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Billige Apfelsinen!

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Der Wind zerrt an den roten Locken und der Korb hüpft an ihrem Arm, als sie sich bergan die Götgatan hinaufkämpft. Der Wind pfeift von Saltsjön, dem meerseitigen Salzsee mit der Hafenbucht, und die Menschen schieben sich an den Hauswänden entlang.

Ob sie zu Romdals am Hügel gehen soll? In Romdals Schenke sitzen Droschkenkutscher und Fuhrleute. Sie genehmigen sich eine Pause auf dem Weg die Götgatan hinauf. Ein Bier und ein Schnaps mit einem Stück Knäckebrot dazu. Sie wirft einen hastigen Blick in den Korb, in dem die beiden Apfelsinen herumrollen. Für die hat sie ihr letztes Geld ausgegeben, jetzt müssen sie ihr auch etwas einbringen.

Nach einem raschen Besuch in der dunklen Schenke ist sie wieder unterwegs. Es ist später Nachmittag und Stockholms blaue Dämmerung senkt sich über Straßen und Gassen.

„Du da mit dem Korb!“, ruft ein Bierkutscher.

Er bremst seine Fuhre oben auf dem Hügel, dass die Flaschen klirren, aber das Mädchen antwortet nicht.

An der Ecke zur Högberggatan steht Lieder-Olle. Wie gewöhnlich ist er von einem Haufen Kinder umgeben, die ihn anbetteln ein Lied zu singen.

Sie überquert schnell die Straße, er darf sie nicht entdecken. Lieder-Olle ist zwar als freundliche Seele in ganz Söder, dem südlichen Teil von Stockholm, bekannt, aber er ist Polizist.

Einige kleine Jungen lösen sich aus dem Haufen um den Polizisten und laufen zur Apotheke.

„Feine Schlänglein!“, grölen sie.

Ein barfüßiger Junge in einer grauen ausgefransten Jacke trägt eine Blechdose. Er lüftet den Deckel und wedelt ein paar Frauen mit einer Schlange vor der Nase herum.

„Verflixte Racker!“, schimpfen sie und wenden sich ab.

Die Straßenjungen warten auf die Korbträgerin.

„Willst du die im Korb haben?“, fragen sie grinsend.

Aber sie ist schnell und lässt den Korb auf den anderen Arm gleiten. Die Schlange wäre fast über den Blechdosenrand entwischt. Die Jungen kreischen erregt. Der größte von ihnen übernimmt das Kommando:

„Denk an das Geld, Klein-Oskar!“

Klein-Oskar legt den Deckel auf die Dose, und zusammen mit den anderen Jungen betritt er die Apotheke.

Die Schlange haben sie mit Astgabeln in den Tjurbergen gefangen, ein gewöhnlicher Aufenthalt für Kreuzottern, Ringelnattern und die armen Jungen von Söder. Wenn sie Glück haben, bekommen sie 40 Öre für die Schlange, denkt das Mädchen. Vielleicht sind sie welche von den Tausenden von Kindern, die allein zurechtkommen müssen, so, wie sie das auch einmal musste.

Auf der Straße ist es am sichersten, wenn man schnell geht und so auszusehen versucht, als hätte man etwas zu erledigen. Nicht antworten, wenn man angesprochen wird, nicht auf der Straße. Sie hat beschlossen, sich an die Schenken zu halten, die liegen an der Götgatan dicht an dicht.

Sie kann es nicht lassen einen Blick in die „Traube“ zu werfen. Dort prangen glänzend weiß gedeckte Tische und auf dem Büffet eine versilberte Branntweinterrine. Die Stuhlsitze sind gepolstert, keine harten Holzschemel wie in den meisten Schenken an der Götgatan.

Aber sie traut sich nicht hinein. Die Herren dort drinnen sind Großhändler. Die „Traube“ ist zu fein für sie.

Ein leichter Regen trommelt auf das Kopfsteinpflaster und macht es schlüpfrig. Das Mädchen verliert die Balance und hätte fast den Korb fallen lassen. Späht zum Zoll hinunter, wo das Blechschild der Schenke „Zum Anker“ im Wind schwingt.

„Zum Anker“ nur im Notfall, falls keiner der Bauern im „Goldenen Bett“ anbeißt, beschließt sie.

Diese Schenke nahe beim Skanstull ist bekannt als die übelste Säuferhöhle der Götgatan. Dort sitzen die Schlachterknechte aus den Schlachtereien am Hammarbysjö. Die beschaffen sich durch Fuchsjagd Geld zum Saufen, locken die Füchse mit dem Schlachtabfall an. Die Knechte legen Fallen aus und verkaufen Fuchsfelle. Die wärmen im Winter die Hälse der Frauen. Aber sie möchte keinen Pelz der armen Leute haben, wie die Fuchsfelle genannt werden. Nein, eines Tages wird sie einen richtig feinen Zobelpelz besitzen.

Das Mädchen drückt die Tür zum „Goldenen Bett“ auf.

„Billige Apfelsinen!“, ruft sie durch den Raum.

Einige der Gesellen, Droschkenkutscher und Fuhrleute, schnalzen anzüglich. Ein großer Bauer stellt sein Bierglas mit einem Knall auf den Tisch und spuckt den Kautabak auf den mit Sägespänen bedeckten Fußboden.

„Ihre Haare haben dieselbe Farbe wie die Apfelsinen!“, beantwortet er ihren Ruf.

Die junge Frau fährt herum. Ihre grünen Augen blitzen den Mann an.

„Hoppla! Sie hat wohl Feuer. Das gefällt uns Bauern von Södertörn“, dröhnt er.

Das Mädchen findet sich ab. Verwandelt den Zorn in Lachen. Drängt sich zwischen den groben, gelb gestrichenen Tischen durch, deren einziger Schmuck aus Ringen von unzähligen Biergläsern besteht.

„Möchte er vielleicht mal probieren?“, fragt sie einschmeichelnd.

Der Bauer zieht sie auf seinen Schoß. Die Männer rundherum lachen erregt. Treiben weiter ihre Späße über ihre Haarfarbe. Die Hand des Bauern tastet sich unter ihre Jacke. Kneift in ihre Hüften. Die Männer nennen sie Rotkäppchen, wollen unbedingt ihren richtigen Namen wissen. Aber das Mädchen gibt freche Antworten.

Der Bauer von Södertörn trinkt eilig sein Glas aus. Er nimmt sie am Arm und sie achtet darauf, dass sie ihren Apfelsinenkorb nicht verliert.

Der Bauer wechselt ein paar Worte mit dem Wirt, der an der zinkverkleideten Theke im hinteren Teil des Raumes steht. Das Mädchen zeigt auf das große Branntweinfass, das hinter der Theke aufgebockt ist.

„Gib mir einen randvollen und einen kleinen für das Apfelsinenmädchen!“, sagt der Bauer und wirft eine 10-Öre-Münze auf die Theke. Der Wirt schiebt ihnen die Schnäpse zu, einen vollen und einen kleineren. Sie streckt rasch die Hand aus und kippt den Schnaps hinunter. Im Dunkel hinter der Theke öffnet der Wirt dem Paar eine Tür und schließt sie hastig hinter ihnen.

Alice stopft den Stoffbeutel in den Rockbund. Die Münzen drücken sie an der Seite, aber das dürfen sie gern.

Der Bauer von Södertörn ist großzügig gewesen. Ganze zehn Kronen liegen in dem Beutel, nachdem der Wirt sich die Hälfte genommen hat, außerdem hat sie einen Schnaps bekommen. Sie braucht ein wenig Branntwein, damit die Veranstaltung gelingt. Um die dummen Kerle glauben zu lassen, dass ihr Lachen und die verliebten Blicke echt sind.

Sie ist allein in dem engen, zugigen Zimmer auf der Stora Glasbruksgatan. Die Wände sind nackt, mit Leim bestrichen. Nur eine ist mit alten Zeitungen tapeziert. In einer Ecke steht ein qualmender Kamin. Unter der Decke hängen Rußflecken.

Das Zimmer wird der Schuhkarton genannt. Sie teilt es mit zwei Mädchen aus dem südschwedischen Småland. Sie sind alle Untermieterinnen der Witwe Svensson. Sie wohnt mit ihren kleinen Kindern und einigen Arbeitern, die sich bei ihr eingemietet haben, in der Küche. Tagsüber sind die Mädchen aus Småland bettelnd auf den Straßen unterwegs. Sie hätten in Småland bleiben können, findet Alice. Allzu viele Landpomeranzen sind in die Stadt gekommen.

Alice ist zufrieden mit dem Schuhkarton. Es ist ihr erstes eigenes Zuhause. Sie sitzt auf einer zerlumpten Strohmatratze und tastet den Geldbeutel ab.

Genießt die Einsamkeit. Heute will sie Kleider kaufen. Neue Kleider. Die alten, von den Strümpfen, die nur noch durch die Stopfstellen zusammenhalten, bis zum Schal, sind gründlich abgenutzt. Sachen, die die Bibelfrauen als Almosen für die Kinder im Kinderheim bekommen haben. Neue, saubere Kleider werden ihre Einkünfte erhöhen.

Sie streckt sich auf der Matratze aus. Spannt ihren kleinen Körper zu einem Bogen. Lächelt über ihre Schlauheit. Etwas Dunkelgrünes will sie haben. Die Farbe passt gut zu ihren Haaren. Und der Rock soll die Hüften betonen. Feine Herren verstehen etwas von guter Kleidung, und feine Herren haben genug Geld, das sie gut gekleideten properen Mädchen spendieren können.

Sie schaut zu den Apfelsinen im Korb. Die müssen noch oft an die frische Luft, aber heute Abend erspart sie es sich. Nach Schlag elf nimmt es die Polizei besonders genau mit einsamen Frauen. Nach dieser Uhrzeit dürfen sich die Registrierten gar nicht mehr draußen zeigen. Zu denen gehört sie nicht. Doch wird sie erwischt, ist sie gezwungen, sich an die Regeln zu halten, die die Behörde für Prostituierte festgesetzt hat. Alice schleudert die Stiefel von ihren Füßen. Von Regeln hat sie im Kinderheim genug bekommen. Sie muss vorsichtig sein, sich an zuverlässige Wirte halten, solche, die nicht mit der Polizei zusammenarbeiten. Hunderte von Frauen in Stockholm leben davon, dass sie ihre Körper verkaufen. Sie sind bei der Prostituiertenbehörde registriert und müssen zweimal in der Woche beim Amtsarzt erscheinen und sich untersuchen lassen.

In dem widerlichen Kurhaus will sie nicht landen. Hat man sich angesteckt, kann man eingelocht werden. Das hat sie von erfahrenen Mädchen gehört. Nein, sie lässt sich nicht registrieren. Sie will ihr Gewerbe wie so viele andere verschwiegen betreiben. Draußen anständig gekleidet erscheinen. Den Herren nicht nachrufen. Keine Bordelle betreten. Viele Mädchen halten sich so über Wasser wie sie, ohne das Wissen der Polizei. Apfelsinenmädchen und Seifenverkäuferinnen gehören schon zum alltäglichen Bild in Schenken und an Straßenecken.

Alice nimmt eine Apfelsine in die Hand, kontrolliert, dass sie noch nicht verfault ist. Der würzige Duft sticht ihr in die Nase. Die Apfelsinen sind für etwas anderes nötig, als für eine Weile den Hunger zu stillen. Sie verleihen ihr die Rolle als Straßenverkäuferin und sind die Eintrittskarte in die Schenken. Die Apfelsinen wechseln selten ihren Besitzer. Sie sind ihr Schutz.

Die Matratze ist feucht. Sie bibbert, obwohl sie schon alle Kleider trägt, die sie hat. Ein Schluck Schnaps wäre jetzt gut. Er würde im Hals brennen und in den Magen laufen, den Körper wärmen wie eine Schmusekatze. Den einen oder anderen Schluck hat sie genommen. Aber eine Säuferin wie ihre Mutter, Hut-Klara, will sie nicht werden.

Hut-Klara trägt immer einen großen Hut mit getrockneten Blumen. Alice hat von den anderen Straßenmädchen gehört, dass ihre Mutter im Zuchthaus sitzt.

Ein Schutzmann, der in der Nähe von Slussen, der Schleuse unten beim Hafen, patroullierte, hatte einen Mordslärm von einer Mietdroschke gehört. Das Pferd mit Wagen stand an einer Straßenecke, ein Kutscher war nicht zu sehen. Deshalb schlich sich der Schutzmann an und riss die Tür auf.

Drinnen zankte sich Hut-Klara mit einem Fuhrknecht. Der Knecht hatte ihr einen Schuh an den Kopf geknallt und ihren Hut zerknautscht. Aber Hut-Klara wusste sich zu wehren. Sie hatte ihm eins übers Auge gegeben wie der übelste Hafenschläger.

Der Fuhrknecht hatte seine Arbeit verloren und Hut-Klara wurde wegen Hurerei verurteilt. Der Wagen war nicht nur Hut-Klaras Heim, sie hatte den Knecht damit durch die Straßen kutschieren lassen und Kunden hereingelockt. Während sie die Kunden bediente, musste der Fuhrknecht ruhig in den Parkanlangen auf Djurgården und in anderen menschenleeren Straßen herumfahren. „Porzellan fahren“, nannte man das. Aber Hut-Klara ist nicht gerade aus zartem Material, denkt Alice verächtlich.

Sie denkt an die eingesperrte Frau als Hut-Klara. Eine richtige Mutter hat sie nie gehabt. Hut-Klara hat sie als Siebzehnjährige in einem elenden Loch, nicht größer als ein Schuhkarton, geboren. Unter Huren und Säufern hat Alice ihre ersten Lebensjahre verbracht. Als sie drei Jahre alt war, wurde sie von der Polizei beim Betteln geschnappt und zu den Bibelfrauen gebracht. Eine Freundin von Hut-Klara gab an, die Mutter habe sich auf Wanderschaft begeben, um ihren Beruf in der Gegend von Uppsala auszuüben, und ihr Kind zurückgelassen.

„Uneheliches Kind der Herumtreiberin Klara Johansson“, schrieb Fräulein Qvennerstedt in ihr Journal.

Alice grinst zufrieden. Für ihren Teil hat die Choralsingerei ein Ende und auch das Scheuern von stickigen Holzfußböden auf Knien. Kein Schimpfen und Meckern mehr, wie faul und unbeherrscht sie ist.

„Niemand kann sich so verstellen wie Alice, sie ist ein richtiges Theateräffchen“, pflegte die Qvennerstedtsche zu sagen. Sie beherrscht wahrhaftig die Kunst, den Männern den Kopf zu verdrehen. Neckt sie, das reizt die Männer. Lacht über ihre Scherze, tritt fröhlich und keck auf. Bringt ihre schmale Taille zur Geltung und zwinkert mit den grünen Augen.

Sie atmet den Duft nach dem frisch gebackenen Brot ein, das sie auf dem Heimweg gekauft hat, um ihren Erfolg zu feiern. Beißt ein Stück ab. Frisches Weißbrot, das darf man sich heute gönnen. Genießt. Wenn die alte Qvennerstedt sehen könnte, wie sie Gottes Brot isst, das sie für Hurengeld gekauft hat, würden ihr die Augen aus dem Kopf fallen. Aber die alte Schachtel hat nicht mehr über sie zu bestimmen. Magd wird sie nie werden. Sie soll kein Witwer gratis betatschen dürfen. Wenn die Kerle tatschen wollen, müssen sie bezahlen. Und niemand soll je wieder über sie bestimmen, das gelobt sie sich.

Signes weiches Gesicht tritt in der Abenddunkelheit hervor. Signe, die sich angestrengt hat, die immer ihr Bestes tut. Wie dumm von ihr. Rackert sich jetzt vermutlich das Leben aus dem Leib beim Kleinbauern auf Värmdö. Signe und sie sind beste Freundinnen gewesen. Aber sie, Alice, ist die Stärkere. Hat Rat für sie beide gewusst, wenn das Regiment der Qvennerstedtschen zu hart wurde. Signe hat sie gebraucht.

Alice schüttelt ihre Locken. Nein, es ist am besten, man sorgt für sich selbst und hängt sich an niemanden.

Das Apfelsinenmädchen

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