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Kapitel 4

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Während der halben Fahrt nach Prerow heule ich, was das Zeug hält. Ich bin es leid, mir wegen einem so untreuen, falschen und verlogenen Mistkerl die Augen auszuheulen. Meine Wut auf ihn wird immer größer. Mit leicht geöffnetem Fenster versuche ich die Rötung in meinem Gesicht und die Schwellung an meinen Augen ein wenig wegzuzaubern. Viel bringt es nicht, doch die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.

Es ist schon fast Mitternacht, als ich die Straße meiner Eltern erreiche. Mein Auto stelle ich an genau der gleichen Stelle ab wie heute Nachmittag. Im Wohnzimmer brennt noch Licht und ich sehe den Fernseher flackern. Wirklich Lust habe ich nicht, mich den Fragen meiner Eltern zu stellen. Da ich immer noch meinen Schlüssel besitze, bin ich nicht auf sie angewiesen. Ich bin ziemlich aufgewühlt und außerdem brauche ich jetzt etwas Hochprozentiges.

Ich steige aus meinem Auto, schließe es ab und hänge mir meine schwarze Ledertasche über eine Schulter. Zwei Straßen weiter befindet sich die Steinbar. Die gibt es schon, seitdem ich denken kann. Nur war ich seit meinem Schulabschluss nicht mehr dort und früher hieß die Bar auch anders. Ich ziehe meinen Blazer enger um meinen Körper, bis ich die Bar erreicht habe. Liegt es an dem Flüssigkeitsverlust durch meine Tränen oder hat es sich merklich abgekühlt? Für einen Sommermonat ist es einfach zu kalt. Meine geröteten Augen wird wohl jeder der Übermüdung und langen Autofahrt zuschreiben, deshalb mache ich mir jetzt nicht mehr die Mühe, sie mit Make-Up abzudecken. Ich ziehe die schwere Holztür auf und betrete die düster wirkende Bar. Schon vom Eingang her ist Gegröle und Lachen zu hören. Ich gehe weiter in Richtung Theke und entdecke zwischen den ganzen Kerlen meinen Bruder. Umringt von gut aussehenden Männern jeder Altersgruppe. Sie scheinen die ganze Bar zu unterhalten. Kerstin springt gerade Händchen haltend mit einem Exemplar von ihrem Barhocker runter und geht in die Ecke, in der wohl sonst eher weniger getanzt wird. Sie scheint es auszunutzen, dass sie ein tanzwütiges männliches Objekt gefunden hat.

Ich nähere mich ihnen und als er mich sieht, ruft Ole auch schon: „Alina, wie geil das du wiedergekommen bist!“

Alle Köpfe drehen sich in meine Richtung. Gott, wie unwohl ich mich in diesem Moment fühle. Ich danke Gott dafür, dass es hier drinnen recht dunkel ist, halt eine typische Barbeleuchtung, und dass man mein verheultes Gesicht sicher nicht wirklich ausmachen kann. Ich setze ein Lachen auf, denke mir Ole du dumme Nuss, und stelle mich zu dem so eingeschworen wirkenden Kreis. „Hallo, da bin ich wieder.“ Ich hebe meine Hand und grüße die Männer der Runde und alle grüßen höflich mit einem „Hallo“ zurück.

„He, Liiiinchen“, ruft meine Schwägerin in spe von der Tanzecke aus und winkt mir zu. Sie muss schon einiges getankt haben, so wie sie drauf ist. Vielleicht noch den Rest des Likörs?, denke ich. Den Typen scheint es nicht zu stören, denn sie reibt sich willig an ihn. Sieht das mein Bruder gar nicht?, geht es mir durch den Kopf. Ole, der mit zwei jungen Männern an der Bar steht, die ich noch von früher kenne, fragt mich verdutzt, aber auch nicht mehr ganz so klar wie am Nachmittag: „Wolltest du nicht schon längst mit Schatzi durch die Kiste rammeln?“

Die Typen neben mir fangen an zu grunzen. Ich winke nur ab und sage zu dem Kerl hinter dem Tresen: „Zwei Cosmopolitan und …“, dann muss ich die Typen erst mal zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. „… und fünf Störtebeker, bitte!“ Ich schaue den langhaarigen Kerl an, der sich sein Geschirrtuch über die Schulter wirft. Hätte ich nicht so viel Zeit mit Zählen verplempert, hätte ich schon vorher sehen können, was für ein Mann da hinter der Bar steht. Ich reiße meine Augen weit auf und muss ein paarmal blinzeln.

„Sven?“, frage ich überrascht, weil ich jetzt mit einem alten, verlotterten Mann gerechnet habe. Aber nicht mit meiner Jugendliebe Sven Kräft. Gott, wie lang ich ihn schon nicht mehr gesehen habe. In meinem Bauch fängt es an zu arbeiten, Aufregung macht sich breit, Freude… Es müssten jetzt knapp zehn Jahre her sein. Ich frage noch einmal: „Sven Kräft?“, und gehe dabei ans Ende des Tresens. Sven kommt ebenfalls an das Ende und lächelt mich verschmitzt an. „Schaut so aus, Lin!“, sagt er mit einem Lächeln im Gesicht zu mir.

Sven ist der Einzige, der mich je Lin genannt hat, und wird auch der Einzige sein, der es jemals darf. Er breitet seine Arme aus, als die Bar nicht mehr zwischen uns steht, und wir umarmen uns. Wie gut das nach diesem scheiß Tag tut. Er riecht gut - herb, männlich und frisch. Das hätte ich mir eigentlich von Frank gewünscht. Stopp, falsche Gedankenrichtung!, saust es durch meinen Kopf. Wir lösen uns voneinander und schauen uns an. „Schön, dich zu sehen, nach der langen Zeit“, sage ich aufrichtig.

Sven nickt und lässt seine Augen über meinen Körper wandern. „Ja, du sagst es, Lin. Gut siehst du aus. Du bist eine richtige Frau geworden“. Während er das sagt, fahren seine Hände an meinen Armen entlang und halten schließlich meine Hände. „Doch ich muss dich enttäuschen.“ Ich werde sofort unsicher und schaue ihn fragend an, während er seinen Satz beendet. „Cosmopolitan hab ich zwar auf der Karte, doch noch nie gemixt. Entweder du mixt ihn dir selbst oder ihr bestellt etwas anderes, das auf der Karte steht. Für Cocktails ist immer Faye verantwortlich und die ist schon im Bett.“ Jetzt muss ich lachen.

„Ich habe gerade mit sonst was gerechnet, nur nicht damit. Okay, das machen wir so, wenn deine Freundin schon im Bett ist und du nichts dagegen hast“, ich folge ihm hinter den Tresen, er zieht mich an meiner Hand mit sich und ich schaue mich nach meinen Zutaten um. Ich suche mir alles zusammen, was ich für eine gute Mischung brauche und lege los.

Ich schüttele kräftig den Shaker, in den ich zuvor etwas Wodka, Cointreau, Limetten- und Cranberrysaft sowie einige Eiswürfel gegeben habe. „Sven, könntest du mir bitte zwei Martinigläser geben?“, frage ich liebreizend und blinzele ihn dabei verführerisch an.

„Aber klar doch“, gibt er grinsend zurück und stößt sich vom Tresen ab, um an das entsprechende Regal zu kommen. Er stellt die Gläser auf die Theke und da beginnt Katrin, ach nein, Kerstin auch schon zu sabbern.

„Geil, Linchen. So was kannst du?“ Meine zukünftige Schwägerin kriegt sich gar nicht mehr ein und hüpft auf und ab.

„Na sag mal, hat dir Ole nicht verraten, dass ich früher Meisterin im Cocktail mixen war?“, frage ich sie gespielt schockiert. „So was verlernt man doch nicht.“ Kerstin beginnt zu kreischen. O Gott, die merkt noch nicht mal im Suff, wenn man sie hochnimmt.

Ich spüre Sven hinter mir stehen und er flüstert: „Ich nehme an, du hast jahrelange Erfahrung.“ Grinsend gieße ich die Mischung in die Martinigläser und drehe mich um. Ich muss meine Arme seitlich halten, denn Sven steht jetzt genau vor mir.

„Darauf kannst du wetten.“ Jetzt muss ich auch lachen und drücke ihm den Shaker an seine Brust, sodass er gezwungen ist, ihn mir abzunehmen. „Ich darf doch?“, frage ich mit meinem Kinn auf die roten Cocktailkirschen zeigend.

„Bedien' dich!“, sagt der vor mir stehende gut aussehende dunkelblonde Mann, dessen lange Haare mit grauen Strähnen übersät sind. Ich stecke die zwei Kirschen an die Gläser und klatsche in die Hände. „Voilà! Es ist vollbracht.“

Die Männer auf der anderen Seite der Bar nehmen sich die neu entkorkten Störtebeker-Flaschen und wir Mädels uns unsere Martinigläser. „Auf das neue Traumpaar vom Darß“, proste ich mit meinem Glas in die Höhe.

„Auf Kerstin und Ole“, kommt es von allen zurück.

Ich nehme einen großen Schluck, lege meinen Kopf genießerisch in den Nacken und schlucke, in der Hoffnung, dass der Tag besser ausklingt, als er begonnen hat. Ich verschlucke mich durch meine Haltung so sehr, dass Sven mir auf den Rücken klopfen muss und mir zu Krönung der Cosmo zur Nase rauskommt. „He, nicht so hastig junges Fräulein!“

Nach einiger Zeit habe ich mich weitestgehend wieder beruhigt und ein Wasserglas auf ex ausgetrunken, damit das Brennen in meiner Kehle aufhört.

„Mensch, entschuldige. Du wirst auch denken, ich hab nicht mehr alle Latten am Zaun. Doch das passt eigentlich zu meinem beschissenen Tag!“

Sven kriegt große Augen. „So? Erzähl doch mal.“

Ich winke nur ab, denn ich mag mein beschissenes Leben jetzt nicht breittreten. „Ach, lass gut sein. Das willst du nicht wirklich wissen.“

Nach der dritten Runde Cosmo haben wir alte, lustige Dinge ausgekramt. Ich sitze mittlerweile auf einem Barhocker hinter der Theke und habe es mir gemütlich gemacht. Svens Blicke nehme ich zwar wahr, mache mir aber in meinem jetzigen Zustand keine wirklichen Gedanken darüber.

Wir schwelgen in Erinnerungen an früher. Erzählen uns Geschichten. „Ich kann den pickligen Hannes, der jeden Tag im Herbst mit den roten Gummistiefeln zur Schule laufen musste, nicht vergessen. Erst letztens hatte ich einen Jungen in Berlin mit roten Gummistiefeln gesehen. Seitdem krieg ich Hannes nicht mehr aus meinem Kopf“, gackere ich.

Natürlich stimmen alle in mein Lachen ein. Es ist ein wirklich lustiger Abend. Lang ist es her, dass ich mir Lachtränen wegwischen musste. Die anderen halten sich nicht lang an ihren alkoholischen Getränken fest und somit steigen der Lärmpegel und das Gegacker stetig. Seit Mitternacht ist die Steinbar eigentlich schon geschlossen, doch Sven scheint glücklicherweise für enge Freunde eine Ausnahme zu machen.

Ich fang mit lallender Stimme an zu feixen. „Kennt ihr noch Sonja und Martin?“

Jetzt kann ich nicht mehr an mich halten und verliere fast das Gleichgewicht, doch der nette Barkeeper von nebenan hält mich. „Die beiden haben doch in der Neunten rumgefummelt und Sonja ging es nicht schnell genug. Hatte Sonja nicht immer laut rumposaunt, dass sie auf echte Kerle ohne Unterwäsche steht?“ Ich gröle mit den anderen vier Kumpels meines Bruders, die mir gegenübersitzen, um die Wette. Ole ist schon lange ruhig und folgt belustigt unserer Unterhaltung. „Sonja riss Martin doch im Eifer des Gefechtes so schnell den Hosenstall runter, dass sich sein Schamhaar im Reißverschluss verfing.“ Bei diesen Erinnerungen können jetzt alle Anwesenden nicht mehr an sich halten. Auch Kerstin fällt in unser lautes Gelächter ein, als ginge es um jemanden aus ihrer Vergangenheit.

„Komischerweise wusste es die ganze Schule. Ich möchte echt mal wissen, wie die alle davon erfahren haben“, gebe ich nachdenklich von mir.

Fabian, der zukünftige Trauzeuge meines Bruders, kommt mir zu Hilfe. „Na, weil Lena auf ihn stand und die beiden heimlich beobachtet hatte. Die kleine, eifersüchtige Petze hat sich dann zuuuufällig verquatscht!“

Kerstin sitzt nur noch mit gläsernen Augen da und grinst dämlich vor sich hin. Ich glaube sie ist ziemlich hinüber.

Als es in unserer Runde wieder stiller wird und wir bei Cosmo Nummer fünf angelangt sind, gebe ich melancholisch und leicht nuschelnd von mir: „Ich mag auch mal wieder fummeln. Zwar nicht so wie Sonja und Martin, aber mal so richtig.“ Ich stelle mich hin, da mir der Barhocker zu sehr schwankt. Könnte damit zu tun haben, dass die Wodkaflasche beim Mixen zu locker in meiner Hand lag. „Aber nein, ich fahre heut in dieses abgefuckt geile Loft zurück, in dem ich lebe, und finde eine quiekende Silikonbarbie auf meiner Insel in der Küche, die sich von meinem ‚aaaach-so-tollen-ich-hab-keine-Zeit-Freund‘ bumsen lässt, als gäbe es kein Morgen mehr!“ Ich schaue meine Zuhörer an, denen bei meiner Ausführung der Mund offen steht. „Ja, Kerstn, Holger, Finn und Kkarsten, ihr braucht gar nisch so gucken. Traumprinz Swenn, du auch nisch. Das is mein beschissenes Leben. Wie froooh ich doch bin wieder in Prerow zu sein, in dem meine Story die beste Tratschgeschichte überhaupt sein wird.“ Dann merke ich nur, wie meine Füße immer schwächer werden und sich starke Arme um meine Mitte legen. „Wow, langsam Lin“, entfährt es Sven, als er mich hält.

Seine Hände legen sich um meine Hüften. „Ich glaube, du hast genug für heute!“

Ich winke ab. „Ach, so ein Quatsch, jetzt geht’s erst mal richtig loooos“, lalle ich und stelle mich wieder in Position.

Ich puste eine Strähne meines blonden, schulterlangen Haares aus meinem Gesicht und trinke noch einen Schluck meines heiß geliebten und selbst gemixten Cosmopolitan. Kerstin greift sich an den Kopf, „Puh, ich glaube, mir reicht es für heute!“ Ole schaut auf seine Uhr. „O ja, es ist echt schon kurz nach drei Uhr. Wir werden uns dann mal auf den Weg machen.“

„Ja, ja, verlasst misch nur alle“, beschwere ich mich mit meiner immer schwerer werdenden Zunge. „Ihr seid ein unzuverlässiger Haufen.“

Kerstin und Ole kommen näher zu mir und geben mir über die Theke einen Kuss auf die Stirn. „Geh ins Bett, wir reden ein andermal über Frank!“

„Genau, schlaf deinen Rausch aus, Linchen“, stimmt Kerstin mit ein und alle verschwinden.

Die Männer lassen ihre Getränke anschreiben, wie sie es wohl des Öfteren öfters machen, und mit einem Mal sind Sven und ichwir allein.

Er steht vor mir und lächelt mich an. „Ich glaube, du trinkst jetzt mal ein großes Glas Wasser, Sweety, damit es dir am Morgen, wenn du wieder munter wirst, nicht zu dreckig geht.“ Er dreht sich um und lässt mir in ein großes Bierglas Wasser einlaufen, kommt wieder auf mich zu, und reicht es mir. Ich kräusle meine Nase, nehme es widerwillig entgegen und stelle es erst mal auf dem Tresen ab.

„Wieso nennst du mich Sweety?“, frage ich mit großen Augen. Ist das nicht ein Name für jemanden, den man mag. Jedenfalls ist das in Filmen immer so. Im realen Leben hat mich noch nie jemand Sweety oder Süße genannt, denke ich für mich und mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Sven schaut mich nur an und sagt nichts. Jedenfalls gibt er mir keine Antwort auf meine Frage. Ich setze das Glas an meine Lippen und schaffe es fast, das halbe Maß auf ex zu trinken.

„Du bist jetzt also wieder in Prerow, wenn ich das richtig verstanden habe“, kommt dann seine Art auf meine Frage zu antworten.

Jetzt bin ich irritiert. So schnell arbeitet mein Hirn jetzt nicht mehr, vor allem nicht in dem Nebel des Alkohols. „Wieso interessiert dich das?“

Sven war schon immer verdammt gut aussehend. Mit seinen langen Haaren hat er etwas Badboymäßiges an sich. Er war meine erste Jugendliebe. Wir waren damals siebzehn Jahre alt gewesen, als wir uns das erste Mal geküsst haben. Bis zum Ende der Realschule - ein ganzes Jahr lang - waren wir unzertrennlich. Doch wir wollten uns beide noch ein wenig in der Welt umsehen. Da wir beide noch so jung waren, und uns in unterschiedliche Richtungen entwickelten, gingen wir bald getrennte Wege. Den Herzschmerz nahmen wir dabei in Kauf.

Ja, er hatte mir damals mein Herz gestohlen. Wir haben uns unseren Gefühlen hingegeben und unser erstes Mal miteinander erlebt. Gott, ich hatte ihn so sehr geliebt. Und dann zog ich nach Berlin und meine Ausbildungsjahre begannen. Ich wohnte relativ weit weg von meinem Zuhause und es gab jede Menge Partys sowie süße Jungs. Dann kam Frank. Hätte ich ihn damals nicht in Berlin kennengelernt und mich so von ihm blenden lassen, wer weiß, vielleicht wäre ich sogar zurückgekommen. Doch durch ihn entfernten sich meine Gedanken immer mehr von Prerow. Ja, vielleicht wäre ich zurückgekommen an den Darß und zurück zu ihm: Sven. Ich schaue nachdenklich in mein halb leeres Wasserglas.

„Hm, ich weiß nicht. Prerow und meine Eltern waren mein erster Gedanke, nachdem ich meine Koffer gepackt hatte und einfach nur weg wollte. Irgendwie bin ich mit der Situation überfordert. Ich habe mir in Berlin ein Leben aufgebaut und dachte, ich habe ne tolle Beziehung. Außerdem habe ich einen Job, den ich über alles liebe. Ja klar, ich war noch nie wirklich ein Stadtkind, aber hey, Kompromisse geht doch jeder im Leben einmal ein. Doch ich muss das jetzt erst mal verarbeiten und überlegen, wie es jetzt weitergeht.“

Eine ganze Zeit ist es still, sodass ich meinen Gedanken nachhänge. „An was denkst du?“, fragt mich Sven und verringert unseren Abstand.

Ich glaube jetzt werde ich rot. Ob er meine Gedanken erraten kann? „Ich habe an früher gedacht.“

Wissend fängt er an zu nicken, „Ja, früher war alles anders.“

Mit seiner Aussage kann ich jetzt auch nichts weiter anfangen, ich fahre nämlich schon wieder Karussell in meinem Kopf. Das war jetzt eindeutig zu viel Kopfarbeit für meinen betrunkenen Geist. Der morgige, nein, der heutige Tag wird mein Tod. Die Cosmos werden mich leiden lassen. Als ich wieder zu Sven aufschaue, kann ich seinem intensiven Blick nicht länger standhalten. Ich erhebe mich wieder von meinem Barhocker und stehe nun direkt vor ihm. Sven trägt ein bedrucktes T-Shirt, dessen Saum ich nun anfasse, während ich verschmitzt nach oben schaue. „Und Sie, Sven Kräft? Sind Sie single oder gibt es hier eine glückliche Frau, die Ihr Herz für sich gewonnen hat“, starte ich meine plumpe Anmache und beiße mir klischeehaft auf meine Unterlippe - in der Hoffnung, dass es ihn antörnt.

Herrgott, ich brauche unbedingt Komplimente, Aufmerksamkeit und Sex. All die Dinge, die ich in den letzten Monaten nicht bekommen habe, die ich mit meinem Hungern und meiner Essstörung versucht habe, von Frank zu bekommen. Denn alle Barbies in seinem Umfeld tragen Kleidergröße 32. Doch nichts kam. Tja, mein Essen auslassen, dafür aber viel Alkohol zu trinken, werden wohl - genau wie heute - keine dicken Freunde werden.

Sven legt seine Hand an meine Wange, was mich ihm direkt in seine schönen Augen schauen lässt. Sie sind so grün, wie der See, an den der Garten meiner Eltern grenzt, es im Sommer ist. „Ich habe deine Augen schon immer geliebt, darin konnte ich mich schon seit ich dich kenne verlieren.“

Warum ich jetzt so eine gequirlte Scheiße von mir gebe, weiß ich nicht. Ich bin einfach nicht mehr Herrin meiner Sinne. Bitte küss mich und nimm mich auf dem Tresen. Mir schießen vielleicht Gedanken durch den Kopf. Doch Sven sagt keinen Ton und küsst mich nur auf die Nasenspitze. „Komm, ich bring dich heim, Sweety!“ Das verpasst mir einen weiteren Stich. Was habe ich an mir, dass Männer nicht mehr von mir wollen, als eine platonische Freundschaft. Ich schaue auf meine Füße. Jedenfalls glaube ich das, doch unsere Körper stehen so eng zusammen, dass ich sie nicht sehen kann. Und mit einem Mal passiert es. „Rüüülllp!“, entgeistert halte ich mir meine Hand vor den Mund und schaue erschrocken auf.

Ich habe tatsächlich gerülpst. Ich habe ihn so gesehen eben angerülpst, nachdem ich ihm von seinen Augen vorgeschwärmt habe. Wie peinlich ist das denn? Nicht auszudenken, wenn er mich in diesem Moment geküsst hätte. Ich vertrage anscheinend kein Wasser mit Kohlensäure. Das ist der Abgrund meines Tages.

„Entschuldige“, bringe ich nur heraus und merke dann, wie mir langsam die Tränen über die Wange laufen.

Ich drehe mich schnell von ihm weg. Etwas zu schnell, wie es scheint, denn mit einem Mal dreht sich alles. Ich halte mich für einen kurzen Moment an der Theke fest. Nachdem ich mich wieder gefangen habe, nehme ich meine Tasche von dieser und möchte an Sven vorbeirauschen. Doch er hält mich an meinem Arm fest. „He, lauf nicht weg. Es ist doch nichts passiert, Lin.“

Mit tränennassem Gesicht drehe ich mich abrupt um und beginne lauthals zu schluchzen. „Genau das ist ja das Problem! Bei mir passiert nie was. Außer dass ich meinen Freund in flagranti erwische und dir ins Gesicht rülpse. Wahrscheinlich muss ich mir meine Brüste doch aufpumpen lassen, damit ich von einem Mann mal als Frau wahrgenommen werde.“

Svens Augen werden mit einem Mal größer. „Hey, komm mal her. Was erzählst du denn da? Du denkst, Männer nähmen dich nicht wahr? So ein Unsinn!“

Ich sträube mich, mich von ihm zu sich ziehen zu lassen. „Dann erklär mir bitte, weshalb ich mir die Blöße geben musste, zu sehen, wie Frank diese dürre Schnepfe auf unserer Kücheninsel bumst.“

Mittlerweile hat er mich doch zu sich gezogen und schaut mich eindringlich an, bevor er antwortet:

„Ich kann dir nicht sagen, weshalb er so ein Idiot ist.“

Ich pruste Luft aus.

„Ich weiß nicht, was er für ein Kerl ist, doch anscheinend weiß er nicht, was er will und an dir hat.“

Jetzt sehe ich sicher aus wie Bambi, denn mein Blick ist mit dem eines Rehs hundertprozentig zu verwechseln. „Es tut so verdammt weh, wenn man so verarscht wird. Du wolltest mich ja auch nicht auf deiner Theke nageln.“ Ups, hab ich das jetzt laut gesagt? Scheiße was ist heute nur los mit mir? Erschrocken halte ich mir erneut die Hand vor den Mund.

Sven lacht jetzt ungläubig auf. „Lin, ich war noch nie der Typ, der eine Frau einfach so auf der Theke nimmt. Und schon gar nicht, wenn sie am gleichen Tag ihren Freund verlässt, nachdem er ihr fremdgegangen ist. So ein Arsch bin ich nicht. Und erst recht nicht, wenn sie sternhagelvoll ist.“

Jetzt stehe ich vor ihm wie ein Drops. Er nimmt meine Hand und führt mich aus der Bar. Ich schmeiße mir im Gehen meine Handtasche über die Schulter und lasse mich von ihm ziehen, nachdem er die Hintertür geschlossen hat.

„Du schläfst bei deinen Eltern?“

„Ja, das Kind wohnt wahrscheinlich jetzt wieder bei seinen Eltern“, antworte ich trotzig.

Sven lacht leise, doch ich habe es genau gehört. Wie ein bockiges Kind lasse ich mich die zwei Straßen von ihm zu meinen Eltern zerren. Meine Beine fühlen sich von dem Alkohol einfach viel zu schwer an, als dass ich alleine gehen könnte. Sven muss mich bei jedem Schritt nicht nur ziehen, sondern auch stützen.

„Lass dich nicht so hängen, Lin. Oder hast du Angst, du bekommst Hausarrest, wenn du betrunken nach Hause kommst?“

Jetzt stolpere ich auch noch über meine eigenen Füße. „Ha, ha, sehr witzig.“

„Was ist dann dein Problem?“

Sven scheint über meinen Zustand sichtlich amüsiert zu sein.

Endlich stehen wir vor der Tür meiner Eltern. Ich antworte Sven vielleicht ein wenig zu emotional, zu ehrlich und zu laut, doch es muss einfach raus. Also pikse ich ihm meinen Zeigefinger in die Brust, während ich losschimpfe: „Mein Problem ist, Mister, dass ich bisher nie das bekommen habe, was ich mir wünsche. Ich werde erniedrigt, denn alle außer mir werden von meinem Freund. Im Gegensatz zu den anderen Tussen, bin ich chronisch untervögelt. Mich will einfach keiner!“

Sven möchte gerade zu einer Antwort ansetzen, da geht die Haustür auf und mein Vater tritt hinaus. „Hey, Papa“, sage ich, gehe einen Schritt auf ihn zu und kuschle mich mit geschlossenen Augen an ihn. Wie peinlich diese Situation eigentlich ist, wenn ein Elternteil solche Aussagen seines Kindes hört, überreiße ich in diesem Moment gar nicht. Der Alkohol hat die Macht.

„Hallo, Gaston. Ich bring dir Lin wieder. Ich glaube, es war heute alles ein wenig zu viel für sie“, gibt Sven erklärend von sich.

Er streicht sich an seinem Hinterkopf durch die Haare. Ihm ist die Situation sicher ein wenig unangenehm, obwohl er sich ein Lachen verkneifen muss.

„Danke dir, Sven. Ich werde den Schluckspecht dann mal auf ihr Zimmer bringen. Gute Nacht.“

Mein Papa schließt die Haustür hinter uns und dirigiert mich die Treppe hoch in mein altes Zimmer. Ich plumpse wie ein Sack Mehl auf mein Bett, denn zur jetzigen Zeit fehlt mir einfach sämtliche Grazie und Anmut. Mein Dad fragt mich besorgt. „Geht’s dir gut, Alina?“

Ich hole tief Luft. „Ach, Papi. Alle Männer sind Schweine, aber du, du bist was Besonderes.“

Zu mehr komme ich nicht mehr. Ich nehme nur noch wahr, wie mir meine Schuhe von den Füßen gezogen werden, mir der Blazer ausgezogen wird und dann bin ich auch schon weg. Vollkommen ausgeknockt, schlafe ich bis mittags um halb zwölf durch.

Meine Mutter klopft leise an meine Zimmertür. Für mich fühlt es sich jedoch an, als würde sie gegen die weiße Holztür hämmern. Leise öffnet sie diese einen Spalt breit und kommt zu mir ans Bett. Durch meine nur einen Millimeter geöffneten Augen beobachte ich alles ganz langsam. Jede weitere Anstrengung wäre zu viel. Meine Mutter streicht mir leicht über den Kopf und stellt mir ein großes Glas Wasser mit einer Packung Schmerztabletten auf mein Nachtschränkchen.

„Guten Morgen, mein Schatz. Nimm die Tabletten und dann komm runter. Ich habe etwas Deftiges zu essen für dich, das wird dir gut tun.“ Daraufhin verlässt sie mein Zimmer und ich drehe mich noch einmal in meinem Bett auf die andere Seite.

Das Bett, in dem ich bereits als Teenager geschlafen habe. Jetzt bin ich 26 Jahre alt und habe keine Wohnung und keine Beziehung mehr. Als mir das alles wieder durch meinen Kopf schießt, laufen mir die Tränen und durchnässen langsam, aber stetig mein Kopfkissen.

Love me again

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