Читать книгу Immortality of Silence - Lena Victoria - Страница 7

Оглавление

KAPITEL 3 – VOM WINDE VERWEHT

Tage vergingen, Wochen verstrichen – Monate zogen an uns vorbei, ohne dass ich Zeit hatte, darüber nachzudenken – ich war zurück an die Oberfläche gekommen. Möglicherweise hatte ich mir während des Aufstieges ein paar Narben zugezogen, die ich weiterhin bei mir tragen würde – wie eine Trophäe, die mich daran erinnert, was ich alles gemeistert hatte.

»Hallo Kamilla!«, ertönte die energievolle Stimme von Joris an fast jedem weiteren schönen Tag, an dem er mich in der Bar meines Vaters besuchte. Wir verbrachten seine wenigen freien Stunden, nach seiner qualvollen Schulzeit, gerne zusammen an der Theke – quatschend, diskutierend, lachend oder auch hin und wieder gerne schweigend. Bald darauf trafen wir uns so gut wie jeden Tag – es wurde fast selbstverständlich, dass der Junge in jeder freien Sekunde, in der kein Kunde nach mir fragte, bei dem hohen Holztisch auf mich wartete – vor ihm ein Zeichenblatt, ein Soda Zitron und immer einen aufmunternden Spruch auf den Lippen. Schließlich vergaßen wir, dass es einmal eine Zeit gab, in der es nicht so gewesen war.

Aufgrund der weiten Entfernung konnte ich die Treffen mit Ramona leider an zwei Händen abzählen – doch dank des Internets blieben wir weiterhin in engem Kontakt. Aus einem einmaligen Chat entwickelte sich ein regelmäßiger nächtlicher stundenlanger Austausch. Obwohl ich meine Freundin nur spärlich sah, war ich ihr sehr viel näher als den meisten Menschen, denen ich täglich persönlich begegnete.

Eine Seele mit der du verbunden bist und mit der du dieselben Ansichten über diese Welt teilst, wird dir immer – auch wenn sie örtlich weit entfernt ist – vertrauter sein als eine anwesende Person, die nie verstehen wird, wie du die Realität wahrnimmst. Es war gleichgültig, wie weit Ramona von mir entfernt war, denn ich konnte mir sicher sein, dass ich in wichtigen Situationen auf sie zählen konnte – genauso umgekehrt.

Während ich mit Joris und Ramona meine kleine persönliche Therapiegruppe gefunden hatte, war der Kontakt zu Fin sehr schnell verblasst. Das einzige, was von dem letzten Mitglied unserer Runde noch blieb, waren kurze formelle Textnachrichten. Nicht jede Person ist dazu bestimmt, in deinem Leben zu bleiben – manche Personen werden kurze schöne Erinnerungen in deinem Gedächtnis hinterlassen, während andere als lebenslange Anker in deiner Nähe verweilen.

»Was hast du heute gemalt?«, wollte ich von meinem Freund wissen als er an einem windigen Donnerstagnachmittag an unserer Theke Platz nahm. Er war wahnsinnig begabt darin, ein Modell in seiner wahren Form darzustellen – wobei er dabei nur selten auf den Realismus zurückgriff. Joris fing die Seele einer Figur ein – nicht nur den Körper. So gut wie jeden Tag arbeitete mein Freund an einem weiteren bezaubernden Gemälde, das er mir daraufhin mit seiner einzigartigen Bescheidenheit präsentierte. Bei jedem Bild, das ich zu Gesicht bekam, stieg meine Begeisterung kontinuierlich. Joris war unglaublich talentiert. Der Junge erklärte: »Ich denke, mein heutiges Werk ist eines der besten, das ich je gemacht habe.« Er griff mit seinen Händen in den Rucksack, um kurz darauf ein dickes weißes Papier daraus hervorzuziehen. Während ich die glatte Oberfläche des hochwertigen Materials auf meinen Fingern spürte, starrte ich sprachlos auf ein Gesicht, das mir nur allzu bekannt vorkam. Ich blickte wortwörtlich in mein Spiegelbild und schien es trotzdem nicht wiederzuerkennen. Das Portrait war viel zu bunt – viel zu makellos. »Wow.«, war das einzige Wort, das ich in diesem Moment zustande brachte. »Wobei es auch nicht möglich gewesen wäre, dieses Werk zu vermasseln.«, fügte Joris, weiterhin breit grinsend, hinzu. »Ich hatte ein zu schönes Model.« Ich schmunzelte. Schließlich bemerkte ich, wie weit meine Selbstwahrnehmung von den Ansichten meines Freundes abwich. Während ich über viele Jahre in jedem Spiegel, in den ich blickte, nur einen müden emotionslosen Ausdruck und dunkle Augenringe erkannte, zeichnete Joris mich mit einem breiten Lächeln und strahlenden Augen, die das ganze Blatt mit bunter Energie füllten. Ich wusste gar nicht was ich sagen sollte. Ich war zu überwältigt, um die Worte auszusprechen, die er eigentlich verdient hatte zu hören. Das Geschenk bedeutete mir mehr als mir in dieser Sekunde wohl selbst bewusst gewesen war.

Unsere Gespräche kannten keine Grenzen – von seinen bezaubernden Werken, über unsere Träume, bis zu heiklen politischen Angelegenheiten. Glücklicherweise deckten sich unsere gesellschaftspolitischen Ansichten so gut wie immer. Unsere Art und Weise zu denken war so ähnlich, dass auch eine Kommunikation ohne Worte ein Leichtes wäre. Trotz unserer häufigen vertrauten Dialoge gab es leider noch immer ein Problem, das wir nur sehr selten ansprachen. Mein Freund erzählte verständlicherweise nur sehr ungern von seinen unangenehmen Schultagen. »Von diesem Mist habe ich schon die unendlich langen Vormittage genug – ich würde diese Negativität lieber dort lassen, wo sie hingehört.«, hatte er mir seinen Gedankengang erklärt. »Die Hölle wartet schon noch auf mich – täglich um Punkt acht.« Joris hatte einen sehr starken Charakter, wobei er sich dessen selbst gar nicht bewusst war. Er fokussierte sich auf seine Ziele und kein noch so unendlich langer unerträglicher Tag konnte ihn davon abhalten, diese zu verfolgen. Sein Ehrgeiz beeindruckte mich und ohne, dass es mir wirklich bewusst war, verwandelte er mich in eine bessere Version meiner Selbst – ich erinnerte mich wieder an meine eigenen verlorengegangenen Träume. Ich wollte schreiben – nicht mehr nur für mich. Ich begann immer häufiger über Wege nachzudenken, das Schreiben doch noch zu meiner Berufung machen zu können. Alles ist möglich, solange nur die eine richtige Person an dich glaubt – und du selbst.

Während die meiste Zeit meiner Wochentage mit Verpflichtungen ausgefüllt waren, blieben nur noch spät abends wenige Stunden für meine Schreibmaschine und mich. Immer wieder musste mein Schlaf unter meiner Kreativität leiden, da es mir nur sehr selten möglich war, meinen Ideenfluss zu stoppen, sobald ich einmal in eine Geschichte eingetaucht war. So saß ich regelmäßig an meinem Schreibtisch und tippte gedankenversunken in die bezaubernden Tasten meiner Schreibklaviatur.

»Erlaubst du mir etwas von dir zu lesen?«, hatte Joris mich bereits mehrere Male gefragt. Zitternd wanderten meine Finger über die Oberfläche des Tresens. Als das letzte Mal jemand eines meiner Werke zu Gesicht bekam hatte Noah von meinem Notizblock zu mir aufgeschaut und mir Mut zugesprochen: »Ich bin mir sicher, dass du es einmal weit bringen wirst.« Wenn er nun wüsste, dass ich mir selbst all meine Pläne durchkreuzt hatte. Ich biss mir auf die Unterlippe. Immer wieder schüttelte ich den Kopf. »Ich schreibe nur für mich.«, murmelte ich. »Warum?«, wollte Joris wissen. Seine kurze Frage hallte immer wieder durch meine aufgewühlten Gedanken. Warum? Eine angespannte Stille begleitete meine Bedenkzeit. Warum? Das bereits vertraute Aroma von Blut meiner wunden Lippe erregte meine Geschmacksknospen. »Warum schon?«, stellte ich mir selbst die passende Gegenfrage. Einige Minuten suchte ich angestrengt nach einem plausiblen, eigentlich nicht vorhandenen Grund, um seine Frage zu beantworten. Verwirrt starrte ich in seine warmen dunkelbraunen Augen und antwortete schlussendlich nur mit den einfachen Worten: »Ich weiß es nicht.« Mein Freund lächelte mir zu: »Du musst mir deine Geschichten natürlich nicht zeigen, wenn du nicht willst.« Angespannt verharrte mein Blick in der rechten hinteren Ecke des Raumes. »Ich will sie dir gerne zeigen.«, lagen mir die unausgesprochenen Worte auf meiner Zunge. Ich schwieg.

»Niemand wird diesen Mist je wieder zu Gesicht bekommen!«, schrie ich, während ich einen meiner Notizblöcke, die um mich herum am Fußboden verteilt waren, gegen meine Zimmertür warf. Es folgte ein lauter Knall als der Bund Blätter mit voller Wucht gegen das weiß lackierte Holz krachte. »Ich will gar nichts mehr schreiben!«, dröhnte meine verzweifelte Stimme durch die kalten Wände unseres Hauses. Ich konnte nicht hören wie meine Mutter ihre Tränen hinunterschluckte, während sie im Gang vor meinem Zimmer darauf wartete, dass ich mich beruhigte. Es war der zwölfte Februar 2016 – zehn Tage nachdem mein Bruder Selbstmord begangen hatte. An diesem Tag hatte meine Mutter mir vorgeschlagen zu versuchen, mein Leben so normal wie möglich fortzuführen. »Schreib doch wieder einmal eine Geschichte.«, hatte sie gesagt. »Das hat dir doch immer so Spaß gemacht – vielleicht hilft es dir.« Während ich meiner Mutter Vorwürfe an den Kopf warf, die sie nicht verdient hatte, saß mein Vater in der Küche und nippte an seinem achten Glas Whisky.

»Darf ich dir meine Texte zeigen?«, sprudelte plötzlich eine Frage aus mir, die ich selbst nicht mehr erwartet hatte, und unterbrach meine viel zu reale Erinnerung an bereits verheilt geglaubte Wunden. Ein überraschter Ausdruck breitete sich auf dem Gesicht meines Freundes aus. »Ja natürlich.«, gab Joris ein paar Sekunden später grinsend zurück. Ich lächelte stolz – wissend, dass meine Vergangenheit dieses Mal nicht überhandgenommen hatte.

Joris und ich spazierten durch die dunkle Gasse, welche die Bar meines Vaters mit unserem Haus, dem letzten Gebäude am Ende der Straße, verband. Das Anwesen war recht geräumig, aber trotzdem nur schlicht gestaltet. Es war nicht schwer zu erkennen, dass unserem kleinen Vorgarten über die letzten Jahre Vernachlässigung widerfahren war. Als ich unsere Haustür aufschob unterbrach ein knarrendes Geräusch für einen kurzen Moment die kalte Stille der Nacht. Wir schenkten meinen Eltern nur eine flüchtige Begrüßung bevor wir in meinem Zimmer verschwanden. »Und ich habe das Privileg deine Texte als Erster zu lesen?«, grinste Joris mich an, nachdem er es sich auf meinem Bett gemütlich gemacht hatte. Ich nickte zustimmend. Ohne zu zögern öffnete ich die oberste Schublade meines Schreibtisches, um Joris den sich darin befindlichen Notizblock zu übergeben – bevor ich es mir wieder anders überlegen würde. Ich schwitzte. Sein Blick blieb an dem Cover des Buches hängen. »Ist das die Altstadt Gamla Stan in Stockholm?«, wollte Joris wissen. »Ja.«, gab ich zurück. »Du kennst sie?« Der Junge erklärte: »Natürlich, ich bin fast jedes Jahr in Schweden. Meine Verwandten wohnen dort.« Ich war überrascht, wie wenig Informationen ich über seine Familie hatte. »Da hast du Glück.«, erwiderte ich. »Ich würde wahnsinnig gerne einmal nach Schweden fahren. Ich war noch nie dort.« Er grinste: »Dann musst du mich unbedingt einmal begleiten.« Meine haselnussbraunen Augen glänzten.

Schließlich schlug Joris die erste Seite auf. Sein Blick hing nur wenige Sekunden an den ersten Zeilen als sich meine Kehle plötzlich wie zugeschnürt anfühlte. »Warte.«, unterbrach meine zitternde Stimme seinen Lesefluss. »Au.«, teilte mein Freund mir seinen Schmerz laut mit, als ich den Frontdeckel meines Buches, noch während die Hand von Joris darin ruhte, ohne nachzudenken voller Wucht zuklatschte. »Tut mir leid.«, entschuldigte ich meine Handlung, die ich mir selbst nicht erklären konnte. »Kein Problem.«, gab er zurück während er seine Hand aus dem Block zog. »Hast du es dir anders überlegt?« Mein Gesicht war ihm zugewandt, doch mein Blick schweifte an seinen Augen vorbei und landete auf der Stelle unseres Mauerwerks, an der die darauf angebrachte Wandfarbe ein wenig abgebröselt war.

»Sehr gut gemacht.«, hatte meine Mutter in einem lauten Ton von sich gegeben. »Jetzt müssen wir die Wand auch noch neu streichen. Diese Ausraster müssen wirklich aufhören Kamilla.« Marys Augen waren feucht und jeder Funke von Wärme war verblasst. »Kannst du nicht wenigstens versuchen, dich zu bemühen, unsere Situation nicht noch schwieriger zu machen als sie ohnehin schon ist? Kannst du nicht auch einmal an uns denken – nicht immer nur an dich?« Meine Mutter schüttelte enttäuscht den Kopf. »Und jetzt heb die Bücher wieder vom Boden auf!«, befahl sie mir. Es waren bereits zwanzig Tage ohne Noah vergangen.

»Kamilla?«, hörte ich den schönen dunklen Klang der Stimme meines Freundes, die mich aus meinen düsteren Erinnerungen befreite. »Es ist ok, falls du es dir doch anders überlegt hast.«, versuchte er mich zu beruhigen. »Ist alles in Ordnung?« Ich nickte. Zurück in der Realität fiel mein Blick auf das dunkelblaue Armband auf dem ein rechteckiger silberner Stein angebracht war, das ich um mein Handgelenk gebunden hatte. »Dieses Armband hat Noah mir geschenkt.«, warf ich in die eisige Stille, während ich nervös an dem blauen Band zu zupfen begann. Mit einem betrübten Gesichtsausdruck blickte Joris von meinem Schmuckstück zu mir auf und riet mir: »Willst du es nicht lieber abnehmen? Denkst du nicht, dass es dir damit noch schwerer fällt, mit den ganzen schrecklichen Erinnerungen klarzukommen?« »Die Erinnerungen waren nicht alle schrecklich. Ich werde es sicher nicht abnehmen.«, entgegnete ich erzürnt. »Ich glaube daran, dass – solange ich sein Armband bei mir trage – sein Geist bei mir ist, um mich zu all den magischen Orten, wohin mich meine Reise auch immer führen mag, zu begleiten.«

Joris nickte mir verständnisvoll zu bevor er antwortete: »Du hast recht – trag es.« Ich lächelte. »Du sollst meine Texte lesen.«, wechselte ich daraufhin, ohne eine Bedenkzeit einzulegen, das Thema. »Allerdings sind die Gedanken, die ich in diesem Block niedergeschrieben habe, sehr privat. Ich habe viele düstere Geschichten erzählt, um mit meinen erdrückenden Emotionen klarzukommen.« Joris schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Mir wurde gerade bewusst, dass ich lieber nicht dabei sein will, wenn du diese finsteren Teile von mir zu Gesicht bekommst.«, erklärte ich meine Panik. »Wenn du nur die Gemälde sehen könntest, die ich in meinen dunkelsten Stunden gemalt habe.«, gab mein Freund schmunzelnd zurück. »Deine düsteren Gedanken können mich nicht so schnell schockieren. Ich will alle Teile von dir kennenlernen.« Seine Worte erfüllten mein gefrorenes Blut wieder mit Wärme. Eine halbe Minute lang hielten wir einen sehr innigen Augenkontakt. Plötzlich wurde mein Herzschlag ein weiteres Mal ohrenbetäubend laut, obwohl Joris das Geräusch gar nicht zu bemerken schien.

Sein durchdringender Blick gab mir das Gefühl, als könne er in mein Unterbewusstsein blicken und all die Dinge freilegen, die ich all die Zeit bemüht war, zu vergraben. Mein Blick schweifte auf den Parkettboden unter unseren Füßen. Einen Moment später glänzten mich zwei strahlende haselnussbraune Augen vom Boden aus an. Es waren meine Augen. Das Gemälde, das Joris von mir gemalt hatte, war zwischen den Seiten des Verstecks meiner düsteren Gedanken herausgefallen. »Ich habe ganz vergessen, dass ich dein Bild hier drinnen aufbewahrt habe.«, erklärte ich, während ich die Zeichnung ohne zu zögern wieder aufhob. Ich starrte auf eine makellose Schönheit. »Wie gern würde ich nur dieses Mädchen sein.«, murmelte ich gedankenversunken. »Das bist du.«, entgegnete Joris verwundert. »Aber ich erkenne mich nicht.«, erklärte ich ihm. »Aber ich.«, gab mein Freund entschieden zurück.

Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander auf meinem Bett. Ich spürte den Blick meines Freundes auf mir während ich noch immer auf die detaillierten Pinselstriche auf dem Papier in meinen Händen starrte. »Wie lange hast du dafür gebraucht?«, durchbrach ich schließlich die Stille. »Eine ganze Nacht.«, gab er zurück. »Und wann hast du geschlafen?«, fragte ich ihn verwundert. »Schlaf ist überbewertet.«, zwinkerte er mir grinsend zu. Ich schmunzelte. Ein weiterer inniger Blickkontakt folgte. Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich konnte mir meine plötzlich auftretende Nervosität nicht erklären. Schnell wich ich seinem Blick wieder aus. »Kamilla.«, ertönte die besorgte Stimme meines Freundes. »Du blutest.« Er wischte das Blut mit seinem Finger von meiner Unterlippe. Seine Berührung hinterließ ein wunderschönes warmes Gefühl in mir, das sich nach mehr sehnte. »Ja«, gab ich flüsternd zurück. »Das ist eine schlechte Angewohnheit von mir.« »Ich weiß.«, entgegnete Joris mit funkelnden Augen, die mich nicht mehr loszulassen schienen. Plötzlich überkam mich ein unergründlicher Drang, so schnell wie möglich aus dieser Situation zu fliehen. »Es ist schon spät.«, sprudelten die Worte aus mir. »Es wäre wohl besser, wenn du jetzt gehst.« Joris musterte mich einen Moment verunsichert, bevor er mir antwortete: »Ok, dann sehen wir uns morgen?« Ich nickte. Der Junge stand auf und verschwand mit dem bezaubernden Abbild von Gamla Stan hinter der Tür. Es fühlte sich an als hätte ich ihm damit ein Stück meiner Seele übergeben.

Ich schloss die Tür hinter ihm. Ich ging zurück zu meinem Bett, setzte mich auf meine weiche Matratze und starrte ein weiteres Mal auf den Parkettboden unter meinen Füßen. Manchmal verstehe ich mich selbst nicht. An diesem Abend dauerte es einige Zeit bis ich vor meinen aufwühlenden Gedanken in das beruhigende Gefühl der Inexistenz des Schlafes fliehen konnte. Durchdrang Joris in diesem Moment meine persönlichsten Gedanken?

Mein Wecker klingelte. Mein Kopf dröhnte. Mein Körper signalisierte mir weiterzuschlafen und die täglichen Arbeitspflichten zu ignorieren. Warum muss jede Packung Zigaretten eine Aufschrift für die wahrscheinlich gesundheitlichen Folgen enthalten, doch ein Warnhinweis zu den Folgen tagtäglicher moderner Sklaverei – wie permanenter Stress und Schlaflosigkeit – ist nirgendwo zu finden. Ich bin mir sicher, dass der pausenlos ansteigende Arbeitsdruck genauso schädlich ist wie eine Zigarette – unscheinbar eingehüllt in einer Rolle Papier – fertig abgepackt für das erleichterte Einführen zum Verkürzen seiner Lebenszeit. Wieso steckt die Menschheit so viel Arbeit in die Herstellung von umwelt- und gesundheitsschädlichen Produkten? Seht euch doch einmal in unserer Welt um – bevor wir unseren eigenen Lebensraum vernichtet haben.

Trotz meines langen Grübelns über die Sinnhaftigkeit der Arbeit stand ich eine halbe Stunde später, sowie auch jeden anderen Tag, mit einem von Müdigkeit gekennzeichneten Gesichtsausdruck hinter dem Tresen unserer Bar. Als die Eingangstür voller Wucht aufgeschlagen wurde richtete ich meine Aufmerksamkeit von den zu reinigenden Weingläsern auf diese. Joris marschierte energisch auf mich zu. Ich musterte seine von Freude erfüllte Miene. »Wo hast du denn diese ganze Energie her?«, bat ich meinen Freund um Rat. »Ich würde gerade wirklich dringend auch etwas davon benötigen.« Joris hörte nicht auf zu grinsen. »Ich habe etwas für dich.«, erklärte mein Freund mir. Auf seiner blassen Haut erkannte ich Ansätze von lebendigeren Farbtönen. »Vielleicht schenkt es dir sogar ein wenig Energie oder eine bessere Laune – hoffe ich.«, fügte der Junge hinzu. Ich sendete ihm neugierige Blicke. Joris zog ein Blatt Papier aus seinem Rucksack und platzierte es vor mir auf dem Tisch. »Ich hoffe es gefällt dir.«, hörte ich seine dunkle Stimme in mir nachhallen, während ich voller Begeisterung in der traumhaften Atmosphäre dieses Gemäldes entschwand. Auf dem Bild erkannte man die Silhouette eines Mädchens mit braunem langem Haar, das auf ihrem Handgelenk ein dunkelblaues Armband mit einem rechteckigen silbernen Stein trug. Die zierliche kleine Figur stand inmitten märchenhaft beleuchteter Gebäude in den Straßen von Gamla Stan. Ich fiel ihm in die Arme. »Ich danke dir.«, murmelte ich in seine nach Salzwasser duftenden Haare. »Es ist so wunderschön.« Ich spürte, wie er mit seiner Hand meinen Rücken streichelte, bevor ich ihn wieder losließ. Er hatte es tatsächlich geschafft, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. »Und zu deinen Geschichten.«, fuhr mein Freund fort und legte mein kleines Buch neben dem Gemälde auf den Tisch. »Du kannst wirklich gut schreiben Kamilla. Du hast ein wahnsinniges Talent. Deine Geschichten haben mich eingesaugt und bis zum Ende nicht mehr losgelassen.« Meine Augen glänzten. »Du solltest deine Geschichten veröffentlichen.«, machte mein Freund mir Mut. »Falls dir die Gedanken, die du beschrieben hast, zu düster und zu privat erscheinen, schreib etwas Neues – such dir etwas Positiveres aus deinem Leben.« Joris überlegte einen Moment, bevor er schließlich mit einem Grinsen hinzufügte: »Schreib etwas über mich.« Ich schmunzelte, doch schüttelte den Kopf – in Gedanken bei all den schönen Gefühlen, die er in mir auslöste.

Mir war nicht bewusst, dass Joris ab diesem Tag andauernd über neuen Ideen für traumhafte Gemälde der Reisen des Mädchens mit dem blauen Armband grübelte.

In der darauffolgenden Woche kam der Junge ein weiteres Mal mit einem breiten Grinsen in unsere Bar. Mein Freund legte eine neue bezaubernde Malerei vor mir auf den Tresen. »Du hast mir vor ein paar Wochen ein Video über diesen magischen Ort in Auckland gezeigt.«, hatte Joris mir seine Hintergrundwahl erklärt. »Das hast du dir gemerkt?«, fragte ich verblüfft, während mich der Zauber des Gemäldes einsog. Diesmal war das zierliche braunhaarige Mädchen auf Erkundungstour in einer außergewöhnlichen dunklen Höhle voller kleiner Lichter, die den kleinen rechteckigen silbernen Stein auf ihrem Armband zum Erleuchten brachten. Umringt von zahlreichen Glühwürmchen marschierte die Figur durch eine Traumwelt, die mich aus meinem eigenen grauen Alltag entführte. »Danke dir Joris.«, entgegnete ich ihm mit einem Glitzern in den Augen, das kein anderer je zu Gesicht bekommen hatte.

Es war ein regnerischer Mittwochabend im November als ich auf meiner Unterlippe kauernd, umringt von zahlreichen Gemälden der surrealen Reisen des Mädchens mit dem dunkelblauen Armband, auf meinem Bett lag. Ich schloss meine Augen, während ich dem Klang der Regentropfen, die auf meiner Fensterscheibe landeten, lauschte. Das Geräusch verfloss in meiner Traumwelt zu einem regnerischen Sparziergang in der Altstadt von Tallinn. Der Klang meiner Schuhsohlen auf dem kopfsteingepflasterten Weg erfüllte meine Gedanken. Ohne Stress und ohne Ziel tapste ich neugierig den Weg entlang. Wohin würde er mich führen?

Immortality of Silence

Подняться наверх