Читать книгу Einführung in das Studium der Kirchengeschichte - Lenelotte Möller - Страница 8
II. Gegenstand der Kirchengeschichte 1. Kirchen- und Profangeschichte
ОглавлениеWas ist Kirchengeschichte?
Traditionelle Definition
Kirchengeschichte beschäftigt sich mit der Geschichte des „in Kirchen verfassten Christentums“ (Markschies). Sein Wachsen und Entfalten ist Gegenstand dieses Fachs. In der Forschung bestehen zwei Richtungen, die sich bemühen, das Fach Kirchengeschichte zu definieren. Ein Teil der konfessionell geprägten Vertreter des Fachs versteht Kirchengeschichte als den Versuch einer Universalgeschichte aus christlicher Sicht. Das bedeutet, die Geschichte der Welt von ihren Anfängen an aus christlicher Perspektive darzustellen. Somit wird der heilsgeschichtliche Anspruch, der der Kirchengeschichtsschreibung seit ihren Anfängen in der Antike zu Eigen ist, fortgesetzt. Doch ist „ein solcher umfassender universalgeschichtlicher Anspruch im 20. Jahrhundert weder in Lehre noch in Forschung ernsthaft umgesetzt worden und beschreibt daher in aller Regel nur noch eine Programmformel“ (5, 78). Ein anderer Teil der konfessionell geprägten Kirchenhistoriker sowie alle anderen auf dem Gebiet tätigen Forscher verstehen Kirchengeschichte als einen Teilbereich der allgemeinen historischen Wissenschaft. Kirchengeschichte ist diejenige Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, die sich mit der Geschichte des Christentums von den Anfängen bis zur Gegenwart beschäftigt. „Eine so formulierte Definition des Faches ist bescheidener angelegt und leichter interdisziplinär zu vermitteln als der traditionelle universalgeschichtliche Anspruch“ (5, 78).
Kirchengeschichte heute
Kirchengeschichte kann heute entweder als „weltliche Kirchengeschichte“ (Rudolf von Thadden) ohne ein religiöses und konfessionelles Vorverständnis oder als theologische Kirchengeschichte mit entsprechendem Vorverständnis betrieben werden. Das theologische Vorverständnis ist konfessionell ausgeprägt. Dies gilt auch dann, wenn Entwürfe einer überkonfessionellen Kirchengeschichte vorgelegt werden. In „Ökumenischen Kirchengeschichten“ wird von einem konfessionellen Standpunkt aus argumentiert, doch besteht eine besondere Aufgeschlossenheit für die anderen konfessionellen Positionen. „Solche konfessionellen Vorverständnisse lassen sich mit den allgemeinen philosophischen Voraussetzungen der historischen Methodik vergleichen, entsprechen also Prämissen“ (5, 78). Der Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900–2002) hat aufgezeigt, dass ein prämissenfreies Verstehen von Vergangenheit nicht möglich ist; es kommt darauf an, das jeweilige Vorverständnis zu klären und im Prozess des Verstehens zu korrigieren. Deshalb wäre es einseitig, Konfessionalität nur als „methodische Fessel“ zu sehen, wenngleich dies durchaus so sein kann. „Vielmehr eröffnet sie [die Konfessionalität] wie jede durch bestimmte weltanschauliche Prämissen geprägte Geschichtsschreibung eine eigene und anregende Perspektive auf das historische Geschehen“ (5, 78f).
Fragestellung
Die in einer konfessionellen Kirchengeschichte verwendeten Methoden sind auch diejenigen der sonstigen Zweige historischer Wissenschaften. Wenn auch die Kirchengeschichte nur eine bestimmte Fragerichtung innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaft verfolgt, so ist dies bedeutsam, denn „eine um ihren Bezug zur Kirchengeschichte verkürzte Profangeschichte gerät in Gefahr, blind für Kräfte zu werden, die sich nicht nur nach dem bloßen Kalkül von Interessen ausrichten wollen. Und eine Welt, die ihre Emanzipation von christlichen Prägungen so weit treibt, dass sie die Institutionen nicht mehr wahrnimmt, die mit diesen Prägungen verbunden sind, kann leicht die Komplexität unserer Wirklichkeit verkennen“ (254, 8). Ein konfessionelles Vorverständnis hat „auch den Vorteil, dass die Geschichte des kirchlich verfassten Christentums in eben dem Horizont interpretiert wird, in dem sich auch die Christen durch die Geschichte hindurch selbst verstanden haben“ (5, 79).
Aufgaben
Mit der „Spannung zwischen geschichtlicher Wirklichkeit und theologischem Anspruch des Christentums ist in der Geschichte des Fachs Kirchengeschichte unterschiedlich umgegangen worden; sie auszuhalten und produktiv zu gestalten macht ein Stück des Reizes des Faches aus“ (5, 74).
Verhältnis zur Profangeschichte
Die Kirchengeschichte bewegt sich zwischen der Geschichtswissenschaft und der Theologie. Sie arbeitet mit den Methoden der Geschichtswissenschaft und orientiert sich an Standards dieses Fachs. Kirchengeschichte widmet sich der Geschichte der Kirche sowie den sie repräsentierenden Institutionen und Personen. Sie behandelt die historische Entwicklung des christlichen Bekenntnisses und der christlichen Lehren (Dogmen- bzw. Theologiegeschichte), die Geschichte der Ausbreitung des Christentums (Frömmigkeits- und Missionsgeschichte), die Geschichte christlicher „Mentalitäten“ und alltäglicher Verhaltensweisen. Die Kirchengeschichte kann nur dann Aussagen machen und Bewertungen vornehmen, wenn ein Geschehen Spuren in Form von Quellen (schriftliche, monumentale oder – wie in der Zeitgeschichte – mündliche Quellen) hinterlassen hat. Diese Quellen müssen ermittelt und auf ihre Echtheit geprüft werden. Sie werden in historisch-kritischen Ausgaben, gegebenenfalls in zuverlässigen Übersetzungen zugänglich gemacht. Quellen müssen auf ihren historischen Gehalt hin untersucht und sorgfältig interpretiert werden. Diese Quellenarbeit ist die eigentliche Aufgabe des Historikers und somit auch des Kirchenhistorikers.
Gegenseitigkeit der Disziplinen
Kirchengeschichte ist „im Gespräch mit der allgemeinen Geschichtswissenschaft (und gegebenenfalls anderen Geisteswissenschaften, wie Religionswissenschaft, Philosophie, Philologie und Sozialwissenschaften) und profitiert von deren Erkenntnissen. Sie kann aber auch für die allgemeine Geschichtswissenschaft und für andere Wissenschaften wichtig sein. Die Kirchengeschichte leistet insofern einen wichtigen Beitrag zur interdisziplinären Forschung und kann in besonderem Maße dazu beitragen, den bisweilen umstrittenen Anspruch der Theologie, eine akademische Wissenschaft zu sein, plausibel zu machen“ (8, 231).
Methoden und Arbeitsweisen des Fachs
Als Teil der Geschichtswissenschaft arbeitet die Kirchengeschichte mit den allgemeinen historischen Methoden und orientiert sich an Standards des Fachs. Unter historischer Arbeit versteht man, dass auf der Basis einer sorgfältigen, methodisch kontrollierten Analyse von Quellen in kritischer Darstellung vergangene Sachverhalte, Begebenheiten und Abläufe so genau wie möglich analysiert nacherzählt werden. Es greifen philologische, hermeneutische (auf die Kunst des Verstehens führende) und literarische Methoden ineinander. Die Schritte zum Ziel historischer Arbeit sind Gegenstand der historischen Methodik. Die einzelnen Methoden gliedern sich in vier Hauptteile: (1) Heuristik, (2) Kritik, (3) Interpretation und (4) Darstellung. In der Heuristik geht es darum, die für ein kirchengeschichtliches Thema relevanten Quellen zu finden und ihre Gattung zu identifizieren. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass der Wert der Quelle in der Kritik angemessen bestimmt werden kann. Wenn der Wert einer Quelle eingeschätzt wurde, kann man beginnen, sie zu interpretieren. Die einzelnen Informationen einer Quelle werden aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgenommen und in ein Gesamtbild eingesetzt, wodurch sie selbst in einem neuen Kontext zu stehen kommen, aber auch das bisherige Bild verändern. Ein solches Gesamtbild wird dann in einer Darstellung erstellt.
In den letzten Jahren ist die Debatte um die historischen Methoden wieder durch grundsätzliche geschichtstheoretische Auseinandersetzungen belebt worden, die allerdings – wie Christoph Markschies bedauernd feststellt – nur zum Teil in der Kirchengeschichtsschreibung beachtet worden sind.
Neuere Entwicklung
Sowohl durch die Infragestellung ihrer theoretischen Grundannahmen wie auch durch die starke Vermehrung von Quellen und durch die Methoden ihrer Bearbeitung ist die Kirchengeschichte stark verändert worden. Vor allem für das 20. Jahrhundert stehen so enorme Mengen von Quellen zur Verfügung, dass die Fülle die Bearbeitung mancher Themen schwierig macht. Außerdem ist der traditionelle Kanon von Methoden nicht zuletzt durch die Bedingungen der medialen Revolution stark verändert worden. Diese Entwicklungen zeigen sich auch in anderen historischen Wissenschaften und erweisen nochmals die enge Verbindung des Fachgebiets „Kirchengeschichte“ mit der so genannten Profangeschichte. Neben den traditionellen Methodenkanon sind neuere Methoden (z.B. die Berücksichtigung von Statistiken und von Interviews mit Zeitzeugen) und neuere Forschungszweige (z.B. Mentalitätsgeschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte oder Religionsgeographie) getreten. Diese Entwicklung hat zur Spezialisierung vieler Kirchenhistoriker geführt.
Kirchengeschichte und Bibel
Aus der Perspektive der Theologie ist Kirchengeschichte die „Geschichte des in der Welt fortwirkenden Christus“, der letztlich „Kirche wirkt“ (Kurt Dietrich Schmidt). Kirchengeschichte kann des Weiteren als „die Geschichte des Evangeliums und seiner Wirkungen in der Welt“ (Heinrich Bornkamm) verstanden werden. Sie kann auch als „Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“, die das zutage fördert, „was zwischen uns und der Offenbarung Gottes in Jesus Christus steht“ (Gerhard Ebeling), aufgefasst werden. Bei dieser Definition besteht allerdings die Gefahr einer Verkürzung der Kirchengeschichte zu einer „Auslegungsgeschichte der Bibel“, was in der kirchengeschichtlichen Forschung zu lebhaften Diskussionen geführt hat. Der Kirchenhistoriker erhält einen klaren Beurteilungsmaßstab an die Hand: Der christliche Glaube in seiner institutionalisierten, lehrmäßigen und im „Alltag“ praktizierten und missionierenden Gestalt muss seine Geschichte vor dem Evangelium verantworten. Dieses steht allerdings nicht in einer unhistorischen Eindeutigkeit zur Verfügung, sondern hat eine eigene Deutungsgeschichte.
Verpflichtung gegenüber der Theologie
Die Kirchengeschichte ist auf die anderen theologischen Disziplinen bezogen, so beispielsweise als „Auslegungsgeschichte der Bibel“ auf die exegetischen Wissenschaften, als Dogmen- und Theologiegeschichte auf die Systematische Theologie und als Frömmigkeits- und Missionsgeschichte auf die Praktische Theologie (8, 231). „Kirchengeschichte orientiert über Standards theologischer Arbeit und lädt dazu ein, sich an ihnen zu orientieren. Kirchengeschichte klärt über Grundstrukturen von Welt, Wissen und Leben auf und ist schon deswegen von eminent großer praktischer Relevanz“ (5, 74).