nassen Strähnen im Gesicht und ihre Nase läuft. Hat nur der Wind geheult?

„Lieber Ludde!“

Signe wendet sich ab und schnäuzt sich in die Schürze. Für so eine Sünde hat Fräulein Qvennerstedt sie im Kinderheim an den Haaren gerissen. Aber jetzt ist sie erwachsen und wird nicht mehr von einem Kinderheimfräulein überwacht. Sie spuckt in den Schneematsch. Das hätte sie sich früher nie getraut. Im Schnee leuchtet ein Blutfleck. Und noch einer. Sie macht einen Schritt hierhin und dahin. Und dort hinten beim Rabenberg sieht sie eine kleine Figur herumschnüffeln.

„Ludde!“

Signe stürmt auf ihn zu und er kommt ihr hinkend entgegen. Sein graues Fell ist zerrauft und eine Vorderpfote ist verletzt. Sie legt die Arme um seinen Hals und er leckt ihr begeistert über die Nase.

„Der Rabe hat nicht Recht bekommen. Wenn du etwas erzählen könntest, Ludde! Hast du mit einem Fuchs gekämpft oder …“ Sie schaudert und klaubt ein paar lose Haarbüschel aus seinem Fell. „War es der Wolf?“

Ludde heult glücklich als Antwort, er will nach Hause und etwas zu fressen haben.

Überm Rabenberg wird es dunkel. Und darüber stößt das Rabenpaar laute Schreie aus, während Signe und Ludde den Pfad zurück nach Fredriksberg wandern.

Obwohl Signe erschöpft ist nach den Strapazen im Wald, muss sie Wasser aus dem Brunnen holen. Nachdem sie den Fußboden gespült hat, fegt sie den Sand mit dem Besen zusammen. Als Letztes bleibt der lustige Teil, das trockene Weißmoos über den ganzen Fußboden zu verstreuen. Das wird dort liegen bleiben bis zum Sonntagmorgen und die Feuchtigkeit aufsaugen.

Wasser holen, den Spüleimer hinter der Hausecke ausgießen, in der kleinen Blechwanne abwaschen, Kata beim Essenkochen helfen und auf die Kinder aufpassen, das sind ihre sich wiederholenden Aufgaben. Abgesehen davon, dass sie immer bereit sein muss zu helfen, wenn jemand sie darum bittet. Ein Monat ist vergangen, seit sie nach Fredriksberg gekommen ist und die alltäglichen Arbeiten gelernt hat. Jeden Tag dasselbe.

Signe teilt die schmale Ausziehbank mit Kata und wird oft von Knüffen in den Rücken wach. In den ersten Nächten meint sie überhaupt kein Auge zugetan zu haben. Kata schnarcht laut und die Unebenheiten der Strohmatratze schaben am Körper. Aber die größte Plage sind die Flöhe. Am schlimmsten beißen sie in der Nacht. Am Körper flammen rote Stellen auf, obwohl sie beide jeden Abend Flöhe fangen, bevor sie zu Bett gehen. Die Begleiter des Bösen, nennt die alte Kata sie. Und Signe seufzt. Als sie kam, war sie frei von Floh- und Läusebissen.

Jeden Morgen um halb sechs kocht Signe Kaffee. Der Hausherr trinkt den Kaffee in der Küche. Signe muss der Hausfrau die volle Kaffeetasse bringen und die volle Spucktasse wieder hinaustragen. Die Hausfrau ist groß und hat dunkle Ringe unter den Augen. Sie sagt nicht viel, aber sie kann starren mit ihren grauen Augen. So sehr starren, dass Signe nervös wird und fallen lässt, was sie in der Hand hält. Die Hausfrau sitzt mit ausgebreitetem langem Haar über den Schultern aufrecht im Bett. Wärmt ihre Hände an der Kaffeetasse. Signe bückt sich nach der Spucktasse. Versucht nicht hinzugucken, aber der Blick wird von dem gelbschaumigen Inhalt angezogen. Die Hausfrau beobachtet ihre Bewegungen genau. Am meisten fürchtet Signe sich davor zu stolpern und den Auswurf der Hausfrau aufwischen zu müssen. Die Krankheit schwappt in dieser Tasse, die Krankheit, die die Frau von innen her auffrisst.

Gegen acht bereiten Signe und die alte Kata das Frühstück. Es besteht genau wie das Mittag- und das Abendbrot aus gesalzenem Hering, Kartoffeln und manchmal aus Grütze. Am Abend kocht die alte Kata immer Grütze. Bleibt welche übrig, wird sie am nächsten Tag gebraten. Es riecht angebrannt, und obwohl Signes Magen nach Essen schreit, kriegt sie die braun angebrannten Grützreste nur schwer hinunter.

Der Frühling ist unterwegs und Signe lässt sich Zeit auf dem Weg zum Vorratshaus. Die Meisen läuten in den Birkenhainen. Stellenweise ist der Schnee geschmolzen und die duftende Erde ist zu sehen. Sehnsuchtsvoll schaut sie zur Landstraße. Versucht einen Blick auf den Badesee zu erhaschen. In einigen Monaten kann sie durch den Wald gehen und sich einen schönen Badeplatz suchen. Sie sehnt sich danach, sich am ganzen Körper zu waschen. Seit sie nach Fredriksberg gekommen ist, hat sie keine Zeit für eine richtige Wäsche gehabt. Hände, Hals und Gesicht müssen reichen, findet die alte Kata, die das Waschen von Signe und den Kindern beaufsichtigt.

Nein, jetzt muss sie sich beeilen und Mehl holen. Heute will Kata Pfannkuchen backen.

Signe löst den Holzpflock des Eisenbeschlages, der die Schuppentür geschlossen hält. Die Dunkelheit springt sie an. Hier ist eine Petroleumlampe zu teuer und überflüssig, findet der Hausherr. Durch die Türritzen fällt ein wenig Tageslicht herein, aber Signe muss trotzdem einen Augenblick stillstehen, damit sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnen.

Dann muss sie die Mehlkiste finden. Im Vorratsschuppen stehen mehrere Kisten und Behälter mit Mehl, gesalzenem Hering, gepökeltem Fleisch und Speck. Im Dunkeln kann wer weiß was geschehen. Wenn es wirklich böse Wesen gibt, dann verstecken sie sich in dunklen Schuppen und Kellern. Niemand, nicht einmal Fräulein Qvennerstedt, hat Signe dazu bringen können, allein in einen dunklen Raum zu gehen. In der Dunkelheit verändern sich die Laute, niemand kann ganz genau wissen, ob das Rascheln aus der Baumkrone, von einem Vogel oder vom Wind kommt. Es könnte das Böse sein, das da lauert, sie verlocken will, dem Säuseln und Rascheln zu folgen, sie im Wald in die Irre locken will. Dort wartet etwas Entsetzliches, was sie sich nicht recht vorstellen kann. Plötzlich sieht sie den Gutsherrn von Tuna vor sich. Er lacht dröhnend …

Signe fährt herum. Ein Kasten mit Butter ist auf dem Erdboden gelandet. Sie bückt sich rasch danach, macht ein paar Schritte ins Schuppeninnere und stellt den Kasten ins Regal zurück. Ein schriller Pfiff lässt sie zusammenzucken. Unter dem Butterregal sitzt eine große Ratte auf der Mehlkiste. Die Ratte faucht und stemmt ihre Krallen in den Holzdeckel. Ihr Schwanz ist kräftig wie ein Seil. Signe begegnet dem Blick der Ratte. Sie hat schon viele Ratten gesehen. Einmal ist eine Maus in der Ausziehbank über das Gesicht der alten Kata gesprungen, aber schnell hinter dem Herd verschwunden. Diese Ratte bleibt sitzen. Duckt sich zum Sprung. Signe kommt zur Besinnung. Macht ein paar vorsichtige Schritte zur Seite, dreht sich hastig um und stürzt zur Tür hinaus. Sie kann das Entsetzen nicht mehr zurückhalten, schreit wie ein Schwein vor der Schlachtung, läuft, stolpert durch die Schneeflecken aufs Wohnhaus zu ohne aufzusehen. Bis ein Paar starke Fäuste sie bei den Schultern packen.

„Was ist los, zum Teufel!“

Sie starrt auf die behaarte Brust des Hausherrn, die unter dem offenen Arbeitshemd bloßliegt.

Nachts wirft sie sich auf der Ausziehbank hin und her und kann nicht zur Ruhe kommen. Die Wanzen quälen sie mehr denn je und sie schämt sich so sehr vorm Hausherrn. Sie hat sich wie ein kleines dummes Mädchen benommen. Aber er ist nicht böse geworden. Hat nur etwas gesagt, dass man sich auf dem Lande eben an Ratten und Dunkelheit gewöhnen müsse. Ist er der Meinung, sie sei eine Gans aus der Stadt, zu weich fürs Landleben? Aber sie hat Ludde gefunden. Das hat der Hausherr von Lillan erfahren und er hat zufrieden genickt.

Signe kratzt sich am Rücken. Stößt aus Versehen die alte Kata an, die sie mit ihren trüben Altfrauenaugen anblinzelt.

„Einmal hab ich eine Schöpfkelle voll Wasser über eine Standuhr gegossen, die war so voller Wanzen, dass sie falsch ging“, erzählt sie.

Signe seufzt. Die alte Kata hat zu fast allem etwas zu sagen, scheint alles zu wissen. Aber von Signes innersten Gedanken weiß sie nicht das Geringste. Nein, es muss ein gut gehütetes Geheimnis bleiben, dass Signe ihre Magdstelle kündigen will. Sie muss bis Oktober warten, dann bekommt sie ihre hundert Kronen. Im Herbst geht sie in die Stadt und macht sich auf die Suche nach ihrem Vater.

Sie sieht ihn auf dem Schemel in der Küche sitzen. Erinnert sich, wie er die Holzpuppe Stina für sie geschnitzt hat, dass die Holzspäne nur so über den Fußboden flogen. Hat ihr Mund und Hals gegeben und mit Ruß aus dem Herd ein Paar Augen verpasst. Keins der Kinder in den Schuppen von Vitabergen hat von seinem Vater eine Puppe bekommen, davon ist Signe überzeugt. Vater und sie gehören zusammen. Aber die Armut hat sie getrennt.

„Dieser verdammte Stempel der Armut“, hallt Vaters Stimme in ihr wider.

Schließlich muss sie doch eingeschlafen sein. Gegen Morgen wird sie wach, das Kissen hat sie gegen das Herz gedrückt.

„Du hast Besuch! Glotz nicht, sondern beeil dich!“

Die Hausfrau steht im Frühlingswind auf der Vortreppe und schreit mit ihrer piepsigen Stimme. Signe hört das Rufen am Waldrand, wo sie kleine Tannenzweige für Spülbürsten und Birkenzweige für Scheuerbürsten schneidet. Sie hebt den großen Korb hoch, in dem sie die Zweige sammelt.

Wer könnte sie besuchen? Aber am Trippeln der Hausfrau sieht sie, dass es ein wichtiger Besuch ist.

Im Dunkeln am Klapptisch sitzt eine Dame mit Hut und einem Mantel mit Pelzkragen. Signe bleibt auf der Schwelle stehen. Die Dame nippt an einer Kaffeetasse, stellt die Tasse auf den Unterteller und schaut auf. Die vollen Lippen öffnen sich zu einem Lächeln.

„Signe! Komm her, damit ich dich ansehen kann!“

Da weiß Signe, wer die Besucherin ist, und vergisst den strengen Blick der Hausfrau. Tränen laufen ihr die Wangen herunter, und mit wenigen Schritten ist sie bei der Dame und wirft sich ihr in die Arme.

„Beruhige dich“, sagt die Dame lachend und löst ihre Arme.

„Fräulein Åberg!“, schluchzt Signe.

In ihrer Aufregung stößt sie aus Versehen gegen Fräulein Åbergs Hut. Er fliegt der Dame auf den Schoß und entblößt das braun gelockte, aufgesteckte Haar. Einige Locken haben sich gelöst und ringeln sich über den Ohren. Das macht nichts, denkt Signe. Nichts lässt Fräulein Åberg unordentlich aussehen, wenn sie ihre braunen Augen zusammenkneift und lacht.

„Signe, steh nicht herum, setz dich!“

Fräulein Åberg wirft der Hausfrau ein blitzendes Lächeln zu, die so tut, als suche sie etwas im Büfett.

„Ich hoffe, es ist möglich, dass ich mich eine Weile mit Signe unterhalte?“

Die Hausfrau macht nur „hm“ als Antwort, traut sich vermutlich nicht, einer Dame aus der Stadt zu widersprechen.

Signe schüttelt leicht den Kopf. Sie muss aufhören das fröhliche herzförmige Gesicht anzustarren.

„Ich habe große Neuigkeiten, Signe …“, beginnt Fräulein Åberg.

„Hat Vater …“ Signe presst die Hand an den Mund.

„Wir werden auswandern.“

„Wir?“ Das ist ihr so herausgerutscht, und Signe fühlt sich dumm.

„Ja, mein Mann und ich. Ich bin frisch verheiratet.“

Fräulein Åberg streckt Signe ihre Hand hin, an der ein Goldring blitzt.

„Oh, wie schön!“, presst Signe hervor. Aber es hat ihr einen Stich versetzt. Sie darf nicht zeigen, dass sie sich nicht für Fräulein Åberg freuen kann.

„In einer Woche fahren wir mit dem Auswandererschiff Orlando von Göteborg ab. Ich wollte mich von dir verabschieden. Und dann habe ich dir die Bibel mitgebracht, die du vergessen hast.“

Fräulein Åberg wickelt die schwarze Konfirmationsbibel aus dem Papier und legt sie auf den Tisch.

„Dann bleiben Sie also nicht im Kinderheim, Fräulein Åberg?“

„Frau Jansson, Frau Jansson“, sagt Fräulein Åberg seufzend. Sie schüttelt den Kopf, dass die Locken tanzen. „Mein Mann hat eine kleine Druckerei, er hofft sie in Amerika ausbauen zu können. Sein Bruder ist schon drüben und hat uns auch schon eine Wohnung besorgt. Am meisten Sorgen mache ich mir wegen der Reise“, fährt Fräulein Åberg fort und zieht die Schultern hoch.

Signe hört zu, aber die Worte erreichen sie nicht. Sie will nicht verstehen. Fräulein Åberg erzählt ein Märchen und gleich wird sie lachen und sich ein neues ausdenken. Ihre liebste Lehrerin darf nicht verschwinden.

„Emil sagt, die Staatsbeamten haben dieses Land zerstört. Hunderttausende Schweden sind schon emigriert, denn in Amerika gibt es Arbeit für alle, die arbeiten wollen.“

Fräulein Åberg neigt sich zu Signe und fügt hinzu: „Er sagt, es ist besser für ein Land, wenn es keinen König hat.“

Signe schielt zu König Oskar und hofft, dass er es nicht gehört hat. Unbekümmert fährt Fräulein Åberg fort:

„In Amerika haben sie einen Präsidenten gehabt, der ist Holzfäller gewesen, und niemand hat ihn deswegen verachtet. Lincoln hat er geheißen.“

„Warum, Fräulein Åberg, haben Sie … Entschuldigung.“ Signe kann den fremden Namen nicht in den Mund nehmen.

„Für dich bleibe ich wohl immer Fräulein Åberg.“

Signe nickt steif und beendet ihre Frage:

„Eine Reise mit dem Schiff, ist die gefährlich?“

„Es ist wegen der Seekrankheit, Signe. Ich bete zu Gott, dass ich sie nicht bekomme. Und es kann auch Diebe an Bord geben. Wir haben den Rat erhalten, kein Geld in unser Gepäck zu tun und es deutlich zu kennzeichnen. Besonders vorsichtig muss man wohl sein, wenn Iren an Bord kommen. Die sollen wie die Raben stehlen.“

Signe hört mit offenem Mund zu. Begibt sich mit Fräulein Åberg in das Amerikamärchen. Sieht ein grünes Land mit wogenden Hügeln, auf denen es von fröhlich arbeitenden Menschen wimmelt. Mitten unter ihnen steht Präsident Lincoln mit Zylinder und weißem Bart. Er hebt eine Axt und teilt einen riesigen Holzkloben mittendurch.

Die Hausfrau klappert mit der Feuerzange am Herd. Fräulein Åberg versteht das Zeichen und setzt ihren Hut auf.

„Ein Knecht von Tuna wird mich bald abholen.“

„Müssen Sie schon gehen?“, fragt Signe traurig.

Das Lachen ist aus Fräulein Åbergs Augen verschwunden. Sie senkt die Stimme.

„Da ist noch etwas anderes, Signe …“

Der ernste Ton erschreckt Signe. Sie erhebt sich und greift wie eine Schlafwandlerin nach der leeren Tasse. Sie will nichts mehr hören. Jetzt ist es genug.

„Es geht um Alice. Ihr wart doch Freundinnen. Deswegen musst du es wissen, finde ich. Alice ist von uns fortgegangen.“

Die Tasse gleitet aus Signes Hand und zerschellt auf dem Fußboden.

„Die Tasse muss sie bezahlen! Dieses faule Mädchen! Sie müssen entschuldigen, aber jetzt muss Signe Feuerholz holen, damit heute Abend ein warmes Essen auf den Tisch kommt“, zischt die Hausfrau. Sie hat die Gelegenheit gesehen, endlich ihrer Magd Arbeit anzuschaffen.

„Natürlich, aber die Tasse bezahle ich.“

Energisch nimmt Fräulein Åberg ihre Geldbörse aus der Handtasche. Die Hausfrau wirft Signe einen bösen Blick zu, wagt aber nicht zu widersprechen. Nimmt die Münze entgegen und neigt den Kopf vor der Dame aus der Stadt.

Signe ist erstarrt. Alice, ihre Alice ist fort. Tot? Sie kann es nicht mehr fragen, stiert immer noch auf den Fleck auf dem Dielenboden, wo eben noch Fräulein Åberg gestanden hat. Wie in einem Traum sieht sie sie durchs Fenster über den Hof dem Fuhrwerk von Tuna entgegenlaufen. Fräulein Åberg winkt mit einem Taschentuch. Aber Signe kann nicht zurückwinken, ihre Arme gehorchen ihr nicht. Sie hockt sich hin und greift nach den Scherben. Schließt ihre Hand fest darum. Ein roter Tropfen Blut quillt zwischen ihren Fingern hervor.

Das Apfelsinenmädchen

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