Читать книгу Psyche? Hat doch jeder! - Lena Kuhlmann - Страница 6
garantien nur für elektrogeräte
ОглавлениеIch falle lieber gleich mit der Tür ins Haus, dann könnt ihr später nicht sagen, niemand hätte euch gewarnt. Psychische Gesundheit ist nämlich keine Selbstverständlichkeit, selbst wenn viele Menschen davon ausgehen – wie sie auch davon ausgehen, dass für sie im Sommerurlaub natürlich jeden Tag die Sonne scheint. Depressionen, Angsterkrankungen oder Essstörungen gehen nur die anderen etwas an? Wenn ihr euch da mal nicht täuscht, sage ich. Ein Reklamationsrecht gibt es vielleicht für Elektrogeräte, aber für alles andere gibt es eben keine Garantie.
Eine Erkrankung der Seele kann jeden treffen. Von Klitzeklein bis Steinalt. Alle, die viel über die Psyche wissen, und die, die von ihr noch nie etwas gehört haben. Man schätzt, dass jeder dritte Deutsche im Laufe seines Lebens mindestens einmal an einer psychischen Störung erkranken wird: eins, zwei, drei.1
Aber kein Grund zur Panik. Andersherum betrachtet wird sich auch jeder Mensch irgendwann einmal eine körperliche Krankheit einfangen. Eine Blasenentzündung, Halsweh, Fieber oder Fußpilz. Vermutlich verschreibt der Hausarzt dann ein Medikament oder hat Tipps zur Genesung parat.
Bei der Psyche ist das im Grunde gar nicht so viel anders, denn auch psychische Erkrankungen kann man behandeln. Während das Umfeld bei einem Schnupfen allerdings freundlich »Gesundheit« ruft, müssen Depressive aufpassen, nicht als komplett durchgeknallt und unzurechnungsfähig abgestempelt zu werden.
»Tom hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Aber ihr wisst ja, der tickt schon lange nicht mehr richtig. Ich habe mir schon letztes Jahr gedacht, dass der eine Macke hat, und einen Sprung hat er auch in der Schüssel. Er war ja immer schon ein bisschen gaga, meschugge und plemplem. Dem ist wohl nach der Scheidung von seiner Frau die Sicherung durchgebrannt.« Das ist nur eine kleine Ansammlung von Wörtern, die umgangssprachlich bezeichnen sollen, dass ein Mensch psychisch erkrankt ist. Nicht allzu charmant und wahrscheinlich einer der nachvollziehbaren Gründe, warum Betroffene ihre Erkrankung nicht gern öffentlich machen. Und wenn sie es tun, dann ziehen sie die Bleikugel der Stigmatisierung oft jahrelang hinter sich her.
Muss es denn immer erst zu einer Katastrophe kommen, bevor wir anfangen, über unsere Psyche zu sprechen? Ein Amoklauf in der Schule, der Freitod des Frontsängers einer beliebten Band, ein Todesschütze, der in Las Vegas ein Blutbad anrichtet? Ich hoffe nicht. Die Psyche braucht mehr Beachtung, auch ohne Breaking News. Das ist längst überfällig, denn es ist noch ziemlich viel Aufklärungsarbeit zu leisten.
Das merke ich in meiner Freizeit ganz deutlich, wenn ich von Freunden und Verwandten zu meiner Arbeit befragt werde. Psychotherapeuten, sind das nicht die mit dem Sofa? Die mit den hundert verschiedenen Versionen von »Aha« und »Mhm«? Stimmt es, dass sich viele im Grunde nur selbst therapieren wollen? Und welche Leute gehen da eigentlich hin?
Eine besonders erheiternde Anekdote hat mit einer Bekannten meiner Familie zu tun. Sie fragte mich auf einer Geburtstagsfeier, ob ich in der Folgewoche noch freie Termine zu vergeben hätte. Die Schmerzen in ihrem Rücken wären wieder einmal unerträglich und ausgerechnet jetzt sei ihre Therapeutin im Urlaub. »Psycho, nicht Physio!«, entgegnete ich leicht genervt und überdeutlich. Da hatte sie wohl etwas falsch verstanden, aber zumindest für einen Lacher bei den anwesenden Gästen gesorgt.
Psychotherapeutin bin ich irgendwie rund um die Uhr, zumindest in den Augen der anderen. Die Psyche macht schließlich auch nie Feierabend. Letztens zum Beispiel wurde ich nach zwei Gläsern Wein und während ich auf einer Einweihungsfeier singend das Tanzbein schwang, von einer fast fremden Person nach Tipps im Umgang mit Liebeskummer gefragt. Zuvor waren wir einander kurz vorgestellt worden und hatten dabei, wie beim Small-Talk-Quartett üblich, die wichtigsten Eckdaten abgefragt: Alter, Beruf, Wohnort und woher kennst du die Gastgeber? In diesem Gespräch hatte ich nur beiläufig von meinem Job berichtet. Wenig später suchte die Fremde erneut das Gespräch, um mir ohne Hemmungen von Jonas, ihrem Verflossenen, ihrer Kindheit mit zwei älteren, durchsetzungsstarken Brüdern, der fürchterlichen Auslandserfahrung und dem Druck, dem sie auf der Arbeit ausgesetzt sei, zu erzählen. Schlussendlich wollte sie von mir ein paar Tipps zur Behandlung ihrer traurigen Phasen und gleichzeitig wissen, ob sie mit ihrer selbst gestellten Diagnose einer depressiven Episode (die Informationen dazu hatte sie aus dem Internet) wirklich richtig lag. Ich dagegen wollte, dass der DJ noch einmal mein Lieblingslied spielte. Und bitte noch einen Drink.
Von solchen Vorfällen abgesehen, ist der Psychotherapeutenjob super. Er ist spannend wie ein Krimi, privater als Big Brother, ein bisschen wie Detektivarbeit und oft genug rührend, lustig, inspirierend oder aufregend. Kein Tag ist wie der andere und langweilig wird es bestimmt nicht. Einen (persönlichen) Einblick in die Arbeit einer Psychotherapeutin bekommt ihr auf den folgenden Seiten.
Und dann will dieses Buch aufräumen. Nämlich mit ollen, filmreifen Vorurteilen rund um Psychiatrie, Psychopharmaka und einige Störungsbilder. Es will auf die Missstände in der Versorgung psychisch Kranker hinweisen, weil es nicht hinzunehmen ist, dass Hilfesuchende monatelang auf einen Therapieplatz warten müssen. Ich hoffe, ihr erfahrt mehr über eure Psyche, wie sie funktioniert, wann es zu einem Ungleichgewicht kommen kann, was dann zu tun ist und wie man verhindert, dass es überhaupt so weit kommt. Ein bisschen Klatsch und Tratsch, praktische Tipps und eine Prise Insiderwissen dürfen natürlich auch nicht fehlen.
Vieles von dem, was jetzt folgt, stammt aus der Welt meines Therapeutinnendaseins, anderes hat sich in meinem privaten Leben so oder so ähnlich abgespielt und einiges habe ich von Kollegen oder Bekannten gehört. Das alles ist miteinander vermischt worden wie beim Kartenspielen, damit meine Freunde und Patienten auch nach diesem Buch weiterhin mit mir zu tun haben wollen. Und natürlich auch aus berufsethischen Gründen, denn Psychotherapeuten haben Schweigepflicht.