Читать книгу Leni Behrendt Staffel 6 – Liebesroman - Leni Behrendt - Страница 9
ОглавлениеVor sich hin brummend, stieg der Mann die langen Treppen des großen Mietshauses empor. Du lieber Himmel, wo bekamen die Menschen, die hier im vierten Stock wohnten, bloß die Puste her, um diese unbequemen, ausgetretenen Stiegen tagtäglich erklimmen zu können! Die mußten ja Lungen wie die Rennpferde und Herzen wie die Büffel haben.
Endlich war das schwere Werk geschafft, und der Mann stand erst einmal still, um zu verschnaufen. Indes ließ er seine Augen, die blauleuchtend unter buschigen, weißen Brauen lagen, über die vier Türen schweifen, die diese Etage aufwies – zwei geradeaus, eine rechts, eine links. Namen waren daran vermerkt, fast ein Dutzend an der Zahl. Größtenteils waren es Visitenkarten, bescheiden mit Reißzwecken an das braune Holz geheftet. Und auf solch einer Karte stand auch der Name, den er suchte.
»Na, denn man zu!« brummte er verdrießlich, drückte den Finger auf den Klingelknopf und zuckte zusammen bei dem durchdringenden Ton, der die Stille zerriß.
Unbehaglich starrte er auf die braune Tür, die sich bald darauf öffnete. Vor ihm stand eine hagere, grobknochige Person mit einem verkniffenen Mund. Neugierig musterten ihn die Augen hinter scharfen Brillengläsern.
»Sie wünschen?« fragte eine unangenehm krächzende Stimme kurzangebunden. Und ebenso erfolgte die Antwort:
»Fräulein Berledes zu sprechen.«
»In welcher Angelegenheit?«
»Das geht Sie nichts an, verehrte Dame!«
»Mein Herr, ich muß doch sehr bitten…!«
»Und ich auch«, unterbrach er sie schroff. »Ich bin es nämlich nicht gewohnt, meine Angelegenheiten auf neugierige Nasen zu binden. Ist Fräulein Berledes nun anwesend oder nicht?«
Dieser Ton schüchterte die impertinente Laura Pfefferkorn denn doch ein. Es klang beinahe höflich, als sie jetzt sagte:
»Das Fräulein ist eben aus dem Krankenhaus gekommen und daher sehr elend. Ich weiß nicht, ob ich Sie vorlassen darf, mein Herr.«
»Bei mir als Vormund der jungen Dame können Sie es ruhig tun.«
Nun war Laura Pfefferkorn doch überrascht. In ihren Augen brannte die Neugierde, die sie jedoch wohlweislich unterdrückte, weil sie nun ihrerseits der Ansicht war, daß mit diesem Herrenmenschen nicht gut Kirschen essen wäre. Sie bat ihn, näherzutreten und öffnete dann eine Tür, steckte den Kopf durch den Spalt und krächzte:
»Fräulein, ein Herr möchte Sie sprechen. Er gibt an, Ihr Vormund zu sein. Kann das stimmen?«
»Und wie das stimmt!« schob der Männ sie energisch zur Seite und betrat einen dürftig möblierten Raum, in dem ein junges Mädchen angekleidet auf dem Bett lag, nun hastig aufsprang und vor dem Eindringling stand. Doch ehe sie etwas sagen konnte, sprach er bereits, während er der vor Neugierde fast platzenden Laura Pfefferkorn die Tür vor der spitzen Nase zuschlug:
»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich so formlos hier eindringe. Aber anders wäre ich bei dem Zerberus da draußen nicht vorangekommen!
Aber setz dich ja rasch hin, mein Kind. Du siehst mir nämlich so aus, als ob du gleich vor Schwäche zusammensinken müßtest.«
Damit drückte er sie in den alten Sessel aus Weidengeflecht, der wie unwillig ächzte, und nahm dann selbst auf einem Stuhl so vorsichtig Platz, als hieße es, sich in Nesseln zu setzen.
Denn der Hüne mit dem robusten Knochenbau wog immerhin seine guten zwei Zentner bei einer Größe von 1,85. Und in dieser dürftigen Bude war alles wackelig und morsch.
Doch der Stuhl hielt, und der Mann sah zu dem Mädchen hin, das ihn unfreundlich musterte.
»Wie kommen Sie überhaupt dazu, mich so ohne weiteres zu duzen?« fragte es ungehalten, was den Mann jedoch nicht zu beeindrucken schien.
»Na, man immer hübsch friedlich, Kindchen!« meinte er nachsichtig. »Mit falschem Stolz, Trotz oder anderen Mätzchen imponierst du mir gar nicht. Ich vertrete als dein jetziger Vormund Vaterstelle an dir, und da wäre es ja lächerlich, wollte ich dich siezen. Zu deiner Orientierung: Ich heiße Onkel Philipp, merke dir das bitte. Warum hast du auf meinen Brief nicht geantwortet?«
»Weil ich im Krankenhaus lag, als er hier eintraf«, entgegnete sie immer noch abweisend. »Ich fand ihn heute bei meiner Rückkehr erst vor.«
»Nun, dann hast du ja darin lesen können, daß man mich zu deinem Vormund bestimmte. Ist es dir bekannt, daß man mir kurz nach dem Tode meines Sohnes einen Brief von ihm zustellte?«
»Ja. Ich fand ihn in seinem Nachlaß und schickte ihn ab. Hat mein Stiefvater Sie etwa in dem Schreiben gebeten, mein Vormund zu werden?«
»Ganz recht. Es war ein langer, sehr ausführlicher Brief, der mich genau über alles orientierte – auch darüber, daß mein Sohn deine Mutter und somit auch dich durch seinen Leichtsinn an den Bettelstab brachte – und daß du zuletzt gar deinen Stiefvater mit deinem kleinen Stenotypistinnengehalt mit unterhieltest…«
»Bitte, Herr Hadebrecht…«
»Onkel Philipp, wenn ich bitten darf.«
»Aber ich kann doch einen Menschen, den ich zum erstenmal sehe, nicht gleich duzen!« begehrte sie auf, doch er winkte gemütlich ab.
»Warum denn nicht? Ich kann es ja auch.«
Da gab sie es auf. War ja viel zu müde und matt, um sich gegen den Willen dieses Hünen aufzulehnen, der starr wie ein Fels zu sein schien.
»Na schön – dann Onkel Philipp«, resignierte sie. »Es ist ja auch alles egal. Was ich für meinen Stiefvater tat, geht niemand etwas an, will ich meinen.«
»Oho, mein Kind, und wie mich das etwas angeht!« grollte sein Baß jetzt auf. »Alles geht mich an, was dich betrifft. Auch daß du noch das Letzte für deinen leichtsinnigen Stiefvater hingabst – nämlich die kleine Wohnung, die dir noch geblieben war. Die verkauftest du einem jungen Ehepaar, um dem Toten ein anständiges Begräbnis geben zu können. Du selbst krochst dann in dieser scheußlichen Bude unter und aßest dich nicht satt, weil du schon seit zwei Monaten arbeitslos bist und weil die Arbeitslosenunterstützung zum Sterben zuviel und zum Leben zu wenig ist, wie man so sagt. Kein Wunder, daß du nach alledem zusammenbrachst und ins Krankenhaus gebracht werden mußtest…«
»Woher weißt du denn das alles?« lachte sie nervös dazwischen. »Das kann dir dein Sohn doch unmöglich auch noch geschrieben haben.«
»Natürlich nicht. Denn bei den letzten Geschehnissen war er ja bereits tot. Aber man kann ja Erkundigungen einziehen, nicht wahr? Und nachdem das nun alles bestens geklärt ist, werde ich als Vormund mit meiner ersten Amtshandlung beginnen. Also: Du packst sofort deine Koffer und kommst mit mir in mein Haus, das fortan deine Heimat sein soll.«
Nach diesen energischen Worten war es zuerst einmal still.
Dann fragte das Mädchen spöttisch:
»Und was soll ich da – etwa das Gnadenbrot essen?«
»Mein liebes Kind, den Ton wollen wir erst gar nicht zwischen uns aufkommen lassen!« entgegnete der Mann zwar ruhig, doch blitzte es in seinen Augen gefährlich auf. »Vergiß bitte nicht, daß ich als dein Vormund gewisse Erziehungsberechtigung über dich habe und Verantwortung zugleich. Also kann ich nicht dulden, daß du nach dem Nervenfieber – ja, sieh mich nur so groß an, ich weiß auch davon – in dieser scheußlichen Bude bleibst und so elend, wie du bist, womöglich die Jagd nach einer Arbeitsstelle beginnst. Um überhaupt arbeiten zu können, brauchst du zuerst einmal Pflege, die dir in meinem Hause zuteilwerden wird. Wenn du dann wieder auf der Höhe bist, werde ich dir zu einem Posten verhelfen – und zwar in meinem Betrieb – wo kein windiger Abteilungsleiter dich an die frische Luft setzen wird, weil du ihn bei seinen Belästigungen gehörig in die Schranken wiesest…«
Jetzt mußte er über ihr verblüfftes Gesicht lachen.
»Ja, ja, Kleine! Wie du siehst, bin ich über dich vollkommen im Bilde. Ich mußte mich doch schließlich vergewissern, über welch ein Persönchen ich, die Vormundschaft übernehmen sollte.
Und nun Schluß mit der Debatte! Und keine Widerrede, bitte ich mir aus. Pack deine Sachen, damit wir abfahren und noch vor Dunkelwerden nach Hause kommen können.«
Silje Berledes hätte sonst wohl nicht so ohne weiteres über sich bestimmen lassen – denn sie besaß eine ziemliche Portion Eigenwillen und vor allem einen stark ausgeprägten Stolz. Aber jetzt war sie durch die schwere Krankheit so sehr geschwächt, daß sie einfach nicht die Kraft hatte, sich einem so starken Willen widersetzen zu können.
»So sei es…«, fügte sie sich gottergeben. »Ich komm ja jetzt doch nicht gegen dich auf. Dafür fühle ich mich zu elend.«
»Nur gut, daß du das endlich einsiehst, mein Kind! Am besten ist, du packst jetzt einen Koffer mit dem Notwendigsten, alles andere kann deine Wirtin dir nachschicken. Oder traust du ihr nicht?«
»Nein. Ich besitze zwar nicht viel, aber darunter doch einiges, woran ich hänge. Und das möchte ich nicht auch noch verlieren.«
Müde erhob sie sich und trat an den Schrank, der so wurmstichig war, daß er in nächster Zeit wohl zusammenbrechen würde. Auf der Holzstange hingen fein säuberlich über Bügel getan einige Kleider, und oben auf dem Brett lag ein Hut.
Aber danach griff Silje jetzt nicht. Sie holte vom Boden ein unförmiges Etwas hervor, legte es auf den Tisch und mußte nun doch über das verdutzte Gesicht des Mannes lachen.
»Hierin befindet sich eben das, woran mein Herz noch hängt«, erklärte sie. »Ich habe es in eine Decke genäht, um es vor neugierigen Augen – und Habgier zu schützen.«
»Raffiniert getarnt«, schmunzelte er. »Darf man fragen, was in dem Monstrum steckt?«
»Die Geige von meinem – Paps…«
Weiter ging es nicht, die Stimme brach.
Hastig wandte Silje sich ab, zog zwei Koffer unterm Bett hervor und begann zu packen. Das fiel ihr nicht leicht. Sie mußte immer wieder einhalten, um sich auszuruhen.
»Bitte, Onkel Philipp«, sagte sie zuletzt schon ganz nervös. »Fahre heute allein, ich komme morgen nach.«
»Darauf werde ich mich nun nicht verlassen«, versetzte er trocken. »Da fasse ich mich lieber in Geduld, bis du fertig bist.«
»Du traust mir also nicht?«
»Nein.«
Da wandte sie sich brüsk ab und packte weiter. Zwei Bilder legte sie vorläufig zur Seite, auf die jetzt Hadebrechts Blick fiel. Das eine Bild zeigte ein klares, reines Frauenantlitz mit Madonnenaugen, das zweite ein Männerantlitz von bildhafter Schönheit. Was kostet die Welt? –
schien der lachende Mund zu fragen. Ich kaufe sie und lege sie der Schönsten zu Füßen.
»Deine Mutter?« fragte der Mann, auf das erste Bild zeigend.
»Ja…«, kam es knapp zurück. Sie schloß die beiden Koffer und fühlte sich so matt, daß sie sich in den Korbsessel fallen lassen mußte, bevor sie noch umsank. Das Gesicht war todblaß, die geschlossenen Lider zuckten, der Atem ging rasch und schwer.
»Mach um Himmels willen jetzt nicht schlapp!« drang eine grollende Männerstimme an ihr Ohr. »Hast du heute überhaupt schon was gegessen?«
»Doch, morgens im Krankenhaus«, kam die Antwort müde, und er brummte:
»Wird schon was Rechtes gewesen sein! Mit dir in ein Lokal zu gehen, wage ich deiner miserablen Verfassung wegen nicht. Also werde ich für einen Imbiß sorgen…«
»Bitte nicht!« unterbrach sie ihn hastig. »Ich habe wirklich keinen Hunger.«
»Natürlich nicht, wenn man die Absicht hat, sich als Hungerkünstlerin auszubilden. Mädchen, Mädchen, ich komm mir beinahe so vor, wie von unserem Herrgott persönlich zu dir geschickt. Rühre dich ja nicht von der Stelle, bis ich zurückkehre!«
Damit ging er, und Silje duselte erschöpft vor sich hin.
Erschrocken fuhr sie auf, als Laura Pfefferkorn vor ihr stand.
»Ach, Sie haben bereits gepackt, Fräulein«, bemerkte sie hämisch. »Da ist es ja gut, daß ich die Rechnung schon geschrieben habe. Sie bezahlen natürlich die Miete nicht nur für den angebrochenen Monat, sondern auch für den nächsten…«
»Und möglichst für das ganze Jahrzehnt«, ironisierte eine Stimme hinter ihr, die sie wie gestochen herumfahren ließ. Da sie mit dem Rücken nach der geöffneten Tür stand, hatte sie nicht gemerkt, daß Hadebrecht eingetreten war.
Nun sah sie ihn fassungslos an, und er lachte.
»Ja, ja, meine geehrte Pfefferkörnin, es wird einem leicht ein Strich durch die Rechnung gemacht. Die Miete für den angebrochenen Monat November sei Ihnen zugebilligt, aber zum nächsten müssen Sie sich schon einen neuen Mieter für dieses komfortable Gemach suchen. Wieviel Zins erheben Sie denn monatlich dafür?«
»Fünfundzwanzig Mark«, entgegnete Silje statt der verdatterten Laura, während sie das Geld hastig auf den Tisch zählte. Und siehe da, die ehrsame Jungfrau Pfefferkorn raffte die Scheine zusammen und entfloh.
»Na also…«, schmunzelte der Mann hinter ihr her. »Man muß mit solchen Leuten nur patent reden, dann weicht ihre Unverschämtheit der Feigheit. Hättest du kleines Schaf ohne mein Dazwischenkommen wirklich den Wucherzins gezahlt?«
»Wahrscheinlich. Können wir jetzt aufbrechen?«
»Noch nicht, erst wirst du etwas essen. Der Chauffeur wird gleich mit einem Imbiß erscheinen.«
Und tatsächlich trat der Mann schon wenig später ein, gefolgt von Laura Pfefferkorn, die zuerst nach Luft schnappte und dann giftig loslegte: »Dieser Mann ist einfach ein Flegel!«
»Ungefähr so wie ich, nicht wahr?« warf Hadebrecht augenzwinkernd dazwischen. »Aber es kann ja nicht jeder den Anstand mit Löffeln gegessen haben. Und nun verfügen Sie sich, das Zimmer ist nämlich bis Ultimo bezahlt.«
Wutentbrannt zog Laurachen ab, und der Chauffeur lachte über das ganze Gesicht.
»Solche Kreuzspinnen habe ich gern. Sie wollte mir nämlich den Eintritt verwehren. Und ich mußte schon Gewalt anwenden – wenn auch immerhin noch sanfte.«
Damit stellte er ein papierumhülltes etwas auf den Tisch, zog aus einer Tasche eine Flasche Wein, aus der anderen ein Glas und nahm dann Haltung an.
»Befehl ausgeführt, Herr Hadebrecht!«
»Danke, Schorlep. Nehmen Sie die beiden Koffer und verstauen Sie sie im Wagen. Dann warten Sie unten.«
»Und dieses Monstrum auf dem Tisch?«
»Das bringe ich!«
Spielend hob der untersetzte Mann in der schlichten Chauffeurlivree die bestimmt nicht leichten Koffer hoch, entfernte sich, und sein Herr nahm vorsichtig das Papier von dem Gegenstand, der sich dann als ein Pappteller mit Gabelbissen entpuppte. Dann nahm er die Flasche, in welcher der Pfropfen nur lose steckte, füllte das Glas mit dem schweren, süßen Wein, schob es Silje hin, die wie teilnahmslos dasaß, und ermunterte: »So, mein Kind, wohl bekomms! Du sollst mal sehen, wie dir dieser Trank auf die Beinchen hilft!«
Schweigend gehorchte Silje. Wie Feuer brannte es hinterher in ihrem leeren Magen. Das erschreckend bleiche Gesicht bekam langsam Farbe, ein zaghaftes Lächeln stahl sich um ihren Mund. Und als sie erst von den delikaten Bissen geschmeckt hatte, kam der Appetit. Es blieb kaum etwas auf dem Pappteller zurück.
»Besser?« forschte ihr Gegenüber.
»Ja, danke.«
»Das habe ich mir so ungefähr gedacht. Nun leere noch einmal das Glas, dann wirst du sehen, wie rosig dir plötzlich die Welt erscheint.«
Silje tat’s, und siehe da, sie fühlte sich wie von leichten Wolken getragen. Halb berauscht tat sie alles, was ihr Vormund von ihr verlangte. Ließ sich ohne Widerrede unten in den Fond des Autos betten, fürsorglich zudecken – und schlief gleich darauf vor Erschöpfung ein.
*
Silje Berledes schlief noch immer tief und fest, als der schwere Wagen hielt. Wenn sie nicht so elend und schwach gewesen wäre, hätte sie sich selbst die Sorglosigkeit, mit der sie sich sozusagen entführen ließ, nicht verziehen. Aber jetzt war ihr alles gleichgültig, völlig gleichgültig. Nur schlafen dürfen, auslöschen all das, was ihr noch nicht einmal ganz neunzehnjähriges Dasein bedrückte!
Und das war gewiß nicht wenig. Früher, ja, da war alles licht und hell in ihrem Leben gewesen. Als einziges Kind ihrer Eltern wuchs sie sorglos auf. Wohnte in einer schmucken Villa, bekam alles das, was ihr kleines Herz nur begehrte. Vermißte nur ab und zu den Vater, der als Inhaber eines großen, gutgehenden Geschäftes viel unterwegs war. Und kam er nach Hause, hatte er kaum Zeit für Weib und Kind. Sie spielten in seinem Leben eine Nebenrolle, zuerst kam für ihn sein Unternehmen. Dafür hetzte und jagte er, gönnte sich kaum eine Stunde Ruhe, bis dann kam, was bei so einem gehetzten Leben kommen mußte: Der noch nicht Fünfzigjährige erlag einem Herzschlag.
Dieser plötzliche Tod berührte die Gattin nicht allzusehr. Denn erstens hatte sie ihren Mann, der zwanzig Jahre mehr zählte als sie, nicht aus Liebe geheiratet – und dann war er ihr durch seine fast dauernde Abwesenheit beinahe fremd geworden.
In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte sie sehr darunter gelitten, doch langsam resignierte sie. Ihr ganzes Glück war ihr Kind, die bildhübsche, sonnige Silje.
Bis Frau Rena zwei Jahre nach dem Tod des Gatten den Geiger Thomas Brecht kennenlernte – da gab es noch ein anderes Glück für sie. Der leichtentflammte Künstler verliebte sich sozusagen Hals über Kopf in die Witwe, war von ihrer Madonnenschönheit wie berauscht. Und da auch ihr Herz dem Mann gleich beim ersten Sehen zuflog, wurde schon wenige Wochen später aus beiden ein seliges Paar.
Und nun begann für Frau Rena ein glückvolles Leben. Alles, was sie in ihrer ersten Ehe so schmerzlich vermißt hatte, wurde ihr in der zweiten in verschwenderischem Maß zuteil. Stets begleitete sie den Gatten auf seinen Konzertreisen, und daß Silje, die damals elf Jahre zählte auch mitkam, war eine Selbstverständlichkeit. Denn der Stiefvater liebte die Kleine zärtlich, und auch sie hing sehr an ihrem Paps.
Die Schulbildung des Kindes machte den Eltern keinen Kummer. Es bekam eine Hauslehrerin, und damit gut! Ein Glück, daß Silje leicht begriff, sonst hätte sie bei dem unruhigen Leben von Stadt zu Stadt, von Land zu Land nicht viel gelernt. So jedoch bewältigte sie das vorgeschriebene Pensum spielend und erlernte die verschiedenen Sprachen überall im Lande selbst.
So ging es drei Jahre, dann war die Zeit des Ruhmes für den Geiger vorbei. So steil sein Anstieg erfolgt war, so rapide ging es jetzt bergab. Er war eben zu sorglos gewesen. Hatte geglaubt, daß er immer der beliebte und umschwärmte Künstler bleiben müßte, ohne daß er sein Können vervollständigte.
Zuerst ärgerte und empörte ihn sein Abstieg, doch dann wurde er gleichgültig. Ach was, mochten andere dem Ruhm nachjagen! Ihn ekelte das plötzlich an. Geld hatte er ja genug, also was konnte ihm schon passieren?
Allein, bei dem verschwenderischen Leben, das er mit seiner kleinen Familie nach wie vor führte, schmolz sein Reichtum rasch dahin. Und als er eines Tages gewissermaßen pleite war, tröstete seine Frau ihn damit, daß ja auch sie über einen ganz netten Batzen verfügte. Sie hatte nach dem Tod ihres ersten Mannes das Geschäft verkauft und war auch sonst noch vermögend. Bedingungslos gab sie dem leichtsinnigen Gatten das Geld in die Hände, das er dann auch in gar nicht langer Zeit durchbrachte, wie er seine hohen Gagen und sein Erbe, das ihm der Vater schon längst auszahlte, bereits durchgebracht hatte. Es kam schließlich so weit, daß er nur noch einige tausend Mark besaß.
Und da griff Silje ein, die mittlerweile sechzehn Jahre alt geworden war. Sie bewog die ratlosen Eltern dazu, in ihre Heimatstadt zurückzukehren, was dann auch geschah. Dort verkaufte man die Villa und bezog eine kleine Wohnung, die man behaglich ausstattete. Alles andere aus der reichen Einrichtung des komfortablen Hauses wurde mit verkauft.
Nun hatte man Geld und konnte wieder einmal herrlich und in Freuden leben. Die Warnung Siljes, die trotz ihrer Jugend und Verwöhnung viel vernünftiger war als die Eltern, doch mit dem Geld hauszuhalten, wurde lachend in den Wind geschlagen. Ach was, eine Weile konnte man von dem Geld schon leben. Außerdem würde der Geiger Stunden geben und damit schon den Lebensunterhalt für sich und die Seinen verdienen.
Darauf jedoch wollte die skeptische Silje sich denn doch nicht hundertprozentig verlassen. Also setzte sie bei den Eltern durch, daß sie eine Handelsschule besuchen durfte. Und kaum daß sie diese absolviert hatte, stand man in der kleinen komfortablen Wohnung vor dem Nichts – und diesmal endgültig.
Denn Thomas Brecht hatte nach einer bösen Blutvergiftung, die fast das Leben kostete, zwei Finger seiner linken Hand eingebüßt – als gar noch bald darauf die heißgeliebte Gattin nach einer schweren Operation starb, war der Lebensmut des einst so strahlenden Mannes gebrochen. Er vegetierte nur noch dahin. Ließ sich von seiner Stieftochter, die eine Stellung gefunden hatte, von dem kleinen Gehalt mit unterhalten. Lebte nur noch auf, wenn Silje auf seiner kostbaren Geige, die sie wie ein Heiligtum hütete, musizierte. Dann gab er sich dem Wahn hin, daß seine sehr begabte Schülerin den Ruhm erlangen könnte, der einst ihm beschieden war.
Aber dafür reichte das Können Siljes doch nicht aus. Zumal ihr die Zeit dazu fehlte, genügend zu üben und sich vollständig auf die Musik zu konzentrieren.
Denn sie mußte ja tagsüber im Büro arbeiten, und wenn sie nach Haus kam, noch den kleinen Haushalt versehen. Hinterher war sie so müde, daß ihr wahrlich die Lust fehlte, noch stundenlang auf der Geige zu üben.
So kam ihr Spiel zwar erheblich über den Dilettantismus heraus, genügte aber dennoch nicht, um von Kunstexperten anerkannt zu werden.
Und da das Schicksal es nun einmal darauf abgesehen hatte, die kleine Familie, die einst vom Glück so sehr begünstigt war, niederzuzwingen, verlor Silje auch noch ihren Posten als Stenotypistin in der Fabrik.
Nicht durch Unfähigkeit oder Pflichtverletzung, sondern weil der Juniorchef und Abteilungsleiter sich eine handgreifliche Abfuhr bei der empörten Angestellten holte, als er sie mit einer Liebesbezeugung belästigte.
Denn Silje Berledes war das, was man ein bildschönes Mädchen nennt, dazu voll Grazie und Charme. Es ging etwas ungemein Stolzes, strahlend Reines von ihr aus – und das reizte den skrupellosen Verführer unbeschreiblich. Doch nachdem er die Ohrfeige weg hatte – und zwar in Gegenwart der anderen Stenotypistinnen im Saal –, kannte seine Wut keine Grenzen.
Und wie sagt ein volkstümliches Sprichwort: Wenn man den Hund schlagen will, findet sich auch der Stock.
Nun, der Stock fand sich – und die Stenotypistin Silje Berledes wurde fristlos entlassen.
Jetzt hieß es für sie, mit der kargen Arbeitslosenunterstützung nicht nur sich, sondern auch ihren Stiefvater durchzubringen. Das tapfere Mädchen tat’s – und war schier verzweifelt, als er ernstlich zu kränkeln begann. Da zählte sie nicht mehr die Pfennige ab, machte Schulden, um ihren geliebten Kranken nur ja päppeln zu können. Und als er dann doch einer schweren Lungenentzündung, die plötzlich hinzukam, erlag, wußte die verzweifelte Silje nicht, wie sie dem Toten ein würdiges Begräbnis geben sollte.
Also verkaufte sie kurzentschlossen die kleine Wohnung an ein junges Ehepaar, begrub den Stiefvater, bezahlte die Schulden und bezog dann das erste beste möblierte Zimmer, das sich ihr bot. Zwar war es erbärmlich, kostete aber dafür auch nicht viel – und das war für Silje ausschlaggebend. Denn sie mußte mit dem wenigen Geld, das ihr noch geblieben war, haushalten auf lange Sicht.
Eine Woche später brach sie dann zusammen und kam ins Krankenhaus.
*
Erschrocken fuhr Silje aus tiefem Schlaf auf und starrte verständnislos um sich. Was war geschehen – wie kam sie hierher – auf den Sitz dieses komfortablen Autos?
»Nun, Kleine, starr mich nicht so entsetzt an!« hörte sie nun eine lachende Männerstimme. »Wir sind angelangt.«
»Wo angelangt?«
»Zu Hause.«
»Zu Hause –?« lauschte sie den Worten nach. »Ach, sowas gibt’s ja gar nicht mehr für mich. Lassen Sie mich doch schlafen – ich bin ja so müde…«
Damit legte sie sich mit einem tiefen Seufzer zurück und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein, wie man so sagt. Doch gleich darauf schreckte sie wieder auf, denn ein starker Arm hob sie aus dem Wagen und stellte sie behutsam auf die Füße.
»Na, nun mal hoppla!« sprach dieselbe Stimme jetzt ermunternd, und da war Silje endlich wach.
»Entschuldige, Onkel Philipp«, sagte sie hastig. »Ich war wirklich noch schlaftrunken…«
»Hab ich gemerkt. Und nun mal’rein in die gute Stube! Vertrau dich unserm Philchen an, dann bist du bestens aufgehoben.«
Wer dieses Philchen war, sollte Silje erst zum Bewußtsein kommen, als sie sich in einem traulichen Gemach befand, in das sie durch die Halle und über die Treppe hinweg gelangte. Nun stand sie vor einem zierlichen weiblichen Wesen, das freundlich zu ihr sprach:
»Kipp nur nicht aus den Schlorrchen, du kleines elendes Wurm! Setz dich hier auf den Diwan, für alles andere sorge ich dann schon.«
Und Philchen tat’s. Ehe Silje sich recht versah, lag sie ausgekleidet in einem Bett, das weich und mollig war. Und ehe sie noch einen klaren Gedanken fassen konnte, schlief sie schon wieder tief und fest, während der Herr des Hauses seine Familie aufsuchte, die sich, außer der dazugehörigen Philine, im Wohnzimmer befand.
Da war zuerst einmal die Gattin des Hünen, eine stille, feine Frau mit gütigem Gesicht unter weißem Haar, dann die Tochter Thea, eine üppige Blondine von vierunddreißig Jahren, die vor Jahresfrist verwitwet war und nun mit ihrem achtjährigen Töchterchen wieder im Elternhaus lebte, weil sie nach dem Tod des Gatten vor dem Nichts stand.
Denn auch sie hatte dem geliebten Mann ihre reiche Mitgift bedingungslos in die Hände gegeben, die dieser jedoch erst angriff, als das Rauschgift ihn erbarmungslos in seinen Krallen hielt. Außerdem mußte man in den letzten Jahren von dem Geld noch leben, weil der Privatdozent seinen eigentlichen Beruf aufgeben mußte. Und was er dann mit kleinen schriftstellerischen Arbeiten verdiente, war gewiß nicht viel. Er siechte langsam dahin, und als er starb, mußten Frau und Kind im Hadebrecht-Haus Zuflucht suchen.
Thea war eine phlegmatische Natur und gefiel sich darin, in »höheren Regionen zu schweben«. Konnte aber auch wiederum recht erdgebunden sein, wenn es um Geld ging. Sie hatte immer Angst, irgendwie zu kurz zu kommen.
Also hatte das Ehepaar Hadebrecht an dieser Tochter nicht viel Freude. Nur ihr Jüngster, der jetzt dreißigjährige Eike, war so geworden, wie die Eltern es erhofften – bis auf seine Ehe, damit machte auch er ihnen Kummer.
Sie paßte aber auch gar nicht zu dem ernsten, zielbewußten Mann, die brünette, kapriziöse Ilona, die sich den »schönen Eike« nun mal in ihr eigenwilliges Köpfchen gesetzt hatte und ihn dann auch nach – vielen geschickten Bemühungen einfing. Denn der damals Sechsundzwanzigjährige, der gerade seinen Dr. jur. gemacht hatte, war noch zu wenig Frauenkenner, um die listige Ilona zu durchschauen. Ihm gingen erst die Augen nach der Hochzeit auf – und zwar schon bald.
Ilona jedoch war zuerst so richtig glücklich, bis sie dann merkte, daß der Gatte sich nicht von ihr beherrschen ließ, wie sie erwartet hatte. Da begann sie, ihm Szenen zu machen, die aber an seiner Gelassenheit abprallten wie an einem Felsen.
Außerdem behagte der launenhaften, sehr verwöhnten Ilona das Leben in dem Hadebrecht-Haus nicht, das so ganz von dem Willen ihres Schwiegervaters beherrscht wurde. Sie konnte diesen »Despoten« nicht ausstehen und setzte ihm immer Widerstand entgegen, wobei sie jedoch stets den kürzeren zog. Und wenn sie dann vor Wut zu platzen glaubte, packte sie ihre Koffer und reiste zu ihren Eltern, die ständig unterwegs waren, schloß sich ihnen an – um schon nach einigen Wochen wieder plötzlich im Hadebrecht-Haus aufzutauchen.
Für eine Weile fand sie es dann ganz erträglich in dem »Eulennest«, wie sie das komfortable Haus oft in ihrer Wut nannte – bis sie ihm wieder entfloh. Also ein ewiges Auf und Ab, das von dem Gatten nebst seiner Familie schon längst nicht mehr tragisch genommen wurde.
Nicht einmal von dem jetzt zweieinhalbjährigen Töchterchen, das die Mutter durchaus nicht vermißte, weil es im Schoß der Familie so viel Liebe fand, wie sie ein Kind nun einmal haben muß, um recht gedeihen zu können.
Heute jedoch war Ilona anwesend und hörte mit an, was der Herr des Hauses seiner Familie zu sagen hatte. Daß er die Stieftochter seines verstorbenen Sohnes ins Haus holen wollte, hatte er kurz vor seiner Abfahrt bereits erklärt. Jetzt erzählte er knapp, wie er das Mädchen vorgefunden hatte und daß es nach dem schweren Nervenfieber erst mal guter Pflege und gründlicher Erholung bedurfte.
»Also, nun wißt ihr Bescheid«, schloß er seinen Bericht. »Ich bitte mir aus, daß ihr der Kleinen freundlich entgegenkommt, die jetzt hier ihr Zuhause haben soll. Habt ihr mich verstanden?«
Wie bei einem grimmigen Feldherrn schossen seine Blicke unter den buschigen Brauen hervor, so daß man nicht aufzumucken wagte. Nur Ilona, die schien sich dieser »Despotie« wieder einmal nicht beugen zu wollen. Die dunkelgrauen Augen funkelten vor Aufsässigkeit, über die rotlackierten Lippen kam es entrüstet:
»Du kannst doch unmöglich von uns verlangen, Papa, daß wir diesem hergelaufenen Mädchen…«
»Halt den Mund!« fuhr der Mann hart dazwischen. »Hier geschieht, was ich anordne. Wenn dir das nicht paßt, kannst du ja wieder mal deine Koffer packen!«
»Philipp –«, mahnte die Gattin leise, und da wandte er unter ihrem bittenden Blick den seinen ab.
»Ist doch wahr!« brummte er. »Es ist einfach eine Infamie, das Mädchen als hergelaufen zu bezeichnen, das die Stieftochter meines verstorbenen Sohnes ist und einem untadeligen Haus entstammt. Die Kleine hat sich doch wirklich vornehm genug benommen, indem sie diesen Stiefvater, den sie hätte eigentlich verachten müssen, weil er sie durch seine Verschwendungssucht an den Bettelstab brachte, mit ihrer Hände Arbeit unterhielt. Die gar noch die Wohnung verkaufte, um ihm ein anständiges Begräbnis geben zu können, und selbst in einer Elendsbude unterkroch. Ich glaube nicht, daß sie mir so widerstandslos hierher gefolgt, wenn sie nicht so erbärmlich schwach und elend wäre. Denn Thomas hat ja in seinem Abschiedsschreiben ausdrücklich bemerkt, daß seine Stieftochter sehr stolz und eigenwillig ist. Die wird sich bestimmt nichts von uns schenken lassen, darauf könnt ihr euch verlassen!«
Nach diesen scharfen Worten wagte selbst Ilona nichts mehr zu sagen. Die Kinder saßen eingeschüchtert da, weil sie ihren sonst so guten Opapa jetzt fürchteten; selbst die altkluge, von ihrer Mutter sehr verzogene Anka. Sie folgten ihrem Fräulein gern, das eben eintrat, um ihre beiden Schutzbefohlenen zum Abendessen zu holen und hinterher ins Bett zu bringen. Artig sagten sie Gute Nacht, wobei sie sich nur zögernd dem Großvater näherten. Als dieser sie jedoch freundlich anlachte, trollten sie zufrieden an der Hand ihres Fräuleins ab.
Es wurde nun nicht mehr von Silje Berledes gesprochen. Jeder scheute sich, in Anwesenheit des Hausherrn das heikle Thema zu berühren.
Erst als der Gestrenge nach dem Abendessen zum Stammtisch, der jeden Sonnabend stattfand, in die Stadt fuhr, wagte man wieder über den Zuwachs im Hause zu sprechen.
»Ich glaube, mit dieser Silje werden wir noch viel Ärger haben«, seufzte Thea.
»Ich weiß gar nicht, warum Papa sich so sehr für das fremde Mädchen einsetzt! Ja, wenn es noch die leibliche Tochter von Thomas wäre – aber so geht sie uns doch wirklich nichts an. Laß diesen spöttischen Blick, Eike, du machst mich damit nervös. Du hättest besser getan, Papa auszureden, das Fräulein ins Haus zu holen, statt ihn noch darin zu bestärken.«
»Aber Thea!« mahnte die Mutter leise. »Vergißt du denn ganz, daß Thomas kurz vor seinem Tode den Vater flehentlich bat, sich seines verlassenen Stiefkindes anzunehmen?«
»Ach was, Thomas hatte gar nichts mehr zu verlangen«, ereiferte Thea sich immer mehr. »Er hatte doch schon längst sein Erbe weg. Und da ist es eine Zumutung von ihm, uns seine Stieftochter aufzuhalsen, die nun Papa auch noch auf der Tasche liegt.«
»Eben –«, lächelte der Bruder ironisch. »Das ist nämlich bei dir der springende Punkt. Aber darf ich dich daran erinnern, daß auch du schon längst dein Erbe erhieltest – und du nun auch deinem Vater auf der Tasche liegst, sogar noch mit deiner Tochter?«
Zuerst starrte sie ihn verblüfft an, dann fuhr sie empört auf.
»Ich verbitte mir deine Anzüglichkeiten, hast du mich verstanden? Ich bin schließlich hier die Tochter des Hauses.«
»Köstlich!« lachte Ilona amüsiert dazwischen. »Der Streit um das fremde Mädchen ist bereits entbrannt. Schade daß der gestrenge Herr und Gebieter dieses Hauses ihn nicht mit anhören kann der würde genauso wettern, wie er es vorhin bei mir tat. Nur daß ich den Mut hatte, ihm ins Gesicht zu sagen, was ihr jetzt feige hinter seinem Rücken tut.«
»Kinder, so gebt doch Ruhe!« bat die Mutter kläglich. »Ihr wißt genau, daß Vater trotz eures Protestes doch tut, was er will. Und er tat recht, daß er Fräulein Berledes herholte. Sie ist doch das Vermächtnis von Thomas an uns –«
Bitterlich weinend drückte sie das Gesicht in die Hände, und da schwiegen die anderen betreten still.
*
Drei Tage waren vergangen, nachdem Silje Berledes ins Hadebrecht-Haus kam. Sie hatte diese Zeit mit Essen und Schlafen verbracht und dabei Körper und Nerven wunderbar gestärkt. Doch nun wurde der Schlaf bei Tag immer kürzer, und sie begann sich zu langweilen.
»Das ist gut«, behauptete Philchen, die ihre Schutzbefohlene immer noch liebevoll betreute. »Langeweile ist der beste Heilfaktor.«
»Aber schwer zu ertragen.«
»Nun, so wollen wir für Abwechslung sorgen. Sag mal, was befindet sich eigentlich in diesem unförmigen Paket? Ich bin sonst gewiß nicht neugieriger, als es einem weiblichen Wesen zukommt, aber dieses Monstrum da habe ich direkt zu suggerieren versucht.«
»Wenn du Mut hast, öffne die mysterlöse Angelegenheit – aber mache dich auf alles gefaßt«, blitzte Silje sie mutwillig an.
»Mädchen, mir wird ganz gruselig. Nichtsdestotrotz – die Neugierde ist stärker.«
Damit griff sie zur Schere und war eifrig bemüht, die feinen Stiche zu durchschneiden. Wie ein Geduldspiel empfand sie es – und sah dann fast andächtig auf den Geigenkasten, den die Hülle endlich entblößte.
»Die Geige von Paps«, kam eine tränenerstickte Stimme vom Bett her. »Ich habe sie auch noch als Heiligtum gehütet, als schon längst bei uns Schmalhans Küchenmeister war. Die Geige ist mein kostbarster Besitz.«
Verstohlen wischte Philchen die Tränen fort, die ihr über die Wangen liefen, und versuchte, ihrer Stimme Festigkeit zu geben. Fast burschikos klang es, als sie fragte: »Und was befindet sich in dem schäbigen Kasten?«
»Darin liegen die wenigen Schmuckstücke, die meine Mutter bis zu ihrem Tod trug. Alles andere wurde verkauft.«
So, so –«, tat Philchen gleichmütig, hob den Deckel von der wirklich schäbigen Pappschachtel – und erblickte darin ein kostbares Medaillon an einer Platinkette, ein schwergoldenes Armband und einen Ring mit einem Kleeblatt aus Smaragden, eingefaßt von Brillanten. Eine wundervolle Arbeit, die schon allein dem aparten Schmuckstück großen Wert verlieh.
»Mehr nicht?« fragte Philchen trocken, und da mußte das Mädchen trotz seines Kummers lachen.
»Tante Philchen, du verlangst aber auch gar zu viel von meiner Armseligkeit! Die Geige mit dem Schmuck zusammen bedeuten immerhin ein Vermögen.«
»Hm – na ja. Kannst du nun wenigstens auf der Geige spielen, die du wie ein Zerberus zu hüten scheinst?«
»Und ob!« strahlte es jetzt in den blauen Mädchenaugen auf. »Mein Paps hat mir doch Unterricht erteilt. Und er war ein großer Künstler – wenn das in diesem Hause auch nicht anerkannt wird.«
»Das mußt du Grünschnäbelchen ja wissen«, brummte Philchen. »Schwing hier nicht so große Töne, spiel mir lieber etwas vor. Aber nicht so was Hochgeschraubtes, das kann mein einfältiges Gemüt nicht fassen.«
Behutsam, als ob sie ein Heiligtum berührte, hob sie die Geige aus dem weichen Samt und reichte sie dem Mädchen hin, das dieses Kleinod ebenso behutsam entgegennahm. Um den Mund zuckte es wie verhaltenes Weinen, als Silje das Kinn an das glatte Holz legte, den Bogen ergriff und ihn leicht und federnd über die Saiten führte. Zuerst klang das Spiel noch unsicher und verworren, doch allmählich kristallisierte es sich zu klaren, weichen Tönen.
»Leise flehen meine Lieder –«, klang die unvergessene Weise Schuberts süß durch das Gemach, und Philchen lauschte wie gebannt. Sie hinderte die Tränen nicht, die ihr über die Wangen liefen, in großen, glitzernden Tropfen – –
Die Erinnerung kam. Greifbar nahe sah Philchen den strahlend schönen Jüngling Thomas vor sich, der diese Weise so oft und gern spielte – diese Weise, die auch Philchen in ihrer Jugendblütezeit erklungen war, von Meisterhand hervorgezaubert. Denn auch er war ein Geiger gewesen, den sie mit achtzehn Jahren so schwärmerisch liebte – und der diese Liebe lachend abtat, um in die Welt hinauszustürmen und dort Ruhm zu erringen.
Wie lange war das her? Vierundvierzig Jahre. Doch dem erschüttert lauschenden Philchen kam es vor, als wäre es gestern gewesen.
Und dann hatte der Neffe Thomas wieder diese Weise gespielt und damit das Herz der Tante gewonnen. Sie war ihrem Zwillingsbruder Philipp bitter gram, daß er das Talent seines ältesten Sohnes nicht anerkennen, ihn durchaus zwischen Ziegel und Zement zwingen wollte. Aber Thomas ließ sich nicht halten. Genauso wenig, wie der andere sich von der Liebe des Jungfräuleins Philchen halten ließ.
Und auch Thomas war in die Welt hinausgestürmt – um auch, wie der andere, zu verderben und zu sterben? Wohl nicht ganz. Denn Thomas Brecht war immerhin sechsunddreißig Jahre alt geworden, hatte Ruhm errungen, hatte Liebe gegeben und genommen, ehe die Götter ihn abriefen in ihr Reich.
Philchen schreckte aus ihrer schmerzlichen Vergangenheit auf, als das herrliche Spiel verklang. Wie hilflos stand es da, das zweiundsechzigjährige Fräulein, das in seiner Jugend alle anderen Männer, die sich ihm werbend nahten, ausschlug um des einen willen – –
Ganz langsam, Schritt für Schritt, näherte sie sich dem Bett, von dem aus die junge Silje ihr mit bangen Augen entgegensah. Zart legten sich die weichen Mädchenarme um den Hals der Alternden, und eine tränenerstickte Stimme fragte:
»Habe ich dir mit meinem Spiel wehgetan, du liebes Tantchen?«
»Ach was, wohlgetan hast du mir!« polterte das resolute Philchen noch den letzten Rest von Wehmut fort. »Du kannst was, Mädelchen. Schule von deinem Paps?«
»Ja. Er wollte eine Künstlerin aus mir machen, aber leider reichte mein Können dafür nicht aus.«
»Ein Glück, daß die Kunst dich nicht unterjochen konnte. Es lebt sich ohne diesen Wahnwitz entschieden ruhiger und besser, mein Kind. Laß dich womöglich nicht doch noch in diese Klauen kriegen!«
»Keine Angst!« lachte Silje. »So kunstbesessen bin ich nicht. Mir genügt schon das, was ich kann.«
»Und das ist gewiß nicht wenig, Herzchen. Wenn das Eike wüßte, wie wunderbar du Geige spielen kannst, er würde vor Neid erblassen.«
»Wer ist denn Eike?« fragte Silje neugierig, und Philchen lachte.
»Ach so, den kennst du ja noch nicht. Eike ist der jüngere Bruder deines Paps, der auch wie dieser von Euterpe geküßt ist, wie es so schön heißt. Doch nur fürs Klavier, zur Geige langt der Kuß nicht. Aber das treibt er nur so nebenbei. Seine Hauptbeschäftigung gilt den Ziegeln und dem Zement.«
»Komische Zusammensetzung!« lachte Silje fröhlich, und Philchen sah sie erstaunt an. »Wieso? Ziegel und Zement vertragen sich doch gut.«
»Aber nur als Bausteine – nicht als Anhänger der Muse.«
»Mädchen, du bist mir zu spitzfindig. Laß ab von den Musen, sag mir lieber, was du essen willst.«
»Schon wieder mal? Ich komm mir ohnehin schon wie genudelt vor.«
»Wenn übertreiben – denn richtig. Vorläufig kann von Nudeln noch gar keine Rede sein.«
»Sag mal, Tante Philchen, wie lange gedenkst du mich eigentlich noch im Bett zu halten?«
»Bis du kräftig genug bist, um fest auf deinen jetzt noch zitternden Beinchen zu stehen. Solange bleibst du in diesem Gewahrsam.«
»Och, so übel ist das auch nicht«, streckte Silje sich wohlig im Bett. »Tante Phileleinchen, wie schön ist es doch, daß es dich gibt!«
»Darüber freu’ ich mich auch immer«, kam die Antwort so trocken, daß Silje sich vor Lachen ausschütten wollte. Mit versteckter Rührung sah Philchen in das jetzt so strahlende Gesicht des jungen Menschenkindes, das der Bruder ihr erst vor einigen Tagen so warm ans Herz gelegt hatte.
Nun, er konnte mit ihr zufrieden sein, denn ihre Betreuung hatte Wunder gewirkt.
*
Eine Woche insgesamt dauerte die »Haft« Siljes, doch dann ließ sie sich nicht mehr länger darin halten. Sie drängte hinaus voll Ungeduld.
»Na schön, steh auf«, gab Philchen nach. »Aber wehe, wenn du schlapp machst, dann kennt mein Zorn keine Grenzen!«
Allein Silje machte durchaus nicht schlapp. Sie fühlte sich im Gegenteil so gekräftigt, daß Philchen sich entschloß, ihren Schützling jetzt endlich mit nach unten zu nehmen. Wohlweislich verschwieg sie dem Mädchen, was es erwartete. Ganz ohne Vorurteil sollte es in den Kreis derer treten, zu denen es fortan gehören sollte.
Also trat Silje Berledes am Sonntagvormittag in das Wohngemach, in dem die Familie Hadebrecht versammelt war.
Es herrschte an diesem Novembertag ein fahles Licht in dem weiten Raum. Aber schien es nicht plötzlich heller zu werden, als das fremde Mädchen auftauchte? Woran mochte das liegen? An dem zartfarbenen Kleid, den leuchtendblauen Augen, dem lichtbraunen Haar über das Goldfunken gestreut zu sein schienen? Es mußte wohl so sein. Denn die Miene Siljes war gewiß nicht strahlend. Es lag im Gegenteil etwas stolz Abweisendes auf dem jungen Antlitz, das noch immer ein wenig blaß war.
Hier bringe ich euch meinen bisher so streng behüteten Schatz«, sprach Philchen munter in die beklemmende Stille hinein. Die Herren erhoben sich von ihrem Sitz und schauten ebenso gespannt wie die anderen auf Silje, die zögernd auf die Frau des Hauses zuging.
»Willkommen bei uns!« bemühte sich die Dame einen herzlichen Ton anzuschlagen, was jedoch nicht ganz gelang. Denn sie war durch die Erscheinung des Mädchens so überrascht, ja geradezu befremdet. Sie hatte ein kümmerliches, hilfloses Wesen erwartet – und nicht eine solche Schönheit mit dem selbstsicheren Auftreten und der stolzen Abwehr.
»Danke –«, entgegnete Silje leise während sie sich artig über die feine Frauenhand neigte. Die Bewegung hatte etwas Zwangloses und Natürliches, wie es nur junge Mädchen haben können, die sich von Kindheit an in der besten Gesellschaft bewegten.
»Der Anfang wäre ja nun mit der Frau des Hauses gemacht«, bemerkte Philchen trocken. »Nun weiter, mein Herz. Das ist meine Nichte, Frau Grotner, dies die Frau meines Neffen, hier er selber – na, und den Herrn vom Ganzen kennst du ja schon. Und nachdem nun alles geklärt ist, wollen wir uns gemütlich hinsetzen.«
Damit drückte sie Silje in einen der tiefen Sessel, setzte sich in den danebenstehenden, und nun nahmen auch die beiden Herren ihre Plätze wieder ein.
»Potztausend, Marjellchen, du hast dich in der einen Woche ganz wunderbar herausgemacht!« blinzelte der Senior sein Mündel vergnügt an. »Da hat dich unser Philchen ja ganz nett aufgepäppelt –«
»Ja – und deshalb bitte ich dich um Arbeit, Onkel Philipp«, warf sie hastig ein. »Du versprachst mir doch – –«
»Man immer sachte mit den jungen Pferdchen!« unterbrach er sie nun seinerseits. »So weit bist du wohl noch lange nicht – oder – – ?«
»Doch, frag nur Tante Philchen!« ging der Blick der wunderschönen Blauaugen flehend zu der Genannten hin, die ihr ermunternd zunickte.
»Also, Philipp, tu ihr den Gefallen. Anders gibt sie ja doch keine Ruhe.«
»Hm – wollen mal sehen. Was meinst du dazu, Eike?«
»Das überlasse ich dir, Vater«, klang nun eine sonore Männerstimme auf, der Silje nachlauschte wie einem Ton in Moll.
Ihr Blick streifte den Mann, der zwanglos im Sessel lehnte und die Fingerspitzen gegeneinander tippte.
Er hat Ähnlichkeit mit Paps – stellte sie rasch fest. Nur seine Gestalt ist höher und sportgestählt, das Gesicht härter geschnitten, hauptsächlich der Mund, die Augen sind blauer und kühler, das Haar blonder. Es haftet ihm etwas von einem Herrenmenschen an, während der Paps ein wenig sensibel wirkte – –
Weiter kam sie nicht in ihren verstohlenen Betrachtungen, denn die beiden Kinder traten ein. Doch ehe einer von den Erwachsenen noch zu Wort kommen konnte, sprach schon das altkluge Töchterlein Theas:
»Sie sitzen mit hier, Fräulein? Aber wir wollen Sie doch gar nicht haben –«
»Anka!« rief der Großvater streng dazwischen. »Was redest du denn da für einen Unsinn zusammen?!«
»Aber Mami sagt das doch – und auch Tante Ilona«, wurde das vorher so kecke Stimmchen ganz kläglich. Sie eilte zur Mutter und schmiegte sich ängstlich an sie, die sie wie schützend umfaßte.
»So ist’s richtig«, grollte der Senior. »Hätschle das vorlaute Gör nur noch, anstatt ihm den Schnabel zu beklopfen!«
»Aber Papa, Anka ist doch ein Kind!«
»Eben – und daher muß es erzogen werden.«
»Ute is aber atig«, bemerkte jetzt die noch nicht ganz Dreijährige. »Nis, Opa?«
»Na hoffentlich!« zwinkerte er dem reizenden Mägdlein zu, das sich zutraulich zwischen seine Knie schob. »Dein Schnäbelchen kann manchmal auch recht fürwitzig sein.«
»Dann tieg ich eins dauf, sagt Papi…«
Über diese trockene Bemerkung mußten die Erwachsenen lachen.
Und sie taten es gern, um die Peinlichkeit zu überbrücken, welche die Bemerkung der vorlauten Anka hervorgerufen hatte.
Man quälte sich noch ungefähr eine Viertelstunde mit einem nichtssagenden Gespräch ab, dann sagte Philchen:
»Hopp, mein Mädchen, nach oben mit dir! Dein Antrittsbesuch ist beendet. Mehr kann man deinen immer noch angegriffenen Nerven nicht zumuten.«
Gehorsam erhob sich Silje. Eine leichte, zwanglose Verneigung, dann verließ sie mit Philchen das Zimmer. Und kaum daß sie außer Hörweite waren, lachte Thea verärgert auf.
»Lieber Himmel, die tut ja so, als wäre sie Majestät in Person!«
»Was deine ungezogene Tochter sehr interessieren wird«, fuhr der Senior unwirsch dazwischen. »Raus mit euch, ihr Kleinzeug! «
Eingeschüchtert trollten die Kinder ab und nun wandte sich der gereizte Mann an Tochter und Schwiegertochter.
»Ihr sollt euch mal was schämen!Wenn ihr eure spitzen Zungen durchaus wetzen wollt, dann tut es wenigstens nicht in Gegenwart der Kinder. Was hat euch denn das Mädchen getan, daß ihr es so anfeinden müßt?«
»Wir feinden es ja gar nicht an«, antwortete Ilona schnippisch, während Thea die gekränkte Miene aufsetzte, die man so gut an ihr kannte. »Wir sind nur der Ansicht, daß es hier nichts zu suchen hat.«
»Ach, sieh doch mal einer an!« kniff der Mann die Augen zu und betrachtete das kapriziöse Persönchen ironisch. »Dann werdet ihr euch wohl zu einer anderen Ansicht bekehren müssen. Vorläufig bin nämlich ich immer noch der Herr im Hause und kann darin aufnehmen, wen ich will. Und wenn ihr da noch so sehr Gift und Galle speit – das Mädchen bleibt! Es hat nämlich ganz genau dasselbe Recht, hier zu sein, wie ihr beiden Mißgünstigen.«
»Na, hör mal, Papa, das ist nun wohl ein Irrtum!« widersprach Ilona aufgebracht. »Ich bin die junge Herrin hier und Thea die Tochter des Hauses –«
»Und Silje Berledes ist die Stieftochter meines ältesten Sohnes«, klang es hart dazwischen. »Also rechtlich gesehen meine Stiefenkelin. Noch etwas?«
»Ach, es hat ja gar keinen Zweck, mit dir darüber zu reden«, trotzte Ilona, und ihr Schwiegervater lachte grimmig.
»Eben darum laß es gefälligst bleiben. Schweigen soll ja Gold sein, wie ein Sprichwort sagt. Also beherzigt es in allem, was Silje Berledes betrifft.«
Damit wandte er sich dem Sohn zu, der dem allen schweigend gefolgt war.
»Hör zu, Eike. Ich habe mich entschlossen, die junge Dame in unserem Betrieb zu beschäftigen. Und zwar zuerst einmal als Hilfe meiner Sekretärin, die eine solche gut gebrauchen kann, weil ihr die Arbeit oft zuviel wird.«
»Mir schon recht, Vater«, entgegnete der Sohn ruhig. »Da kann die junge Dame wenigstens nichts verpatzen.«
»Wie meinst du das?«
»Nun, sie ist immerhin Anfängerin – und soviel ich weiß, aus ihrer Arbeitsstelle fristlos entlassen.«
»Jetzt fängst du auch schon an!« brauste der ohnehin schon tiefgereizte Mann auf. »Warum wurde sie wohl entlassen, he? Da zuckst du natürlich mit den Schultern.«
»Was sollte ich denn wohl sonst tun, Vater?«
»Erst einer Sache auf den Grund gehen und dann urteilen. Fräulein Berledes wurde deshalb fristlos entlassen, weil sie die Belästigung des Juniorchefs mit einer Ohrfeige beantwortete.«
»Woher weißt du das denn?«
»Aus dem Abschiedsschreiben von Thomas. Und angesichts des Todes pflegt man nicht zu lügen.«
»Dann allerdings –«
»Na also. Und nun Schluß mit den Anfeindungen gegen das Mädchen!«
Damit ging er hinaus, und Ilona lachte hämisch hinter ihm her.
»Das Interesse an diesem Mädchen – – na, ich will nichts gesagt haben.«
Doch jetzt fuhr die Hausherrin, die vieles still und sanftmütig über sich ergehen ließ, denn doch empört auf.
»Pfui, Ilona, schäm dich! Du hast einen ganz minderwertigen Charakter.«
»Na, das ist denn doch die Höhe!« zeterte die junge Frau in den höchsten Tönen. »Und du sitzt da und läßt deine Frau
beleidigen, mein Herr Gemahl?«
»Verteidige dich doch, du hast ja sonst so ein gutes Mundwerk«, gab er achselzuckend zurück.
Zuerst starrte sie ihn an, dann sprang sie auf und schrie:
»Jetzt hab ich aber genug! Ich fahr zu meinen Eltern!«
»Glückliche Reise«, wünschte der Gatte mit unerschütterlichem Gleichmut.
Da raufte sie sich die Haare, drehte sich wie ein Wirbel um ihre eigene Achse und rannte davon.
»Oh, mein Gott, das ist ja einfach nicht mehr zu ertragen!« jammerte Thea los. »Mit diesem Mädchen ist das Unheil unter unser Dach gekommen. Auch ich gehe – gehe mit meinem Kind hinaus in die Fremde.«
Auch sie entschwand, aber nicht wutentbrannt wie vorhin die Schwägerin, sondern langsam, sehr wehleidig, wie gebrochen.
Schmunzelnd wandte Eike sich an die Mutter, die verstört dasaß.
»Na, Muttchen, willst du nicht auch diese Stätte der Tragik verlassen?«
»Ach, Junge«, klagte sie. »Ich komm mir so vor, als wäre ich unter lauter Irre geraten. Hätte Vater das Mädchen doch nie hierher gebracht! Seinetwegen muß meine eigene Tochter nun das Elternhaus verlassen.«
»Aber Muttchen, wie kannst du dich nur so einschüchtern lassen! Thea wird sich hüten, ihr Drohnendasein aufzugeben. Du kennst sie doch. Wenn sie nicht theatralisch werden kann, ist ihr nicht wohl.«
»Leider ist es so«, seufzte die Mutter. »Und Ilona?«
»Auch sie wird sich besinnen. Wenn nicht, mag sie gehen, daran sind wir nun wahrlich schon gewöhnt. Einige Wochen später ist sie ja doch wieder hier.«
Nun verließ auch er das Zimmer, die Mutter folgte – und so hätte man sagen können: Die Tragikomödie ist aus, der Vorhang fällt.
*
Indes saß Silje in ihrem Zimmer und hatte keine Ahnung davon, welch einen Streit ihr bloßes Erscheinen unten entfacht hatte.
Müde saß sie da, hatte den Arm aufs Knie gestützt, die Hand im Haar vergraben, und sann wehmütig vor sich hin. Bis Philchen eintrat, die sich in ihrem Schlafzimmer, das neben dem Siljes lag, zu schaffen gemacht hatte. Da war es aus mit der Grübelei.
»Na, nun mal nicht so trübsinnig, mein Mädchen!« sagte sie munter. »Du wirst doch nicht so töricht sein und etwas aufgeben wollen, das noch gar nicht richtig begonnen hat! Komm, wir ziehen uns an und gehen in ein Lokal, um dort Mittag zu essen. Denn auch ich habe keine Lust mich unten an den Tisch zu setzen. Laß sie sich in die Haare kriegen, das machen wir nicht mit.«
»Ach, Tante Philchen, es geschieht doch nur meinetwegen!«
»Na, wenn schon. Die Gemüter werden sich schon langsam beruhigen.«
»Es paßt mir aber nicht, hier als Eindringling betrachtet zu werden. Am liebsten ginge ich gleich auf und davon.«
»Ei du, das wage nicht! Dein Vormund holt dich unter Garantie zurück. Der gehört nämlich nicht zu den Menschen, welche die letzte Bitte eines schon
vom Tode Gezeichneten einfach ignorieren. Zumal dann nicht, wenn dieser Mensch noch sein Sohn ist, dem gegenüber er so etwas wie ein böses Gewissen hat. Also wirst du dich schon den Anordnungen deines Vormunds gutwillig fügen müssen. Wie alt bist du überhaupt?«
»Silvester werde ich neunzehn.«
»Ach, sieh mal an, da haben dir deine Eltern nicht den richtigen Namen gegeben. Eigentlich müßtest du Silvesta heißen.«
Da mußte Silje denn doch lachen, so wenig ihr auch danach zumute war.
»Ach, Tante Philchen, wenn ich dich nicht hätte!«
»So freu dich darüber, und höre auf mich. Ich weiß nämlich in unserer lieben Familie gut Bescheid und kann dir somit ratend und helfend zur Seite stehen. Im großen und ganzen sind sie gar nicht so, die Leutchen. Sie wollen sich nur nicht unter den Willen des ›Despoten‹, wie Ilona ihren Schwiegervater zu bezeichnen beliebt, zwingen lassen und mucken auf, sofern er etwas über ihren Kopf hinweg bestimmt. Aber dann haut er mit der Faust auf den Tisch und sagt: ›Ich bin der Herr im Haus!‹ – und schon ducken sich alle wieder, weil sie viel zu feige sind, um seinem Zorn standzuhalten. Was willst du überhaupt, du dummes Ding? Geht es dir hier nicht gut?«
»Das schon – aber ich möchte kein Gnadenbrot essen.«
»Gnadenbrot – wenn ich das schon höre! Das ist doch eine abgedroschene Phrase. Du wirst schon hier kein Gnadenbrot essen, sondern dir dein Brot regelrecht verdienen, indem du im Betrieb deines Vormundes arbeitest. Und daß Angestellte im Hause des Chefs wohnen und auch dort verpflegt werden, der Fall ist doch gar nicht mal so selten.«
»Meinst du, Tante Philchen, daß mein Vormund damit einverstanden sein wird, wenn ich Kost und Logis hier bezahle?«
»Das wird er bestimmt sein. Denn er pflegt den berechtigten Stolz eines Menschen stets anzuerkennen.«
»Hoffentlich verdiene ich so viel, um diese Unterkunft überhaupt bezahlen zu können«, wurde Silje nun wieder zaghaft. »Denn ich gab ja schon für
das Zimmer bei der Pfefferkorn fünfundzwanzig Mark im Monat. Und das war an diesem hier gemessen einfach eine Hundebude. Und die Verpflegung in diesem feudalen Haus wird bestimmt erstklassig sein.«
»Deine Sorgen möcht ich haben!« bemerkte Philchen trocken. »Mein liebes Kind, zerbrich dir dein törichtes Köpfchen nicht. Zieh dich lieber an und komm. Mich hungert nämlich ganz beträchtlich.«
Wenig später verließen sie das Haus, wobei es erst eine kleine Unterbrechung gab. Als sie nämlich aus der Portaltür treten wollte, gedachte Eike Hadebrecht der Juniorchef der stolzen Hadebrechtwerke, dasselbe zu tun. Höflich zog er den Hut und fragte erstaunt:
»Wo willst du denn hin, Tante Philchen? In zehn Minuten ist bereits Mittag.«
»Eben, mein Sohn, daher wollen wir auch unseren Hunger stillen. Aber nicht im trauten Kreise der Familie, sondern außerhalb, damit uns nicht womöglich der Bissen im Hals stecken bleibt. Denn dieses arme Kind hier hat ja noch nicht das Geld, um die Bissen an eurem feudalen Tisch bezahlen zu können. Das bestelle hauptsächlich deiner Schwester Thea.«
Sprach’s, nahm Silje unter den Arm und ließ den Verdutzten stehen, der dann auch Auskunft geben konnte, als der Hausherr bei Tisch fragte, wo denn seine Schwester und sein Mündel blieben. Eike wiederholte wörtlich, was Philchen gesagt hatte, und da lachte der Hüne grimmig auf.
»Das habe ich kommen sehen!«
Es wurde für alle ein recht ungemütliches Mahl, während sich das von Philchen und Silje urgemütlich gestaltete. Das Essen war vorzüglich, der Wein nicht minder, den die Tante bestellte. Schmunzelnd nahm sie wahr, wie die Wangen ihrer Schutzbefohlenen nach dem dritten Glas glühten, wie die Augen glänzten. Mit dem Herzchen zugleich floß auch der Mund über, und als Philchen mit ihrer leichtbedudelten Begleiterin das Lokal verließ, wußte sie genau Bescheid über das neunzehnjährige Leben der Silje Berledes.
Jetzt lag diese wieder im weichen Pfuhl und schlief tief und fest über alle Kümmernisse hinweg.
Philchen ließ das junge Menschenkind, dem ihre Liebe und Sorgfalt gehörte, ruhig schlafen, als der Gong zum Abendessen rief.
»Du kommst allein?« fragte der Bruder kurz. »Wo ist Silje?«
»Sie schläft. Und der Schlaf ist ihr dienlicher als Speise und Trank.« –
Als man nach dem Essen, das wieder ungemütlich verlief, im Wohnzimmer saß, sprach Philchen über das, was ihren Schützling bedrückte.
Aufmerksam hörten der Bruder und die anderen zu, und der Hausherr sagte dann zufrieden:
»Genauso habe ich die Kleine eingeschätzt. Es freut mich wirklich, daß sie sich nichts schenken lassen will, das zeugt nämlich von Charakter. Nun, ihrem Stolz kann Genüge getan werden, sie soll Kost und Logis redlich bezahlen. Was dann von ihrem Gehalt übrigbleibt, ist gewiß nicht viel. Aber bei der Sparsamkeit, die sie ja schon bewiesen hat, wird sie auskommen. Was meinst du, Philchen, ob sie am ersten Dezember, also in vier Tagen, kräftig genug ist, um ihren Dienst versehen zu können?«
»Das glaube ich schon. Was ihr vielleicht an Kraft fehlt, wird der feste Wille ausgleichen.«
*
»Hier, Fräulein Luischen, bringe ich Ihnen Ihren Famulus«, schob Philipp Hadebrecht die errötende Silje seiner Sekretärin zu, die er seit zwanzig Jahren als tüchtige Mitarbeiterin achtete und schätzte. »Nehmen Sie ihn nur tüchtig heran, und betrachten Sie ihn nicht womöglich als Protektionskind!«
»Sollte mir einfallen!« lachte die vierzigjährige Dicke, der die Gemütlichkeit sozusagen aus allen Nähten lugte. »So was gibt’s bei mir nicht. Sinekure ist und bleibt für mich ein Fremdwort.«
Lachend verschwand der Seniorchef im Nebenzimmer, und Silje sah ihm so ängstlich nach wie ein Kind, das von der Mutter in einer fremden Umgebung allein gelassen worden ist.
Das rundliche Fräuleinchen Luischen mit dem gutmütigen Vollmondgesicht bemerkte es und lachte.
»Nun, nun, Kindchen, man nicht so furchtsam! Ihnen geschieht hier nichts. Ich weiß ja, wie Sie unserem verehrten Senior als Vermächtnis des ältesten, tiefbetrauerten Sohnes ans Herz gewachsen sind – aber geschenkt soll Ihnen dennoch nichts werden.«
Da lachte Silje ihr betörendes, goldiges Lachen, das sich dem Luischen sofort in das gute Herz stahl.
»Das will ich ja auch gar nicht. Wie darf ich Sie nennen?«
»Fräulein Luischen«, kam es schlicht zurück. »Das ist nämlich hier mein Ehrentitel. Und nun erzählen Sie mir mal, Kindchen, was Sie alles können.«
»Das ist gewiß nicht viel«, bekannte Silje kläglich. »Zwei Jahre Handelsschule, ein halbes Jahr Praxis, drei Monate Arbeitslosigkeit – aus.«
»Warum Arbeitslosigkeit?«
»Weil der Juniorchef und Abteilungsleiter frech wurde.«
»Wunderbar erklärt!« lachte Luischen gemütlich. »Hat’s geknallt?«
»Und ob!«
»Hach, das freut mich. Mir erging es nämlich einmal ebenso – denn auch ich war einmal jung und schön.«
»Fräulein Luischen, ich glaube, ich habe doch noch ein bißchen Glück«, seufzte Silje, worauf die blauen, in Fett gepolsterten Äuglein sie verständnislos ansahen.
»Wieso das?«
»Weil ich Sie als direkte Vorgesetzte bekommen habe.«
»Ach so – na ja, das ist allerdings immer Glückssache. Und nun wollen wir arbeiten.«
Dazu war Silje gern bereit. Es waren in der ersten Zeit nur leichte Sachen, die sie zugeteilt bekam und die sie spielend erledigte.
Und als der Senior sich bei Fräulein Luischen erkundigte, wie die Helferin sich mache, lachte die Sekretärin über das ganze gute Gesicht.
»Unser Kind hat Köpfchen, Herr Hadebrecht Dabei ist es bescheiden, willig und arbeitssam. Wenn das so bleibt, dann können wir lachen.«
»Und warum sollte es nicht so bleiben?«
»Weil neue Besen immer gut zu kehren pflegen.«
»Ein vortrefflicher Vergleich«, schmunzelte er. »Na, werden wir leben, werden wir sehen.«
Und sie lebten und sahen. Silje arbeitete nun bereits drei Wochen im Betrieb, und noch immer hatte ihr Eifer nicht nachgelassen. Es war ja auch kinderleicht, was Luischen ihrem Famulus zuteilte, aber gerade diese Kleinarbeit half der manchmal überbürdeten Sekretärin viel Zeit sparen.
Silje machte ihre Arbeit Freude, und wenn sie nach Hause kam, wurde sie von Philchen mit Herzlichkeit erwartet. Sie hockten dann zusammen, lachten und schwatzten, waren so ein richtiges Treugespann, wenn auch ein ungleiches.
Um die andern im Hause kümmerten sie sich nicht, kamen nur zu den beiden Hauptmahlzeiten mit ihnen zusammen. Das Frühstück nahmen sie in Philchens Wohnzimmer ein, und der Nachmittagskaffee fiel für Silje aus, weil sie um die Zeit im Dienst war. Nur am Sonnabend und Sonntag nahm sie unten daran teil, wenn auch höchst ungern, obwohl man sie jetzt vollkommen ungeschoren ließ. Auch Thea und Ilona, die damals ihre Drohung nicht wahr gemacht hatten, sondern im Hause geblieben waren. Erstere, weil sie nicht das Geld hatte, um sich eine andere Bleibe zu suchen, letztere, weil alles, was mit Silje Berledes zusammenhing, viel zu interessant war, um sich das entgehen zu lassen. Aber sie sowie Thea hatten sich das hinter die Ohren geschrieben, was der Senior ihnen sagte, und feindeten das Mädchen nicht mehr öffentlich an.
Aber der Schmuck der Mutter, den Silje jetzt täglich trug, stach Thea doch gar zu sehr in die Augen, obwohl sie selbst ganz nett behängt war. Sollte womöglich der Papa dem Mädchen, in das er so vernarrt war – –?
Nun, der Sache mußte sie unbedingt auf den Grund gehen. Doch den Vater zu fragen, wagte sie nicht. Aber Philchen wußte ja auch gut Bescheid. Also legte sie dieser die Frage vor, natürlich nicht im Beisein des Hausherrn und seines Mündels.
»Darauf habe ich schon lange gewartet«, versetzte Philchen trocken. »Nur keine Angst, aus der Hadebrechtschen Schatulle stammen die Kleinodien nicht.«
»Aber sie scheinen doch sehr kostbar zu sein –«
»Scheinen nicht nur, sie sind es wirklich. Vielleicht hat die Kleine sie gestohlen – man kann ja nie wissen. Denn die Seelen der Menschen sind unergründlich, das müßte dir als Poetin doch wohl eingehen. – Warum lachst du denn so niederträchtig, Eike, mein Sohn?«
»Über dein Zünglein, Philchen, das manchmal doch verflixt spitz sein kann.«
»Immer da, wo es angebracht ist, Jungchen! Wie die Frage, so die Antwort.«
»Erlaube mal, Tante Philchen, meine Frage war doch wohl berechtigt!« ereiferte Thea sich jetzt. »Wie Papa erzählt, hat er doch das fremde Mädchen in sehr dürftigen Verhältnissen vorgefunden – und dann der kostbare Schmuck – –«
»Und erst die Geige, die dieses fremde Mädchen besitzt!« warf Philchen ironisch ein. »Ich sage dir, die ist ein Vermögen wert.«
»Aber, mein Himmel, warum verkauft das arme Mädchen die denn nicht?«
»Vielleicht weil es poetisch ist – noch mehr als andere, dafür abgestempelte Leute.«
»Pfui, Tante Philchen, du bist abscheulich!«
»Stimmt, mein Kind, ein böser Erbfehler. Und wer kommt gegen so etwas an? Bei einem ist’s die Niedertracht, beim andern die Mißgunst. Noch etwas?«
Nein, nichts mehr – denn Theachen schwieg, zutiefst gekränkt.
*
Heute war nun Sonnabend, und Silje kam eben erst von ihrem Arbeitsplatz nach Hause, obwohl die Kaffeezeit bereits nahte.
»Jetzt erst kommst du?« empfing Philchen ihren Liebling vorwurfsvoll. »Ich fürchtete schon, du könntest ausgekniffen sein.«
»Keine Angst!« lachte das Mädchen fröhlich. »Das geschieht nicht – jetzt nicht mehr, wo ich doch einen so wunderbaren Posten habe. Es ging heute ein bißchen heiß her. Und da Fräulein Luischen das Dringendste noch erledigen wollte, machte sie nicht pünktlich Schluß – und ich auch nicht. Zwar war es nicht viel, was ich ihr helfen konnte, aber immerhin. Hat Onkel Philipp denn nicht gesagt, daß ich nicht zum Mittagessen kommen würde?«
»Nein, weil er auch nicht dabei war. Er mußte kurz vorher wegfahren. Und ich werde dafür sorgen, daß dir das ausgefallene Essen hier oben nachserviert wird.«
»Bitte nicht! Solch eine Vermessenheit kommt mir in diesem Hause nicht zu.«
»Schaf –«, war alles, was Philchen darauf erwiderte. Doch als sie auf den Klingelknopf drücken wollte, hielt Silje ihre Hand fest.
»Einen Moment, ich habe einen anderen Vorschlag.«
»Und der wäre?«
»Wir gehen in die Konditorei und schlemmen. Ich halte dich sogar frei, Philelinchen. So viel Geld habe ich noch, und am Ersten kommt Nachschub.«
»Das könnte mich sogar reizen«, schmunzelte Philchen. »Aber wir müssen zu Fuß gehen. Denn den großen Wagen hat der Senior, den kleinen der Junior.«
»So gehen wir doch. Das ist bei dem herrlichen Winterwetter doch wahrlich ein Vergnügen.«
So gingen sie denn wenig später der Stadt zu, die zu Fuß in einer Viertelstunde zu erreichen war. Es dunkelte bereits, denn man zählte heute den einundzwanzigsten Dezember. Also Winterszeit und darum Eis und Schnee, wie es sich gehört. Er knirschte unter den Füßen der rasch Dahinschreitenden, über ihnen leuchteten hell und geheimnisvoll die Sterne.
Es war so kalt, daß der Atem fast am Mund gefror. Philchen machte das nicht viel aus in ihrem – warmen Pelz, doch Silje in ihrem Mäntelchen schauerte immer wieder vor Kälte zusammen. Philchen merkte das sehr wohl, sagte jedoch nichts.
Endlich war die Konditorei erreicht.Wärme strömte den Eintretenden entgegen, die hauptsächlich Silje wohlig empfand.
Der große Raum war fast besetzt. An einem Tisch jedoch saß ein Herr allein – und dieser Herr war Eike Hadebrecht. Philchen bemerkte ihn zuerst und steuerte auf ihn zu.
»Ah, der Herr Neffe!« spottete sie. »Warum befindest du dich denn nicht im Kreise deiner Lieben, um mit ihnen den Sonnabendnachmittagskaffee zu trinken?«
»Und warum tust du es nicht?« fragte er schlagfertig zurück, und da mußte sie – lachen.
»Weil mir das zu ungemütlich ist, mein Sohn.«
»Also!«
Weiter sagte er nichts, doch dieses ›Also‹ sprach Bände.
Galant half er den Damen aus den Mänteln und nahm nach ihnen wieder an dem Tisch Platz, der ziemlich isoliert in einer Nische stand.
»Was wollen die Damen essen?« erkundigte er sich höflich, worauf die Tante Antwort gab:
»Zuerst einmal Glühwein, damit das verklammte Mädchen hier warm wird. Hinterher Kaffee nebst Torte und Schlagsahne. Dafür sind wir ja schließlich in der Konditorei.«
Eike lachte, daß die kräftigen Zähne hinter den harten, schmalen Lippen nur so blitzten. Das stand ihm gut, machte sein strenggeschnittenes Gesicht um vieles freundlicher. Er rief den Ober herbei, gab die Bestellung auf, und nicht lange danach stand der Glühwein da, den auch Eike sich nicht entgehen ließ.
Der Trank war sehr heiß, was der durchgefrorenen Silje nur guttun konnte. Hände und Füße wurden warm, das Gesicht rötete sich lieblich. Und als sie hinterher noch Kaffee trank, wurde es ihr fast zu warm in dem flauschigen Pullover. Sie fühlte sich so wohl, daß sie augenblicklich mit keinem Menschen der Welt hätte tauschen mögen. Leise summte sie die Melodie mit, die soeben die kleine Kapelle spielte –
Es war ein Weihnachtslied. Auch der Raum war weihnachtlich geschmückt, was die Vorfreude der Menschen noch erhöhte.
Entzückend sah sie aus, die junge Silje Berledes. Obwohl sie einfach gekleidet war, wirkte alles an ihr ungemein apart und elegant. Wie ein Prinzeßlein saß sie da, so zart und fein, so eine rechte Augenweide für Schönheitskenner.
»Wie wär’s, wenn wir eine Flasche Sekt trinken wollten?« wurde Philchen leichtsinnig, doch der Neffe wehrte lachend ab.
»Erbarm dich, Tantchen, ich bin mit dem Auto hier und möchte gern noch das Weihnachtsfest erleben! Aber wir nehmen eine oder auch zwei Flaschen mit, die wir heute abend in deiner gemütlichen Klause trinken werden. Einverstanden?«
»Nein, mein Sohn. Hörst du, was die Geige jubiliert? – Friede auf Erden! Und den möchte ich halten – wenigstens in meinen eigenen vier Wänden.«
»Na, hör mal, Philchen, bin ich denn so unverträglich, daß ich deinen Frieden verscheuchen würde?«
»Du nicht«, sagte sie betont, ihn fest dabei ansehend – und schon hatte er verstanden. Es flammte rot auf seiner Stirn auf, die Lippen preßten sich zusammen zu einem schmalen Strich.
»Nun, hab ich recht, mein Junge?«
»Wie immer, Tante Philchen.«
»Also. Friedland ist immer noch das beste Land. Und nun zahl!«
Ohne Widerrede kam er ihrem Wunsch nach. Wenig später saß man im Zweisitzer, der bequem Platz für die drei schlanken Personen bot. Silje, die das Gespräch zwischen Tante und Neffen nicht verstanden hatte, dachte darüber nach, was wohl mit dem Frieden gemeint sein könnte. Jedoch sie kam nicht dahinter – und das war gut. Sonst hätte sie gewußt, daß sie zu allen übrigen Unerquicklichkeiten im Hause nun auch noch Ilonas Eifersucht fürchten müßte.
Einige Minuten brauchte nur der Wagen zu fahren, dann hielt er vor dem Portal des Hauses, in dem die beiden Damen rasch verschwanden.
Oben angelangt, sagte Philchen dann schmunzelnd
»Und dennoch trinken wir unsern Sekt. Ich habe nämlich noch welchen, wovon niemand etwas weiß.«
»Oh, du Heimtückerin!« lachte Silje lustig. »Her damit und temperiert! Ich bin neugierig, wie du das zuwege bringen wirst.«
Philchen brachte das sehr gut zuwege indem sie die Flasche in den Schnee stellte, der draußen auf dem Fensterbrett lag. Dann zauberte sie noch delikate Gabelbissen hervor – und unten wartete man wieder einmal vergeblich auf das Erscheinen der beiden Verschworenen an der Abendtafel.
*
Als Philchen am nächsten Morgen an den Frühstückstisch trat, fand sie Bruder und Neffen bereits dort vor. Sie pflegten auch am Sonntag zur gewohnten Zeit zu frühstücken, während die anderen Familienmitglieder später erschienen.
»Nanu, Philchen, du willst uns heute Gesellschaft leisten?« empfing Eike sie lachend. »Ist nach dem gestern unterschlagenen Abendessen dein Hunger so groß, daß die Riesenportionen nicht nach oben geschafft werden können?«
»Du hast den Sinn erfaßt, mein Sohn«, entgegnete sie pomadig, nahm am Tisch Platz trank zuerst mal eine Tasse Kaffee und fühlte sich nun gestärkt für das, was Sie dem Bruder zu eröffnen hatte.
»Alsdann, Bruderherz, so wollen wir mal patent miteinander reden«, meinte sie gemütlich. »Ich will dir nämlich kund und zu wissen tun, daß ich am Heiligabend früh mit Silje eine Gesellschaftsfahrt ins Blaue – oder winterlich ausgedrückt: ins Weiße – antreten werde. Sieh mich nicht so wild an, mein Lieber, mein Entschluß steht fest. Die Karten sind bereits gelöst, und die Fahrt soll eine Weihnachtsüberraschung für Silje werden.«
»So – und wenn ich damit nicht einverstanden bin, meine liebe Philine?«
»Dann bist du töricht, mein lieber Philipp.«
»Inwiefern?«
»Indem du dir selbst den Weihnachtsabend verderben würdest. Sei lieber froh, daß ich das Streitobjekt der lieben Familie gerade an so einem Abend fernhalte – dir selbst und auch mir zu Nutz und Frommen. Denn wir beide könnten ja doch nicht den Mund halten, wenn das Mädchen hämisch angegriffen würde – und der unheilige Streit am Heiligen Abend wäre da.«
»Leider hast du recht«, brummte der Bruder verdrossen. »Selbst meine gute Alte haben die mißgünstigen Weibsen schon aufgewiegelt. Hast du eine Ahnung, wie gern ich dem allen hier entfliehen und mit dir und Silje irgendwo Weihnacht feiern würde?«
Das klang allgemein bitter und erbarmte die Schwester, die sehr an ihrem Zwillingsbruder hing. Sie legte ihre Hand auf die seine und sagte tröstend:
»Laß gut sein, Philipp. Du bist ja hier der Herr im Hause, dem sich alle fügen müssen. «
»Und das ist ein Glück, sonst würde man bald mit mir Schlitten fahren, wie man so sagt. Wohin soll denn die Weihnachtsreise gehen?«
»Das weiß ich nicht Man will die Teilnehmer überraschen.«
»Wann kommt ihr wieder?«
»Am zweiten Feiertag in der Abendstunde.«
»Und wie steht es mit dem Weihnachtsgeschenk für Silje?«
»Gib ihr die Weihnachtsgratifikation, die du deinen anderen Angestellten zukommen läßt. Das wird Silje nicht bedrücken, sondern freuen. Für alles andere sorge ich. Wozu habe ich denn mein Geld, wenn ich es nicht diesem liebenswerten Menschenkind, an dem mein ganzes Herz hängt, zukommen lassen soll?«
»Hast recht, Schwesterherz. Ich bin froh, daß du die Kleine so spontan in dein Herz geschlossen hast, sonst wäre es schlecht um sie bestellt.
Übrigens macht sie sich im Betrieb tadellos. Luischen ist des Lobes voll – und das will nun wirklich was sagen.«
Weiter wurde über Silje nicht mehr gesprochen. Man beendete das Frühstück und ging dann seiner Wege. –
Doch bevor die Reise losging, hatte Philchen noch einen Kampf mit Silje zu bestehen. Diese wollte das großzügige Geschenk durchaus nicht annehmen, sträubte sich sozusagen mit Händen und Füßen dagegen. Bis Philchen ernstlich böse wurde; da gab sie kleinlaut nach. Schmeichelnd legte sie ihre Arme um den Hals des alten Fräuleins und bettelte:
»Philelinchen, sei wieder gut, ja? Kränken will ich dich natürlich nicht.«
»Schaf…«, sagte Philchen, aber es klang sehr zärtlich. »Gewiß kränkst du mich, sehr sogar. Du behauptest doch immer, mich liebzuhaben…«
»Und wie!«
»Also. Dann rede nicht nur, sondern beweise es auch. Nimm alles unbekümmert hin, was ich dir biete, denn es kommt von ganzem Herzen. Und so etwas kann niemals bedrücken noch beschämen.«
»Wollen wir mal gleich versuchen«, blitzte in den Mädchenaugen der Schelm auf, und Philchen sah mißtrauisch in sie hinein.
»Na, was kommt nun?«
»Mit deinen eigenen Waffen werde ich dich schlagen, mein Philelinchen. Ich lade dich hiermit feierlichst zu der Weihnachtsfahrt ein, dann habe ich wenigstens ein Geschenk für dich. Denn dir mit anderen Dingen kommen, hieße ja Eulen nach Athen tragen, wie ein altes Sprichwort sagt.«
»Na, so ein kleiner Racker!« lachte Philchen herzlich. »Mädchen, vor dir muß man sich ja in acht nehmen. Doch willst du mir nicht sagen, wie du die Fahrt zu finanzieren gedenkst?«
»Freilich will ich das. Ich habe doch meine Gratifikation bekommen, und ganz leer war mein Portemonnaie sowieso noch nicht. Und ein Geschenk, das von ganzem Herzen kommt, darf man nicht zurückweisen.«
»Und wenn ich es nicht tue?«
»Das wäre herrlich!«
»So laß es herrlich sein – ich bin dein Weihnachtsgast.«
Zuerst machte Silje einen Luftsprung, dann umhalste sie die Tante, bis diese um Gnade bat – und dann war die echte, rechte Weihnachtsfreude da.
Ein kleines, lustiges Intermezzo gab es noch, als das ungleiche Treugespann am Weihnachtsmorgen zur Fahrt aufbrechen wollte. Da hielt Philchen nämlich dem verdutzten Mädchen einen wundervollen Pelzmantel hin.
»Tante Philchen, ich bitte dich…«
»Ruhe! Wenn man dir gibt, nimm – wenn man dir nimmt, schrei.«
Und da schrie Silje, aber vor Freude. Schlüpfte in die mollige Pracht, trat an den Spiegel, versank vor ihm in einem tiefen Knicks und sagte feierlich:
»Mein Kompliment, verehrte Dame. Sie tragen das schönste Fell, das…«
»… je ein Äffchen trug«, kam ein lachender Baß von der Tür her. Herumfahrend bemerkte Silje den Vormund, der zwischen Tür und Angel stand. Hinter ihm sein Sohn, der genau so amüsiert lachte wie sein Vater.
»Meine Herren, ist das nun hübsch von Ihnen?«
»Sehr hübsch«, schmunzelte Philipp. »Viel hübscher, als wir vermuteten. Denn als wir an dieser Tür vorübergingen, da hörten wir einen Schrei – na – und da drangen wir ein, um das entzückendste Bild zu schauen.«
»Nun mach mir das Kind nicht verlegen!« erbarmte sich jetzt Philchen des heißerröteten Mädchens.
»Was ist der Grund eures so frühen Erscheinens?«
»Wir konnten nicht umhin, euch Lebewohl zu sagen und glückliche Fahrt zu wünschen.«
»Das hört sich schon besser an. Habt schönen Dank und laßt uns nun gehen, damit wir nicht den Omnibus versäumen.«
Es folgte nun ein rascher Abschied. Und als Philchen sich noch einmal umwandte, bemerkte sie die sehnsüchtigen Blicke, die ihnen nachschauten.
»Ein Jammer!« seufzte das alte Fräulein. »Wenn ich nur so könnte, wie ich wollte, würde ich auch die beiden da noch mitnehmen. Aber leider – leider – leider…!«
*
»Ist es wahr, Papa, daß Tante Philchen mit dem fremden Mädchen eine Weihnachtsfahrt macht?« fragte Thea am Mittagstisch, und er sah sie verwundert an.
»Gewiß ist das wahr. Ich verstehe nur nicht, was dich dabei so aufregt.«
»Weil so eine Reise doch Geld kostet.«
»Beruhige dich, die Kosten trägt mein Mündel.«
»Ah so das ist allerdings etwas anderes. Ich dachte schon, daß Tante Philchen die kostspielige Angelegenheit bezahlt. Weißt du, Mama, wenn das Fräulein nicht hier ist, brauchen wir es ja nicht zu beschenken. Da kannst du mir den entzückenden Pullover geben, den du für es gekauft hast.«
»Aber Kind, der ist dir doch zu kurz und zu eng.«
»Ach, woher denn! Ich bin doch bestimmt nicht dicker als dieses Fräulein. Warum lachst du denn so, Ilona?«
»Weil du nicht weißt, wie du aussiehst. Stell dich doch einmal vor den Spiegel.«
»Der wirft dann bestimmt ein schöneres Bild zurück als bei dir!«
»Ruhe!« gebot der Senior energisch. »Die Sachen, die Mutter für Fräulein Berledes bestimmt hat, kriegt diese, wenn sie von ihrer Reise zurück ist.«
Da schmollte Thea, was allen nur recht war. Dann gab sie wenigstens Ruhe. –
Der Heiligabend verlief in der Familie Hadebrecht ganz vorschriftsmäßig. Man sang im Schein der Kerzen Weihnachtslieder, beschenkte sich gegenseitig gut und reichlich, aß hinterher den delikat zubereiteten Weihnachtskarpfen, trank danach die Weihnachtsbowle und gab sich alle Mühe, recht friedlich zu sein.
Die einzigen im Familienkreis, die sich wirklich von Herzen freuten, waren die beiden Kinder. Sie jubelten beim Anblick der Dinge, die sie sich gewünscht hatten und die nun so verlockend dalagen. Selbst die altkluge, naseweise Anka war heute ganz Kind. –
Doch viele Kilometer entfernt, oben in den bayerischen Bergen, da gab es echte Weihnacht. Da hatte sich das zusammengefunden, was irgendwie einsam auf der Welt stand. Da verschmolz ein Zusammengehörigkeitsgefühl die Menschen, die sich noch nie gesehen hatten und sich in Zukunft auch nie wieder sehen würden. Man sang an der glitzernd geschmückten Tanne die alten, schönen Weihnachtslieder, nahm dann an den gedeckten Tischen Platz und erfreute Zunge und Magen mit den lukullischen Genüssen. Jeder fand unter der aufgestellten Serviette eine kleine Weihnachtsgabe.
Der Weihnachtssekt, allerdings nur eine halbe Flasche pro Person, genügte den meisten, um in eine leicht beschwingte Stimmung zu geraten. Wer mehr dazu brauchte, konnte auf eigene Rechnung nachbestellen.
Das taten Philchen sowie Silje nun nicht, ihnen genügten drei Glas des prickelnden Getränks vollkommen.
Nach schönen, harmonischen Stunden bezogen sie vergnügt das Doppelzimmer und schliefen in den bequemen Betten tief und friedlich bis zum Morgen. –
Während der beiden Feiertage konnte jeder seinem eigenen Vergnügen nachgehen. Silje verbrachte diese Zeit beim Skilaufen, und Philchen tat es in Gesellschaft »gleichgesinnter Seelen«.
Ehe man sich so recht versah, schlug die Scheidestunde. Man war allgemein restlos befriedigt von diesem Weihnachtsfest, an das man sich immer wieder gern erinnern wollte.
*
Am Spätabend trafen Philchen und Silje wieder im Hadebrecht-Haus ein.
Wie Diebe wollten sie sich nach oben stehlen, doch da hatten sie die Rechnung ohne den Hausherrn gemacht. Denn als sie gerade den Fuß auf die Treppe setzten, öffnete sich die Wohnzimmertür, und der Gestrenge rief lachend:
»Heda, ihr beiden Verschwörer, so was gibt’s nicht! Herein mit euch, und Rede und Antwort gestanden!«
»Uns bleibt aber auch nichts erspart«, seufzte Philchen so komisch, daß Silje sich wieder einmal vor Lachen ausschütten wollte.
Es drang bis ins Wohngemach, dieses unbekümmerte, goldige Lachen, das bei den darin Weilenden verschiedenartige Gefühle erweckte. Bei Frau Ottilie rief es ein liebes Lächeln hervor, Thea fand es aufdringlich, Ilona albern, und in den Augen des Juniors leuchtete es blitzartig auf.
»Na, das ist wieder einmal Musik für meine Ohren!« schmunzelte der Senior, während er mit den beiden Damen nähertrat. »Was meinst du wohl, du kleiner Zeisig, wie ich das in den drei Tagen vermißt habe!«
Die Heimgekehrten hatten die Mäntel in der Halle abgelegt, und nun stand es im Skianzug da, das junge bezaubernde Menschenkind. Braungebrannt von der Sonne in den Bergen, mit strahlenden Augen und lachendem Mund. Wie angegossen saß der Dreß auf dem grazilen Körper, der auch diesem manchmal recht plump wirkenden Anzug eine elegante und vornehme Note gab.
»Wie ist es nun mit euch?« fragte der Senior. »Habt ihr Hunger, habt ihr Durst?«
»Woher denn!« lachte Philchen, die auch recht frisch aussah und deren ganze vitale Art ihrer zweiundsechzig Jahre spottete. »Man hat uns ja direkt genudelt und mit guten Tropfen die Kehle genetzt.«
»Dann setzt euch hin und erzählt, wie es sich für weitgereiste Leute gehört.«
Na schön, erzählen wir. Der Heiligabend verlief recht feierlich. Leichtbedudelt begaben wir uns zur Ruhe, schliefen, daß ein Auge das andere nicht sah, und aßen dann und tranken.«
»Ganz Philchen«, lachte Eike amüsiert. »Mehr geschah nicht?«
»Natürlich, mein Sohn. Dieser kleine Strolch hier machte beim Skilaufen und ähnlichen Winterfreuden Eroberungen noch und noch. Wie eine Sonne strahlte er, um die sich die Trabanten scharten. Wie ist es, mein Schatz, hast du nicht sogar einen Heiratsantrag bekommen?«