Читать книгу Janin - Lena Lindenwald - Страница 5
ОглавлениеI
Ich hatte mein Ziel erreicht und fühlte mich dennoch so verloren! In meiner linken Hand umklammerte ich den unscheinbaren Zettel, auf dem der Ort vermerkt war, an den mich die zischende Dampfmaschine mit ihren Waggons gebracht hatte. Trotz des Nieselregens lag beißender Kohlegeruch im kalten Nebel. Die wenigen Fahrgäste, die mit mir ausgestiegen waren, beachteten mich ebenso wenig, wie die vereinzelt wartenden Menschen auf dem Bahnsteig. Mit meinem kleinen Gepäckbündel setzte ich mich auf eine der leeren Bänke und versuchte, mir das bisschen Wärme in meiner dürftigen Kleidung nicht vom Wind rauben zu lassen. Mein Blick huschte dabei umher und suchte vergebens nach etwas Vertrautem, doch selbst die herzigen Abschiedsszenen, die sich vor mir abspielten, als die Türen der Waggons sich knallend schlossen, waren mir fremd.
Ohne Erbarmen setzte sich die Lokomotive mit ihrem Tross schnaubend und krächzend in Bewegung und ließ mich hier allein zurück. Rasch verschluckte die graue Wand das klappernde Ungetüm und mit ihm die letzte Verbindung zu meinem alten Leben. Ich war eine Gestrandete, die nie zuvor von diesem kleinen Städtchen in der Einöde nördlich der freien Reichsstadt Frankfurt gehört hatte. Der einzige Grund, weshalb ich dennoch hier saß, war dieser kleine Zettel in meiner Faust!
Vilbel-Wetterau/Hessen stand darauf, von der Hand meiner Mutter hastig hingekritzelt.
»Fräulein Steinborn?«
Ich blickte auf und sah in das Gesicht eines alten, bärtigen Mannes, welches hager und vom Wetter gezeichnet war. Struppiges Haar ragte unter seiner dunklen Schildmütze hervor, die ihn ebenso vor dem Regen schützte wie der lederne Übermantel, der zur typischen Kleidung eines Kutschers zählte.
»Fräulein Janin Steinborn?« Seine raue Stimme schien ungehalten und müde. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er tatsächlich mich damit meinte. Rasch rappelte ich mich hoch und deutete einen Knicks an.
»Sehr erfreut … zu Ihren Diensten«, stammelte ich leise.
Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, ergriff er meinen kleinen Koffer neben der Bank und machte kehrt. Ich folgte ihm wortlos, mutlos. Wir verließen den zugigen Bahnsteig und überquerten die aufgequollene Straße. Einen Schirm, der mich vor dem unaufhörlichen Regen hätte schützen können, hatte ich nicht bei mir und so drängte sich die Nässe mit zunehmendem Erfolg durch meine Kleidung. Wir erreichten ein kleines Gespann mit halboffener Kabine, bei deren Anblick mich die Kälte zu verhöhnen schien. Wenigstens dem Pferd machte das fröstelnde Wetter scheinbar nichts aus.
Der Kutscher verpackte meine wenigen Habseligkeiten in einer ledernen Truhe am Heck und machte sich daran, den Eigenlenker zu erklimmen. Erst jetzt warf er einen kurzen Blick über seine Schulter, um zu sehen, ob ich ihm folgte, dann hielt er kurz inne und stieg wieder ab. Mit einem hörbaren Seufzer ging er wieder ans Heck und kramte aus der Truhe einen dunklen Lederumhang hervor. Wortlos winkte er mich zu sich und legte mir das schwere Gewand um meine frierenden Schultern. Ich zuckte zusammen, als der viel zu große Regenschutz meine durchnässte Kleidung an meinen ausgekühlten Körper presste. Mit zitternden Händen versuchte ich erfolglos, die Kapuze zu greifen, bis sich die knorrigen Hände meines stummen Gegenübers erbarmten und mir halfen.
Ungelenk hangelte ich mich auf den Kutschbock und verkroch mich in eine Ecke. Mein Begleiter war ebenfalls aufgestiegen und löste die Zügel, worauf das Pferd mit einem leisen Schnalzen seines Herrn erwachte und sich ohne Zögern anschickte, seine Aufgabe souverän auszuführen. Indes versuchte ich mit aufkommender Verzweiflung, den letzten Rest an Wärme in mir zu bewahren. Meine klammen Finger waren kaum noch in der Lage, den Umhang zu greifen und ihn über meinem Schoß und meinen Beinen zu halten.
Unser Gespann wendete vor dem nun menschenleeren Bahnhof und fuhr gemächlich die Straße hinunter. Wenigstens das Tier wusste, wohin es zu gehen hatte, denn die Hände des Kutschers hielten die Zügel ohne jegliche Regung. Ich hingegen war ohne Nutzen – und ohne Ahnung.
Was war in den letzten Tagen nur schiefgelaufen? Ich hatte unser Anwesen spät abends in Begleitung der Zofe meiner Mutter verlassen müssen, gekleidet wie eine unserer Dienstmägde. Sie hatte mich in eine kleine Herberge am Stadtrand gebracht, wo ich die letzten beiden Tage das Zimmer nicht hatte verlassen dürfen, ehe mich ein Botenjunge heute vor dem ersten Sonnenstrahl zum nächstgelegenen Bahnhof geleitet hatte. Ein Blick in den kleinen Koffer voller Habseligkeiten hatte mir schnell klargemacht, dass eine rasche Rückkehr nicht geplant gewesen war. Von Papa hatte ich mich nicht einmal verabschieden können – und Mama? In meinen Augen war sie immer die stolze, starke Frau, die nichts erschüttern konnte und der keine Herausforderung zu hoch, kein Hindernis unüberwindbar war, doch an jenem Abend hatte sie furchtbare Angst! Ich hatte es in ihren Augen sehen, in ihrer Stimme vernehmen können, trotz ihrer Bemühung, es zu verbergen.
Wir ließen das Städtchen hinter uns. Alte Eichen am Wegesrand glichen stummen Soldaten, die unerschütterlich dem Pferd den Weg durch den Nebel wiesen. Der Wind hatte gedreht, so dass das Vordach der Kutsche keinen ausreichenden Schutz mehr bot und die kalten Tropfen mir vermehrt ins Gesicht schlugen. Meine Finger vermochten nicht mehr, den immer schwerer werdenden Umhang zu halten, und auch der letzte kümmerliche Rest an Wärme entglitt mir zusammen mit den vereinzelt warmen Tropfen in meinem Gesicht.
Ein kleines Holpern ließ mich dennoch aufschauen. Unser Gespann durchquerte ein breites Tor und bald zeigte sich hinter den hohen Bäumen ein großes Anwesen. Zielsicher trabte das Pferd an einem stattlichen Herrenhaus vorbei und bog in einen weitläufigen Innenhof, der von mehreren Gebäuden umringt war. Die steinernen Mauern ragten hoch in den dunklen Himmel, doch aus den Fenstern schimmerte vereinzelt warmes Licht.
An einem langen Wohngebäude, welches zwei Stockwerke hoch war und an das prunkvolle Haupthaus angrenzte, ließ eine kaum merkliche Handbewegung des Kutschers unsere Fahrt ihr Ende finden. Gelassen sicherte mein namenloser Begleiter die Zügel, kletterte vom Bock und ging zu seinem Tier, das gleichgültig und dampfend dem kalten Regen trotze. Der Kutscher tätschelte das Pferd am Hals und rieb ihm kurz die Schnauze, worauf es sich mit einem Schnauben bedankte. Dann ging der Mann zu einer großen hölzernen Tür und klopfte. Ich kletterte derweil ebenfalls von der Kutsche, rutschte dabei aber auf der nassen Steighilfe ab und verlor jeglichen Halt. Mit einem lauten Klatschen landete ich auf dem matschigen Boden.
»Ach herrje! Was bringst du uns denn da, Josef?«
Die Tür war geöffnet worden und ein Lichtkegel stieß zu mir in die Dämmerung vor. Kläglich rappelte ich mich hoch und sah durch meine nassen und schlammtriefenden Haare eine Frau im Eingang stehen, die mich mit bestimmendem Blick musterte. Der Kleidung nach schien sie eine Kammerfrau zu sein.
»Josef, sei doch so lieb und bring ihr Gepäck herein«, flüsterte sie, ihre Augen nicht von mir lassend.
Ohne Antwort machte der Kutscher kehrt und holte meinen Koffer aus der Truhe am Heck.
»Du möchtest hier draußen bestimmt nicht übernachten, also komm endlich herein ins Warme!« Die Stimme an der Tür klang fordernd. Ich rappelte mich auf und lief mit tappenden Schritten und gesenktem Blick auf sie zu. Eine warme Hand ergriff entschlossen die meine und zog mich beherzt ins hell erleuchtete Trockene.
»Worauf wartest du denn? Du musst aus den nassen Sachen raus, du holst dir noch den Tod!«
Ich fand mich in einer geräumigen Diele mit gewölbter Decke wieder. Eine schwere Kommode stand zwischen zwei Türen, von denen eine verschlossen und die andere halb geöffnet war.
Ohne Zögern ergriff die Frau meinen völlig verdreckten Umhang und reichte ihn Josef, der mit leisem Kopfschütteln das tropfende Etwas entgegennahm.
»Das Pferd muss ins Trockene … Kutsche abspannen«, murmelte er. Ohne auf Antwort zu warten, stapfte er in die nasse Dunkelheit und zog die Tür hinter sich zu. Gleich darauf konnte ich hören, wie das Gespann sich in Bewegung setzte.
»Was hast du dir dabei gedacht? Bei solch einem Wetter in diesem Aufzug …«, fragte mich die Frau vorwurfsvoll.
Aus meinen Schuhen quoll Wasser, so dass ich in einer kleinen Lache stand. Ich zitterte am ganzen Körper und war nicht imstande, auf ihre Frage zu antworten. Was bitte hätte ich ihr auch sagen sollen?
»Elli? Elli! Komm schnell her!«, rief die Frau durch den Spalt der halboffenen Tür.
Nur einen Moment später erschien ein zierliches, junges Mädchen in der Diele.
»Ja, Fräulein Jung, ich … «
Bei meinem Anblick verstummte sie augenblicklich und musterte mich ungläubig. Ich gab wohl einen wahrhaft erbärmlichen Eindruck ab. Mein Rock und meine Bluse waren durchnässt, meine Haare mit Dreck und Schlamm durchsetzt hingen tropfend an meinen Schultern hinunter und auch mein Gesicht hatte bei meinem Sturz ordentlich etwas abbekommen. Mit meinen Armen umschlang ich meinen Oberkörper und meine tauben Finger krampften sich in mir fest, ohne das Zittern unter Kontrolle bringen zu können.
»Wir brauchen warmes Wasser … und einen Korb. Du heizt den kleinen Badezuber nochmal an – JETZT, Elli!«, wies die Frau sie harsch an.
»Ja … jawohl, Fräulein Jung.«
Das Mädchen konnte sich kaum von meinem Anblick losreißen, verschwand dann aber doch durch die Tür, durch welche es gekommen war.
»Wie ist dein Name, Kind?«
Ihre blauen Augen blickten mich mit sanftmütiger Strenge an. Sie war von großer, schlanker Statur und etwas älter als ich, hatte aber die dreißig Jahre bestimmt noch nicht erreicht. Das lange haselnussbraune Haar hatte sie adrett zu einem Knoten gesteckt. Ihre Gesichtszüge waren weich, aber selbstbewusst und entschlossen, was mich in meiner Annahme bestätigte, dass sie keine gewöhnliche Zofe des Hauses war.
»Ch … Ja … St …«
Vor lauter Bibbern brachte ich kein Wort hervor.
»Deine Lippen sind schon ganz blau! Los, ausziehen!«
Sie wartete nicht darauf, dass ich ihrer Aufforderung nachkam, sondern machte sich augenblicklich daran, mich aus den nassen Kleidern herauszuschälen. Durch die Seitentür erschien ein zarter Arm, der einen Korb hereinschubste und sogleich wieder verschwand. Das Behältnis füllte sich rasch, da die Kammerfrau kein Mitleid in dieser Sache hatte und auch ohne Zögern mich meiner Unterkleider entledigte. So stand ich bald da, völlig nackt in einem mir wildfremden Haus vor einer Frau, die nicht einmal meinen Namen kannte! Sie ließ mich jedoch nicht in diesem beschämenden Moment verharren, sondern kramte rasch eine Decke aus einer nahen Kommode hervor und wickelte mich darin ein.
»Wird gleich besser … so … nochmal, wie ist dein Name, Liebes?«
»Ja … Janin«, stammelte ich.
»Janin, hm, hast du auch einen Nachnamen?«
»Stein … born, Fräulein Jung.«
»Dich stecken wir jetzt erst einmal ins warme Wasser. Einen Frischling, der gleich tagelang krank ist, können wir hier nicht gebrauchen!«
Sie schubste mich in Richtung der Tür, aus der der Korb gereicht worden war, als rasch die andere Tür geöffnet wurde und eine Frau hereinplatzte.
»Ist sie das, Clara? Das neue Stubenmädchen?«
Ich schaute auf. Die Frau war etwas jünger, als ihre Kollegin und von kleinerer Statur. Ihr langes, dunkles Haar hatte sie mit einem Stoffband zusammengebunden, dessen blaue Farbe mit der ihres Kleides übereinstimmte. Die makellos weiße Schürze, die sie zudem trug, war mit kunstvollen Stickereien verziert und ließ erkennen, dass ihr Arbeitsbereich nicht in der Küche, sondern bei den Herrschaften lag.
»Momentan ist das nur ein frierendes Etwas. Die muss in die Wanne, und das schnell!«, antwortete ihr Fräulein Jung.
»Das geht nicht. Die Herrin hat nach ihr geschickt. Sie solle sofort, wirklich sofort, bei ihr erscheinen!«
Fräulein Jung blicke erstaunt auf, dann wanderten ihre beiden Blicke auf mich.
»Wir können das Ding so unmöglich zur Herrin bringen. Schau sie dir doch einmal an, Marie!«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte diese ratlos.
»Geh zur Herrin und erkläre ihr die Situation. Sag ihr, wir kümmern uns erst einmal um das Mädchen hier!«
Marie zögerte sichtlich. Ich war mir jedoch nicht sicher, ob ihr skeptischer Blick Fräulein Jungs Einschätzung der Lage galt oder doch mehr meiner Erscheinung. Nach weiterem Zögern nickte sie vorsichtig und ließ uns im Flur zurück.
»Das verstehe jetzt einer …«, murmelte Fräulein Jung und zuckte mit den Schultern.
»Los, ab mit dir, da rein!«
Ich tapste nunmehr barfuß durch die Tür in einen Flur und die Kammerfrau hieß mich zum letzten Raum auf der linken Seite gehen. Hier wartete bereits Elli vor einem kleinen Badezuber. Es roch nach Rauch und Seife, und ein festes Feuer knisterte unter dem Kessel, aus dem Elli dampfendes Wasser schöpfte und in den Zuber goss.
»Gib mir die Decke! Elli, hilf ihr rein, nicht dass die nochmal auf dem Boden landet.«
Ich löste mich ungern von der schützenden Decke und schlich zum Zuber, vor dem Elli einen kleinen Schemmel positioniert hatte. Sie stützte mich, als ich ungelenk ins warme Wasser kletterte. Als ich die dampfende Oberfläche mit meinem klammen Fuß berührte, zuckte ich zusammen.
»Das vergeht gleich, nur schnell rein da«, flüsterte das Mädchen mir zu.
Mit zusammengebissenen Zähnen stieg ich in das Wasser und sofort kribbelte meine Haut, als wären überall Ameisen auf mir. Ich war noch nicht ganz eingetaucht, als Elli einen neuen Kübel mit heißem Wasser hinzuschüttete. Ich schloss die Augen, denn endlich, endlich ließ mein Zittern nach und verstummte nach wenigen Momenten ganz. Fräulein Jung machte kehrt und ließ mich mit Elli allein zurück.
»Ich heiße Elli, aber das weißt du ja schon. Du bist also Janin? Was ist denn das für ein komischer Name?«
»Meine … Großmutter … kam aus dem Elsass«, log ich und nickte ihr zu, als sie mit einem weiteren Kübel ankam. Doch anstatt ihn wie zuvor in den Zuber zu kippen, goss sie das heiße Wasser über meinem Kopf aus, so dass ich nach Luft schnappen musste.
»Du bist ja sowas von dreckig, wie hast du das denn hinbekommen? So habe ich zuletzt ausgesehen, als mich im Hühnerstall der doofe Hahn angegangen ist – das blöde Viech!«
»Was?«, stammelte ich verdutzt.
»Da, sieh mal, mein Arm hier, die Narbe, da hat er mich erwischt. Hast du auch eine Narbe irgendwo?«
Neugierig und ohne Scham beäugte sie mich näher. Als sie aber augenscheinlich keine finden konnte, auch weil ich mich verlegen mit meinen Haaren vor ihren neugierigen Blicken zu schützen versuchte, quasselte sie vergnügt weiter. Ich genoss indes das wärmende Bad und war um jeden zusätzlich nachgegossenen Eimer dankbar. Bald steckte mir Elli ein Stück Seife zu, das ich gerne annahm und das mir zuverlässig half, mich vom Dreck und Schmutz zu befreien. Meine Umstände, die sich mir unerklärlich ergeben hatten, konnte aber auch sie nicht bereinigen, und so kamen mit der Wärme auch die Sorgen und Ängste zurück. Noch vor wenigen Tagen war alles in bester Ordnung gewesen, aber jetzt? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, warum ich mich in dieser unwirklichen Situation befand und was ich tun sollte – oder wenigstens könnte. Ich wollte einfach nur wieder nach Hause, zu Mama und Papa.
»Mir ist es recht, wenn nochmal ein Stubenmädchen hier ist, da verteilt sich die Arbeit besser! Wie alt bist du eigentlich? Ich bin fast siebzehn, noch sieben Wochen, und du?«
»Beinahe neunzehn«, murmelte ich.
Stubenmädchen also – war das nun mein Schicksal? Dabei hatte ich doch kaum eine Vorstellung, was ein Stubenmädchen alles zu tun hatte. Die sich zielstrebig nähernden Schritte Fräulein Jungs rissen mich aus meinen Gedanken.
»Elli, bring mir ihren Koffer, der steht in der Diele.«
»Ja, mach ich«, zwitscherte Elli und flitze sogleich los.
»Na, aufgetaut? Zumindest keine blauen Lippen mehr. Wie lange warst du unterwegs?«, wollte sie von mir wissen.
»Seit heute früh«, gab ich kleinlaut zur Antwort.
»Und du kommst woher?«, bohrte sie nach.
»Aus Bonn«, log ich.
Fräulein Jung überlegte kurz, schien sich aber dann mit meiner Antwort zufriedenzugeben. Sie nahm von einem Wäschestapel ein weißes Tuch und legte es in meine Reichweite.
»Du bleibst noch zehn Minuten da drin, wenigstens!«, befahl sie mit fester Stimme. »Hast du was gegessen heute?«
Ich schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf, was ihr einen frustrierten Seufzer entlockte.
»Was denkt ihr jungen Dinger euch heutzutage nur … falsche Kleidung, keine Wegzehrung, da hat man mir ja schön was aufgehalst mit dir!«
Ich schwieg verlegen. Was hätte ich auch erwidern sollen? Dass sie ja nur wenige Jahre älter zu sein schien als ich, den Mut, sie darauf hinzuweisen, brachte ich nicht auf! Dann kam auch schon Elli mit meinen Habseligkeiten zurück.
»Du hast was Trockenes zum Anziehen für die Nacht dabei, nehme ich an?«, fragte mich Fräulein Jung. Ich nickte wieder und beobachtete Elli dabei, wie sie meinen Koffer auf einen kleinen Beistelltisch hievte.
»Gut, du kannst dich bettfertig machen. Dein Treffen mit der Herrin ist auf morgen verschoben, Marie konnte das klären!«
Sie seufzte erschöpft.
»Wenn ihr fertig seid, bringst du sie in die Küche!«, wies sie das Stubenmädchen an.
»Sehr wohl, Fräulein Jung.«
Wieder war ich mit Elli allein, die mir sogleich ihre Tageserlebnisse auf blumige Art schilderte, während sie um den Heizkessel herum sauber machte. Ich verharrte im wärmenden Wasser bis zur Nasenspitze und lauschte schweigend. Ihr ungezügelter Redefluss voller Unbekümmertheit und beinahe kindlicher Unschuld fegte den kalten Nebel vor meinem Gemüt mit einer Leichtigkeit weg, die mich in Bewunderung versetzte und mich auch bald Dankbarkeit verspüren ließ gegenüber ihrer Gabe, neuen Mut in mir aufkeimen zu lassen. Als sich andeutete, dass sie mir ihrer Arbeit in Kürze fertig sein würde, angelte ich mir das bereitgelegte Tuch und stieg aus dem Zuber. Elli winkte mich zu sich auf einen Stuhl, kramte einen Kamm hervor und half mir, meine zerzausten Haare zu zähmen, was ihrem Redeschwall jedoch keinen Abbruch tat. Voller Elan zerrte und zog sie an meinem Haupt, so dass ich Mühe hatte, mich auf dem Stuhl zu halten. Ich spürte aber bald, dass ihr geschicktes Bemühen durchaus Früchte zu tragen schien. Als sie mit ihrem Werk zufrieden war, stellte sie lapidar fest, ich wäre hübsch. Da mir die im Bad gewonnene Wärme, so unbekleidet, wie ich war, wieder zu entschwinden drohte, kramte ich in meinem Koffer rasch nach etwas Passendem zum Anziehen.
»Hast du kein Nachtgewand?«, fragte Elli verwundert. »Ich wäre auch schon umgezogen, wenn du nicht so spät gekommen wärst. Warte, ich bin gleich wieder da!«, sprach sie und verschwand. Ich fand das einfache Nachtkleid, welches ich in den vergangenen beiden Nächten getragen hatte. Auch Pantoffeln hatte mir jemand eingepackt, in die ich jetzt gerne schlüpfte. Elli ließ nicht lange auf sich warten. Sie hatte ihre Arbeitskleidung abgelegt und trug nun auch ein typisches Nachtkleid zusammen mit einem Schultertuch. Ein zweites, das sie bei sich hatte, reichte sie mir strahlend.
»Hier, für dich! Das hält schön warm.«
Ich nahm es dankend entgegen und Elli führte mich zurück durch den Flur in die Küche, wo Fräulein Jung bereits auf uns wartete. Auf dem großen Tisch gegenüber der Kochstelle standen zwei große, dampfende Becher und zwei Schalen. Elli strahlte noch mehr.
»Mhm, lecker, Grießbrei!«
»Ihr beide esst jetzt und macht dann hier sauber! Elli zeigt dir nachher deine Kammer. Antritt ist hier um sechs, verstanden?«, fragte uns Fräulein Jung mit musterndem Blick.
Wir nickten eifrig und die Kammerfrau schenkte uns ein kurzes Lächeln, wünschte uns eine geruhsame Nacht und ließ uns allein. Elli setzte sich ohne Zögern an den Tisch, roch an der Schale mit der Süßspeise und nahm dann einen großen Schluck aus dem gefüllten Becher, was ihr einen weißen Ring um ihren Mund einbrachte.
»Na los, worauf wartest du?«, fragte sie und schnappte sich ihren Löffel.
Ich ließ mich nicht länger bitten, denn mein Magen war quälend leer und sehnte sich nach solch einer warmen Mahlzeit. Ich setzte mich zu Elli an den Tisch und sog den aufsteigenden Essensduft tief in mich ein. Milch und Brei schmeckten uns herrlich, was Elli noch mehr zum Quasseln anregte.
»Lassen wir es uns gutgehen!«, riet sie mir. »Wird nicht jeden Tag vorkommen, dass Fräulein Jung uns ein warmes Nachtmahl genehmigt!«
»Die Milch ist ja ganz frisch!«, schwärmte ich erstaunt.
»Ganz frisch, oh ja! Erinnere mich jetzt nicht daran, wo es doch gerade so schön ist!«, sagte Elli mit vollem Mund.
»Warum, was ist denn?«, wollte ich erstaunt wissen, worauf das Stubenmädchen ihr Gesicht verzog.
»Das ist so gemein! Irgendjemand, und das war ganz bestimmt nicht ich, hat gestern den Stopfen nicht auf die Milchkanne gesteckt und dann ist da so eine blöde Maus reingefallen und ertrunken! Ich musste die ganze Milch wegleeren und heute Mittag neue besorgen. Fräulein Jung hat mich kräftig ausgeschimpft und mir gleich drei Striche gegeben – drei Striche! Kannst du das glauben? Bestimmt war das Hannah beim Frühstück, die hat die Kanne doch weggeräumt, aber wem glaubt man wieder? Natürlich nicht dem kleineren Stubenmädchen!«
Ich musste grinsen, was Elli natürlich nicht entging.
»Oh ja, lach du nur!«, prustete sie los, konnte aber auch nicht ernst bleiben.
»Wegen der blöden Maus drei Striche …!«, murmelte sie eingeschnappt.
»Was ist denn mit den Strichen?«, fragte ich neugierig.
Elli schob sich derweil einen gut gefüllten Löffel in ihren Mund.
»Das wirst du schon noch sehen, und dann lache ich! Aber jetzt lasse ich mir den Appetit nicht verderben!«
Sie unterstrich ihren Entschluss mit winkendem Löffel.
Appetit hatten wir beide. Obwohl die Portionen stattlich waren, ließen wir keinen Löffel in den Schüsseln und keinen Tropfen in den Bechern übrig. Der anschließende Abwasch war rasch erledigt und Elli stellte sicher, dass kein noch so kleiner Krümel auf unser Nachtmahl hindeutete.
»Da versteht Frau Wagner keinen Spaß! Wenn die Küche nicht blitzeblank sauber ist, dann setzt es ein Donnerwetter, das will niemand erleben«, klärte mich Elli auf.
Ich blickte sie jedoch fragend an.
»Die Haushälterin! Harte Schale, weicher Kern … na ja, sehr harte Schale! Aber sie ist fair, wenn du deine Arbeit ordentlich machst und fleißig bist. Jetzt zeig ich dir, wo du schlafen wirst, komm!«
Ich folgte Elli durch den angrenzenden Flur und eine Treppe hoch in den ersten Stock in eine kleine Zwischendiele. Das Stubenmädchen lotste mich an mehreren Türen vorbei zur letzten Kammer. Sie war geräumiger, als ich vermutet hatte. Zwei Betten standen sich gegenüber an den Wänden, eine Kommode gab es zu beiden Seiten und ein großer, dunkler Schrank gleich neben der Tür bot Platz für jegliche Habseligkeiten. Zwei Fenster auf der gegenüberliegenden Seite erlaubten einen klaren Blick in den großen Innenhof, der nun in nebelumwobene Dunkelheit gehüllt und menschenleer war.
»Du schläfst im linken Bett. Deinen Koffer bring ich dir gleich noch, den hab ich vorhin vergessen.«
Elli zuckte entschuldigend mit ihren Schultern.
»Wer schläft da?« Ich zeigte auf das andere Bett.
»Hannah! Die ist aber für ein paar Tage heim … Familiensache oder so. Bin gleich wieder da!«
Elli verschwand in die schwach erleuchtete Diele, um meinen Koffer zu holen. Schweigend stand ich am Fenster und starrte in die leere, kalte Nacht. Ich hatte nun ein paar dürftige Antworten, die mehr Ahnungen waren, aber auch eine stattliche Liste an neuen Fragen und nicht den kleinsten Hinweis, wer mir diese beantworten könnte. Wo war ich da nur hineingeraten?
»Dein Koffer, ich stelle dir den dahin. Wecken tu ich dich morgen früh um sechs. Da werden deine Sachen hoffentlich trocken sein«, sagte das Stubenmädchen heftig atmend.
»Danke … Elli.«
Ich war ihr ein ehrliches Lächeln schuldig, das ich ihr auch gerne gab.
»Ich schlafe nebenan. Kannst ruhig rüberkommen, falls was ist«, sagte sie und strahlte mich dabei an.
Dann, nachdem sie die einzige Öllampe im Zimmer ausgedreht hatte, schloss sie die Tür hinter sich. Ich setzte mich vorsichtig auf das Bett. Die Stille und die Dunkelheit der vergangenen Nächte hatten mich wieder. Hier war ich wohl erst einmal endgültig gestrandet, auf einem Gutshof, dessen Namen ich nicht kannte. Aber Nachdenken half nichts und die Müdigkeit hatte bereits spürbar Besitz von mir ergriffen, so dass ich vorsichtig unter die Decke kroch, mich auf die einsetzende Wärme freute und eh ich noch einen Gedanken fassen konnte, gewann der Schlaf die Überhand.