Читать книгу Psyche? Hat doch jeder! - Lena Kuhlmann - Страница 7
Оглавлениеpsyche hat jeder, auch wenn man sie nicht sehen kann
Ich glaube, es war Weihnachten 2014, als ich innerhalb kürzester Zeit von unterschiedlichen Personen eine Grußkarte, eine Teetasse und einen Kalender mit jeweils demselben Spruch darauf erhalten habe: »Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben lebenswert machen« (das weit verbreitete Zitat stammt von Guy de Maupassant, wie ich später herausgefunden habe). Dreimal dieselbe Lebensweisheit, dreimal derselbe Wink mit dem Zaunpfahl? Bis heute bin ich mir unsicher, was ich über diesen vermeintlichen Zufall denken soll. Ein anderer Spruch, den ich erst herzergreifend fand und der mittlerweile ziemlich abgedroschen für mich klingt, ist der des Kleinen Prinzen (des Autors Antoine de Saint-Exupéry). In keinem Hochzeitsgästebuch darf er fehlen, ich schätze, dass ihn 99,9 Prozent der erwachsenen Deutschen schon einmal irgendwo gehört haben. In diesem Fall spielt er mir aber ganz gut in die Karten: »Das Wesentliche kann das Auge nicht erkennen«, sagt der oft zitierte Autor. Es hat demnach auch ganz und gar nichts zu heißen, dass man die Psyche, im Gegensatz zu Herz und Nieren, nicht sehen kann. Unsichtbar hin oder her, eine Psyche hat jeder Mensch – ob er will oder nicht. Nur wo?
Vieles deutet darauf hin, dass sich die Psyche irgendwo in unserem Gehirn befindet. Das zumindest behaupten Neurowissenschaftler. Im Hirn ist die Schaltzentrale für unsere Emotionen und Impulse und hier setzen auch Psychopharmaka an. »Psyche« ist übrigens griechisch und heißt übersetzt »Seele«. Und damit sind wir eigentlich auch schon bei der Hauptperson dieser Geschichte angelangt.
In meiner Therapeutenausbildung habe ich mich fast ausschließlich mit den Störungen der Psyche beschäftigt. Der Fokus lag also eher auf Krankheiten, Defiziten und dem Ausnahmezustand. Als ich dann mit den Recherchen für dieses Buch anfing, ist mir aufgefallen, dass sich viele Forschungsarbeiten und Fachbücher ebenso darauf konzentrierten. Die Psyche an sich, also im Normalzustand, findet dagegen eher wenig Beachtung. Das fand ich erst einmal erschreckend, obwohl es gleichzeitig ziemlich einleuchtend ist. Erst wenn der Schuh irgendwo drückt, schaut man dort genauer hin. Neuere Forschungsarbeiten richten den Blick nun auf andere Aspekte, zum Beispiel auf die seelische Widerstandskraft (Resilienz).
Info
Die Resilienzforschung
Die Resilienzforschung erfreute sich Mitte der Achtzigerjahre zunehmend an Beliebtheit und wer die Bestsellerlisten dieses Landes verfolgt, der weiß, dass das Thema Resilienz in den letzten Jahren zu einem ziemlichen Trend geworden ist. Kein Wunder, denn Grundlage der Resilienzforschung ist die Untersuchung derjenigen Faktoren, die unsere Seele vor Erkrankung schützen und uns helfen können, auch in widrigen Umständen standhaft zu bleiben. Dieser Schutzschild ist veränderbar. Mit gezielten Übungen kann man die eigene Resilienz weiter ausbauen.2
Eine bekannte Studie in diesem Zusammenhang ist die Kauai-Studie von Emmy Werner. Die Entwicklungspsychologin begleitete über sechshundert Kinder, die unter ähnlichen Bedingungen groß geworden sind, von ihrer Geburt bis zur Volljährigkeit und darüber hinaus. Einige von ihnen wurden zu erfolgreichen, optimistischen Männern und Frauen, andere wiederum nicht. Faktoren, die Werner als schützend und somit auch für die psychische Entwicklung als förderlich erachtete, waren unter anderem eine sichere Bindung, gute Kontakte zu Gleichaltrigen, ein mindestens durchschnittlicher IQ oder gesicherte Lebensumstände.3
Was wir über die Psyche wissen und was nicht
Wir wissen also noch nicht allzu viel über die Psyche. Was wir heute haben, sind verschiedene Theorien aus Medizin und Psychologie, die sich vor allem um die Entwicklung psychischer Krankheiten drehen. Viele davon werden noch immer wild diskutiert. Der kleinste gemeinsame Nenner ist vielleicht die Annahme, dass eine psychische Störung meist multifaktorielle oder einfacher gesagt: mehrere Ursachen hat. Das biopsychosoziale Modell beispielsweise sieht in der Entstehung von psychischen Störungen ein Zusammenspiel zwischen biologischen, sozialen und psychischen Faktoren.4 Aber die eine Wahrheit gibt es nicht und das wiederum macht die Sache auch so spannend. Es ist eine Wissenschaft, die stets in Bewegung ist, in der morgen schon alles ganz anders sein kann. Wo man selbst steht, ist, wenn ihr mich fragt, auch eine Glaubens- und Ausbildungsfrage. Vollkommen logisch, dass Neurologen den Grund für psychische Störungen eher im medizinischen Bereich suchen, im Gegensatz zu beispielsweise den Tiefenpsychologen, die die Ursache in (unbewussten) Konflikten vermuten. Aber selbst unter den Psychotherapeuten gibt es, wie wir später noch erfahren werden, unterschiedliche Erklärungsansätze. Wenn sich also nicht einmal die Fachleute einig sind, verwundert die allgemeine Unsicherheit zu diesem weit gefassten Thema erst recht nicht.
Im Folgenden wollen wir uns einige der Hypothesen über den Aufbau der Psyche einmal genauer anschauen, wobei der Fokus auf den therapeutischen Erklärungsmodellen liegen wird. In Deutschland gibt es aktuell drei psychotherapeutische Verfahren, deren Wirksamkeiten vom wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie nachgewiesen wurden und die vom gemeinsamen Bundesausschuss als sogenannte Richtlinienverfahren anerkannt sind. Dazu zählen die psychodynamischen Ansätze (Psychoanalyse und Tiefenpsychologie) und die Verhaltenstherapie (künftig wird es für Erwachsene noch ein weiteres Verfahren, die Systemische Therapie, geben). In der Praxis gibt es heutzutage aber immer wieder Überschneidungen und eine strikte Trennung der einzelnen Therapierichtungen oder gar eine Konkurrenzsituation gehören mehr oder weniger der Vergangenheit an. Schlussendlich wollen wir doch alle das Beste für den Patienten, da kann es meiner Meinung nach nicht schaden, über den Tellerrand der eigenen Therapieschule hinauszublicken. Jeder Mensch ist einzigartig und muss eben auch so behandelt werden.
Für Deutschland gilt: Bei den drei genannten Verfahren werden die Behandlungskosten für alle Versicherten von ihrer Krankenkasse vollständig übernommen. Deswegen konzentriere ich mich in diesem Buch überwiegend darauf. Wir starten mit den psychodynamischen Verfahren. Einmal, weil ich selbst Tiefenpsychologin bin (und es bekanntlich immer leichter ist, von etwas zu erzählen, was einem ganz gut liegt), aber vor allem, weil alles mit der Psychoanalyse begann.