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KAPITEL 2 – METAMORPHOSE

Und plötzlich war ich neunzehn. Was habe ich mit meiner Zeit getan? Nicht jedem ist es gegönnt, am nächsten Morgen noch ein weiteres Mal aufzuwachen – es ist ein Geschenk, das man nicht verschwenden sollte. Wie viele Tage müssen noch vergehen bis ich realisieren werde wie endlich all die Dinge sind, die ich als selbstverständlich hinnehme?

Es gab keine große Feier, aber ein nettes Essen mit meinen Eltern und eine unerwartet schöne Überraschung. Während dem Frühstück saßen wir gemeinsam in unserer kleinen Küche – was seit dem Tod meines Bruders nur noch sehr selten geschah. Es war nicht zu übersehen, dass sich meine Eltern sehr bemühten, um mir einen schönen Geburtstag zu ermöglichen. Grinsend überreichte mir meine Mutter ein großes Paket, eingewickelt in blaugrünem glänzendem Papier. Meine Eltern lächelten so breit, dass es fast aufgesetzt schien. In dem Präsent verbarg sich eine Schreibmaschine – altmodisch, aber unglaublich faszinierend. Ich habe mich wahnsinnig gefreut und fiel ihnen in die Arme. Mit dieser Maschine hinterließ das Schreiben ein ganz neues Gefühl. Es geschah viel bewusster. Ich verliebte mich in den Klang, den die Tasten hinterließen, wenn ich auf sie eintippte, und ich würde die einzigartigen Buchstaben auf greifbarem Papier nicht mehr freiwillig gegen einen Bildschirm eintauschen. Als ich begann die kleinen Wunder des Alltags zu erkennen hat sich mein Leben verändert. Ich glaube, dass die bedeutenden Dinge dieser Welt unter all der Hektik und dem Druck untergehen. Wir wollen immer mehr und vergessen dabei auf das, was direkt vor unserer Nase passiert – das Leben.

Seinen eigenen Vater als Chef zu haben hat den Vorteil, dass der eigene Geburtstag als Feiertag angesehen wird. Ich musste an diesem Tag nicht in der Bar aushelfen und hatte damit einige Stunden für mich alleine. Als meine Eltern die Tür hinter sich schlossen wurde es in unserem Haus so leise, dass ich mir einbildete, unsere Holztreppe krächzen zu hören.

Einsamkeit eröffnet dir meist eine ganz neue Form von Wahrnehmung – Geräusche, die für dich normalerweise nicht existent sind, werden auf einmal ohrenbetäubend laut. Ist der Grund dafür Angst – ein angeborener Überlebensinstinkt – oder eine als lebenswichtig intensiv empfundene Pause von all den Geräuschen, die den restlichen Tag über sogar deinen eigenen Herzschlag übertönen – oder ist es vielleicht beides?

Meine Eltern versprachen mir, dass wir am Abend dieses besonderen Tages etwas unternehmen würden – was auch immer ich wollte. Während ich überlegte, wie ich meinen Geburtstag gestalten sollte, starrte ich auf die alten zeitlosen Tasten meiner neuen Schreibmaschine. Ich begann zu tippen:

»Das ist die Geschichte von Kamilla Lorain – noch ein Jahr älter – noch immer nicht reifer – noch immer auf der Suche nach dem richtigen Weg. Wo bin ich falsch abgebogen?«

Ich kaute auf meiner Unterlippe – eine schlechte Angewohnheit, die ich leider nicht los wurde. In Gedanken an vergangene Geburtstage starrte ich auf meine dünnen Finger. Das Aroma von Blut stimulierte meine Geschmacksknospen als ich über meine Unterlippe leckte. Diesen Tag hatte ich immer mit meiner Familie, speziell mit meinem Bruder, verbracht. Ganz ohne Vorwarnung überfluteten die Erinnerungen meine Gedanken und hinterließen einen Tornado aus Unsicherheiten in mir.

Es war der neunzehnte Juli 2015 – der letzte Geburtstag, den ich mit meinem Bruder verbracht hatte. An diesem Tag bin ich 18 Jahre alt geworden und hatte noch keine Ahnung, wie bald sich alles verändern würde. Ich hatte Sommerferien und konnte so lange schlafen wie ich wollte. Ich wurde von einem wunderbaren schokoladigen Duft geweckt. Mein Bruder hatte mir einen Kuchen gebacken, wie er es auch jedes Jahr zuvorgetan hatte – nicht dieses. Er hatte als Koch gearbeitet – Noah war der beste Koch gewesen, den ich kannte. Als ich in die Küche gekommen war stand bereits ein wunderbares Frühstück vor meiner Nase. Meine ganze Familie war gemeinsam am Esstisch gesessen – etwas so Simples, aber doch so besonders und nun unmöglich. Noah hatte es sich direkt vor mir gemütlich gemacht und mir grinsend einen Umschlag überreicht. Voller Freude hatte ich sein Geschenk geöffnet – es waren Konzertkarten. Ich fiel ihm in die Arme. Er hatte einen Witz darüber gemacht, dass ich endlich weiterwachsen müsse, um auf die Bühne schauen zu können. Ich hatte genervt die Augen verdreht. Ich vermisse ihn so sehr.

Ich rieb mir die Augen, während ich angestrengt versuchte, diese Erinnerungen wieder aus meinem Kopf zu verbannen. Es ist vorbei – so ist es jetzt. Er kommt nicht mehr wieder, aber ich bin immer noch da. Ich starrte noch immer auf meine zierlichen Finger. Ich bin immer noch da und kann ihm nicht für immer nachtrauern. Wann würde ich wieder damit beginnen, mehr an die Lebenden zu denken als an die Toten? Ich musste etwas ändern und beschloss, diesmal keine Ausreden mehr zu suchen, um es zu verschieben. Jetzt oder nie. Ich habe nur dieses eine Leben – aber wie lange noch?

Ich starrte auf ein Infoblatt über eine Gruppentherapiesitzung, während ich mich in die hinterste Reihe des Buses kauerte. »Brauche ich das wirklich?«, sprang ein nervöser Gedanke durch meinen Kopf. Ich verbot mir für die restliche Zeit der Fahrt das Grübeln über die Sinnhaftigkeit dieser Entscheidung. Ich würde es probieren. Vielleicht würde es mir helfen – vielleicht auch nicht, doch was hatte ich zu verlieren?

Kurze Zeit später saß ich zitternd mit vier weiteren besorgten Fremden in einem Kreis, während die freundliche Stimme der Kursleiterin versuchte, uns zu beruhigen. Die Frau hieß Raphaela. Sie hatte schwarze Haare, eine dunkle Haut und eine sehr angenehme Ausstrahlung. Nach einer kurzen Vorstellung erklärte die Psychologin, dass es sie sehr freue, dass wir uns dazu entschlossen haben, Hilfe zu suchen. »Über eure Probleme zu reden wird sie nicht sofort verschwinden lassen – aber es ist der erste Schritt zur Besserung.«, hatte Raphaela erklärt. »Und dieser erste Schritt ist der wichtigste – denn ohne ihn gibt es keinen Neuanfang.«

Wahrscheinlich hätte ich damals nicht geglaubt, dass diese spontane und merkwürdige Entscheidung wohl eine der besten meines Lebens sein würde. Es war der erste Schritt des mühseligen Aufstiegs aus meinem selbstgegrabenen dunklen Loch. Sonnenblumen haben mir beigebracht, dass der Trick für effizientes Wachstum darin liegt, den Blick nicht von der Sonne abzuwenden.

Neben mir saß ein Mädchen mit dem Namen Ramona, das ich auf siebzehn Jahre schätzte. Sie hatte sehr blasse Haut, lange braune glatte Haare, volle Lippen und braune Augen. Ihr deprimierter Blick war dem Boden zugewandt. Gegenüber von mir kaute ein Junge namens Finley an seinen Fingernägeln. Ich schätzte ihn auf zweiundzwanzig Jahre. Er hatte goldblondes Haar, eine leicht gebräunte Haut und ein sehr attraktives Gesicht mit kleinen grünen Augen. Der andere Junge in der Runde hieß Joris und war um die neunzehn Jahre alt. Eine braune Lockenpracht, die in alle Richtungen abstand, schmückte seinen schmalen Kopf und verdeckte einen Teil seines Gesichts. Seine blasse Haut wurde von dunkelbraunen Augen verziert. Der Junge ließ seine Schultern bedrückt hängen. Die Teilnehmer schienen alle dem Augenkontakt auszuweichen.

Es folgte eine einige Minuten andauernde Stille. Eine angespannte Stimmung erfüllte den Raum. »Komm schon Kamilla.«, sprach ich mir in Gedanken zu. »Sei ein einziges Mal in deinem Leben mutig.« Nachdem ich meinen Blick den weißen glänzenden Fliesen zugewandt hatte, begann ich zu reden. Ich sprach von meiner Trauer, meinen Ängsten und von meiner unendlich erscheinenden Suche nach Motivation, wieder an eine bessere Zukunft zu glauben. Meine Stimme zitterte als ich davon erzählte, wie ich morgens aufwachte, merkte dass Noah nicht mehr im Zimmer gegenüber schlief und mich der Gedanke daran so sehr lähmte, dass ich das Gefühl hatte, nicht mehr in der Lage zu sein aus meinem Bett aufzustehen. Ich verstummte. Der Gedanke an Noah machte es unmöglich, noch einen weiteren sinnvollen Satz hervorzubringen. Als ich kurz darauf meinen Blick vom Boden erhob und bemerkte, dass alle Augenpaare an mir hingen, wäre ich am liebsten aufgestanden und davongelaufen – doch ich blieb. Ich bin mir nicht sicher, ob der Grund dafür das befreiende Gefühl war, welches das Gespräch hinterlassen hatte oder doch die unendliche Trauer über den Tod meines Bruders, die mich erstarren ließ – unfähig mich zu bewegen – verwundert darüber, dass ich überhaupt noch in der Lage war, zuverlässig zu atmen.

»Seit bereits über einem Jahr macht mir meine Angststörung mein Leben zur Hölle.«, begann Ramona zu erzählen. »Meine Mutter ist vor einigen Jahren verstorben.« Das Mädchen schluchzte während sie gegen ihre Tränen ankämpfte. Ramona schluckte sie hinunter und erklärte die Tragödie. Ihre Mutter hatte einige Zeit gegen Lungenkrebs angekämpft – fünf Jahre lang war Ramona nicht von ihrer Seite gewichen, bis ihre Mutter ihre Krankheit schließlich doch noch besiegt hatte. Doch ein Jahr später kam der Krebs zurück und beim zweiten Mal hatte die Frau nicht mehr genug Kraft. Fürchterlich. Schließlich weinte das Mädchen. »Seitdem werde ich von dieser schmerzhaften Leere gequält. Ich entwickelte Zwangsstörungen. Es ist unerträglich.« Ich biss mir auf die Unterlippe. Ihre tragische Geschichte riss mich aus meiner eigenen Trauer. Ich hatte Mitleid mit ihr – doch wie sollte ich sie aufmuntern, wenn ich es nicht einmal schaffte, mir selbst zu helfen? Raphaela hatte es gemeistert, das wimmernde Mädchen zu beruhigen – bis kurz darauf auch die letzte Träne aus ihrem Gesicht verschwunden war. Die restlichen Kursteilnehmer wirkten betroffen, aber blieben auf Abstand ohne ein Wort zu sagen. Eingehüllt in eine selbstentworfene unsichtbare Glaskugel versuchten wir den fremden Schmerz nicht zu nahe an uns heranzulassen – in der Hoffnung, unsere Wunden würden von selbst verblassen, solange niemand diese Wände einriss. Obwohl uns natürlich bewusst war, dass es notwendig war diese Wände niederzureißen – sonst hätten wir schließlich nie eine Therapiesitzung besucht. Wir waren alle kaputte Seelen, versteckt unter Schminke, Haargel und gebleichten Zähnen.

»Ich hatte früher schreckliche Wutausbrüche.«, warf Finley in die Runde. »Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle.« Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen während er murmelte, dass er aufgrund seines unkontrollierbaren Zorns den Menschen verloren hatte, den er am meisten liebte. Der junge Mann wimmerte, wie sehr er sich dafür hasse. Er schüttelte seinen Kopf, als könne er so die Realität ausblenden. Finley schluchzte in seine Hände: »Ich habe sie verloren. Ich werde sie nie wiedersehen.« Er wiederholte diese zwei Sätze so oft, dass die Worte, nachdem er Schließlich verstummte, noch immer einige Zeit in meinen Gedanken nachhallten. Ich konnte Blut schmecken.

Schließlich erklärte auch Joris seinen Schrei nach Hilfe. »Ich werde fertig gemacht.«, sprach er ohne eine Miene zu verziehen. »Täglich.« Der Junge erklärte, dass all seine Freunde sich von ihm abgewandt hatten als das Mobbing in seiner Schule begann. Ein gutes Beispiel dafür, dass viele Menschen ihre eigene Schutzhülle ungern auch nur minimal einreißen, um jemanden, der es viel nötiger hat, auch nur ein kleines Stück davon abzugeben. Er verschränkte seine Arme vor seinem Körper, während er sich bemühte, dem Augenkontakt auszuweichen. »Ich habe mich bereits an meine Lehrer gewandt.«, fuhr Joris fort. »Doch es wurde nur schlimmer.« Der Junge sprach von schaflosen Nächten und dem Wunsch, alles ein für alle Mal zu beenden. Bis jetzt hatte keiner der Kursteilnehmer diese Worte so direkt ausgesprochen – doch ich konnte spüren, wie sie uns doch eigentlich allen auf der Zunge lagen. »Selbstmord ist nie eine Lösung.«, schritt Raphaela geschockt ein. »Darüber solltest du nicht einmal nachdenken.«

Gedankenversunken musterte ich den Jungen vor mir. Er trug blaue Jeans und ein weißes T-Shirt, seine Haare waren gepflegt und seine Worte waren ehrlich. Ich konnte keinen Grund finden, weshalb man sich über ihn lustig machen könnte. Joris war ein ganz normaler Mensch – so wie du und ich – der ohne bestimmten Anlass rausgepickt wurde, um der Boxsack geplagter Kinder zu werden. Obwohl es mich interessierte, wie es dazu gekommen war, hätte ich nie nachgefragt. Jeder sollte selbst entscheiden, wie und wann er seine Geschichte erzählen möchte – und was er lieber für sich behält.

Raphaela redete noch immer auf ihn ein. Wieso ist der Wunsch nach dem Tod ein solches Tabuthema? Wäre mein Bruder vielleicht noch am Leben, wenn er sich getraut hätte, über sein Vorhaben zu reden? Ich bin mir sogar ganz sicher, dass jeder Mensch irgendwann in seinem Leben über Selbstmord nachdenkt – wenn auch nicht immer mit vollem Ernst. Denn schlussendlich ist und bleibt der Tod doch immer das Einzige im Leben, was hundertprozentig sicher jede Art von Schmerz heilt, wenn Medikamente ihre Grenzen erreichen. Doch solange noch ein Funke Hoffnung besteht, die kleinen magischen Momente des Lebens wieder genießen zu können, sollte man nicht aufgeben. Man würde nie erfahren, welche Wunder die Welt noch für einen bereitgehalten hätte. Trotzdem ist der Tod eine Art Ausweg, der immer offen bleibt, wenn dir das Leben eine solch unerträgliche Last auf den Rücken kettet, dass deine Sonne zu brennend heißer Lava wird und dein Alltag sich in deine eigene persönliche Hölle verwandelt. Grübelnd über die verbotenen Genüsse des Todes beobachtete ich noch immer den blassen Jungen vor mir. Plötzlich trafen sich unsere Blicke. Ich vermeinte, ein kleines Schmunzeln auf seinen Lippen erkennen zu können.

»Das Leben ist nicht fair.«, brodelte sowohl Trauer als auch Wut in mir. Ich starrte in drei verzweifelte Gesichter wie in einen Spiegel, der mir zeigen wollte, was ich mir selbst über die letzten Jahre angetan hatte. Ich musste einen Schlussstrich ziehen. Wir mussten alle einen Schlussstrich ziehen. Wieso gaben wir uns keine zweite Chance, das Beste aus unserem Leben zu machen? Oder hat unsere Vergangenheit unsere Wahrnehmung so sehr verzerrt, dass uns diese Chance genommen wurde?

Als ich mich in diesem Moment dazu entschloss, alle Teilnehmer auf ein Getränk in unsere Bar einzuladen, erschien meine Introvertiertheit wie weggeblasen. Möglicherweise war in meiner Isolation doch noch Raum für ein paar mehr Personen? Zu meiner Überraschung nahmen sie alle meine Einladung erfreut an.

Der Holzboden knarrte als Finley den Stuhl zurückschob, um sich zu setzen und folgende Worte an mich zu richten: »Ihr habt hier ein sehr schönes Lokal aufgebaut« »Dankeschön.«, gab ich zurück. Die ersten Minuten waren gefüllt mit immer wiederkehrender peinlicher Stille, unterbrochen von uninteressantem Smalltalk, der uns allen offensichtlich sehr viel Anstrengung kostete. »Ich werde schnell eine Flasche Sekt aus dem Lager holen.«, warf ich ein, in der Hoffnung, der Alkohol würde mir helfen, meine nichtexistenten sozialen Fähigkeiten vorzutäuschen. »Geht auf‘s Haus.« Ich schnappte mir einen Sekt, der teuer genug war, um gute Qualität zu besitzen, aber trotzdem noch billig genug, dass seine Absenz meinem Vater nicht auffallen würde. »Wieso habt ihr euch eigentlich dazu entschlossen, eine Therapie zu machen?«, wollte Ramona schließlich wissen. Endlich wurde das Gespräch interessanter. »Ich habe sonst niemanden, mit dem ich über solche Dinge reden könnte.«, gab Joris zurück. »Und ich werde mich nicht aufgeben, bevor ich nicht jede erdenkliche Möglichkeit ausprobiert habe, die mich retten könnte.« Stille. »Wie fällt es dir so leicht, solche privaten Gedanken zuzugeben?«, hakte Finley nach. »Tut es nicht.«, antwortete Joris so ehrlich wie immer. »Doch wie ihr bereits wisst, bin ich ein Mobbingopfer. Irgendwann wurde mir klar, dass es nicht mehr wichtig ist, was ich sage oder tue – sie würden alles so drehen, um es gegen mich verwenden zu können.« Für einen Moment schien der Junge zu überlegen, bevor er hinzufügte: »Ich werde nicht lügen und behaupten, dass die täglichen Beleidigungen mir nicht weh tun. Doch immerhin habe ich nicht mehr das Bedürfnis, es jedem recht zu machen. Erst wenn man ganz unten angekommen ist scheint man frei zu sein, zu sagen und zu tun was man will.« Verblüfft über seine intelligenten Worte wurde er von allen Anwesenden mit großen Augen gemustert. »Wie kannst du bei all den Qualen nur so positiv bleiben?«, fragte ich ihn. »Ich soll positiv sein?«, lachte Joris. »Ich habe erst heute Vormittag meine Selbstmordgedanken offen zugegeben.« Ramona brachte sich in das Gespräch ein: »Wenn wir ehrlich sind, haben wir doch alle diese Gedanken.« Alle Anwesenden nickten. Niemand sagte ein Wort. Plötzlich verwandelte sich die ernste Ruhe in düsteres Grinsen. »Eigenartig wie der Tod oftmals mehr verbindet als das Leben.«, warf Joris ein. »Der Tod ist immer ehrlich.«, gab ich zurück. Noch immer schmunzelnd stellte Ramona fest: »Wir sollten unsere eigene Therapiegruppe gründen.«

So wurde aus meinem einsamen Geburtstag eine spontane Feier bis mitten in der Nacht und aus der Isolation entstand eine Gruppe einzigartig ehrlicher Freunde. Was hätte ich mir mehr gewünscht?

Kränkende Worte bleiben auch mit Freunden an seiner Seite schmerzhaft, doch es wird einfacher damit umzugehen.

Wir kannten alle das Gefühl, dass mit dem Finger auf uns gezeigt wurde.

»Das ist der Junge der keine Freunde hat.«

»Dieser Junge soll wahnsinnig aggressiv sein, halt dich von ihm fern.«

»Das ist das Mädchen, dessen Mutter an Krebs starb – angeblich leidet sie seitdem unter schlimmen Angststörungen.«

»Der Bruder dieses Mädchens hat Selbstmord begangen – irgendetwas stimmt nicht mit dieser Familie.«

Während diese Worte in unserem Gedächtnis tiefere Wurzeln geschlagen hatten als der Ohrwurm aus der Pudding-Werbung, hatte unser Unterbewusstsein hart daran gearbeitet uns zu überreden, es zu überhören. Solange bis uns der nächste psychische Keulenschlag traf und der kleine Brennesselstrauch in unserem Kopf – wie auf Kommando – jederzeit zum wiederholten Abruf bereit war.

Doch das, was dir zugestoßen ist, bist nicht du – es definiert dich nicht.

An diesem Abend wurde mir klar, dass nur eine einzige Person, die an dich glaubt, dich versteht und dir zuhört, genügt, um wieder Motivation zu finden, an dir und an deinem Leben zu arbeiten. Die Zeit heilt alle Wunden – ein altes Sprichwort, das sich während dem Fall in dein selbstgegrabenes Loch anfühlt wie eine Lüge, die erfunden wurde, um deine Qualen unendlich lang auszudehnen. Doch schlussendlich ist es tatsächlich die Wahrheit – und ich hatte Menschen gefunden, die mir dabei geholfen hatten, es zu realisieren – und dass nur, weil ich eine spontane, für mich damals ungewöhnliche Entscheidung an einem ungemütlichen Ort getroffen hatte.

Ich denke, ich sollte mehr über diese besonderen Personen erzählen.

Finley hat eine leicht arrogante Ausstrahlung, die seinem Wesen nicht gerecht wird. Er ist hilfsbereit, hat ein gutes Herz und bringt jeden gerne zum Lachen. Allerdings litt er zu damaligen Zeiten unter unkontrollierbaren Wutausbrüchen, welche er glücklicherweise durch Kampfsport und Therapie in den Griff bekam. Finley hat uns außerdem viel von »seiner großen Liebe«, wie er sie nannte, erzählt. Doch nicht nur von schönen romantischen Geschichten – sondern vor allem von den unzähligen Streitereien, die meist durch seinen übertriebenen Zorn entstanden. »Ich habe sie verloren. Ich werde sie nie wiedersehen.«, hatte er die zwei Sätze, die ich mir bereits aus der Therapiesitzung wie einen Ohrwurm eingeprägt hatte, ein weiteres Mal wiederholt. Das Mädchen hatte ihn mit der Begründung »Ich habe Angst vor dir« verlassen. »Unsere Trennung ist gar nicht der größte Schmerz.«, hatte der junge Mann erklärt. »Sondern die Begründung.« Finley versicherte uns: »Ich habe sie nie wirkllich verletzt, doch ich habe Dinge gesagt, die ich sehr bereue.« Der junge Mann bemühte sich sehr, seine Fehler wieder gutzumachen. »Ich liebe Musik.«, wechselte er das Thema. »Ich spiele Gitarre und habe begonnen, Musiktherapie zu studieren, um mit Musik Menschen zu helfen, denen es vielleicht ähnlich geht wie mir.«

»Ich gehe noch zur Schule.«, erzählte Ramona wenig begeistert. »Ich bin nicht gerne dort. Ich muss mich andauernd verstellen – immerzu lächeln, obwohl mir nach Schreien zumute ist.« Sie stockte. »Zu Hause herrscht meistens auch eine eher niedergeschlagene Stimmung. Versteht mich nicht falsch – ich liebe meinen Vater sehr und er bemüht sich wahnsinnig, mir mein Leben wieder so schön wie möglich zu gestalten, doch ich schaffe es in diesem Umfeld nicht über Dinge zu reden, die dringend ausgesprochen werden sollten. Ich ertrage es nicht, den gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht zu erblicken, wenn ich nur den Namen meiner Mutter erwähne. Ich will sein Leben nicht noch schwerer machen als es bereits ist.« Das Mädchen starrte einige Sekunden traurig auf die Tischoberfläche, bevor sie uns ein Lächeln schenkte. »Ich bin wirklich froh, dass ich mit euch so offen darüber reden kann – danke.« Danach wechselte das Mädchen das Thema. Ramona erzählte von ihrer Leidenschaft zum Tanzen: »Es ist das einzige, was mir in dieser schweren Zeit noch immer ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann. Egal wie laut die Ängste in meinem Kopf auch rumoren mögen – wenn ich tanze wird alles um mich herum ganz ruhig und für einen perfekten Moment fühlt sich alles so einfach an – als wäre alles möglich – keine Panik, keine Unsicherheiten – nur ich, die Musik und all die Glückshormone, die dadurch ausgelöst werden.« Es folgte eine kurze Pause. »Für einen Moment bin ich frei.« Das war der erste Moment, in dem ich Ramona lächeln sah. »Ich denke, dass jeder so eine Leidenschaft in seinem Leben braucht – so starke Liebe zu etwas, um sich für einige Zeit aus der Realität retten zu können.« Joris brachte sich in das Gespräch ein: »Ich schätze, das ist Kunst für mich. Zu Hause habe ich mir in unserem Keller ein eigenes kleines Atelier eingerichtet. Ich male jede freie Minute. Es gibt mir Kraft weiterzumachen, egal wie beschissen jeder nächste Vormittag auch sein mag.« Ich nickte verständnisvoll. »Eine Leidenschaft, die dem Leben einen Wert gibt – egal wie sinnlos die Existenz oftmals auch erscheinen mag.«, fügte ich hinzu.

Ich ertappte meinen Vater dabei, wie er uns vom Tresen aus beobachtete. Er grinste mir zu. Mir war bewusst, dass er erleichtert war, dass ich endlich wieder etwas mit gleichaltrigen Personen unternahm. »Darf ich fragen warum du in deiner Schule geärgert wirst?«, stellte Finn die unangebrachte, aber doch relevante Frage. Meine Aufmerksamkeit war wieder zurück an unserem Tisch. »Das Mobbing hat begonnen als ich vor einem Jahr in eine neue Klasse kam, da ich das Jahr wiederholen musste. Ich hatte fast nichts für die Schule getan – ich saß lieber rund um die Uhr in meinem Atelier um an meinen Bildern zu arbeiten. Es war das einzige, was mir wichtig war – ist es auch noch immer. Doch während der ersten Schulwoche habe ich öfters nicht mitbekommen, dass mich ein Lehrer angesprochen hat, da ich zu sehr damit beschäftigt war, meinen Schulbüchern einen kreativen Touch zu verleihen.«, gab Joris überraschend wenig betroffen zurück. »Eigentlich keine tragische Sache – doch aus der ersten, mir damals noch harmlos erscheinenden Beleidigung, dass ich ein geistesabwesender Trottel sei, wurden tagtäglich immer mehr.« Ich konnte keine Emotionen in seinen Augen erkennen. »Mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, weswegen genau ich gemobbt werde. Jeden Tag werden neue Geschichten hinter meinem Rücken erfunden und weitererzählt, um sich gegenseitig darüber zu belustigen.« Es folgte eine kurze Stille kombiniert mit einer Atmosphäre aus Mitleid und unsicheren Blicken, die nach der richtigen Antwort suchend durch die Gegend schwirrten. »Immerhin beginnt nach diesem Sommer endlich mein Abschlussjahr – ich kann es gar nicht mehr erwarten, endlich abzuhauen und mich nur noch voll und ganz auf meine Kunst zu konzentrieren.«, erklärte Joris. »Na dann scheiß auf diese Leute – konzentrier՚ dich nur auf dein Ziel.«, ermutigte Fin den Jungen. »Mit diesem niveaulosen Verhalten definieren diese Unmenschen nicht dich sondern nur sich selbst – angsterfüllte kleine Kinder, die nach einem Weg suchen mit ihren eigenen Komplexen klarzukommen.«

»Fin hat recht.«, fügte Ramona hinzu. »Und sind wir nicht alle irgendwo Trottel?«

Wir haben alle negative Seiten, wobei es einige wenige nur besser verstecken können als andere. Du musst wahnsinniges Glück haben, um jemanden zu finden vor dem du der Mensch sein kannst, der du wirklich bist, und der dich trotzdem aufrichtig liebt. An wen hast du gerade gedacht?

Ich bin nicht allein, und du auch nicht.

Immortality of Silence

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