Читать книгу Leni Behrendt Staffel 2 – Liebesroman - Leni Behrendt - Страница 5

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Silvester war’s, der letzte Tag im Jahr. Die meisten Bewohner der großen Stadt hatten am Abend etwas vor, wozu sie noch mancherlei besorgen mußten.

So herrschte denn in den Straßen Hochbetrieb. Auf den Bürgersteigen hasteten die Menschen oder drängten ungeduldig aus den überfüllten Bussen, als dürften sie keine Minute versäumen. Daß man sich dabei gegenseitig auf die Füße trat, war ebenso unausbleiblich wie das Geschimpfe. Ein stämmiger Bursche gab dem vor ihm stehenden Mädchen einen Stoß, so daß es beim Aussteigen stolperte und längelang hingeschlagen wäre, hätte ein Mann es nicht aufgefangen.

»Na, so ein Flegel!« schimpfte er dem feixenden Jungen nach. »Dem fehlt gehörig eins zwischen die Löffel! Haben Sie sich weh getan, Fräuleinchen?«

»Nein, davor hat mich Ihr rasches Zupacken bewahrt. Danke schön.«

»Bitte sehr, gern geschehen«, schaute der Mann schmunzelnd in das Mädchengesicht, das da so frischfröhlich aus der Kapuze des Wettermantels lugte. »So was Goldiges drückt man auch noch als Opa gern ans Herz. Guten Rutsch ins Neue Jahr.«

»Gleichfalls«, wünschte sie, und dann ging jeder seiner Wege. Der Mann zu seiner Familie, das Mädchen zu seiner Bleibe, die aus einem möblierten Zimmer bestand. Im Korridor wurde sie von der Wirtin aufgeregt empfangen:

»Endlich sind Sie da, Fräulein von Hollgan. Es kam ein Anruf für Sie, und zwar ein dringender.«

»Für mich?« fragte das Mädchen ungläubig, da es weder Freunde noch nähere Angehörige hatte. »Haben Sie sich da auch nicht verhört, Frau Ricks?«

»Bestimmt nicht«, kam es mit Entschiedenheit zurück. »Ein Herr wünschte Fräulein Armgard von Hollgan zu sprechen, er betonte das klar und deutlich.«

»Seinen Namen hat er nicht genannt?«

»Nein. Sie möchten diese Nummer anrufen«, die Wirtin reichte ihr einen Zettel, auf dem sie Ort und Zahl vermerkt hatte. »Ist Ihnen das ein Begriff?«

»Nein. Also werde ich nicht anrufen.«

In dem Moment schlug der Fernsprecher an, der sich im Korridor befand. Frau Bicks hob ab, meldete sich und sagte gleich darauf:

»Ja, Fräulein von Hollgan ist jetzt da.«

Sie gab den Hörer an Armgard weiter und verzog sich in die Küche, deren Tür sie spaltbreit offenließ.

Und ihre Neugierde war verzeihlich, da ihre Untermieterin angegeben hatte, daß sie nach der Mutter Tod allein dastünde. Sie war auch in dem Vierteljahr, seit sie hier das Zimmer bewohnte, nie ausgegangen, hatte weder Post noch einen Anruf bekommen.

»Ja, hier spricht Armgard von Hollgan«, hörte die Lauschende das Mädchen sagen, das nun auf die Stimme am anderen Ende horchte und dann unwillig antwortete:

»Wenn das ein Silvesterscherz sein soll, finde ich ihn geschmacklos. Mein Großvater ist nämlich tot und nun Schluß...«

»Halt, legen Sie nicht auf!« gebot die Männerstimme scharf. »Ihr Großvater ist nicht tot, liegt jedoch schwer krank danieder. Das sage ich Ihnen als sein Hausarzt und bitte Sie dringend, hierher zu Ihrem Großvater zu kommen, der flehend nach seiner Enkeltochter verlangt. Wenn Sie der Bitte eines vielleicht Sterbenden nicht nachgeben wollen, handeln Sie einfach gewissenlos, Fräulein von Hollgan.«

»Das alles kommt mir recht merkwürdig vor«, entgegnete diese skeptisch. »Zwar bin ich keine Millionenerbin, noch habe ich etwas auf dem Kerbholz, daß es sich lohnen würde, mir eine Falle zu stellen, aber truu de Düwel dem Ap’theker. Wo befindet sich denn mein Großvater?«

»In seinem Haus an der Ostsee. Ist Ihnen das wenigstens ein Begriff?«

»Nein! Wie gelange ich dorthin?«

»Mit der Bahn. Ich nenne Ihnen die Verbindungen, bitte notieren Sie.«

Sie griff nach Block und Stift, das beides neben dem Telefon lag, und schrieb auf, was langsam und deutlich diktiert wurde. Dann sagte sie:

Demnach wäre ich erst gegen zehn Uhr auf der Bahnstation Klein-Dünen, von dem ich keine Ahnung habe, wo das liegt. Das gefällt mir nicht, kommt mir irgendwie mulmig vor.«

»Fräulein von Hollgan –«, vernahm ihr Ohr jetzt einen langen Seufzer. »Ich verstehe, daß Sie mißtrauisch sind, zumal Sie annehmen, daß Ihr Großvater tot ist. Mir unbegreiflich, wie es zu diesem Mißverständnis kommen konnte, aber es fehlt jetzt die Zeit, das aufzuklären. Rufen Sie Doktor Wiebe an, ich gebe Ihnen die Telefonnummer.«

»Nicht nötig, ich kenne sie. Habe ihn angerufen, als meine Wirtin krank war.«

»Um so besser«, hörte sie ein erleichtertes Aufatmen. »Erkundigen Sie sich bei ihm nach mir, er kennt mich gut.«

»Na schön. Wenn alles in Ordnung geht, fahre ich morgen mit dem Frühzug ab.«

»Das könnte vielleicht zu spät sein. Herr von der Gylt ist schwer krank und verlangt flehend nach Ihnen.«

»Gut, ich komme heute noch. Ich werde doch abgeholt?«

»Selbstverständlich.«

»Danke.«

Sie legte auf, wählte die Nummer des Arztes, und die Auskunft, die dieser vertrauenswürdige Herr ihr gab, nahm ihr das Mißtrauen, das der immerhin merkwürdige Anruf in ihr geweckt hatte. Ihr Großvater lebte tatsächlich, und sein Arzt war nach Aussage seines Kollegen eine seriöse Persönlichkeit, also mußte sie seinem dringenden Ruf folgen.

Doch zuerst rief sie nach Frau Ricks, die flugs zur Stelle war und ängstlich sagte:

»Mein Gott, Fräulein Armgard, werden Sie wirklich so auf den blauen Dunst verreisen?«

»Es geht nicht anders. Ich muß zu meinem schwerkranken Großvater, den ich irrtümlich für tot hielt.«

»Aber meinjeh, Kindchen, wenn das nun eine Falle ist? Es passiert heutzutage doch so viel…«

»Keine Angst«, warf das Mädchen beruhigend ein. »Ich habe mich bei Doktor Wiebe nach dem Anrufer erkundigt und die beste Auskunft bekommen.«

»Das stimmt denn auch«, atmete die besorgte Frau auf. »Als langjährige Patientin kenne ich den Doktor gut, er ist ein Ehrenmann. Wann fährt der Zug?«

»In einer Stunde.«

»Aber das schaffen Sie doch nicht…«

»Ich muß!« winkte Armgard ab und verschwand in ihrem Zimmer, das wohl einfach, aber wohnlich war. Leider mußte sie es im Februar räumen, da eine Freundin von Frau Ricks zu ihr ziehen wollte.

Armgard nahm den Koffer vom Schrank und begann zu packen. Rock und warme Bluse, ein gleichfalls warmes Kleid, Strickjacke, Morgenrock, Bademantel, Regenmantel, Wäsche, Strümpfe, Schuhe, Toilettensachen.

So, das genügte. Rock und Pullover, die sie trug, konnte sie anbehalten, die festen Schuhe auch.

Halt, das Regencape nicht vergessen, damit sie es, falls es regnen sollte, über den Mantel tun konnte. Da es griffbereit sein mußte, tat sie es nebst Schirm in die große Ledertasche, gleichfalls die Handtasche, der sie vorher einige Scheine entnahm und auf den Tisch legte. Daneben die Delikatessen, die sie besorgt hatte, um ins Neue Jahr hineinzuschlemmen. Jetzt konnte sich das gute Muttchen Ricks daran laben, die aß so was auch gern.

So, jetzt war es Zeit, sich auf den Weg zu machen. Sie zog gerade den Mantel an, als die Wirtin mit einem Tablett eintrat.

»Ich habe Kaffee gekocht und einige Schnitten als Proviant eingepackt«, erklärte sie eifrig. »Eine Tasse Kaffee müssen Sie unbedingt noch trinken, der Rest kommt in die Thermosflasche.«

»Lieb von Ihnen«, streichelte Armgard die pralle Wange der fürsorglichen Frau. »Ich hätte daran bestimmt nicht gedacht.«

Während des Ankleidens trank sie den heißen, starken Kaffee, der sie erquickte. Indes tat Frau Ricks den Beutel mit Schnitten und die Thermosflasche in die große Tasche und zog den Reißverschluß zu.

»Immer geschlossen halten«, mahnte sie. »Sonst klaut Ihnen ein Spitzbube im Gedränge die Handtasche. Haben Sie überhaupt genügend Geld für die Reise?«

»Ich bin so reichlich damit versehen, daß ich sogar noch die Miete für Januar bezahlen kann«, sie zeigte auf die Scheine. »Ich weiß ja nicht, wann ich zurückkomme.«

»Aber doch noch vor dem ersten Februar?«

»Das ganz bestimmt. Diese Delikatessen hier, die für den Abend bestimmt waren, lassen Sie sich gut schmecken. Und nun muß ich machen, daß ich wegkomme.«

»Wollen Sie denn zu Fuß zur Bahn?«

»Allerdings.«

»Vielleicht versuchen wir eine Taxe aufzutreiben.«

»Bei dem Verkehr heute aussichtslos«, winkte das Mädchen ab. »Außerdem würde sich das für die kurze Strecke gar nicht lohnen.«

Sie griff nach dem Gepäck und drückte der gerührten Frau einen Kuß auf die Wange.

»Auf Wiedersehen, liebe Frau Ricks. Haben Sie Dank für alles Liebe.«

»Das ist doch gern geschehen, Sie gutes Kind. Kommen Sie recht bald wieder. Werden Sie anrufen, wenn Sie am Ziel sind?«

»Ob es heute sein wird, kann ich nicht versprechen, aber für morgen ganz bestimmt. Kommen Sie gut ins Neue Jahr!«

»Sie auch, Kindchen, Sie auch!« rief Mutter Ricks der Enteilenden nach.

»Gott schütze Sie!«

*

In zehn Minuten hatte Armgard von Hollgan den Bahnhof erreicht. Ihr wurde schwül, als sie die Menschen sah, die vor den Fahrkartenschaltern schon Schlange standen. Doch die Abfertigung erfolgte rasch, und so bekam sie den Zug gerade noch mit knapper Not. Denn kaum, daß sie eingestiegen war, setzte er sich auch schon in Bewegung.

Da ein Fensterplatz frei war, nahm sie ihn ein, drückte sich in die Ecke und gab sich den Gedanken hin, die in die Vergangenheit schweiften.

Die ersten zehn Jahre ihres Lebens hatte sie als wohlbehütetes Kind fröhlich dahingelebt, weil sie alles hatte, was ein Kinderherz nur begehren kann. Vor allen Dingen einen Vater, an dem sie mit abgöttischer Liebe hing. Mehr als an der Mutter, obgleich diese das reizende Töchterchen über Gebühr verwöhnte, wie auch die Großmutter es tat.

Was Armgard über die Familie mütterlicherseits wußte, hatte ihr der Vater erzählt, dabei jedoch die Wahrheit umgangen.

Und diese war, daß es Frau von der Gylt gar nicht paßte, als ihre Tochter Freda einen Generalstabsoffizier heiratete, der wohl blendend aussah und aus bester Familie stammte, aber mit Gütern nicht gesegnet war. Doch da der verhätschelte Liebling den Mann durchaus haben wollte, gab die Mutter nach, und der Vater wurde erst gar nicht gefragt. Er war auch selten zu Hause, da er für das Handelshaus die notwendigen Reisen unternehmen mußte.

Das Mädchen, das er mit dreiundzwanzig Jahren heiratete, hatte ihm der Vater ausgesucht. Es hatte einen vornehmen Namen, hatte viel Geld und paßte daher in die vornehme Senatorenfamilie von der Gylt vortrefflich hinein.

Die Ehe war auch ganz glücklich, da der Ehemann sich in den ersten Jahren seiner Frau viel widmen konnte. Den Dr. jur. hatte er in der Tasche; und im Handelshaus war er eigentlich nur Staffage, da der Vater und sein ältester Sohn den Betrieb straff am Zügel hielten.

Allein das änderte sich; als der alte Senator starb und die beiden Söhne gleichwertige Besitzer des Handelshauses wurden. Mit dem Moment hatten sie auch die gleichen Pflichten.

So kamen die Brüder denn überein, daß der ältere Bruder Jonathan dem Handelshaus vorstehen sollte, während der jüngere Frederik den Kundendienst übernahm. Das brachte wohl Geld ein, aber auch eine Zerrüttung der Ehe.

Denn Frau Adele, die sehr eifersüchtig war, tobte jedesmal, sofern der Gatte eine Reise antreten mußte, und machte ihm Szenen, wenn er zurückkehrte. Dichtete ihm ein Dutzend Geliebte an, war überhaupt so zänkisch, daß der Mann mehr und mehr seinem Heim entfloh.

Und in dieser trostlosen Atmosphäre wuchs die einzige Tochter Freda auf, die nach einjähriger Ehe geboren wurde. In den ersten Jahren, als der Vater viel zu Hause war, hing sie an ihm. Doch als er die Geschäftsreisen antreten mußte, unterlag sie mehr und mehr den gehässigen Einflüsterungen ihrer Mutter und wich dem Vater scheu aus, wenn er nach Hause kam.

Freda wurde überhaupt ganz das Geschöpf ihrer Mutter, wurde genauso vergnügungssüchtig wie sie. Bis sie mit neunzehn Jahren den Oberleutnant Gerwin von Hollgan kennenlernte und sich Hals über Kopf in ihn verliebte. Und da sie hübsch war, fand auch der Mann so großes Gefallen an ihr, daß er sich um sie bewarb und sie auch bekam. Dafür sorgte schon Freda, die daran gewöhnt war, ihren Willen durchzusetzen. Sie liebte den Mann und mußte ihn haben, basta!

Lange würde diese Ehe bestimmt nicht vorhalten, sagten die Menschen, die das wetterwendische Persönchen kannten. Bald würde es der Ehe überdrüssig sein. Aber die Ehe blieb bestehen, weil der Ehemann seine Frau nicht daran hinderte, den gesellschaftlichen Trubel nach wie vor mitzumachen. Er selbst konnte ihr allerdings nicht dazu verhelfen, da er auf sein Gehalt angewiesen war. Doch da Freda eine reiche Mitgift erhielt, auf die der Gatte keinen Anspruch erhob, hatte sie Geld genug, um sich leisten zu können, was das Herz begehrte. Dazu hatte sie einen lieben, stets nachsichtigen Mann und ein herziges Töchterchen, somit hatte sie allen Grund, zufrieden zu sein.

Bis dann das Unglück geschah und aus dem schneidigen kerngesunden Mann einen siechen machte, als er das durchgehende Pferd eines Soldaten aufhielt. Dem Mann geschah nichts, doch sein Retter wurde arg zugerichtet. Fast ein halbes Jahr dauerte es, bis man ihn aus dem Krankenhaus entlassen konnte, und es verging kein Tag, wo seine damals zehnjährige Tochter ihn nicht besuchte. Seine Frau erschien in der ersten Zeit öfter, doch dann wurden die Besuche seltener und blieben zuletzt ganz aus.

»Das arme Kind kann die Krankenhausluft nicht vertragen«, erklärte die Schwiegermutter dem Kranken. »Es wird ihr immer übel, oft muß sie sich sogar erbrechen, und das hält ihr zarter Körper nicht aus. Außerdem kehrst du ja bald nach Haus zurück.«

Wohl tat er das, aber nicht völlig geheilt, wie man angenommen hatte. Ein Hüftleiden blieb zurück, so daß er sich nur mühsam am Stock vorwärtsbewegen konnte.

Und nun war es wiederum der Anblick des Krüppels, den die ach so zarte und sensible Frau nicht ertrug. Doch das verbitterte den Mann nicht. Er hatte ja die Tochter, die nicht nur äußerlich sein Ebenbild war, sondern auch seinen vornehmen Charakter und seinen Frohsinn geerbt hatte. Schule, sowie die Schularbeiten, die sie erledigte, wenn der Vater seinen Mittagsschlaf hielt, das mußte ja sein, aber sonst war sie nicht von der Seite des Paps zu kriegen.

Am liebsten hockte sie auf einem Stühlchen zu seinen Füßen, lauschte seinen Erzählungen und stellte Fragen, die der Mann alle beantwortete und damit eine gute Saat in das Herz seines Kindes senkte. Als es einmal ungehalten fragte, warum die Mutter ständig unterwegs sei, antwortete er in seiner gütigen Art:

»Schau mal, mein Kind, deine Mama gehört zu denen, die ohne Tamtam nicht leben können. Die immer Menschen um sich haben müssen, je mehr, desto besser. Sie tut damit nichts Böses.«

»Ja, wenn du damit zufrieden bist, dann will ich es auch sein«, meinte die Kleine altklug. »Aber laß nur, dafür hast du mich immer um dich.«

»Viel zuviel, mein Kleines«, strich er zärtlich über das Köpfchen, auf dem es sich in bernsteinheller Pracht wellte und lockte. »Du müßtest viel mehr unter deinesgleichen sein.«

»Das bin ich schon in der Schule genug. Bei dir fühle ich mich am allerwohlsten.«

So wurde die Zusammengehörigkeit zwischen Vater und Tochter immer inniger, und es war ein grausamer Schlag für die damals Vierzehnjährige, als sie ihren so sehr geliebten Paps im Lehnstuhl fand, tot.

Einfach tot, das sollte sie nun begreifen. Wie ein wundes Tier verkroch sie sich, wollte nichts hören und niemand sehen, lehnte jede Nahrung ab.

Aber wenn man ein so kerngesunder junger Mensch ist, dann kann man nicht in Lethargie versinken. Der erste heiße Schmerz linderte sich, die Verzweiflung ließ nach. Und wenn dann noch ein Mensch zur Stelle ist, der wohltuend auf ein wundes Gemüt wirkt, der Trost und Hilfe spendet.

Und dieser Mensch war der Oberst von Liebisch. Ein gemütlicher Dicker, der so verschmitzt lachen und mit den Augen zwinkern konnte.

Armgard kannte ihn von jeher als Freund ihres Vaters, der sich auch nach dessen Unfall jeden Sonnabend einfand, um mit ihm Schach zu spielen. Armgard mochte ihn sehr gern, den guten Onkel Viktor, und sah ihm auch jetzt erfreut entgegen, als er ins Zimmer trat.

»Wie lieb, daß du zu mir kommst, Onkel Viktor, der Paps…«

Er setzte sich auf den Bettrand und nahm das bitterlich schluchzende Menschenkind in seine Arme. Er sprach kein Wort, streichelte nur das zuckende Köpfchen, bis es sich von seiner Schulter hob.

»Nun ist’s aber genug, meine kleine Plinskarline«, sagte er zärtlich. »Dem Paps würde es weh tun, wenn er sein Herzenskind so verzweifelt sähe. Gönne ihm seine Ruhe, er hat zuletzt viel Schmerzen erleiden müssen.«

»Schmerzen?« fragte sie erschrocken. »Davon habe ich ja gar nichts gewußt.«

»Solltest du auch nicht, und die andern auch nicht. Wer darum wußte, das waren ich und der ihn behandelnde Arzt, der ihm Linderung verschaffte, soviel er nur konnte. Denn dein Paps hatte nicht nur die äußeren, sondern auch innere Verletzungen, die vorzügliche Ärzte wohl eindämmen, aber nicht heilen konnten.«

»Hat er das gewußt?«

»Ja.«

»O Gott, Onkel Viktor, mein armer Paps.«

»War ein tapferer Mann, mein Kind. Und da du so ganz seine Tochter bist, mußt du auch tapfer sein. Was jetzt noch so weh tut, wird die Zeit lindern, aber auch nur, wenn du mit dazu beiträgst.

Schau mal, mein Herzchen, jeder Mensch muß mal, wenn er nicht jung stirbt, seinen Vater hergeben, das ist nun mal der Lauf der Welt. Und nun wollen wir beraten, was aus dir werden soll, denn dein lieber Paps hat mich zu deinem Vormund bestimmt.«

»Oh, Onkel Viktor, einen besseren hätte er ja gar nicht bestimmen können.«

»Na, siehst du. Wie wär’s, wenn du vorerst von hier gingest, wo alles dich an deinen Paps erinnert?«

»Das möchte ich schon, aber wohin?«

»Vielleicht in ein Internat?«

»Das wird die Mama nicht wollen.«

»Doch, sie hat mir sogar den Vorschlag gemacht, weil sie mit den Nerven so herunter ist, daß sie, na ja, daß sie wahrscheinlich in ein Sanatorium muß. Da wärest du in einem Internat am besten aufgehoben.«

»Das kostet aber viel Geld.«

»Das ist da, mein Kind. Erstens mal von der hohen Versicherung, die dein fürsorglicher Paps zu deinen Gunsten abschloß, dann von der Unfallversicherung und von seinen Ersparnissen, die alle auf dein Konto gingen. Jedenfalls reicht das Geld nicht nur für einen Internatsaufenthalt, sondern auch für eine Ausbildung. Soll ich mich mal nach einem guten Internat umsehen?«

»Wenn du es für richtig hältst, Onkel Victor, denn alles, was von dir kommt, ist gut.«

*

So kam denn Armgard von Hollgan in ein erstklassiges Internat, wo sie sich rasch eingewöhnte. Sie blieb auch dort während der Ferien, weil der gute Onkel Viktor, mit dem sie im regen Briefwechsel stand, ihr riet, das Zuhause lieber noch zu meiden, es wäre das alte ohnehin nicht mehr.

Was er damit meinte, sollte sie nicht mehr erfahren, weil er bald darauf einem Herzschlag erlag. Die Mutter, die ihr das schrieb, teilte gleichzeitig mit, daß man die Vormundschaft dem Rechtsanwalt und Notar Doktor Seger übertragen hätte.

Diese Nachricht traf Armgard hart. Nun war auch Onkel Viktor tot, der so treu für sie gesorgt und ihr so liebe Briefe geschrieben hatte, die ihr hauptsächlich in der ersten Zeit ihres Hierseins Trost brachten. Bitterlich weinend fand die Oberin sie vor, nahm sie mütterlich in die Arme und sagte tröstend:

»Auch der Schmerz wird vorübergehen, mein Kind.«

Und er ging vorüber, dafür sorgten schon die Umgebung und Armgards Frohnatur. Nach Hause mochte sie jetzt in den Ferien weniger denn je und brauchte sie dennoch nicht im Internat zu verbringen, weil sich immer jemand fand, der sie mitnahm, Mitschülerinnen, Lehrerinnen, einmal sogar die Oberin.

Wohl stand Armgard mit ihrer Mutter in Briefwechsel, doch die Briefe gefielen ihr nicht. Sie jammerte, klagte, schien sich im Leben nicht mehr zurechtzufinden.

Und einen Tag nach dem Abitur erhielt sie von der Mutter einen Brief, in dem diese den Tod ihrer Mutter anzeigte, den deren Gatte verursacht hatte. Denn als sie erfuhr, daß er mit einer anderen ausgerückt sei, brach ihr das Herz, das dann auch bald seinen letzten Schlag tat, und der Mann der durchgegangenen Frau erschoß sich aus Verzweiflung.

Das war eine Nachricht, die Armgard erschütterte. Aber noch mehr erschütterte sie das, was sie von dem Vormund erfuhr, der sie gleich darauf im Internat aufsuchte. Ein seriöser Herr, der ihr wohlbekannt, aber nicht vertraut war.

»Ja, meine liebe Armgard«, begann er, dabei umständlich die Brillengläser putzend. »Da Sie das Abitur haben, ist Ihre Schulausbildung hier abgeschlossen, und Sie müssen die Anstalt verlassen. Haben Sie Lust zu studieren?«

»Nicht direkt. Eine Ausbildung als Laborantin würde mir genügen. Das heißt, wenn noch soviel Geld zur Verfügung steht.«

»Das ist vorhanden. Ich werde Ihnen laut Bestimmung Ihres Vaters einen monatlichen Betrag zukommen lassen, mit dem Sie gut auskommen können.

Nun muß ich Ihnen leider noch sagen, daß Sie Ihr ehemaliges Zuhause nicht mehr vorfinden werden. Ihre Mutter hat bereits vor zwei Jahren die Villa in Bausch und Bogen verkauft. Hat nur so viel Sachen behalten, um damit eine Zweizimmerwohnung auszustatten, in der sie nun wohnt. Sie werden sich um sie kümmern müssen, da sie sich, nun, sagen wir mal, nicht gerade bester Gesundheit erfreut.«

Mitleidig sah er in das erblaßte Mädchengesicht und sprach dann rasch weiter:

»Da die Wohnung sich in einem Vorort Ihrer Vaterstadt befindet, können Sie sich dort in einem einschlägigen Institut, das ich für Sie aussuchen werde, zur Laborantin ausbilden lassen. Sind Sie damit einverstanden?«

»Ja«, würgte sie hervor. »Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Mein Zuhause finde ich nicht mehr vor, meine Mutter ist krank, das hat mir gerade noch gefehlt.«

»Wird so schlimm nicht werden«, tröstete er. »Man darf den Mut nicht verlieren.«

»Leicht gesagt«, entgegnete sie bitter. »Jedenfalls danke ich Ihnen, daß Sie hergekommen sind.«

»Das ist meine Pflicht als Vormund. Auch daß ich Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehe. Bisher brauchte ich es nicht, weil Sie hier bestens aufgehoben und behütet waren. Nun packen Sie Ihre Sachen, damit ich Sie in meinem Wagen mitnehmen kann.«

»Meine Sachen sind bereits gepackt.«

»Um so besser, dann können wir gleich aufbrechen.«

Zehn Minuten später saß sie neben ihm im Auto. Es war ihr bitter schwer gefallen, von den Menschen Abschied zu nehmen, unter denen sie fünf Jahre weilte. Es war ein sorgloses Leben gewesen, das nun aufhörte. Was würde ihrer warten? Sie hatte Angst.

Und gewiß nicht ohne Grund. Denn als sie die kleine Wohnung betrat, fand sie darin eine Unordnung, vor der ihr grauste. Die Mutter lag schlampig auf einem Diwan, und kaum, daß sie der Tochter ansichtig wurde, jammerte sie in den höchsten Tönen:

»Mein Kind, was muß deine arme Mutter nur alles erdulden. Alles hat er mir genommen, der Schuft.«

Hilflos sah das verstörte Mädchen sich nach dem Vormund um, doch der war gegangen, nachdem er die Koffer abgestellt hatte.

Mit Grauen dacht Armgard jetzt an die drei darauf folgenden Jahre. Die Mutter, die an einer unheilbaren Blutkrankheit litt, siechte langsam dahin und machte der Tochter das Leben unsagbar schwer.

Am schwersten waren die gehässigen Worte zu ertragen, mit denen sie ihren Vater beschimpfte. Selbst als sie der Tochter mitteilte, daß er gestorben war, schrie sie gehässig.

»Endlich ist er tot, der Lump!«

»Woher weißt du das, Mama? Du standest doch mit deinem Vater in keiner Verbindung.«

»Aus zuverlässiger Quelle erfuhr ich es. Hätte der Teufel bloß schon früher…«

»Mama!« schrie Armgard sie an. »Der Mann war dein Vater.«

Da fing die Frau an zu toben, und angewidert ging die Tochter hinaus. Wie sie bei dieser seelischen Belastung die schwere Prüfung als Laborantin bestehen konnte, mutete sie wie ein Wunder an.

Und gerade an dem Tag starb die Mutter und heute rief der Großvater nach seiner Enkelin Armgard von Hollgan. Ihr Großvater, der doch schon fast drei Jahre tot war. Was würde sie in dem Haus, wohin der Arzt sie beordert hatte, erwarten?

Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als der Zug in den Bahnhof einfuhr, wo sie umsteigen mußte. Rasch zog sie den Mantel an, griff nach dem Gepäck und was sie draußen erwartete, war ein Schneesturm, und der Anschlußzug hatte Verspätung.

*

Fast eine Stunde mußten die frierenden, schimpfenden Passagiere warten, bis der Zug endlich einlief, der dann noch zweimal in den aufgewehten Schneeschanzen steckenblieb und ausgeschaufelt werden mußte, was die Reisenden immer mehr erboste. Man hatte ja schließlich die Reise unternommen, um im Verwandten- oder Freundeskreis fröhlich Silvester zu feiern. Es wurde gemurrt, geschimpft, gejammert, aber das nützte alles nichts, gegen höhere Gewalt kommt der Mensch nun einmal nicht an.

Armgard befand sich in einem Abteil, wo zwei junge Burschen und zwei ältere Paare die Flasche kreisen ließen. Armgard, die man aufforderte, mitzuhalten, trank zwei Schnäpse, für mehr dankte sie. Sie mußte klaren Kopf behalten, wer weiß, was ihr bevorstand.

Und das war ärger, als sie befürchtet hatte. Als sie den Zug verließ, kam sie in eine weiße Hölle hinein. Der Schneesturm tobte, und die Flocken waren so dicht, daß sie Armgard die Sicht nahmen; wie Schemen sah sie die Menschen an sich vorüberhuschen. Rasch warf sie das Cape über, machte die Kapuze fest und war so einigermaßen vor dem Naß geschützt.

Nun stand sie da, wie von Gott und aller Welt verlassen und das in der Silvesternacht. In den letzten drei Jahren waren ihr diese Stunden schon immer trostlos erschienen, aber da hatte sie wenigstens eine warme Stube gehabt. Jetzt waren ihr die Hände so steifgefroren, daß sie die Tasche nebst Koffer kaum halten konnte, und in den Füßen hatte sie kaum noch Gefühl.

Aber sie konnte doch hier nicht stehenbleiben. Mußte versuchen, zum Bahnhofsgebäude zu gelangen, das es ja schließlich auch auf dem kleinsten Bahnhof gab. Wenn sie sich nicht täuschte, schimmerte unweit ein Licht.

Mühsam taumelte sie darauf zu. Der Sturm warf sie fast um, der Schnee peitschte ihr ins Gesicht. Er mußte mit Hagel vermischt sein, sonst könnte er doch unmöglich so stechen wie spitze Nadeln. Die Wimpern waren verklebt, die Augen brannten.

Mein Gott, nahm denn dieser fürchterliche Weg gar kein Ende? Und dabei noch die Angst, in eine Falle getappt zu sein und bald Grausiges zu erleben.

Endlich stand sie vor dem Bahnhofsgebäude. In der oberen Etage brannte Licht, doch unten war alles dunkel, und die Tür, die wahrscheinlich zur Bahnhofshalle führte, war verschlossen. Verzweifelt polterte Armgard dagegen und ließ nicht früher nach, bis ein Bahnbeamter erschien.

»Sind Sie denn irrsinnig geworden!« schnauzte er, stutzte dann jedoch und fragte zögernd:

»Sind Sie vielleicht das Fräulein, das im Gylthaus erwartet wird?«

»Eben die bin ich.«

»Ach, du großer Gott, Sie hatte ich ja ganz vergessen! Kommen Sie bloß schnell rein, Fräuleinchen.«

Gleich darauf saß sie im warmen Amtszimmer. Als der Beamte merkte, wie durchgefroren sie war, hüllte er sie schuldbewußt in eine Decke und ging dann zum Fernsprecher, wählte eine Nummer und sprach gleich darauf:

»Ist Spierke da, ja? Sagen Sie ihm, daß der Zug angekommen ist, das Fräulein sitzt im Amtszimmer.«

Er legte auf und wandte sich Armgard zu.

»Oje«, sagte er zerknirscht. »Beinahe wäre es schiefgegangen. Zum fahrplanmäßigen Eintreffen des Zuges war nämlich jemand hier, um Sie im Schlitten abzuholen. Als die Verspätung gemeldet wurde, und man nicht sagen konnte, wie lange die währen würde, wollte der Mann nicht warten, wegen dem Pferd, wissen Sie, das war nämlich gepumpt. Im Gylthaus haben sie bloß ein Auto, und das ist nichts für tiefen Schnee, da kommt es nicht durch, das schafft nur ein Schlitten, den der Spierke besorgte.

Na ja, und mit so einem gepumpten Pferd muß man doppelt vorsichtig sein, das darf man im Schneesturm nicht wer weiß wie lange warten lassen. Also fuhr der Spierke zum Wirtshaus, um dort das Gefährt unterzustellen. Doch bevor er abfuhr, schärfte er mir ein, ein wachsames Auge auf Sie zu haben, Fräuleinchen. Sobald der Zug ankäme, sie in Empfang zu nehmen, Sie ins Warme zu führen und ihm sofort telefonisch die Ankunft zu melden, und das habe ich verschwitzt. Ist das sehr schlimm?«

»Jetzt nicht mehr«, beruhigte sie den Zerknirschten. »Jetzt sitze ich ja im Warmen. Vorher allerdings, da war es scheußlich. Der Schneesturm und dazu die Angst, wer weiß wie lange in der weißen Hölle herumirren zu müssen, aber das ist ja nun vorbei. So langsam beginne ich aufzutauen.«

»Wollen Sie einen Schnaps?« bot er eifrig an, sie lehnte ab.

»Danke, ich muß einen klaren Kopf behalten. Ob es lange dauern wird, bis der Schlitten hier ist?«

»Bestimmt nicht. Wie mir scheint, klingelt er schon, will schnell mal nachsehen.«

Weg war er, und als er gleich darauf zurückkehrte, griff er nach dem Koffer.

»Kommen Sie man, Fräuleinchen, er ist da. Verflixt noch mal, bin ich aber froh!«

Als Armgard an den Schlitten trat, stand da ein Mann, der bis über beide Ohren im Pelz steckte und in strammer Haltung meldete:

»Ich bin der Gartner-Chauffeur aus dem Hause von der Gylt, bin beauftragt, das Fräulein von Hollgan abzuholen.«

»Das bin ich, besten Dank.«

Ehe sie sich so recht versah, saß sie im Schlitten, in Pelzwerk vermummt bis zur Nasenspitze. Nachdem der Kutscher das Gepäck verstaut und sich neben Armgard gesetzt hatte, gelang es dem Bahnhofsvorsteher gerade noch, die Pelzdecke festzustopfen, da preschte das ungeduldige Pferd auch schon los. Es zog gewaltig zum warmen Stall. Kein Wunder bei dem Wetter. Wohl stürmte es nicht mehr so arg, aber es schneite immer noch, und es wehte ein eisiger Wind.

Daher war auch auf der Straße des Dorfes, das der Schlitten durchfuhr, nur wenig Betrieb, man ließ es sich in den warmen Stuben wohl sein. Es gab kaum ein Haus, dessen Fenster nicht erhellt waren.

»Ist bloß gut, daß das eisige Wetter die Radaubrüder in die Stuben gejagt hat«, sagte Spierke zufrieden. »Sonst wäre unser Brauner bei dem Geknatter und Geknall, wie es sonst in der Silvesternacht hier üblich ist, wohl wild geworden. Ein Skandal, daß Sie in dieser Nacht unterwegs sein müssen, gnädiges Fräulein. Dazu noch bei einem Wetter, wo der Bauer nicht einmal seinen Hund hinausjagt.«

»Sie sind ja auch unterwegs.«

»Ach, das macht mir doch nichts aus, wenn uns nur unser guter Herr erhalten bleibt.«

»Steht es denn so schlimm mit ihm?«

»Leider«, nickte er bekümmert. »Unsere ganze Hoffnung setzen wir auf die Enkelin, nach der er so sehnsüchtig verlangt. Prrr, Brauner, trab nicht weiter, wir sind ja schon da.«

Der Schlitten hielt, vor dem Haus wurde es hell, und dann griffen viele Hände nach Armgard, zogen sie in die warme Diele und pellten sie aus den Hüllen.

Nun stand sie da in der hellsonnigen Schönheit, welche die Natur ihr mitgab. Sie merkte die entzückten Blicke der drei Menschen nicht, sie hatte mit sich selbst zu tun. Fürchtete sich noch immer vor dem, was sie hier vorfinden würde.

»Dr. Sinder«, stellte sich der Herr vor. »Und das ist Frau Spierke, deren Mann Sie ja schon kennen, und das ist beider Tochter Elsbeth.«

Freundlich reichte Armgard ihnen die Hand und fragte dann den Arzt:

»Wo finde ich meinen Großvater, Herr Doktor?«

»Oben. Ich führe Sie zu ihm.«

Die Treppe, die sie hinaufstiegen, war breit und geschnitzt, die Läufer waren dick und flauschig. Sie zogen sich auch über den Gang hin, der zu beiden Seiten weißlackierte Flügeltüren aufwies. An der rechten Seite waren zwischendurch Fenster, durch die der Gang sein Licht bekam. Bevor der Arzt eine der Türen öffnete, wandte er sich Armgard zu und sagte halblaut:

»Fräulein von Hollgan, wie ich schon am Telefon sagte, ist es mir unerklärlich, wie Sie zu der Annahme kommen konnten, daß Ihr Großvater tot sei. Leider scheint es nicht das einzige Mißverständnis zu sein, das zwischen Ihnen und ihm steht und unbedingt geklärt werden muß, aber erst später. Jetzt bitte ich Sie von ganzem Herzen, dem Kranken liebreich zu begegnen, es hängt so viel davon ab. Wollen Sie mir das versprechen?«

»Ja.«

»Danke.«

Jetzt erst öffnete er die Tür und schob seine Begleiterin ins Zimmer, das von einer abgeschirmten Lampe wohl schwach, aber immerhin so erhellt war, daß man alles im Raum erkennen konnte. Aus dem Lehnsessel, der am Fußende des Bettes stand, erhob sich die Pflegerin und ging auf die Eintretenden zu.

»Hier ist die Heißersehnte endlich«, sagte der Arzt leise. »Und das ist Schwester Agnes.«

Sie reichten sich zur Begrüßung die Hände, und dann trat Armgard an das Bett, wo sie zuerst regungslos verharrte. Es war eine lange Zeit her, seit sie den Großvater sah – dennoch erkannte sie ihn sofort, trotz des abgezehrten Gesichts.

»Armgard«, wehte es wie ein Hauch zu ihr hin. Da beugte sie sich über ihn und sagte herzlich:

»Ich bin ja bei dir, Großpapa.«

Die Lider hoben sich von den matten Augen, die forschend in das Mädchengesicht blickten und dann umzuckte ein schwaches Lächeln den Mund des Kranken.

»Liebling, du bist ja ganz – der – Papa.«

»Freut dich das, Großpapa?«

»Sehr. Ich danke Gott. Jetzt geht es mir schon besser, trotzdem bin ich müde.«

»Dann schlaf dich gesund.«

»Wirst du indes auch nicht fortgehen?«

»Nein«, entgegnete sie fest. »Ich bleibe hier, solange du mich brauchst.«

»Wie schön.«

Die müden Augen schlossen sich, und rasch griff der Arzt nach dem Puls, prüfte ihn und nickte dann der Pflegerin erfreut zu.

»Ich glaube, Schwester Agnes, das Ärgste ist geschafft. Das war wieder einmal die rechte Medizin zur rechten Zeit. Aber nicht die von uns verschriebene, sondern die da«, er zeigte schmunzelnd auf Armgard. »Wir gehen nach unten. Wenn etwas sein sollte, Schwester Agnes –«

»Es wird nichts sein, Herr Doktor.«

»Das walte Gott.«

*

Als Armgard in Begleitung des Arztes das Wohnzimmer betrat, wo im Kamin ein helles Feuer prasselte, kamen ihr zwei Menschen entgegen, die ihr als Kapitän Fröke nebst Gattin vorgestellt wurden. Er so der richtige Seemann, groß, breit, mit wetterhartem Gesicht und durchdringenden hellen Augen, sie mittelgroß, rundlich, rosig, lieb und mütterlich, von pomadiger Ruhe und trockenem Humor.

»Aber das ist ja ein Tausendschönchen«, brummte ein gemütlicher Baß. »Daran wird der Großpapa aber Spaß haben. Wie geht es ihm?«

»Er schläft nun endlich«, antwortete der Arzt. »Der Anblick des Tausendschönchens hat bei ihm Wunder gewirkt.«

»Na also«, schmunzelte der Seebär. »So was muß ja selbst den Klabautermann entzücken.«

Da lachte Armgard, frisch, froh, die blauen Augen lachten mit und schon flogen ihr drei Herzen ganz spontan entgegen. Man nahm am Kamin in den Sesseln Platz, zwischen denen ein Tischleindeckdich stand. Fleischsalat, delikate Schnitten; steifer Kaffee, dickflüssige Sahne, so recht was für einen hungrigen Magen.

Und hungrig waren sie alle, da der Magen leer war. Armgard hatte die aufregende Reise den Appetit genommen, den anderen die Sorge um den Kranken. Doch nun sie wieder hoffen konnten, spürten sie den Magen, der energisch sein Recht verlangte, und aßen sich so richtig satt. Danach griff der Arzt zur Zigarre, der Kapitän zur Pfeife, und seine Frau schob Armgard das goldgetriebene Kästchen mit Zigaretten hin.

»Mal ausnahmsweise«, sagte sie und griff hinein. »Ich bin nämlich das, was man eine Sonntagsraucherin nennt.«

Als das verschiedene gute Kraut brannte, erschien Elsbeth mit einem Kühler, aus dem zwei Flaschenhälse ragten, stellte Gläser bereit und räumte den Tisch ab. Nachdem sie gegangen war, ließ der Kapitän den Pfropfen knallen, und man stieß auf das neue Jahr an.

»Kein guter Anfang für Sie«, sagte Frau Fröke mitleidig zu Armgard. »Und das Ende des vergangenen Jahres war auch kein gutes, da Sie es bei Wind und Wetter beschließen mußten. Wie konnte es überhaupt kommen, daß der Zug zwei Stunden Verspätung hatte?«

»Weil er erstens mit großer Verspätung auf der Station, wo ich umsteigen mußte, ankam, und dann während der Fahrt zweimal steckenblieb. Als er ausgeschaufelt war, fuhr er zwar weiter, konnte jedoch das gewohnte Tempo nicht einhalten, da die Gleise verschneit waren. Vielleicht hätte diese Reise mit Hindernissen mir sogar Spaß gemacht, wenn in mir nicht die Unruhe und der Zweifel gewesen wären, daß es wirklich mein Großvater sei, zu dem man mich rief.«

»Das kann man verstehen«, nickte Fröke. »Hm, na ja, wer erzählte Ihnen eigentlich, daß Ihr Großvater tot sei?«

»Meine Mutter.«

»Wann war das?«

»Vor ungefähr zwei Jahren.«

»Wir wollen jetzt Schluß machen«, schaltete Frau Fröke sich ein. »Fräulein Armgard ist müde und muß ins Bett…«

»Nein!« winkte sie entschieden ab. »Ich könnte ja doch nicht schlafen, bevor ich nicht weiß, wie alles zusammenhängt. Ich fürchte, man hat mich schmählich betrogen, aber warum? Das muß unbedingt noch geklärt werden, sonst habe ich keine Ruhe. Wollen Sie bitte Fragen stellen, die ich ohne Vorbehalt beantworten werde?«

»Tja, das ist nicht so einfach«, wich Fröke aus.

»Warum nicht, etwa wegen meiner Mutter?«

»Allerdings. Was machen wir da, Lottchen?«

»Zuerst müssen wir von Fräulein Armgard erfahren, was Sie überhaupt von ihrem Großvater weiß. Sprechen Sie unbesorgt, Kindchen. Sie befinden sich unter Menschen, die mit Ihrem Großvater gute Freundschaft halten. Was hier besprochen wird, bleibt selbstverständlich unter uns.«

Da sprach Armgard sich so richtig das Herz frei, und erschüttert hörte man zu. Als sie schwieg, wischte das weichherzige Lottchen sich die Tränen aus den Augen.

»Daß Gott erbarm, so ein junges Blut«, sagte sie mit vibrierender Stimme. »Die kranke Mutter betreuen, den Haushalt besorgen, dazu noch viel lernen und das schwere Examen bestehen. Hatten Sie wenigstens genügend Geld zum Leben?«

»Für mich allein wäre es reichlich gewesen, aber ich mußte ja noch meine Mutter mitunterhalten. Zwar hatte sie die Pension, doch da sie sehr anspruchsvoll war, kam sie nie damit aus, zumal Arzt und Medikamente viel Geld kosteten. Außerdem trank sie, wozu ich ihr natürlich nicht verhalf. Sie muß jemand gehabt haben, der sie mit Alkohol versorgte, wenn ich am Vormittag im Labor war.

Gern hätte ich sie in ein Sanatorium gegeben, aber dafür reichte das Geld nicht aus.

Daß sie nun so armselig leben mußte, daran gab sie ihrem Vater die Schuld, der Frau und Kind gewissenlos verließ und mit einer anderen durchging.«

»Durchging?« wiederholte Fröke verständnislos. »Ja wissen Sie denn nicht, daß Ihr Großvater sich von seiner Frau scheiden ließ?«

»Nein. Wann soll das gewesen sein?«

»Vor fünf Jahren, als er dieses Haus gekauft hatte.«

»Aber meine Mutter schrieb mir doch, gerade an dem Tag, da ich das Abitur bestanden hatte, daß der Verrat meines brutalen Großvaters seiner sensiblen Frau das Herz brach, so daß sie bald darauf starb.«

»Auch das noch.«

»Stimmt es denn nicht?«

»Nein und das wohl nicht allein.«

Mein Gott, was werde ich denn noch alles zu hören bekommen?«

»Sie brauchen es ja nicht«, begütigte Frau Fröke, doch da begehrte das Mädchen auf:

»Ich will es aber wissen! Alles, bis ins kleinste. War mein Großvater schon frei, als er mit der anderen Frau…?«

»Schon längst, sonst hätte er sie ja gar nicht heiraten können.«

»Er, er hat noch einmal geheiratet?« stammelte das Mädchen mit zuckenden Lippen. »Wo ist denn jetzt seine Frau?«

»Er hat sie vor zwei Wochen auf dem Dorffriedhof hier begraben lassen«, sprach nun der Arzt, der sich Sorge machte. »Das war ihr Wunsch, dem er natürlich nachkam. Und nun wollen wir es genug sein lassen. Es ist für Sie schwer genug, was Sie bisher zu hören bekommen haben, mehr können Sie heute nicht verkraften. Sonst klappen Sie womöglich noch zusammen und das darf wegen Ihres Großvaters nicht sein.«

»Keine Angst, so leicht mache ich nicht schlapp«, beruhigte sie. »Das habe ich bei dem zermürbenden Leben, das ich bei meiner Mutter führte, mehr als einmal bewiesen. Weshalb mag meine Mutter ihren Vater so sehr gehaßt haben?«

»Weil sie bald nach dem Tode ihres Gatten einen Mann kennenlernte«, sprach nun wieder der Kapitän. »Einen bildhübschen Tunichtgut und Spieler, der sie so richtig ausplünderte. Doch sie war in ihn so vernarrt, daß sie ihm nicht nur ihr Vermögen bis auf den letzten Heller gab, sondern auch die Villa, Schmuck und anderes mehr verkaufte. Als er auch das Geld vergeudet hatte und außerdem noch bis über beide Ohren in Schulden steckte, verlangte Frau Freda Geld von ihrem Vater, was schroff abgelehnt wurde. Und als der gewissenlose Kerl merkte, daß bei seinem Opfer nichts mehr zu holen war, verschwand er klammheimlich. Das ist die Wahrheit. Alles andere, was Ihnen eingeflüstert wurde und was Sie in Ihrer Unerfahrenheit glaubten, ist erlogen.«

»Aber, aber, wie kann man nur so geradeaus sein«, sagte Lottchen ärgerlich, doch Fröke ließ sich nicht beirren.

»Ich habe unserem Freund Frederik versprechen müssen, alle Fäden der Intrige, mit denen man seine unerfahrene, gutgläubige Enkelin umspann, rücksichtslos zu zerreißen. Also dürfen Sie mir darum nicht gram sein…«

»Im Gegenteil«, warf Armgard gelassen ein. »Ich bin Ihnen für Ihre Offenheit sogar dankbar. Denn jetzt wird mir so manches klar, woran ich herumrätselte. So wird es wohl auch nicht wahr sein; was meine Mutter von dem verlassenen Ehemann schrieb. Stimmt es, daß er sich aus Verzweiflung über seine durchgebrannte Frau erschoß?«

»Daß er sich erschoß, stimmt. Aber nicht wegen seiner Frau, sondern weil der gemeine Kerl so in die Enge getrieben wurde, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als zum Revolver zu greifen.«

»Danke, das genügt mir vorerst. So nach und nach werde ich wohl alles bis ins kleinste erfahren. Doch eins möchte ich jetzt noch wissen: Woher kannten Sie meine Anschrift, Herr Doktor?«

»Von Ihrem Großvater. Der wiederum erfuhr sie von seinem Bruder.«

»Onkel Jonathan? Aber der kennt mich doch kaum.«

»Weil Ihre Mutter sich mit ihm und seiner Familie überworfen hatte und deshalb auch ihre Tochter von den Verwandten fernhielt. Um keinen Ärger zu machen, ging man Ihnen aus dem Wege und besuchte Ihren Vater, den man sehr schätzte, nur, wenn seine Frau verreist war oder sich auf einer Fete befand, ohne die sie ja nicht leben konnte.«

»Und wo war ich?«

»Im Bett, da die verschwiegenen Gäste sich ja erst abends einfanden. Auch Ihr Großvater, der seinem Schwiegersohn sehr zugetan war und ihn besuchte, sofern es nur anging.«

»Und wie war das Verhältnis der Brüder zueinander?«

»Gut, was wiederum Ihre Großmutter zu hintertreiben versuchte, was ihr jedoch trotz aller Hinterhältigkeit nicht gelang. Als Frederik nach seiner Scheidung dieses Haus erwarb, waren sein Bruder Jonathan und dessen Frau hier oft zu Gast, daher sind sie uns auch gut bekannt.

Ohne daß Sie es wissen, hat Jonathan Sie auf Wunsch Frederiks regelrecht bespitzelt, und zwar während der Zeit, die Sie bei Ihrer Mutter wohnten, die er mied wie die Pest.

Also wußte er auch, daß Sie nach dem Tod der Mutter die kleine Wohnung in Bausch und Bogen verkauften und sich mit einem möblierten Zimmer behalfen. So war es leicht, Sie zu finden. Sind Sie jetzt so einigermaßen im Bilde?«

»Ja, danke. Und wo kann ich nun mein müdes Haupt betten?«

»Ich gehe mit Ihnen«, erbot sich Frau Fröke. »So ein bißchen bemuttert zu werden, wird Ihnen jetzt guttun.«

So verabschiedete sich Armgard von den beiden Herren, bedankte sich für die ausführlichen Informationen und folgte der mütterlichen Frau.

*

Als Armgard erwachte, fühlte sie sich frisch und ausgeruht. Mit einem Blick auf die Armbanduhr stellte sie fest, daß es neun Uhr war. Jetzt aber mal hurtig.

Sie schwang die Beine aus dem Bett, schlüpfte in die Pantöffelchen und sah sich in dem Zimmer um, in dem alles in lichten Farben gehalten war. So schön war alles, so elegant, so recht was für eine verwöhnte Tochter des Hauses.

Die schmale Tür führte ins Bad, das in Kacheln und Chrom nur so blitzte. Baden, nein, heute mußte alles husch husch gehen. Also duschte sie, zog sich flink an und war ihn zwanzig Minuten fertig. Weich schmiegte sich das blaue Wollkleid an den ranken Körper, das natürlich gewellte Haar gleißte wie köstlicher Bernstein, blau strahlten die Augen aus dem feinen Antlitz. Schön war sie, so eine rechte Augenweide für Schönheitskenner.

Es klopfte, und auf ihr »Herein« steckte Schwester Agnes zuerst den haubengeschmückten Kopf durch den Türspalt und trat dann ein.

»Guten Morgen, Fräulein von Hollgan. Ich wollte Sie aus dem Bett werfen, und nun haben Sie mich um das Vergnügen gebracht.

Sehen Sie mich bloß nicht so ängstlich an, unserm Kranken geht es erstaunlich gut. Er hat die Morgentoilette bestens überstanden, hat gefrühstückt und wartet nun auf Ihren Besuch.«

Als sie das Zimmer betraten, wollte der Kranke sich aufrichten, was die Pflegerin verhinderte.

»Man immer langsam, Herr Doktor, soweit sind wir denn doch noch nicht. Schauen Sie mal, wen ich mitgebracht habe, so einen richtigen Sonnenstrahl.«

»Guten Morgen, lieber Großpapa«, lachte die Enkelin ihn strahlend an. »Wie mir Schwester Agnes sagte, geht es dir heute schon besser.«

»Das macht die Freude, dich zu sehen, mein Kind. Ich wollte es gar nicht glauben, als die Schwester es mir erzählte. Es kommt mir auch jetzt noch wie ein Traum vor. Wenn ich nur nicht so müde wäre.«

»Ein Zeichen, daß du noch nicht ausgeschlafen hast.«

»Wenn ich schlafe, gehst du denn auch nicht fort?«

»Aber nein, das versprach ich dir doch schon. Wenn es dich beruhigt, schwöre ich sogar.«

»Dann ist es gut.«

Er gähnte herzhaft, murmelte noch etwas vor sich hin, und schon hielt ihn ein tiefer Schlaf umfangen.

»Na also«, nickte die Pflegerin zufrieden. »Den haben wir bald überm Berg. Und nun gehen Sie nach unten und lassen sich ein gutes Frühstück servieren.«

In der Diele begegnete Armgard dem Mädchen Elsbeth, das sie bewundernd betrachtete.

»Guten Morgen, gnädiges Fräulein, sind Sie aber schön!«

»Finde ich auch«, klang eine Baßstimme aus einem Zimmer, dessen Tür offenstand.

»Das ist der Herr Kapitän«, sagte Elsbeth lachend. »Der muß immer seine Späßchen machen. Die Herrschaften sind eben erst gekommen, gehen Sie dort hinein.«

Es war das Frühstückszimmer, das Armgard gleich darauf betrat. An dem reichgedeckten Tisch saß das Ehepaar Fröke und frühstückte mit Behagen.

»Hallo, Tausendschönchen«, zwinkerte der Mann ihr vergnügt zu. »Wir nähren uns hier wie Nachbars Hühnchen.«

»Wie mich das freut«, entgegnete Armgard, die beiden dabei begrüßend. »Allein am Tisch würde es mir gar nicht schmecken.«

»Das haben wir uns so ungefähr gedacht und daher Abhilfe geschaffen. Waren Sie schon bei Großvater?«

»Ja.«

Sie nahm am Tisch Platz, schenkte sich aus der Maschine Kaffee ein und trank ihn mit Behagen.

»Der hat es in sich, der tut gut.«

»Aber nicht nur trinken, sondern auch essen«, meinte Lottchen und legte ihr ein gutbelegtes Wurstbrot auf den Teller.

»Das haben Sie nämlich nötig, Sie Blaßschnäbelchen. Ist der Großpapa nun zufrieden, daß er seinen Abgott endlich bei sich hat?«

»Tante Lottchen, Sie werden ja spitz«, lachte Armgard. »Großpapa ist noch viel zu müde, um alles so richtig zu begreifen. Er wollte es gar nicht glauben, daß ich hier bin, er glaubte, er hätte das geträumt, zumal er mich in der Nacht beim Dämmerlicht der abgeschirmten Lampe sah. Doch nun er mich beim hellen Licht beäugen konnte, kam ihm meine Gegenwart schon wahrscheinlicher vor. Er schlief aber erst beruhigt ein, nachdem ich ihm beteuert hatte, nicht fortzugehen.«

»Und nun er Sie endlich hier hat, wird er Sie nicht mehr hergeben«,

gab Fröke zu bedenken. »Da werden Sie wohl Ihrer Firma kündigen müssen…«

»Ist bereits geschehen«, warf sie ein. »Allerdings habe ich nicht gekündigt, sondern die Kündigung wurde mir zugestellt. Ich hatte meinen Posten ohnehin nur aushilfsweise bekommen. Und mein möbliertes Zimmer muß ich auch zum ersten Februar räumen, da eine Freundin meiner Wirtin zu ihr zieht. Übrigens habe ich versprochen, sie anzurufen. Wo finde ich das Telefon?«

»In der Diele.«

Weg war sie, und als sie zurückkehrte, sagte sie:

»Nicht einmal der Morgenkaffee hat meinem guten Muttchen Ricks geschmeckt, aus lauter Sorge um mich. Nun sie beruhigt ist, wird sie gleich eine Tasse mehr als sonst trinken, wie sie mir verriet.«

»Scheint ein lieber Mensch zu sein«, mutmaßte Lottchen, und Armgard nickte bekräftigend:

»Das ist sie. Ich habe es gut bei ihr gehabt. Zum Dank dafür soll sie auch als Abschiedsgeschenk die Gobelindeke haben, die sie sich nicht leisten kann. Zwar muß auch ich meine paar Groschen zusammenhalten, aber die teure Decke wird trotzdem gekauft, dafür schränke ich mich um so mehr ein. Und wenn der Großpapa mich hierbehalten will, muß ich mir in der Nähe eine Beschäftigung suchen, die Geld einbringt.«

»Hm«, meinte Fröke, nach dem ausgiebigen Frühstück zur Pfeife greifend. »Haben Sie schon mal über die pekuniären Verhältnisse Ihres Großvaters nachgedacht?«

»Nein. Ich weiß nur, daß seine erste Frau auf großem Fuß lebte. Hat sie ihn ruiniert?«

»Wäre ihr ohne weiteres gelungen, wenn er nicht den Daumen aufs Portemonnaie gedrückt hätte. Daher ihre Wut und der Haß, den sie auch ihrer Tochter förmlich einimpfte. Soviel Geld wird unser Freund Frederik wohl schon haben, daß seine einzige Enkelin es nicht nötig hat, sich ihre Brötchen zu verdienen. Wenn nicht, schießen wir zu, nicht wahr, Lottchen?«

»Aber gewiß doch, tragen wir Eulen nach Athen«, entgegnete sie trocken, und Armgard sagte kopfschüttelnd:

»Verstehe ich nicht.«

»Ist auch nicht nötig, Marjellchen«, schmunzelte der Kapitän. »Es wird schon noch in dem hübschen Köpfchen tagen.«

*

Nach dem Mittagessen ging das Ehepaar nach Hause, um sich für ein

Stündchen aufs Ohr zu legen, wie Lottchen sagte. Sie versprachen jedoch, sich zum Kaffee wieder einzufinden.

Nun war Armgard allein. Sie steckte eine Zigarette in Brand, legte sich bequem im Sessel zurück und ließ ihre Blicke durch das Zimmer schweifen.

Vornehm und teuer. Wertvolle Möbel, echte Teppiche, einige gute Bilder und das übliche Zubehör, das ein Zimmer wohnlich macht.

In der Mitte stand ein Stutzflügel, schwarzglänzend, und irgendwie strahlte er Vornehmheit aus. Die Bilder zeigten Seelandschaften, nur das eine war ein Porträt mit einem Frauenantlitz von klarer Schönheit. Es war schmal und feingeschnitten, die Augen glänzten wie dunkler Perlmutt. Das dunkle Haar war in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, um den weichen Mund lag ein bezauberndes Lächeln.

Ein schönes Bild, ein stolzes Bild. Armgard konnte sich denken, wen es darstellte. Hoffentlich erfuhr sie nicht noch mehr Erschütterndes. Davon hatte sie in den Stunden, die sie erst hier weilte, gerade genug gehört.

Gestern um diese Zeit hatte sie noch in ihrem Stübchen gesessen, ahnungslos, was ihr bevorstand. Dann war sie ausgegangen, um Dinge für den Silvesterabend zu kaufen, die sie sich sonst nicht leistete. Still und beschaulich wollte sie die letzten Stunden des Jahres verleben und geriet dann in Geschehnisse hinein, die alles andere als still und beschaulich waren. Sie war in das neue Jahr hineingestürmt worden, im wahrsten Sinne des Wortes.

Nun, sie hatte alles gut überstanden. Wie sagt Wilhelm Busch: Gehabte Schmerzen hab’ ich gern. Jetzt konnten die ihr nichts mehr anhaben. Jetzt konnte sie sich, im weichen Sessel geschmiegt, durch die Fenster das Schneetreiben ansehen, in das sie in der Silvesternacht geraten war.

Während sie den Rest der Zigarette in die Aschenschale drückte, ging ihr Blick zu der geschlossenen Flügeltür hin, hinter der das Arbeitszimmer des Hausherrn lag, wie Elsbeth ihr erklärt hatte.

Ob sie sich das wohl ansehen durfte? Aber warum denn nicht? Sie gehörte ja jetzt hierher, wie Frökes und auch der Arzt ausdrücklich betont hatten.

Also erst mal die Lage peilen. Sie öffnete die Tür einen Spalt, lugte hindurch, und was sie erspähte, waren mit Büchern gefüllte Regale, ein breiter Schrank, in der Mitte ein wuchtiger Schreibtisch, Sessel und Teppiche nebst anderem Zubehör, an der einen Wand vier Porträts, und zwei davon waren doch…

Rasch trat Armgard heran und schaute in das Gesicht ihres Vaters und ihr eigenes. Er in Generalstabsuniform, sie als Kind von neun Jahren.

Also hier befanden sich die Bilder, die ein namhafter Künstler malte und ihrem Vater zum Geburtstag schenkte. Die er wie ein Heiligtum gehütet hatte und die dann nach seinem Tod verschwunden waren. Als sie die Mutter danach fragte, entgegnete diese mürrisch:

»Was weiß ich, wo die geblieben sind. Ich habe mehr nachzutrauern als zwei Bildern.«

Um so mehr trauerte Armgard ihnen nach, und nun fand sie hier die Kostbarkeiten, die sie längst verloren geglaubt.

Ihr Paps. Ja, so hatte er ausgesehen, so strahlend schön und froh, als er noch gesund war und die schmucke Uniform mit Stolz trug. Wohl besaß Armgard eine Photographie aus dieser Glanzzeit, aber die wirkte fahl gegen dieses prächtige Bild. Als müßte der Mann jeden Augenblick aus dem Rahmen steigen, so lebendig wirkte er.

»O Paps, lieber guter Paps!«

Hastig wischte Armgard sich mit dem Handrücken über die Augen und wandte sich ihrem eigenen Konterfei zu. Sah ein weiches Kindergesicht mit strahlenden Blauaugen, ein hellsonniges Lockenköpfchen, ein niedliches weißes Kleid und eine leuchtend rote Korallenkette. Nun sah sie selbst, wie ähnlich sie dem Vater war, was sie mit Stolz erfüllte.

Die andern beiden Porträts, gleichfalls von Künstlerhand gemalt, zeigten den Senator Jonathan von der Gylt und seine Frau Gesine. Er ernst und würdig, sie vornehm und steif. Genauso hatte Armgard die beiden in Erinnerung, und sie würden sich auch wohl kaum geändert haben.

Gern hätte sie sich noch länger in dem Raum umgesehen, doch da man die Heizung abgestellt hatte, war es ungemütlich kalt. So griff sie denn nach einem Buch, dessen Titel ihr zusagte, und ging ins Wohnzimmer zurück, kuschelte sich in den Sessel, der dem Kamin am nächsten stand, und versuchte zu lesen. Doch immer wieder schweiften die Gedanken ab. Sie verspann sich so sehr darin, daß sie zusammenfuhr, als Frau Fröke eintrat.

»Da bin ich«, sagte sie vergnügt. »Und zwar ohne meinen Brummbär. Den hat man weggeholt, weil er auf einem Kahn gebraucht wird, da springt er immer ein. Wohl ist er Kapitän a. D., aber um sich ganz auf die faule Haut zu legen, dafür ist er denn doch noch zu vital.«

Ohne weiteren Kommentar nahm sie Platz, suchte aus der Tasche Brille nebst Strickzeug hervor und ließ die Nadeln munter klappern.

»Haben Sie was von unserm Kranken gehört?« fragte sie sich, was Armgard verneinte.

»Dann wird er noch schlafen«, meinte Lottchen, mit Vorliebe von ihrem Mann Pummelchen genannt, pomadig. »Sonst hätte er bestimmt nach Ihnen verlangt.«

»Ich könnte doch Schwester Agnes ablösen«, schlug Armgard vor. »Sie ist doch sicher sehr müde.«

»Kann sie ja gar nicht sein«, meinte Lottchen. »Sie hat die ganze Nacht bis in den Morgen hinein geschlafen.«

»Und wer hat bei dem Kranken gewacht?«

»Doktor Sinder. Er erwartete nämlich bei seinem Patienten einen Kollaps und hielt es daher für erforderlich, gleich zur Stelle zu sein.«

»Ist der Kollaps eingetreten?«

»Nein, der Kranke schlief über ihn hinweg. Nachdem der Arzt festgestellt hatte, daß die Gefahr vorüber war, streckte er sich auf den Diwan, wo er bald einschlummerte. Und als die Pflegerin morgens sieben Uhr das Krankenzimmer betrat, schliefen Doktor und Patient um die Wette. Nachdem ersterer gut gefrühstückt hatte, ging er nach Hause, um seinen Sohn, mit dem er zusammen praktiziert, abzulösen.«

»Haben sie die Praxis im Dorf Klein-Dünen?«

»Ja. Als Dritte im Bunde betätigt sich die junge Frau Sinder als Kinderärztin, sie haben alle drei gut zu tun.«

»Ist das Dorf denn so groß?«

»An die anderthalbtausend Einwohner wird es schon haben. Wenn man nun noch die Bewohner der Umgegend und die Gäste dazu rechnet, dann summiert sich das.«

»Ist das Dorf ein Kurort?«

»Nicht direkt. Dazu langt es nicht, es fehlt das ganze Drum und Dran. Es geht aber auch so. Denn nicht nur die beiden Gasthäuser sind im Sommer proppenvoll, sondern auch Privatquartiere sind stets belegt. Natürlich kommen nur solche Menschen her, die unverfälschte Natur lieben.«

Elsbeth erschien mit dem Servierwagen und deckte den Kaffeetisch am Kamin. Der Kaffee war vorzüglich, der Kuchen gebacken nach dem Rezept: Man nehme…

Nachdem man sich gelabt hatte, war Elsbeth wieder zur Stelle, um abzudecken, Lottchen griff zum Strickzeug, obwohl es im Zimmer schon dämmrig war, und Armgard schielte nach dem Zigarettenkästchen.

»Soll ich oder soll ich nicht? Es wäre heute nicht die erste, und ich möchte dem Laster nicht verfallen.«

»Na, das Laster läßt sich schon noch ertragen«, meinte Lottchen. »Rauchen Sie nur, wenn es nicht gerade hundert am Tag sind.«

»Wenn übertreiben, denn«, griff Armgard in das Kästchen. Als die Zigarette brannte, stieß sie einen Seufzer des Wohlbehagens aus.

*

Der nächste Tag brachte ein strahlendes Winterwetter. Als Armgard am Morgen erwachte, war ihr Zimmer wie in Sonne getaucht. Ach, war das jetzt ein herrliches Leben! Sie fühlte sich so richtig als Freifräulein, so aller Pflichten ledig. Bis auf die eine, den Großvater zu betreuen, aber das würde ihr eine liebe Pflicht sein.

Gestern hatte sie länger als eine Stunde an seinem Bett gesessen und ihn unterhalten, wobei sie alles vermied, was ihn aufregen könnte. Nur gut, daß er keine Fragen stellte, wozu er wohl auch noch zu schwach war.

So redete sie zuerst munter drauflos. Doch als sie merkte, daß er müde wurde, dämpfte sie die Stimme und lullte ihn so richtig in den Schlaf.

Dann war auch sie ins Bett gegangen. Obwohl es noch reichlich früh war, schlief sie bald ein und brachte es somit auf elf Stunden Schlaf. Kein Wunder, daß sie jetzt so fuchsmunter war.

Eine halbe Stunde später ging sie zu dem Kranken, der ihr aus dem Lehnstuhl entgegenlächelte, in dem er warm verpackt saß. Freudig überrascht begrüßte sie ihn mit einem Wangenkuß.

»O Großpapa, bin ich aber froh, daß du schon außer Bett sein darfst.«

»Das merkt man«, lachte die Schwester. »Sie strahlen wie die liebe Sonne draußen. Ansonsten sehen Sie aber ziemlich blaßschnäbelig aus, und ich würde Ihnen raten, hinauszuwandern in die Winterherrlichkeit, das gibt rote Backen.«

»Verlockend wäre es schon«, zögerte Armgard. »Aber ich möchte doch lieber bei Großpapa bleiben.«

»Der muß sowieso ins Bett, also ab mit Ihnen!«

»Sind Sie aber energisch«, lachte Armgard, was ihr Großvater gleichfalls lächelnd bestätigte.

»Davon kann ich ein Liedchen singen. Obwohl ich nicht immer mit ihr einer Meinung bin, diesmal muß ich ihr recht geben. Du siehst wirklich blaßschnäbelig aus, ein Spaziergang kann dir nur dienlich sein. Aber zuerst gut frühstücken.«

»Wird gemacht, Großpapa, gehabt euch wohl.«

Vergnügt zog sie ab und begab sich ins Frühstückszimmer, wo sie ein üppiges Tischleindeckdich vorfand. Kaum daß sie Platz genommen hatte, erschien Elsbeth mit der Kaffeekanne, und hinter ihr trottete etwas, das die erschrockene Armgard wütend ankläffte und erst dann Ruhe gab, als Elsbeth ihn energisch zurechtwies.

»Schäm dich mal, das liebe Frauchen anzubellen. Kusch dich!«

Pomadig kam der putzige Scotchterrier dem Befehl nach, legte den Kopf auf die gestreckten Läufe, blinzelte verschmitzt und setzte dann sein Schwänzchen in Bewegung.

»Na also«, lachte Armgard, sich niederbeugend und den Hundekopf streichelnd. »Dich habe ich noch nicht gesehen.«

»Er war ja gestern auch noch nicht hier«, erzählte Elsbeth. »Mein Vater mußte ihn wegbringen, weil er durchaus zu seinem kranken Herrchen wollte. Er saß dann vor der Tür zum Krankenzimmer und jaulte, es war schrecklich. Als aber unser Herr heute nach ihm verlangte, hat mein Vater ihn gleich zurückgeholt.«

Indes hatte sie die Tasse gefüllt, wünschte guten Appetit und hob den Hund auf den Arm.

»Damit er Sie nicht belästigt«, erklärte sie. Wohl zappelte das Tierchen und knurrte, doch es half ihm nichts, es mußte mit.

Armgard hielt sich nicht lange beim Frühstücken auf. Noch am letzten Bissen kauend, suchte sie ihr Zimmer auf, um sich zum Spaziergang anzukleiden. Unter den Mantel noch die Strickjacke; Mütze, Schal und Handschuhe waren dick und flauschig, die Strümpfe warm, die Schuhe fest, so konnte sie schon der Kälte trotzen.

Die übrigens gar nicht so arg war, wie sie feststellen konnte, als sie durch die Haustür ins Freie trat. Tief sog sie die klare Luft ein und sah sich mit frohen Augen um.

Dem Haus war ein Ziergarten vorgelagert, von dessen Pforte vier Stufen hinab zur Fahrrinne führten. Von der gingen wiederum zehn Stufen hinab zum Strand, der zu den Häusern gehörte und durch Querzäune aus Maschendraht gekennzeichnet war. Badebuden gab es überall, auch ganz kleine Bootshäuser sah man hier und da stehen.

Ungefähr ein Dutzend Häuser lagen an der Zufahrtsstraße, die so stabil gebaut waren, daß sie wohl noch viele Jahre Wind und Wetter trotzen würden. Hauptsächlich das Nachbarhaus zur Linken stand so richtig behäbig da. Armgard vermutete, daß es den Frökes gehörte, was Spierke, der in Pelz und Stiefeln aus dem Haus trat, bestätigte:

»Ja, es ist das Frökehaus. Prima Kasten, den Sie sich hauptsächlich innen ansehen sollten, gnädiges Fräulein. Jetzt ist Frau Fröke allerdings nicht da, ist im Schlitten ins Dorf gefahren. Auch ich muß dorthin, um Einkäufe zu machen.«

Eiligst verschwand er, und Armgard überlegte, welchen Weg sie einschlagen sollte. Zum Wasser hinunter? Nein, das sah sie sich bei dem kühlen Lüftchen lieber von oben an. Links lag das Dorf, wie sie an dem Kirchturm sehen konnte, der deutlich sichtbar war, aber auch rechts schien etwas wie ein Turm emporzuragen. Mal sehen, wozu der gehörte.

Obwohl der untere Weg bequemer war, ging sie den oberen entlang, der nur als schmale Spur durch den Schnee führte, der bis zum nahen Waldrand in unberührter Weiße dalag. So viel Schnee hatte sie schon lange nicht mehr gesehen, da sie ja seit Jahren nicht mehr aus der Großstadt herausgekommen war, wo sich der Schnee nicht lange zu halten pflegt.

Munter stapfte sie los, bis sie ruckartig stehenblieb und mit ungläubigen Augen auf das Schloß schaute, das sich auf felsigem Vorsprung erhob. So ein richtiges Schloß am Meer, mit einigen kleineren Türmchen, mit Terrassen und Altanen, fest und trutzig stand es da, wie für die Ewigkeit erbaut. Dieses stolze Gebäude mußte sie sich unbedingt näher ansehen.

Allein ein breites schmiedeeisernes Tor gebot ihr Halt. Rechts und links schloß sich ihm eine hohe Mauer an, also nichts für Spitzbuben und neugierige Leute, die durften allenfalls durch die Stäbe des Tores lugen.

Sie tat es und fuhr entsetzt zurück, als jenseits des Tores wie aus dem Boden gewachsen eine große Dogge stand, sich dann am Gitter hochreckte und knurrend die gefährlichen Zähne zeigte, da suchte Armgard ihr Heil in der Flucht. Stolpernd hastete sie durch den Schnee, und erst als sie merkte, daß sie nicht verfolgt wurde, verlangsamte sie das Tempo.

Verflixt, das hätte böse ausgehen können. Das kam davon, wenn man seine Nase in verbotenes Gebiet steckte.

Als sie dann wieder vor dem Gylthaus stand, bemerkte sie Lottchen, die mit einer schweren Tasche behäbig dem Nachbarhaus zuging. Da war Armgard heran, griff hilfsbereit zu, und schon wurde Lottchen ungemütlich. Erst als sie die Helferin näher in Augenschein nahm, überließ sie ihr die Tasche und sagte lachend:

»Vor Taschendieben wird gewarnt. Nun ich Sie jedoch erkannt habe in Ihrer winterlichen Vermummung, hat die Warnung keine Gültigkeit.«

Indes hatten sie die Haustür erreicht, Lottchen schloß auf und zeigte einladend auf die nun offene Tür.

»Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein.«

Schon in der kleinen Diele merkte man, daß in diesem Haus ein Seemann wohnte, der von seinen vielen Reisen in fremde Länder Sehenswürdigkeiten aller Art mit nach Hause gebracht hatte. Das Zimmer, das sie gleich darauf betraten, mutete gar wie ein seemännisches Museum an. Aber traulich war es in dem weiten, niederen Raum mit der Balkendecke.

»Nun, Kindchen, wie gefällt es Ihnen?« fragte Lottchen das staunende Mädchen. »Ist nicht jedermanns Sache…«

»Ich finde es urgemütlich«, warf Armgard begeistert ein. »Du meine Güte, was es hier aber auch alles zu sehen gibt. Bis man das genau in Augenschein genommen hat, wird eine gute Weile dauern.«

»Nun, je öfter Sie hier sein werden, was ich stark hoffe, um so schneller haben Sie sich durchgefunden. Doch zuerst legen Sie Ihre winterlichen Hüllen ab, sonst dürfte es Ihnen zu warm werden. Denn unser Prachtstück von Kachelofen faucht nicht schlecht.«

»Das ist auch wirklich ein Prachtstück«, bewunderte Armgard den behäbigen Ofen, den bebilderte Kacheln schmückten. Die Rückseite stand an der Wand, die drei anderen Seiten umgab eine Bank, die mit dicken Polstern belegt war. Ihr Überzug zeigte Seemotive, genauso wie die Ofenkacheln. Um einen niederen Tisch standen vier bequeme Sessel, von denen nun zwei besetzt wurden.

»Ich müßte Ihnen ja eigentlich etwas anbieten«, sagte die Hausfrau. »Aber ich tue es nicht, da es in einer halben Stunde Mittag gibt. Da ich nichts gekocht habe, werde ich mich wieder einmal nähren wie Nachbars Hühnchen. Haben Sie sich schon ein wenig in unserer Gegend umgesehen?«

»Ein wenig schon, zu mehr kam ich leider nicht.«

Sie erzählte ihr erschreckendes Erlebnis und Lottchen lachte.

»Ist doch bloß gut, daß Sie nicht in den Park hineinspazieren konnten. Dann wäre der Harras wohl ungemütlich geworden, der ansonsten ein friedliches und dazu noch gut dressiertes Tier ist. Außerhalb fällt er keinen Menschen an, doch sobald ein Unbefugter in sein Reich dringt, dann hat’s gebumst. Waren die anderen Hunde auch dabei?«

»Nein, die Dogge war allein, was mir ausreichend genügte. Gibt es da womöglich noch mehr Hunde?«

»O ja. Noch ein Spaniel, ein Dackel, ein Pudel, auf dem Hof einige Wachhunde und die Hunde der Gutsbeamten.«

»Du meine Güte, vertragen die sich auch alle?«

»Gut sogar, weil sie wissen, daß sie zu einer Gemeinschaft gehören.«

»Na ich weiß nicht«, meinte Armgard skeptisch. »Zu welcher Gemeinschaft gehören sie denn?«

»Kindchen, Sie brauchen da gar nicht ironisch zu werden. Die Viecher sind alle gut gedrillt, wie überhaupt alles in dem großen Betrieb.«

»Und wem gehört der?«

»Ach so, das wissen Sie ja noch gar nicht. Das große Rittergut nebst Vorwerken gehört dem Grafen Björn. Uraltes Wikingergeschlecht. Steht jetzt nur noch auf zwei Augen. Alles Nähere lassen Sie sich vom Großpapa erzählen. Wir müssen uns nach drüben begeben, sonst geht uns die Mahlzeit verloren.«

*

Eine Woche später war der Kranke außer jeder Gefahr. Sein Herz war wieder intakt, wie Dr. Sinder sich schmunzelnd ausdrückte, und dank der guten Pflege wurde der Rekonvaleszent kräftiger mit jedem Tag. Doch als er wieder auf den Beinen stand, wurde er kleinlaut und ließ sich nur zu gern zum Lehnstuhl führen, wo er sich mit einem Seufzer der Erleichterung niederließ.

»Verflixt, wie kann man nur so schlapp sein«, brummte er. »So krank bin ich doch gar nicht gewesen.«

»Uns hat es gelangt«, bemerkte der Arzt trocken. »Sie haben uns ganz gut in Atem gehalten, der Herzanfall war nicht so ohne.«

»Wenn ich mir das nur erklären könnte. Mein Herz hat mir vorher doch nie etwas zu schaffen gemacht.«

»Es ist ja auch noch nie so überfordert worden wie im letzten halben Jahr«, überging Dr. Sinder taktvoll die anstrengende Pflege und den Tod der Frau. »Sie haben sich schnell genug wieder erholt, denn es sah böse aus. Und nun noch so zirka vier Wochen Geduld, dann sind Sie fit wie eh und je.«

Doch so lange dauerte es nicht, der Kranke konnte schon nach zwei Wochen die Mahlzeiten unten einnehmen. Die Pflegerin hatte sich verabschiedet, da sie nicht mehr gebraucht wurde.

Jetzt saß er im Wohnzimmer am Kamin und las. Es war still in dem Gemach, nur das Ticken der Uhr und das Prasseln der Scheite im Kamin waren hörbar.

Er sah vornehm aus, der Herr Dr. jur. Frederik von der Gylt, in dem eleganten Hausrock, dem weißseidenen Halstuch und dem weißen, gepflegten Haar, so der richtige Grandseigneur.

Jetzt legte er lächelnd das Buch weg, denn Armgard nahte. Und schon war das Haus erfüllt von ihrem herzfrohen Lachen und Strubbels lustigem Gebell. Er wurde zuerst sichtbar und hinter ihm das liebe Frauchen. Sie brachte einen Hauch von Winterluft mit, rote Wangen und blanke Augen. Und einen Mordshunger hatte sie, den sie bald am Kaffeetisch stillen konnte. Es schmeckte ihr prächtig, wie der Großvater mit Vergnügen wahrnahm.

»Liebchen, deine Taille«, neckte er, doch sie winkte schelmisch ab.

»Und wenn schon. Wer mich liebt, lacht doch.«

»Weißt du das denn so genau?«

»Nein. Ich weiß ja überhaupt noch gar nicht, wen die liebe Vorsehung für mich bestimmt hat. Hoffentlich nicht einen, bei dem ich mich nicht sattessen darf.«

»Uijeh, nein, so einen möchte ich auch nicht nehmen«, sagte Elsbeth, die den Tisch abdeckte. »Der einen dann womöglich noch ins Hungersanatorium steckt, da würden mir schön die Knochen klappern.«

Lachend zog sie ab, der Hausherr griff zur Importe, von denen der Arzt ihm vier am Tag bewilligt hatte. Armgard versorgte sich mit einer Zigarette, machte es sich im Sessel bequem und sagte so recht aus Herzensgrund:

»Wie geht es mir bloß gut. Du darfst mich aber nicht zu sehr verwöhnen, Großpapa, sonst werde ich so anspruchsvoll, daß ich deine Güte maßlos ausnutze. Hast du denn davor keine Angst?«

»Nein, mein Kind. Du wirst nie über Gebühr anspruchsvoll oder gar unverschämt werden, dafür bist du zu sehr die Tochter deines prächtigen Vaters, wofür ich dem Herrgott nicht genug danken kann. Schade, daß sie dich nicht kennenlernen durfte, sie hätte dich sehr lieb gehabt.«

Sein Blick ging zu dem Porträt hin, das von dem flammenden Abendrot überflutet wurde, das durch die Fenster ins Zimmer leuchtete und das Frauenantlitz förmlich verklärte. Wie gebannt schauten die beiden Menschen auf das unwirklich schöne Bild und wandten erst den Blick ab, als der Schein verblaßte. Armgard verhielt sich abwartend, bis der Mann mit vibrierender Stimme fragte:

»Weißt du, wer die Frau auf dem Bild ist?«

»Ja, Tante Lottchen sagte es mir.«

»Wurde sie dabei ausführlich?«

»Nein, sie wollte dir nicht vorgreifen. Sie meinte, du würdest mir das, was dich mit der Frau verband, viel besser erklären können. Wer war diese Frau, Großpapa?«

»Die Witwe des Grafen Götz von Björn. Er war der Stiefbruder des Grafen Folko, dem jetzt die Herrschaft Dünen allein gehört, während er, als sein Stiefbruder noch lebte, das Erbe mit ihm teilen mußte, das der Vater seinen beiden Söhnen zu gleichen Teilen vermachte. Doch da er ein weitsichtiger Mann war, der seinen Ältesten nur zu gut kannte, bestimmte er im Testament, daß nur eine vorgeschriebene Summe aus dem Besitz gezogen werden durfte, welche die Brüder zu teilen hatten.

Und diese Bestimmung wurde dem Besitz zum Segen. Denn ohne die hätte Götz den ihm gehörenden Teil bald vergeudet gehabt, und der Bruder hätte das Vätererbe nicht halten können, mit dem es ohnehin nicht besonders gut stand, und zum Zusetzen hatte Folko nichts.

Götz hingegen besaß einen guten Batzen als Muttererbe, aber den in den Besitz zu stecken, wäre ihm noch nicht einmal im Traum eingefallen.

Er kümmerte sich um nichts, überließ die Verwaltung der Herrschaft vollständig seinem Bruder. Ließ sich nur seinen Anteil pünktlich auszahlen und trieb sich ansonsten ständig herum bei Frauen, Wein und Spiel. Kein Wunder, daß er mit dem von der Mutter ererbten Geld bald fertig war und sich nach einer reichen Frau umsehen mußte. Da er gut aussah und außerdem noch die Frauen zu umgarnen verstand, fiel auch eine reiche Erbin auf ihn rein, welche bereits die Dreißig überschritten hatte.

Das kam wohl daher, weil sie weltfremd war, da sie den gelähmten Vater betreuen mußte und kaum herauskam. Außerdem fühlte sie sich nach dem Tod des Vaters vereinsamt, und wenn dann so ein hübscher Charmeur kommt und ihr das Blaue vom Himmel verspricht, dann nimmt so ein weltfremdes Mädchen das eben für bare Münze.

Was sie denn auch schwer büßen mußte. Schon bald gingen ihr die verblendeten Augen auf, und zwar als der Mann Geld von ihr verlangte. Denn zum Glück lebten sie in Gütertrennung, sonst hätte der üble Patron auch noch das viele Geld seiner Frau so nach und nach vergeudet.

Na ja, zuerst bekam er das Geld, bis sie erfuhr, wie ausschweifend er lebte, da hörten die Sonderzuwendungen auf.

Und damit begann ihr Martyrium. Er beschimpfte sie auf unflätige Weise, schlug sie sogar, was sie still erduldete, aber Geld bekam er nicht. Das versetzte ihn in so rasende Wut, daß er auf sie schoß…«

»Großer Gott!« unterbrach Armgard ihn entsetzt. »Das muß ja eine Bestie gewesen sein. Sprich nicht weiter, Großpapa, dein Herz…«

»Laß nur, mein Kind«, winkte er ab. »Mein Herz kann schon wieder einen ganz guten Puff vertragen. Ausgerechnet ich mußte diese Untat mit ansehen und auch der Förster, mit dem ich durch den Wald streifte. Als wir eine vor Wut brüllende Männerstimme hörten, pirschten wir uns heran und bemerkten zwei Reiter, die wir sofort als das gräfliche Paar erkannten.

Nun, ihre Meinungsverschiedenheiten gingen uns nichts an, also war es nicht ratsam, sich da einzumischen. Der Förster durfte es schon gar nicht, da es sich um seinen Herrn handelte. Dem konnte er nicht gut verbieten, mit seiner Frau herumzuschreien, und noch weniger konnte er ihn aus seinem eigenen Wald jagen.

Was die Frau sagte, konnten wir zuerst nicht verstehen, da sie ziemlich leise sprach. Erst als sie ihre Stimme erhob, vernahmen wir die Worte: ›Du kriegst kein Geld mehr. Das schwöre ich dir bei allem, was mir heilig ist.‹

Und bevor der Förster und ich noch zur Besinnung kamen, hatte das Untier einen Revolver in der Hand und schon knallte es. Ich kam gerade zurecht, um die vom Pferd sinkende Frau in meinen Armen aufzufangen. Der Förster kriegte den Erbärmlichen beim Schlips und schüttelte ihn wie ein Bündel Lumpen. Leider hielt er nicht fest genug, so daß der Kerl ihm entwischen und im Walddickicht verschwinden konnte.

Für seinen Mordversuch gab es zwei Zeugen. Was blieb ihm übrig, als sich zu erschießen.

Zum Glück war die Verletzung der Gräfin nicht sehr schwer, die Kugel hatte nur leicht das Herz gestreift. Doch so ganz erholen konnte die Ärmste sich leider nicht mehr, zumal sie noch einen nachhaltigen Nervenschock davontrug.

Ein Vierteljahr lag sie im Krankenhaus, wo ich sie täglich besuchte. Sie klammerte sich förmlich an mich, und da auch ich sie liebgewonnen hatte, ließen wir uns im Krankenhaus in aller Stille von einem Pfarrer zusammengeben, damit ich als Ehemann das Recht hatte, für sie zu sorgen und sie zu beschützen.

Als sie das Krankenhaus verlassen konnte, brachte ich sie nach dem Süden, wo wir in einer kleinen Villa zurückgezogen lebten. Sie später hierherzubringen wagte ich nicht, weil sie schon vor Angst zitterte, sofern ich die Heimreise auch nur erwähnte. Sie fürchtete den Anblick des Schlosses, in dem sie ein wahres Martyrium hatte erleiden müssen.

So blieben wir denn unten, und ich habe ihr die beiden Jahre so schön gemacht, wie es nur in meiner Macht stand. Ich habe ihr auch den Wunsch erfüllt, sie hier auf dem Dorffriedhof begraben zu lassen. Was ich dir berichte, ist die Wahrheit, mein Kind, was deine Mutter dir in ihrem Haß einflüsterte, ist gelogen.

Es ist mir hart genug angekommen, mich meinem so sehr geliebten Enkelkind fernhalten zu müssen, weil ich fürchtete, daß die erbärmliche Frau ihren Haß auch auf dich übertragen würde, und dem wollte ich dich nicht aussetzen.

Da hielt ich mich lieber von dir fern, wenn auch blutenden Herzens. Denn wie weit der Haß dieser nichtswürdigen Lügnerin gehen konnte, ist daraus zu ersehen, daß sie mich dir gegenüber für tot erklärte.«

Es zuckte in seinem Gesicht, und Armgard, deren Augen voll Tränen standen, sagte leise:

»Quäle dich nicht mit Erklärungen ab, lieber Großpapa, ich bin ja durch Frökes von allem unterrichtet. Laß es uns eine Genugtuung sein, daß wir uns trotz Lüge und Haß dennoch gefunden haben. Darf ich noch eine Frage stellen?«

»Soviel du willst, mein Kind.«

»Hat niemand im Schloß der armen Frau beigestanden, wenn dieses Untier sie peinigte?«

»Das ganz bestimmt, wenn sie eine Ahnung davon gehabt hätten. Doch Clarissa hat nie darüber gesprochen, sie war sehr stolz. Wohl wußte man, daß die Ehe nicht glücklich war, aber daß der Mann seine Frau beschimpfte und sie schlug, das konnte niemand wissen, weil es immer unter vier Augen geschah.

Und es geschah auch erst, als er von seiner Frau kein Geld mehr bekam. Vorher war er sogar recht lieb zu ihr, um möglichst viel herauszuschinden.

Wie mir Clarissa erzählte, soll er an dem denkwürdigen Tag besonders nett zu ihr gewesen sein. Und so ließ sie sich denn von ihm in den Wald locken, wo er sie zuerst mit Betteln und Schmeicheln zu erpressen versuchte. Als das nichts nützte, wurde er brutal.

Ich glaube nicht, daß er zuerst vorhatte, sie zu erschießen, er wollte sie wahrscheinlich nur ängstigen. Erst als sie sich so hartnäckig weigerte, ihm Geld zu geben, geriet er in rasende Wut und drückte ab, und wären der Förster und ich nicht dessen Zeuge gewesen, wäre der Lump straffrei ausgegangen, denn wie ich von Clarissa weiß, hätte sie ihn nicht angezeigt, um seine Angehörigen zu schonen.«

»Wie nahm sein Stiefbruder den Tod auf?«

»Der hat ihn wohl kaum berührt, auch seine Mutter nicht. Doch über das, was Clarissa durch ihn hatte erleiden müssen, waren sie zutiefst erschüttert.«

»Blieb deine Frau mit ihnen in Verbindung?«

»O ja. Sie haben sie dort unten im Süden mehrmals besucht, ihr Verhältnis zueinander war ausgesprochen herzlich. Gräfin Björn hat sogar ihre Kur dort gemacht, ebenso Jonathan und seine Frau. Darüber wirst du noch Näheres hören, für heute machen wir Schluß. Spiel und sing mir etwas vor, damit ich auf andere Gedanken komme.«

*

Es war einige Tage später. Armgard, die die Treppe hinunterging, sah in der Diele einen Herrn, der soeben seinen kurzen Pelz an die Garderobe hängte, demnach mußte er hier gewissermaßen aus und ein gehen. Als sie vor ihm stand, stutzte er zuerst und stellte sich dann mit einer Verbeugung vor:

»Björn. Und Sie sind Fräulein von Hollgan?«

»Stimmt. Wollen Sie zu meinem Großvater?«

»Ja. Wo finde ich ihn?«

»Im Wohnzimmer.«

Gleich darauf wurde sie Zeuge einer herzlichen Begrüßung. Erfreut streckte der Hausherr dem Eintretenden die Hand entgegen.

»Komm her, Junge, da bist du ja endlich. Habt ihr beide euch schon bekannt gemacht, ja? Dann nimm Platz und stecke dein Pfeifchen an, das ja zu deinem Wohlbehagen gehört. Was möchtest du trinken?«

»Nichts. Ich wollte nur mal hereinschauen, um mich von deinem Wohlbefinden zu überzeugen. Hast mir und Mutter keinen kleinen Schrecken eingejagt, als wir von deiner Erkrankung hörten. Aber gottlob bist du jetzt wieder wohlauf, hast dich prächtig erholt.«

Aus der weiteren Unterhaltung erfuhr Armgard, daß er und seine Mutter ins Ausland gefahren waren.

Von Frederiks Krankheit erfuhren sie erst, als sie vorgestern nach Hause zurückkehrten.

Seine Stimme war dunkel und volltönend, seiner Erscheinung haftete etwas Herrisches an. Hochgewachsen und kraftvoll, ein schmales, hartgeschnittenes Gesicht, blonde Haare und blitzblaue Augen.

Der muß von den Wikingern übriggeblieben sein, schoß es Armgard durch den Sinn. So jedenfalls stelle ich mir die vor. Auch so herrisch und schroff. Der kann, falls ihn etwas ärgert, bestimmt so knurren wie sein Hund, aber hoffentlich nicht die Zähne zeigen, obwohl er ein prachtvolles Gebiß hat.

Na ja, und arrogant ist er auch noch, auf jeden Fall kein bequemer Zeitgenosse. Doch mit ihrem Großvater schien er sich gut zu verstehen.

»Mutter ist die Reise gut bekommen«, erzählte er eben. »Sie wollte dich schon heute besuchen, doch da etwas dazwischen kam, mußte sie es auf morgen verschieben.«

»Paßt gut«, nickte der alte Herr. »Denn Jonathan und seine Frau haben sich fürs Wochenende angesagt. Sie wären gern schon früher gekommen, doch wegen der verschneiten Straßen wagten sie es nicht. Hoffentlich sind sie jetzt auch wirklich frei.«

»Sie sind es«, bestätigte der Graf. »Ich bin die Strecke gefahren. Ich muß jetzt leider gehen, aber ich komme ja morgen wieder, wenn ich erwünscht bin.«

»Nun hör bloß auf, du Schlingel. Weißt ganz genau, wie gern du hier gesehen bist. Kommt schon zum Kaffee, damit wir viel Zeit haben, uns so richtig auszusprechen. Frökes erscheinen natürlich auch, und damit wäre unsere gemütliche Runde geschlossen.«

»Wird dir das auch nicht zuviel werden?«

»Ach woher denn. Es sind doch alles Menschen, mit denen ich harmoniere. Und im übrigen braucht ihr mich gar nicht mit Glacehandschuhen anzufassen, ich bin gesund wie eh und je.«

»Na Gott sei Dank. Also, auf Wiedersehen.«

Als erste erschienen am nächsten Nachmittag die beiden Frökes, hinterher Graf Björn mit seiner Mutter. Armgard fand sie bezaubernd in ihrer jugendlichen Frische, die sie sich bewahrt hatte, trotz ihrer gut fünfzig Jahre.

Den fast dreißigjährigen Sohn sah man ihr wirklich nicht an, der Frau mit der schlanken Gestalt, dem feinen Gesicht und dem blonden Haar, leicht vermischt mit weißen Fäden. Sie konnte so herzlich lachen, daß man mit einstimmen mußte. Bei der Begrüßung sagte der Kapitän schmunzelnd.

»Na, Erdmuthchen, in welchen Jungbrunnen bist du denn gefallen, fabelhaft siehst du aus. Nimm dir ein Beispiel daran, Pummelchen.«

»Nanu, findest du mich denn nicht schön? Ich ja.«

»Darf man mitlachen?« kam es von der Tür her, in der Senator von der Gylt nebst seiner Frau stand. Das gab nun ein frohes Begrüßen, aus dem Armgard ersehen konnte, daß die sieben Menschen sozusagen ein Herz und eine Seele waren.

Zaghaft begrüßte sie die Verwandten, die heute auf sie noch genauso einschüchternd wirkten wie früher. Der Onkel mit seiner großen, hageren Gestalt und dem strengen Gesicht, das jedoch alle Strenge verlor, als ein humorvolles Lächeln seinen schmalen Mund umzuckte und seine Augen vergnügt zwinkerten.

»Nun, mein Nichtchen, immer noch Angst vor dem guten Onkel Jonathan?«

Einer Antwort wurde sie enthoben, da Elsbeth erschien und zum Kaffee bat. Man trank ihn im Frühstücksstübchen und unterhielt sich lebhaft.

*

Ende Januar eröffnete Armgard dem Großvater, daß sie nach ihrem früheren Wohnort fahren müsse, um dort das möblierte Zimmer zu räumen, das zum ersten Februar anderweitig vermietet war.

»Kann die Wirtin die Sachen nicht zusammenpacken und bei sich unterstellen?« fragte der alte Herr. »Wenigstens so lange, bis Spierke von seiner Grippe genesen ist und dich hinfahren kann?«

»Das geht nicht, Großpapa. Erstens habe ich Frau Ricks versprochen, das Zimmer pünktlich zu räumen, und dann wohnt die Frau so beengt, daß sie keinen Platz zum Unterstellen hätte. Außerdem brauche ich die Sachen. Bisher habe ich mich mit dem, was ich mitbrachte, ganz gut beholfen, aber länger ist das nicht möglich. Es muß ja nicht ein Auto sein, die Eisenbahn tut’s auch.«

»Und wie kommst du zum Bahnhof?«

»Zu Fuß. Es ist ja nur ein Katzensprung.«

»Wie wär’s, wenn ich ein Auto mieten würde…«

»Um Gottes willen!« wehrte sie erschrocken ab. »Das wäre ja eine sündhafte Verschwendung.«

»Hältst du mich denn für so arm?«

»Das gerade nicht. Aber du hast doch dein Geld…«

»Nun, was habe ich?« fragte er, als sie verlegen schwieg. »Mein Geld mit minderwertigen Weibern vergeudet, nicht wahr? Diese Einflüsterungen.«

»Bitte nicht, Großpapa«, flehte sie ihn an. »Ich weiß ja jetzt, daß alles nicht stimmt. Aber du hast doch in den letzten Jahren große Ausgaben gehabt durch die Krankheit deiner Frau und den langen Aufenthalt im Süden. Und der großaufgezogene Haushalt hier kostet doch auch eine Menge…«

»Nun, wenn es bei mir Mattheit am letzten ist, wie man so sagt, dann habe ich ja noch eine Enkeltochter«, warf er leichthin ein. »Die würde mich schon unterhalten, wie sie es zum größten Teil bei ihrer Mutter tat. Oder irre ich mich?«

»Natürlich nicht.«

»Also. Aber noch bin ich nicht soweit und werde es, so Gott will, auch niemals werden. Brauchst gar nicht so sehr sparsam zu sein, mein Liebes. Brauchst nicht mehr die Mark zehnmal umzudrehen, wie du es mußtest, als eine kaum tragbare Last auf deinen jungen Schultern lag, die Zeit ist jetzt vorbei. Was meinst du wohl, wie froh ich darüber bin.«

»Und ich erst. Es war manchmal doch verflixt schwer. Als ich noch mittendrin steckte, habe ich das gar nicht so empfunden. Aber wenn ich jetzt daran zurückdenke, dann wundere ich mich selbst, wie ich das alles überhaupt ohne Hilfe schaffen konnte.

Doch nun sind wir ganz von unserem Thema abgekommen. Gestattest du, daß ich morgen fahre, Großpapa?«

»Gern tu ich es nicht. Versprichst du mir wenigstens, dir bis zum Bahnhof eine Taxe zu nehmen und dich nicht womöglich mit den schweren Koffern abzuschleppen?«

»Das werde ich nicht tun«, versprach sie eifrig. »Die Gebühren für ein Taxi verkraftet mein schwindsüchtiges Portemonnaie schon noch. Es gibt sogar noch so viel her, daß ich Frau Ricks die heißersehnte Gobelintischdecke kaufen kann.«

»Und was wirst du dir kaufen?«

»Ich? Nichts. Ich habe doch alles, was ich brauche. Falls etwas notwendig wird, hab ich mein Sparkassenbuch, und wenn das erschöpft ist, wird der liebe Gott für mich sorgen.«

»Na, auf den würde ich mich denn doch nicht so blindlings verlassen«, lachte der alte Herr amüsiert. »Doch halt mal, da fällt mir etwas ein. Als Folko Björn gestern anrief, um sich eine juristische Auskunft bei mir zu holen, sagte er mir, daß er in den nächsten Tagen zur Stadt fahren müsse, um Dringendes zu erledigen. Ob ich einen Auftrag für ihn hätte. Nun, gestern hatte ich ihn noch nicht, aber jetzt will ich sofort anfragen, ob du mitfahren könntest.«

Schon griff er nach dem Telefonhörer, doch Armgard hielt seine Hand fest. »Bitte nicht. Ich möchte nicht lästig fallen, lieber fahre ich mit dem Zug.«

»Wieso lästig fallen?« fragte er erstaunt.

»Weil der Graf so arrogant ist und seine Mutter trotz aller Liebenswürdigkeit irgendwie abweisend.«

»Das kommt dir nur so vor, mein Kind. Lerne sie näher kennen, dann wirst du anders urteilen. Sie gehören zu den Menschen, denen man nicht so leicht näherkommen kann und die nicht so bald ihr Herz erschließen. Doch wenn sie es tun, dann in aller Treue und Anhänglichkeit.

Genauso ist es mit meinem Bruder Jonathan und seiner Frau, so war es bei meinem Vater – und so ist es bei dir und mir. Also fasse an deine eigene Nase, mein Liebchen. Und im übrigen traust du mir doch wohl nicht zu, daß ich jemand meine Enkelin sozusagen aufhalsen würde, nicht wahr?«

»O Großpapa.«

Diesmal hinderte Armgard ihn nicht, als er den Telefonhörer abhob, eine Nummer wählte und dann den Schloßherrn zu sprechen wünschte, der sich auch bald darauf meldete. Der alte Herr trug ihm sein Anliegen vor, horchte auf das, was der andere sprach und sagte erfreut:

»Deine Mutter fährt mit? Das paßt ja großartig. Ich habe nämlich einen speziellen Auftrag für sie und rufe später noch einmal an. Grüß sie indes von mir.«

Er legte auf und wandte sich Armgard zu.

»Das hat wunderbar geklappt, meine Kleine. Schon morgen fährt der Graf zur Stadt, und seine Mutter fährt mit. Allerdings soll die Reise schon um acht Uhr losgehen, weil man zeitig wieder zurück sein will. Wird dir das zu früh sein?«

»Aber Großpapa, wo denkst du hin. Was meinst du wohl, wann ich aufstehen mußte, als ich das Institut besuchte. Um acht Uhr mußte ich dort an Ort und Stelle sein und vorher meine Mutter und den Haushalt versorgen. Da war fünf Uhr meine gewohnte Aufstehzeit, und vor Mitternacht kam ich selten ins Bett, da ich ja erst zum Lernen kam, wenn die Mama schlief und mich nicht ständig herumhetzen konnte. Bei Frau Ricks ging es mir bedeutend besser. Da brauchte ich erst um sieben aufzustehen, wie im Internat auch. Aber so richtig faul bin ich erst hier geworden, brauche erst um neun zum Frühstück zu erscheinen.«

»Wenn du das faul nennst, wie soll man denn da die Damen bezeichnen, die sich um elf Uhr die Morgenschokolade ans Bett bringen lassen, mindestens drei Stunden zur Morgentoilette benötigen, dann ausgehen und sich unter ihresgleichen mischen, klatschen, flirten, am Abend Gesellschaften besuchen, teure Reisen machen und anderes mehr. Und wer sind die Leidtragenden? Die Ehemänner und die Kinder.«

»Ich weiß, Großpapa, du meinst meine Großmutter und meine Mutter«, sagte Armgard leise, ihre Wange an die seine schmiegend. »Denk nicht mehr daran.«

»Hast recht, mein Liebling«, strich er zärtlich über die strahlenden Blauaugen, die ihn so bittend ansahen. »Was gewesen ist, tut uns nicht mehr weh.«

*

Das Auto war pünktlich und Armgard auch. Als es hielt, trat sie gerade aus der Haustür und wäre fast mit dem Grafen zusammengestoßen, der spöttisch sagte:

»Nanu, eine Dame und pünktlich?«

»Haben Sie denn so schlechte Erfahrungen gemacht?« parierte sie schlagfertig, und die Gräfin, die aus dem Autofenster schaute, bemerkte lachend:

»Geschieht dir recht, mein Sohn. Kommen Sie, Fräulein von Hollgan, setzen Sie sich zu mir.«

So nahm Armgard denn im Fond Platz, der Graf setzte sich neben den Chauffeur, und der Wagen rollte ab.

Es war ein herrliches Winterwetter. Der Schnee war auf den Straßen so festgefahren, daß der Wagen gut vorankam. Armgard, die sich vor dieser Fahrt gefürchtet hatte, begann langsam Gefallen daran zu finden, zumal sie vorerst unbeachtet blieb, da Mutter und Sohn verschiedenes zu besprechen hatten, was sie in der Stadt erledigen wollten.

In die Wagenecke geschmiegt saß sie da und dachte darüber nach, was wohl die eleganten Pelze gekostet haben mochten, die Mutter und Sohn trugen.

Selbst der Chauffeur hatte einen Innenpelz an, der wohl zur Dienstkleidung gehörte, nur Armgard von Hollgan hatte keinen Pelz.

Als Kind ja, da hatte ihr der Paps einen geschenkt. Natürlich keinen kostbaren, aber sie hatte ihn mit Stolz getragen, bis sie herausgewachsen war.

Im Internat trugen die Zöglinge einheitliche Mäntel, und als Armgard zu ihrer Mutter kam, war an einen Pelzmantel nicht zu denken. Da langte es nur gerade so für das Notwendigste, und den einfachen Mantel, den sie jetzt trug, hatte sie sich gewissermaßen vom Mund absparen müssen.

Weiter kam sie nicht in ihren Betrachtungen, da sich die Gräfin ihr zuwandte.

»So, nun bin ich frei für einen netten Schwatz.«

Der aber hauptsächlich von ihr bestritten wurde; denn Armgard beschränkte sich aufs Zuhören und gab nur auf Fragen artige Antworten. Als man gar merkte, daß der Graf ein Nickerchen machte, verebbte das Gespräch ganz.

»Lassen wir ihn schlafen«, flüsterte die Gräfin ihrer Nachbarin zu. »Er ist diese Nacht kaum ins Bett gekommen, da ein wertvoller Zuchthengst erkrankt war. Wenn die wichtige Unterredung, die er in der Stadt hat, nicht terminmäßig eingehalten werden müßte, wäre er heute bestimmt nicht gefahren.«

Da eine weitere Unterhaltung im Flüsterton zu anstrengend gewesen wäre, ließ die Gräfin davon ab, was Armgard nur recht war. Jetzt erst konnte sie die Fahrt so richtig genießen.

Als man in die Stadt einfuhr und der Fahrer das Tempo verlangsamen mußte, schreckte der Graf aus seinem Nickerchen auf und sah sich so verdutzt um, daß seine Mutter hell herauslachte.

»Wie ein vom Himmel gefallenes Engelchen.«

»Na Muttchen, ein kitschigerer Vergleich fiel dir wohl nicht ein«, entgegnete er gleichfalls lachend, dehnte diskret die Glieder, rückte seinen Schlips zurecht und war nun wieder fit. In einer Halbwendung drehte er sich Armgard zu.

»Bitte mein Schläfchen zu entschuldigen. Höflich war es nicht…«

»Aber notwendig«, fiel die Mutter ein. »Warum, das habe ich Fräulein von Hollgan bereits erklärt. Nun wollen wir beraten, wo wir uns wieder zusammenfinden. Ich schlage das Hotel Köster vor. Es liegt neutral und ist außerdem recht nett.«

Und unverschämt teuer, dachte Armgard. Sie kannte das erstklassige Hotel allerdings nur vom Hörensagen, denn drin gewesen war sie noch nicht. Das konnten sich nur Menschen mit einem dicken Portemonnaie leisten.

»Wo wünschen Sie abgesetzt zu werden, Fräulein von Hollgan?« fragte die Gräfin, und Armgard nannte einen Platz, dem gegenüber ein Warenhaus stand. Dort stieg sie aus, erhielt die Order, sich im Hotel Köster einzufinden, und ging mit höflichem Gruß davon.

Fröstelnd schauerte sie zusammen. Verflixt, das war ja ganz nett kalt, was sie nach der Wärme im Wagen doppelt empfand. Also beeilte sie sich, in das Warenhaus zu kommen, wo sie außer der Gobelindecke noch Kleinigkeiten für sich kaufte. Wohl hätte sie noch einiges gebraucht, aber das mußte sie zurückstellen, da die Decke teurer war, als sie angenommen hatte. Und mit den paar hundert Mark, die sie noch besaß, mußte sie jetzt besonders haushalten. Sie mochte dem Großvater nicht gleich mit Wünschen kommen.

Da der Weg vom Warenhaus bis zu ihrem früheren Quartier nicht weit war, legte sie ihn zu Fuß zurück. Frau Ricks, die ihr die Tür öffnete, nahm sie freudestrahlend in Empfang und wollte sie gleich in die warme Küche führen, was jedoch abgelehnt wurde.

»Jetzt nicht, liebe Frau Ricks. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Also zuerst packen.«

»Ihr Zimmer ist aber nicht geheizt, da ich ja nicht wußte, daß Sie heute kommen würden. Doch halt, ich hole rasch den elektrischen Ofen.«

Als sie damit ins Zimmer trat, hatte Armgard bereits die beiden mittelgroßen Koffer aus der Ecke hinter dem Schrank hervorgeholt, in dem ihre Habe bequem Platz fand, zumal sie schon einen Koffer mitgenommen hatte, als sie Silvester zum Großvater fuhr. Es dauerte nicht viel länger als eine halbe Stunde, bis sie in der Küche erschien, wo Frau Ricks am Herd stand.

»Hm, riecht das aber gut«, schnupperte das Mädchen, und die Köchin erklärte eifrig:

»Es gibt prima Gemüsesuppe. Wenn Sie mit dem Packen fertig sind, können wir essen.«

»Es ist schon alles gepackt.«

»Das ist aber fix gegangen. Nun ziehen Sie den Mantel aus, ganz verklemmt sehen Sie aus. Aber warten Sie man, die heiße Suppe wird Sie bald erwärmen.«

Das tat sie. Hinterher noch eine Tasse Kaffee, das taute die verklemmten Glieder auf.

»Wie bin ich bloß froh, daß ich Ihnen so was Gutes vorsetzen konnte«, strahlte Frau Ricks. »Nun müssen Sie aber auch erzählen.«

Und Armgard erzählte. Was die gute Seele da zu hören bekam, ließ sie andächtig die Hände über dem rundlichen Bäuchlein falten.

»Aber nein, das klingt ja wie ein Märchen«, staunte sie, als Armgard das erzählt hatte, was sie für richtig hielt. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich mit Ihnen freue. Sie haben mir immer so leid getan, daß Sie allein stehen mußten in der Welt. Da muß Ihnen der liebe Großvater doch vorkommen wie ein Gottesgeschenk.«

»Tut es auch, Frau Ricks. Ich habe jetzt doch endlich ein Zuhause und ein schönes Zuhause. Nun darf ich mich aber nicht mehr länger aufhalten, so gern ich es auch möchte. Wie ich schon sagte, bin ich von Freunden meines Großvaters mitgenommen worden, die möchte ich nicht warten lassen.«

»Das verstehe ich sehr gut, wenn ich Sie auch gern länger hierbehalten hätte. Werden Ihre Koffer abgeholt?«

»Nein, davon wurde nichts erwähnt. Ich werde eine Taxe besorgen, mit den Koffern zum Bahnhof fahren und sie dort aufgeben, dann brauche ich keinen damit zu belästigen.«

»Da haben Sie recht«, nickte Frau Ricks. »Bloß keinem Menschen lästig fallen. So werde ich denn telefonisch eine Taxe bestellen.«

Die schon zehn Minuten später zur Stelle war. Der Chauffeur trug die Koffer nach unten, und dann kam der Abschied, der deshalb von seiten Frau Ricks’ nicht tränenreich wurde, weil Armgard ihr die Decke überreichte. Da strahlte die Gute vor Freude.

»Das soll ein kleiner Dank für Ihre Güte sein, liebe Frau Ricks«, sagte Armgard herzlich. »Wenn ich wieder in diese Stadt komme, besuche ich Sie. Also auf ein frohes Wiedersehen.«

Nun zerdrückte das liebe Muttchen aus lauter Rührung doch ein Tränchen. Sie ließ es sich nicht nehmen, Armgard zum Auto zu bringen, dem sie nachwinkte, bis es um die Ecke bog.

*

Nachdem Armgard die Koffer aufgegeben hatte, ging sie zum Hotel, wo sie die Gräfin bereits vorfand. Sie legte mit Hilfe des Obers Mantel nebst Mütze ab und nahm dann den ihr von der Dame gebotenen Platz ein.

»Das ist aber schnell gegangen«, wunderte die Gräfin sich. »Ich wäre nicht sobald damit fertig geworden. Erst werden wir dem Chauffeur Bescheid sagen, wo er die Sachen abholen soll, dann werden wir zu Mittag essen. Einverstanden? »

»Nein, Frau Gräfin. Aber nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil ich bei meiner früheren Wirtin bereits Mittag aß und mein Gepäck auf dem Bahnhof abgegeben habe.«

»Aber das hätte doch im Kofferraum des Wagens verstaut werden können.«

»Das konnte ich nicht wissen, es ist nichts davon erwähnt worden.«

»Leider habe ich es vergessen, entschuldigen Sie.«

»Bitte nicht, Frau Gräfin. Ich muß mich entschuldigen, weil ich mich wahrscheinlich nicht richtig verhalten habe.«

»Sie haben es schon, nur ich nicht«, sagte die andere abschließend und winkte den Ober heran, bei dem sie zwei Essen bestellte. Als der Mann gegangen war, sagte sie zu Armgard:

»Ich habe für Sie mitgewählt, da Sie sich das Billigste bestellt hätten aus lauter Bescheidenheit. Soweit kenne ich Sie nun schon.«

»Aber ich sagte doch, daß ich bei meiner Wirtin Mittag aß.«

»Was denn?«

»Einen Teller Gemüsesuppe, allerdings vor gut zwei Stunden.«

»Na, da rutscht es schon wieder«, war die lachende Erwiderung, und es rutschte wirklich.

Als man bei der Zigarette angelangt war, eröffnete die Gräfin der überraschten Armgard, daß sie von deren Großvater den Auftrag erhalten hätte, seine Enkelin elegant einzukleiden.

»Aber ich habe doch die Sachen, die ich brauche«, protestierte das Mädchen. »Ich mag nicht, daß mein Großvater so viel Geld für mich ausgibt. Die Krankheit seiner Frau und der lange Aufenthalt im Süden hat schon gerade genug gekostet, er ist doch schließlich kein Krösus.«

»Das wohl nicht, aber immerhin ein reicher Mann«, entgegnete die Gräfin amüsiert über die erschrockenen Augen ihres Gegenübers. »Er selbst war es schon von jeher, und da er nun auch noch seine reiche Frau beerbt hat, kann er sich unbesorgt auch die kostspieligste Enkelin leisten.«

»O Gott«, seufzte Armgard abgrundtief, was die andere herzlich lachen ließ.

»Das klingt ja ordentlich verzweifelt. Ist aber auch wirklich schlimm, so von einer Minute zur anderen eine reiche Erbin zu werden. Aber daran gewöhnt man sich schneller als andersrum.

Und nun seien Sie ein braves Kind und tun Sie das, was der Großvater für Sie bestimmt. Es hat ihn arg genug bekümmert, daß seine geliebte Enkelin schon in so jungen Jahren eine Sorgenlast zu schleppen hatte, die für die zarten Schultern viel zu schwer war.

Nicht, solange Sie im Internat waren, da wußte er Sie behütet und bewahrt. Erst als Sie zu Ihrer Mutter zogen, begann für Sie armes Kind das reinste Martyrium. Und niemand, der sich um Sie sorgte, konnte. Ihnen helfen, weil Ihre Mutter…

Nun, ich will nicht ausführlicher werden. Will Ihnen nur sagen, wie glücklich Ihr Großvater ist, Sie jetzt endlich bei sich zu haben. Wenn er Sie verwöhnt, lassen Sie sich das ruhig gefallen. Er hat seine Freude daran, und Sie haben es verdient. Wollen wir uns nun zum Einkaufsbummel rüsten?«

»Wenn es Ihnen keine Mühe macht, Frau Gräfin.«

»Von Mühe kann keine Rede sein. Im Gegenteil, es macht mir Freude.«

Die sich bei Armgard zuerst nicht einstellen wollte. Zu überraschend war ihr die Eröffnung der Gräfin gekommen, daß sie eine reiche Erbin sei. Das mußte erst langsam begriffen werden.

Als sie jedoch all die schönen Sachen sah, die in dem erstklassigen Geschäft so verlockend ausgestellt waren, hätte sie ja kein junges Mädchen sein müssen, um keinen Gefallen daran zu finden.

»Nun sehen Sie sich das alles mal an, das muß doch selbst einen Blaustrumpf entzücken«, zeigte die Gräfin in die Runde, und Armgard meinte lachend:

»Kapitän Fröke würde sagen: den Klabautermann.«

»Wahrscheinlich auch den«, war die gleichfalls lachende Erwiderung. »Und nun hinein ins Vergnügen.«

Sie war klug genug, Armgard wählen zu lassen. Doch bevor diese es tat, sah sie immer erst ihre Begleiterin fragend an. Wenn diese zustimmend nickte, griff sie zu.

»So, jetzt ist es aber genug«, erklärte Armgard, als sie zwei elegante Kleider, dito Wäsche, Strümpfe, ein Paar entzückende Pantöffelchen, einen schicken Morgenrock, Toilettenartikel und manches andere ausgesucht hatte: »Jetzt bin ich reichlich versorgt.«

»Sie haben den Pelzmantel vergessen«, mahnte die Gräfin. »Den braucht man in unserer Ecke, wenn man nicht frieren will. Nun führen Sie bloß nicht wieder Ihren ›armen‹ Großvater an.«

»Nein, das geht ja nun nicht mehr. Aber ich verstehe nichts von Pelzen.«

»Dann lassen Sie mich die Wahl treffen.«

Und die Wahl war gut und so teuer, daß Armgard ganz blaß vor Schreck wurde, als sie auf dem Etikett den Preis sah.

»Den nehme ich nicht.«

»Und Sie nehmen ihn doch. Oder wollen Sie dem Großpapa mit einem Kaninchenfell unter die kritischen Augen treten? Dieses entzückende Pelzkäppchen und die wasserdichten Stiefelchen kommen noch dazu, und dann können wir meinetwegen den Einkauf beenden. Wollen Sie den Mantel anbehalten – nein? Nun, wie Sie wünschen.«

Als die Endsumme des Einkaufs der Gräfin vorgelegt wurde, schrieb sie einen Scheck aus, der ohne weiteres angenommen wurde, da sie in diesem exquisiten Geschäft eine bekannte und geschätzte Kundin war. Ein Page trug die Päckchen und Kartons zum Auto, der Chauffeur verstaute sie im Kofferraum und fuhr die

Damen zum Hotel zurück, wo sie in dem reizenden Kaffeestübchen Platz nahmen.

»So, jetzt Kaffee«, sagte die Gräfin vergnügt. »Den haben wir uns aber auch redlich verdient.«

So labten sie sich ausgiebig an Kaffee und Windbeuteln, die sie beide gern aßen. Sie hatten gerade den zweiten in Angriff genommen, als Graf Björn an den Tisch trat. In seiner Begleitung befand sich ein Jüngling, der den rechten Arm in der Binde trug.

»Ja, Lutz, was ist denn mit dir passiert, und wo kommst du so plötzlich her?« fragte die Gräfin erschrocken. »Etwa ein Verkehrsunfall?«

»Muß ja nicht immer gerade das sein. Tante Erdmuthe«, beugte er sich begrüßend über ihre Hand und verneigte sich dann vor Armgard, worauf der Graf vorstellte:

»Das ist Ludwig Briet, und das Fräulein von Hollgan die Enkelin des Doktor Frederik von der Gylt.«

»Hat er sie nun endlich«, platzte der Junge freiweg heraus und nahm, nachdem der Graf sich gesetzt hatte, neben ihm Platz.

Ein frischer Junge von fünfzehn Jahren, mit blondem Schopf, blaugrauen Augen und einer hochaufgeschossenen Gestalt, an der Arme und Beine zu lang geraten schienen. Trotz der Ruppigkeit seines Alters war er ein wohlerzogener und liebenswerter Junge.

Sehnsüchtig hingen seine Augen an den Windbeuteln, und der Graf fragte lachend:

»Wieviel von den Dingern haben in deinem Magen Platz?«

»Och, der Wohltätigkeit sind keine Grenzen gesetzt«, kam es verschmitzt zurück. »Doch zuerst möchte ich Tante Erdmuthe Bericht erstatten.

Also, was es nicht so alles gibt. Da haut mir doch ein Mitschüler während der Turnstunde seine Hantel mit solcher Wucht gegen den Ellenbogen, daß es nur so kracht. Entsetzen, Aufregung, verflixte Schmerzen meinerseits, Krankenwagen, Krankenhaus, Narkose, Gipsverband, Erwachen im Bett, betreut von einer Schwester, nicht mehr jung und auch nicht schön, aber trotzdem lieb. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

»Kurz und bündig«, lachte die Gräfin. »Und wie ging es weiter?«

»Eine ziemlich schmerzhafte Angelegenheit. Doch nun habe ich das Ärgste hinter mir, was noch kommt, wird nicht mehr so schlimm sein.

Da nun die Schule gegen Unfall versichert ist, muß die Gesellschaft für den Schaden aufkommen. Die haben mich vielleicht hin und her gejagt, von Pontius bis Pilatus. Heute mußte ich ins hiesige Städtische Krankenhaus zur Untersuchung, und als ich am Hotel Monopol vorüberging, um zum Bus zu gelangen, traute ich meinen Augen nicht, als ich unter den Herren, die aus dem Portal traten, den Grafen Björn erkannte. Am liebsten wäre ich ja vor Freude wie ein brüllender Cowboy auf ihn zugestürzt, besann mich jedoch rechtzeitig auf meine gute Kinderstube im Schloß, jawohl und hielt mich bescheiden zurück. Drei Herren ließ ich ruhig in ihre klotzigen Kutschen steigen, den vierten aber nicht, vor dem stand ich plötzlich wie aus der Erde gewachsen da und nun erzähl weiter, Herr Graf; ich muß mich meinen Windbeuteln widmen.«

Es waren drei von beträchtlichem Ausmaß, die der Ober vor ihn hinstellte, dazu üppig mit Sahne gefüllt. Lutz Briet war nun für alle Welt verloren, und der Graf setzte den Bericht fort:

»So blieb mir nun nichts anderes übrig, als den Bengel kurzerhand im Wagen zu verstauen und hierher zu bringen. Bist du aus der Sache klug geworden, kleine Mama?«

»Nicht ganz. Sag mal, Lutz, warum bist du im Bus zur Stadt gefahren, wo ihr zwei Autos habt?«

»Einen Augenblick, Tante Erdmuthe. Ich möchte das Labsal bis zur letzten Krume genießen und mit vollem Mund zu sprechen, würde mir schlecht bekommen.«

»Will ich meinen, du Schlingel«, besah sie sich wohlgefällig den frischen Jungen. »Geht schlecht mit der linken Hand, nicht wahr?«

»Ich habe es mir schlimmer vorgestellt. So, jetzt bin ich fertig«, wischte er sich mit der Papierserviette den Mund ab. »Und satt bin ich auch. Also kann ich ungehindert deine Frage beantworten, Tante Erdmuthe. Ich mußte mit dem Bus fahren, da Heinz mit dem großen Wagen unterwegs ist, und der kleine, der sich ja schon im biblischen Alter befand, hat ausgelitten.«

»Ist etwa auch deine Schwägerin nicht zu Hause?«

»Nein. Ganz unerwartet mußte mein Bruder sich heute früh auf eine Geschäftsreise begeben und nahm seine Frau wie üblich mit. Ich bin ja schließlich nicht schwerkrank…«

»Aber immerhin so, daß du ohne Betreuung nicht auskommen kannst«, warf der Graf ein. »Also werden wir dich mit nach Hause nehmen, nicht wahr, Mutter?«

»Das schon. Aber wie ist es mit der Schule?«

»Bis auf weiteres dispensiert. Paßt mir gar nicht, so kurz vor Ostern, werde wahrscheinlich sitzenbleiben, doch mein Bruder meint, das wäre nicht meine Schuld. Immerhin tröstlich.

Heinz hat auch, bevor er abfuhr, im Schloß angerufen, um zu fragen, ob ich während seiner Abwesenheit zu euch kommen könnte. Doch da wart ihr schon weg, zur Stadt gefahren, wie ein dienstbereiter Geist erklärte. Aber daß ich unter all den vielen Menschen Folko sozusagen vor die Füße lief, das überraschte mich denn doch. Ich freue mich mordsmäßig, daß ihr mich mitnehmen wollt, bloß ich habe kein Nachtzeug.«

»Damit hilft Folko dir aus. Und nun wollen wir aufbrechen, damit wir nicht zu spät nach Hause kommen.«

Auf der Fahrt sorgte Lutz für frohe Laune. Er saß zwischen der Gräfin und Armgard und fühlte sich ganz als Hahn im Korb.

Als man am Gylthaus angelangt war, hupte der Chauffeur, worauf Spierke und seine Tochter herbeieilten und sich mit den Kartons und Päckchen beluden. Armgard stieg aus, bedankte sich fürs Mitnehmen, und dann fuhr der Wagen der Endstation entgegen.

*

Als Armgard das Wohnzimmer betrat, saß da im Sessel der Herr des Hauses bei einem guten Tropfen.

»Hallo, Großpapa!« sagte sie lachend. »Du pichelst hier so stillvergnügt? Da muß ich mich doch sehr wundern und staunen…«

»Kommt auf eins raus«, winkte er ab. »Setz dich. Elsbeth wird dir gleich einen Imbiß servieren.«

Es waren delikate Happen, die Armgard vorgesetzt bekam und die sie restlos verputzte. Hinterher trank sie ein Glas Wein, das der Großvater spendierte.

Ausführlich erzählte sie von der Fahrt und dankte dem gütigen Spender für all die schönen Sachen.

»Hast du auch gut gewählt, mein Kleines?«

»Dafür sorgte schon die Gräfin. Schrecklich viel Geld hat alles gekostet. So richtig verschwendet habe ich, auf deine Kosten…«

»Du wärst die erste nicht«, warf er trocken ein. »Doch da es den andern nicht gelungen ist, mich an den Bettelstab zu bringen, wirst du es wohl auch nicht schaffen.«

»Wollen wir abwarten. Übrigens soll ich dich von einem Lutz Briet grüßen.«

»Wie kamst du denn zu dem?«

Armgard erzählte es und schloß mit den Worten:

»Scheint kein gutes Zuhause zu haben, der arme Junge.«

»Ja, ihm fehlen die Eltern, die vor einigen Jahren kurz hintereinander starben. Wohl kümmern sich der ältere Bruder und dessen Frau um ihn, aber da sie beide wenig Zeit haben, ist der Junge viel sich selbst überlassen.«

»Hat der Bruder einen Betrieb?«

»Ja. Er besitzt eine Reederei in einer kleinen Seestadt, die ungefähr acht Kilometer von hier entfernt liegt. Als der alte Briet starb, stand es nicht gut um den Betrieb. Er war zu veraltet, ihm fehlte der richtige Schwung. Den hat der Sohn nach der Übernahme hineingebracht, und seine Frau hat ihn dabei tatkräftig unterstützt. Sie sind beide sehr tüchtig und werden es bestimmt noch zu etwas bringen.

Für Lutz wäre es am besten, wenn er in ein Internat käme. Aber der Junge sträubt sich so sehr dagegen, daß der Bruder ihm den Willen läßt. Die Ferien und auch die meisten Wochenenden verlebt Lutz im Schloß, wo die Gräfin ihm die Nestwärme gibt, die ihm zu Hause fehlt.«

»Lutz sprach doch auch von einer Schwester; kann die sich nicht um ihn kümmern?«

»Ach, die«, winkte der alte Herr verächtlich ab. »Die hat doch dazu keine Zeit. Die muß doch ihr Leben genießen und außerdem noch hinter dem Grafen Björn her sein.

Und nun werde ich mich zur Ruhe begeben. Es hat mir heute gar nicht gefallen, so ohne dich. Ich sehe schon kommen, daß ich mich an deinen Rock hängen werde.

Ach so, fast hätte ich es vergessen dir zu sagen, daß mein guter Robert morgen hier eintrifft. Seit über zwanzig Jahren hat er mir als Diener treu und redlich gedient. Hat mich stets auf meinen Reisen begleitet, war auch mit dort unten im Süden, bis er sich eine Blutvergiftung zuzog, die ihn fast die Hand gekostet hätte. Aber tüchtige Ärzte haben es denn doch ohne Amputation hingekriegt.

Das alles hatte den armen Kerl so mitgenommen, daß ich ihn nach der Entlassung aus dem Krankenhaus in ein Sanatorium gab, wo man ihm auf meinen ausdrücklichen Wunsch meine Krankheit verschwieg. Der hätte es nämlich fertiggekriegt, aus dem Sanatorium auszurücken und zu mir zu eilen, so elend er auch war. Aber jetzt soll er sich prächtig erholt haben, wie mir der leitende Arzt am Fernsprecher sagte, und morgen habe ich ihn denn wieder, meinen treuen Kampf- und Streitgenossen, der ja alles bei mir mitgemacht hat, das Gute wie das Böse.

Auch von Elsbeth wird er ungeduldig erwartet. Die will nämlich heiraten, wollte aber wiederum uns hier nicht im Stich lassen. Nun kann sie getrost von dannen ziehen, nun wird Robert hier als guter Geist walten.«

Am nächsten Tag war er denn da. Ein Diener, der so selten geworden ist, daß man ihn als Juwel bezeichnen kann, so einen gab es in der Umgegend nur noch im Schloß.

Die Gestalt Roberts war mittelgroß und geschmeidig, das Gesicht schmal und hochnäsig, wie das eines herrschaftlichen Dieners, das dunkle, sehr peinlich geordnete Haar des gut Fünfzigjährigen war an den Schläfen leicht ergraut.

Als er Armgard erblickte, leuchtete es in den stahlfarbenen Augen freudig auf, und sein Herr fragte schmunzelnd:

»Nun, Robert, hat sie gehalten, was sie versprach?«

»Herr Doktor, wie können wir stolz sein.«

»Nun sagen Sie bloß noch, daß auch Sie mich schon lange kennen.«

»Von der Wiege an, mein Herzchen«, gab der Großvater Antwort. »Er war ja der Vermittler zwischen deinem lieben Paps und mir, dabei still und unsichtbar wirkend wie ein Heinzelmännchen.«

Das tat er auch jetzt, er war wirklich der gute Geist des Hauses. Dazu noch das Ehepaar Spierke, das gab ein gutes Dreigespann.

Als Elsbeth abgezogen war, wurde ein Lehrmädchen eingestellt, das Frau Spierke zur Hand ging und auch in den Zimmern helfen mußte. Hilde war hübsch und gesund,

diensteifrig und fleißig, aber ansonsten ein ungeschliffener Diamant.

*

»Matt«, sagte Armgard und sah lachend auf den alten Herrn, der kopfschüttelnd das Schachbrett überblickte.

»Tatsächlich, sie hat mich matt gekriegt.«

»Siehst du, Großpapa. Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn.«

»Von wegen blindes Huhn. Listig wäre die richtige Bezeichnung. Ganz gehörig muß ich aufpassen, daß du aus dem Hinterhalt nicht zuhackst.«

»Aber größtenteils dabei was auf den Schnabel bekommst, mußt du hinzusetzen. Aber daran bin ich von meinem Paps gewöhnt, der kein Pardon kannte. Auch nicht, als ich gerade man so mit der Nase übern Tisch reichte; denn damals schon brachte er mir das Schachspielen bei. Revanche?«

»Nein. Musik steht auf dem Stundenplan.«

So recht mit Behagen setzte er sich zurecht, steckte eine Zigarre in Brand und lauschte den Klängen, die dem vorzüglichen Instrument entlockt wurden. Nicht mit meisterhafter Fertigkeit, aber über den Dilettantismus hinaus, denn Armgards Lehrer war ja der sehr musikalische Vater gewesen.

Der Anschlag war weich, ein wenig verspielt und wirkte wohl gerade

deshalb so betörend. Es war ein Genuß, dem Spiel zu lauschen, die Melodien schmeichelten sich förmlich ins Ohr.

Selbst in das des Fünfzehnjährigen, der hinter dem Grafen Björn das Zimmer betrat und dann gleich ihm an der Tür verharrte. Als der Hausherr sie bemerkte, winkte er sie heran, doch Folko schüttelte den Kopf und legte den Finger auf die Lippen.

Regungslos lauschten sie dem Spiel, bis es verklang. Weil nun Lutz nicht händeklatschend seinen Beifall spenden konnte, da er die eine Hand in der Binde trug, rief er begeistert:

»Prima! Primissima! Ganz schwiemelig ist mir um den Magen geworden.«

»Da hilft nur ein Schnaps«, sagte der Hausherr lachend, was empört zurückgewiesen wurde.

»Wenn der Mensch gerührt ist, trinkt er keinen Schnaps.«

»Ach, gerührt bist du, das ist etwas anderes. Laß dich anschauen, Junge. Also prächtig hast du dich herausgemacht in den Jahren, da ich dich nicht sah. Was ist nun mit deinem Arm?«

»Privat geht es ihm ordentlich, schulerisch miserabel.«

»Apartes Wort«, lachte der alte Herr gleich den andern. »Nehmt Platz und macht es euch gemütlich.«

Strubbel wedelte herein, die willkommenen Gäste mit freudigem Blaffen begrüßend. Ihm folgte Robert und rollte die Bar herbei. Das gehörte sich so, ob der Gast nun trinken wollte oder nicht. In diesem Fall durfte er jedem etwas kredenzen und zog sich zufrieden zurück. Nachdem man sich zugetrunken hatte, sagte der Graf zu dem Hausherrn:

»Mit einem Gruß von meiner Mutter soll ich dir bestellen, daß sie dich und deine Enkelin übermorgen erwartet.«

»Wer wird denn noch da sein?«

»Nur Frökes. Gylts mußten leider absagen.«

»Ja, ich weiß. Jonathan steckt mitten in einem großen Abschluß und macht alles um sich her mobil. Selbst mich spannt er mit kniffligen juristischen Fragen ein und somit auch meine Privatsekretärin.«

»Hast du eine, Onkel Frederik?«

»Und was für eine.«

»Hübsch?«

Als Lutz die lachenden Blicke bemerkte, die Großvater und Enkelin sich zuwarfen, war er im Bilde.

»Ach so«, meinte er. »Die Sekretärin scheint goldrichtig zu sein.«

»Eine Anerkennung, mit der du sonst sehr geizig bist«, bemerkte Graf Folko trocken. »Hauptsächlich dann, wenn es um die besseren Hälften der Schöpfung geht.«

»Von wegen bessere Hälften«, tat der Junge so verächtlich ab, als hätte er mit ihnen schon die bösesten Erfahrungen gemacht. »Laß mich bloß mit denen in Ruhe. Tante Erdmuthe und meine Schwägerin sind allerdings Ausnahmen, und wenn der Schein nicht trügt, na, warten wir ab.«

»Das nennt man vorsichtig«, lachte der alte Herr. »Keine Angst, sie wird dich nicht enttäuschen. Willst du etwa schon gehen, Folko?«

»Nicht wollen, sondern müssen. Hab in zehn Minuten eine Besprechung. Darf ich meiner Mutter eine Zusage bringen?«

»Ja, wir kommen gern. Grüß deine Mutter herzlich.«

Der übernächste Tag war ein Sonnabend, den man gern zu den Feiern wählt, da man am Sonntag ausschlafen kann. So hatte man es früher auch auf Schloß Dünen gehalten, als er die rauschenden Feste dort gab.

Doch die hatten mit dem Tod des Grafen Götz aufgehört. Nicht wegen der Trauer, sondern aus Sparsamkeitsgründen. Denn der Verschwender hatte den einst so reichen Besitz derart ruiniert, daß es zum Konkurs gekommen wäre, hätte der alte Graf die Hinterlassenschaft seinen beiden Söhnen nicht zu gleichen Teilen vermacht. So war der herrliche Besitz noch zu halten gewesen, und nun er dem Grafen Folko allein gehörte, ging es langsam wieder bergauf. Aber nicht ohne die nötigen Sparmaßnahmen, wenigstens in den nächsten Jahren noch nicht.

Außerdem hatte man unter denen, die es sich auf den glänzenden Festen des Grafen gut sein ließen, gehörig gesiebt, so daß nur wenige übrigblieben. Mit denen wollte man später wieder zusammenkommen, aber vorläufig hielt man sich noch zurück, verkehrte nur im festen Freundeskreis.

Das hatte der Großvater seiner Enkelin auf ihre Frage erklärt, warum die Gräfin ihren Geburtstag so sang- und klanglos begehen wollte.

Nun saß sie zwischen Frau Fröke und ihrem Großvater im Fond des breiten Wagens, der am Ende der Zufahrtstraße durch ein großes Tor fuhr und vor dem Portal des Schlosses hielt. Staunend sah Armgard an dem prächtigen Bau hoch.Das war ja ein ganz feudaler Kasten. Und nirgends etwas von Verfall zu merken, alles sauber und gepflegt. Es muß doch unheimlich viel Geld kosten, so einen Prachtbau instandzuhalten, also schienen die Finanzen des Grafen doch besser zu stehen als ihr Großvater annahm.

Ein Diener in schlichter Livree erschien, um die Gäste in Empfang zu nehmen. Auch er trug die Merkmale des herrschaftlichen Dieners.

Und durch die Anlagen rasten zur stürmischen Begrüßung die Hüter des Hauses herbei, von denen am respektabelsten die Dogge war, bei deren Anblick es Armgard schreckhaft durchzuckte. Stocksteif stand sie da, als sie von dem schwarzen Gesellen beschnuppert wurde, gleichfalls von Spaniel, Dackel und einem kleinen Kläffer, dessen Mischmasch von Rassen den Seitensprung seiner Mama nicht verleugnen konnte. Sie alle beschnupperten dann mißtrauisch den Fremdling unter den ihnen vertrauten Herrchen und Frauchen und akzeptierten den Zuwachs mit Schwanzwedeln.

Das noch stürmischer wurde, als der ihnen wohlbekannte Strubbel seelenruhig aus dem Auto kletterte und Herrchen auffordernd ansah, als wolle er als blinder Passagier noch gelobt werden.

»Na so was«, sagte Spierke kopfschüttelnd. »Da ist es dem Schlingel doch wieder mal gelungen, sich in den Wagen zu schleichen. Komm her, damit ich dich verhauen kann!«

Wau wau, machte Strubbel lustig, wirbelte ab und die andern Hunde hinterdrein.

»Nun aber hopp ins Warme«, sagte Lottchen energisch. »Ich hab’ schon Eisbeine.«

In der großen Halle, die durch zwei Stockwerke ging, wurden sie von den Gastgebern begrüßt. Man gratulierte dem Geburtstagskind, überreichte Blumen nebst kleinen Geschenken und begab sich dann ins Wohngemach, einem hohen weiten Raum, wohlig durchwärmt von Zentralheizung und Kamin, in dem Stubben ihre Hitze verströmten. Im Halbrund standen Sessel mit weichen Polstern, die Teppiche nebst Brücken waren dick und flauschig, die Gardinen duftig, die Bilder durchweg kostbar, gleichfalls die Mahagonimöbel mit den herrlichen Intarsien und den blitzenden Beschlägen.

Ein ganz besonderes Glanzstück aber war der große Flügel, in Holz und Farbe den Möbeln angepaßt. Auf seiner blanken Fläche war das Wappen der Björn kunstvoll eingelegt. Ein aufrechter Bär, was ja auf nordisch Björn bedeutet, trug Zepter und Krone, ein Zeichen, daß es in dem Geschlecht auch gekrönte Häupter gegeben hatte.

Dieses uralte Wikingergeschlecht, das Kriege, Not und Tod überdauerte, wie auch das Stammschloß, das Humbert der Bär, wie er genannt wurde, errichten ließ. Da er über unermeßlichen Reichtum verfügte, brauchte er nicht zu sparen, und so entstand eine Feste, wie für die Ewigkeit erbaut.

Und da dieser Humbert auch ein kluger, weitsichtiger Mann war, der seinen Nachfahren den Stammsitz erhalten wollte, schuf er einen krisenfesten Fonds; nicht nur zur Erhaltung, sondern auch zur Verbesserung des Schlosses.

Nun, diese Bestimmung machte den Nachfahren keine Kopfschmerzen, da das Geld dafür überreichlich vorhanden war. Auch der Beitrag, den sie dem Fonds entrichten mußten, verlangte kein Opfer von ihnen, weil sie durchweg gutgestellt waren.

Bis auf den vorletzten Björn. Der war ein morsches Reis an dem ehrwürdigen Stamm, das gerade noch rechtzeitig abfiel. Zu Nutz und Frommen des gesunden Reis, das nun nicht mehr von einem Schmarotzer bedroht wurde, sondern sich frei entfalten konnte.

Den Kaffee trank man in einem lauschigen Stübchen, das hauptsächlich aus Teppichen und Sesseln bestand. Zwischen ihnen ein niederer Tisch, ein antiker Schrank mit kostbarem Porzellan, eine Bar und über dem Kamin ein großes Bild mit einer strahlenden Frühlingslandschaft, das die Hausherrin besonders liebte.

»Direkt ein Sorgenbrecher«, pflegte sie zu sagen. »Man wird froh, wenn man dieses blühende Land auch nur sieht.«

Wer in dem lauschigen Gemach mit den Gastgebern weilen durfte, gehörte gewissermaßen zur Familie. Daher war man nicht wenig erstaunt, als eine Dame so mir nichts dir nichts in diese traute Gemeinschaft hineinplatzte. Wie widerwillig erhoben sich die Herren, während die Damen den Eindringling mit einem Blick musterten, unter dem es selbst dieser gewiß nicht zart besaiteten Mondänen unbehaglich wurde.

»Verzeihung, Frau Gräfin, daß ich hier so formlos erscheine«, sagte sie zögernd, »aber es war niemand da, der mich melden konnte. Ich bin gekommen, um mich nach dem Ergehen meines Bruders zu erkundigen. Oh, da ist ja auch eine mir unbekannte junge Dame.«

»Es ist die Enkelin des Herrn Dr. von der Gylt, Fräulein von Hollgan, und das ist Frau Kaunz, die Schwester von Lutz«, stellte die Gräfin vor und wies der Besucherin mit kühler Höflichkeit einen Platz an, damit auch die Herren sich setzen konnten. Und dann trat erst die Peinlichkeitsminute ein.

Denn schließlich war es hier nicht üblich, unangemeldet zu erscheinen, das kam nur vertrauten Gästen zu. Und dieser Gast war wohl vor Jahren einige Male hiergewesen, aber immer nur zu offiziellen Anlässen. Also vorbeibenommen hatte diese Besucherin sich bereits, und nun wartete man ab, wie sie sich weiter benehmen würde, zumal Lutz sie barsch fragte:

»Was willst du hier?«

»Lutz, was hast du denn für ein Benehmen«, entgegnete sie, den Jungen mit finsterer Miene ansehend. »Na ja, du befindest dich in den Flegeljahren, da muß man dir manches nachsehen. Was mich hertrieb, ist die Sorge um dich. Ich hatte ja von deinem Unfall keine Ahnung. Hörte erst davon, als ich heute vormittag von meiner Reise zurückkehrte und mein Elternhaus aufsuchte. Dort erfuhr ich durch die Dienstboten von deinem Malheur, du armer Junge…«

»Stopp«, winkte er kurz ab. »Brauchst mich nicht zu bedauern. Es geht mir hier so gut, wie es mir besser gar nicht gehen könnte.«

»Aber wenn du lästig fällst.«

»Ich falle hier nicht lästig.«

»Das tust du wirklich nicht, mein Junge«, nickte ihm die Gräfin herzlich zu. »Da können Sie ganz beruhigt sein, Frau Kaunz.«

»Das bin ich jetzt auch. Wo habe ich nur meine Zigaretten gelassen«, kramte sie in ihrer Handtasche herum, worauf die Gräfin ihr das Kästchen zuschob, das auf dem Tisch stand.

Die raucht doch nur, um hier noch verweilen zu können, dachte Armgard amüsiert. Denn so abgebrüht sie auch sein mag, das muß sie doch merken, wie fehl sie hier am Platze ist.

Das ist also die erste Liebe des Grafen Björn. Nun, gut sah sie ja aus, aber wieviel dabei raffinierte Kosmetik war, konnte die auf diesem Gebiet unerfahrene Armgard von Hollgan nicht sagen. Der Gesamteindruck war jedenfalls so, daß er Männern gefährlich werden konnte. Die Figur war vielleicht ein wenig zu üppig, die Beine ein wenig zu kurz, der Schimmer des braunen Haares ein wenig zu rot, aber sicher war das mondäne Fluidum, das die Fremde ausstrahlte, nicht zu übersehen.

Verstohlen ging Armgards Blick zu dem Grafen hin, der im Sessel zurückgelehnt saß und geruhsam seine Pfeife rauchte. Was er dachte, war seiner verschlossenen Miene nicht zu entnehmen, gleichfalls nicht der seiner Mutter. Daß Lutz seine Schwester nicht besonders schätzte, merkte man an seinem Verhalten. Wohl gab er auf ihre Fragen Antwort, doch sie waren kurz und knapp. Er machte so den Eindruck, als müßte er jeden Augenblick aus der Haut fahren, wie man so sagt.

Das schien auch seine Schwester zu empfinden, und darauf wollte sie es denn doch nicht ankommen lassen. Die Hauptsache, sie hatte sich Eintritt ins Schloß verschafft, alles andere kam so peu a peu.

So verabschiedete sie sich denn mit der Bitte, öfter nach ihrem kleinen Bruder sehen zu dürfen. Wohl klang die Zustimmung der Gräfin nicht ermunternd, nichtsdestotrotz erschien sie am übernächsten Tag wieder, wo sie jedoch keinen von der Herrschaft antraf. Wie der Diener erklärte, war die Frau Gräfin ins Dorf gefahren, der Herr Graf befand sich im Gutsbetrieb und der Herr Lutz im Gylthaus.

»Was macht er denn da?« fragte Jella erstaunt.

»Das weiß ich nicht, gnädige Frau.«

Mißgestimmt stieg sie in den Wagen und fuhr nach ihrer Heimatstadt zurück, wo sie sich nach ihres Mannes Tod eine kleine, aber komfortable Wohnung eingerichtet hatte. Die Villa, in der sie mit ihrem Mann gelebt, hatte sie verkauft. Bekam jedoch dafür lange nicht soviel Geld, wie sie annahm; denn das Haus war ziemlich verschuldet.

Das war wieder ein harter Schlag für die geldgierige Jella, die sich nach dem Tod ihres Mannes darauf gefreut hatte, nun endlich im Geld wühlen zu können. Wohl konnte sie mit dem, was er ihr hinterließ, gut auskommen, aber das Leben in den mondänen Orten war teuer.

Zwei Jahre lebte sie dort über ihre Verhältnisse, und das Geld zerrann ihr nur so zwischen den Fingern. Wie gut, daß sie sich in Seestadt die kleine Wohnung eingerichtet hatte, darin konnte sie solange wohnen, sich einschränken und dadurch ihre Finanzen verbessern. Und als sie dann nach Jahren den Grafen Folko wiedersah, da stand ihr Herz in Flammen.

Gut ausgesehen hatte er ja schon damals, aber jetzt, das war ein Mann! Mit dem in der großen Welt glänzen dürfen und sich beneiden lassen.

Den mußte sie haben und würde ihn auch bekommen. Sie kannte doch ihre Macht über die Männer.

Das waren die Zukunftsträume der Frau Jella Kaunz, geborene Briet.

*

Armgard und Lutz saßen im Wohnzimmer des Gylthauses mit heißen Wangen über einer Mathematikarbeit, die es in sich hatte, wie Lutz stöhnte. Es wollte zuerst nicht in seinen Schädel, was da erklärt wurde, bis der Groschen endlich fiel.

»Nun, dämmert es jetzt?« fragte Armgard lachend.

»Endlich«, seufzte er. »Eigentlich ist es ganz einfach, wenn du es mir erklärst. Du weißt aber auch eine ganze Menge.«

»Das wirst du nach dem Abitur genauso wissen«, tröstete sie. »Und was steht noch auf dem Zettel?«

»Kaffee und viel Kuchen.«

»Vielfraß.«

»Und das sagst du mir, wo ich soviel von dir weiß?«

»Ei, und ich erst von dir.«

Sie sahen sich an wie zwei lustige Verschwörer. Frederik von der Gylt, der geruhsam seine Importe rauchte, hatte seine Freude an der frischfröhlichen Neckerei der beiden, die sich so gut verstanden. Das Sie taten sie bald als unbequem ab, und seit dem Geburtstag der Gräfin tauschte Armgard auch mit ihr und Folko das Du. Recht war es ihr wohl nicht gewesen, aber sie konnte sich dem Wunsch der älteren Dame nicht widersetzen, zumal sie zu dem Freundeskreis gehörte. Da war das Du selbstverständlich.

Lutz’ Arm heilte zwar gut, aber so recht gebrauchen konnte er ihn noch immer nicht. Und da er laut ärztlichem Attest von der Schule dispensiert war, ließ er sich von einem Klassenkameraden laufend die Schulaufgaben schicken, die er gewissenhaft erledigte, wobei Armgard ihm half.

So hielt er sich denn im Gylthaus fast mehr auf als im Schloß. Jedenfalls war er nie da, wenn seine Schwester ihn sehen wollte. Bis ihr die Geduld riß und sie zum Gylthaus fuhr, wo sie der Bruder, der sich gerade draußen aufhielt, vor dem Portal abfing.

»Ja, was willst du denn?« fragte er ruppig. »Du hast doch hier nichts zu suchen.«

»Ich bin von Heinz beauftragt, mich um dich zu kümmern.«

»Ach nee, das ist ja ganz was Neues. Da hat er aber rasch umdisponiert. Denn heute früh rief er an und bat die Gräfin, mir noch länger Gastfreundschaft zu gewähren, da er und seine Frau viel unterwegs sein müssen, und was sagst du nun?«

»Daß Heinz anscheinend nicht weiß, was er will. Weiß er, daß du bei den Gylts aus und ein gehst?«

»Natürlich weiß er das und freut sich darüber. Aber weniger wird es ihn freuen, wenn ich ihm erzähle, daß du nun auch noch die Gylts zu belästigen gedenkst.«

»Jetzt habe ich aber genug von deinen Unverschämtheiten!« fauchte sie den freundlich grinsenden Jungen an.

»Es ist höchste Zeit, daß du ins Internat kommst, und dafür werde ich sorgen.«

»Aber dann kannst du mich doch nicht mehr im Schloß besuchen, und das tust du doch so gern. Soll ich dir den Magneten nennen?«

Sie warf ihm einen Blick zu, der ihn eigentlich hätte in Grund und Boden schmettern müssen. Der Wagen brauste ab, was der Lenkerin schlecht bekam. Denn auf dieser ziemlich schmalen Zufahrtsstraße, die außerdem noch am Hang lag, durfte das Tempo nicht die Dreißig überschreiten, und das Auge des Gesetzes wachte. Höflich wurde der vor Wut fast platzenden Jella von dem Gendarm, dessen Motorrad das Auto fast gerammt hätte, ein Strafzettel überreicht, und ausgerechnet da mußte aus einem Feldweg Graf Björn treten, im kurzen Pelz, mit Jägerhut, den Hund an der Leine und die Flinte über der Schulter.

»Nanu, wen hat die Polizei denn da am Wickel?« fragte er lachend.

»Frau Kaunz«, gab der Gendarm Auskunft. »Leider ist sie viel zu schnell gefahren, und das geht doch hier nicht an.«

»Nein, das geht hier nicht an«, bekräftigte der Graf, der nun neben dem Wagen stand und auf das große Schild zeigte, auf dem deutlich zu lesen war, daß man auf dieser Zufahrtsstraße nicht mehr als dreißig fahren dürfe. »Wer nicht lesen kann, muß zahlen.«

Schmunzelnd verabschiedete sich der Gesetzeshüter, fuhr mit dem Motorrad ab, und die Frau, die bei der Altersgrenze die Dreißig ungestraft überschreiten durfte, zog ein Mäulchen, das diesem Alter nicht mehr gut anstand.

»O Folko, wie konntest du nur«, schmollte sie. »Anstatt mich in Schutz zu nehmen, wie ich das von galanten Männern gewöhnt bin, machst du läppische Bemerkungen. Überhaupt bin ich dir böse, weil du nie zu Hause bist, wenn ich dich besuche.«

»Ich dachte, du wolltest deinen Bruder besuchen…«

»Natürlich«, warf sie rasch ein. »Aber er ist ja auch nie da. Der treibt sich immer bei diesen Gylts herum.«

»Das dürfte wohl nicht die richtige Bezeichnung sein«, unterbrach er sie ruhig, aber mit einem drohenden Unterton. »Herumtreiben tut man sich an üblen Stätten, aber nicht in einem so vornehmen Haus, wie das Gyltsche es ist.«

»Lieber, das ist doch Wortklauberei«, gurrte sie mit schmelzendem Blick. »Komm, steig ein.«

»Mit Flinte und Hund?«

»Nur bis zum Schloß. Dort ziehst du dich um, wir fahren zur Stadt und machen uns einen schönen Tag.«

»Zu schön um wahr zu sein. Ich habe nämlich eine Beschäftigung, die sogar in Arbeit ausartet.«

»Ja, bist du denn dein eigener Sklave? Du hast doch Menschen genug, die für dich arbeiten.«

»Das schon«, räumte er ein. »Aber wo das Auge des Herrn fehlt, da werden die Kühe nicht fett.«

»Bist du aber spießig geworden. Wenn ich an früher denke, wie du da warst.«

»Mein liebes Kind, die Zeiten, die verändern sich, und wir verändern uns.«

»Aber die Liebe bleibt«, erklärte sie pathetisch. »Alte Liebe rostet nicht, das habe ich an mir erfahren müssen. Ach, Folko, man ist in der Jugend ja so dumm.«

»Stimmt«, bestätigte er mit einem Lächeln, das sie an ihm noch nicht kannte. Es war so ein Gemisch von Ironie und Verächtlichkeit. »Aber auch das Alter macht nicht immer weise.«

»Du willst doch damit nicht sagen, daß ich alt bin?«

»I bewahre.«

»Ach, Folko.«

»Habe ich schon mal gehört. Sind solche elegischen Seufzer jetzt Mode in der großen Welt, die du genossen hast in vollen Zügen?«

»Du wirst ja beleidigend!« fauchte sie ihn an, und er lachte.

»Das Fauchen hast du jedenfalls nicht verlernt. Behalte es bei, es paßt zu dir. Gehab dich wohl.«

Mit dem bewußten Lächeln zog er seinen grünen Hut und ging davon mit festen, sicheren Schritten. Hochgewachsen, in straffer Haltung, ein Bild stolzer, kraftvoller Männlichkeit.

Mit schmalen Augen sah Jella ihm nach, wie eine Katze, die auf Lauer liegt, und das würde sie fortan wohl tun müssen.

Denn so einfach war es nicht, einen Folko Björn aufs neue einzufangen. Damals war er ein Jüngling gewesen, ungestüm und arg verliebt, aber heute war er ein Mann, dessen Herz schon mancher Attacke standgehalten hatte. Der Gold von Talmi zu unterscheiden wußte, da konnte dieses auch noch so sehr blänkern und blinken.

*

Jella fand Bruder und Schwägerin im Wohngemach bei Kaffee und Kuchen. Der Reeder Heinz Briet, ein kräftiger junger Mann mit einem frischen Gesicht, dunkelblondem Stutzhaar und braungrauen Augen mit einem offenen, ehrlichen Blick, war über das Erscheinen seiner Schwester bestimmt nicht erfreut. Aber er konnte sie ja nicht aus dem Elternhaus jagen.

»Tag«, grüßte sie nachlässig und ließ sich in einen Sessel sinken. »Das ist ja hier eine Stille, die auf die Nerven fällt.«

»Uns nicht«, entgegnete die Schwägerin, eine zierliche Brünette, hübsch, munter, intelligent und sehr tüchtig. »Willst du Kaffee?«

»Den trinke ich nie.«

»Warum nicht, wirst du zu dick?« fragte der Bruder, mit Appetit in einen knusprigen Kuchen beißend. »Wir haben deshalb keine Sorge, nicht wahr, Klara?«

»Nein«, lachte sie, einen Löffel Schlagsahne in den Mund schiebend, was Jella mit Neid erfüllte. »Ich glaube, ich habe sogar noch Untergewicht.«

»Du glaubst?« fragte Jella. »Ja, wiegst du dich denn nicht jeden Tag?«

»Nein, das vergesse ich immer. Wozu auch. Wenn ich aus den Nähten platze, werde ich es schon merken.«

Schmunzelnd besah Heinz sich seine hübsche, muntere Frau, mit der er einen Glücksgriff gemacht hatte. Als er vor vier Jahren heiratete, stand es nicht gerade gut um die Reederei. Seine Eltern rieten zu einer guten Partie, doch er ließ sich nicht beirren und folgte seinem Herzen. Obwohl Klara kein Geld in die Ehe brachte, kamen sie gut voran, weil die junge Frau mitarbeitete und dadurch dem Betrieb eine unschätzbare Hilfe wurde. Das Ehepaar arbeitete Hand in Hand wie zwei gute Kameraden, die Reederei florierte, und das Bankkonto nahm langsam aber sicher zu.

»Was macht eigentlich Lutz?« erkundigte sich Jella. »Ist er jetzt zu Hause?«

»Ja«, gab der Bruder Antwort. »Er hat sich im Schloß so prächtig erholt, daß er wieder zur Schule gehen kann. Wir hoffen, daß er trotz der Versäumnis zu Ostern das Klassenziel erreicht.«

»Wenn Lutz sich so oft im Schloß aufhält, müßt ihr auch die Björns einladen, das gehört sich so.«

»Ach, sieh mal an«, meinte er. »Ausgerechnet du willst uns beibringen, was sich gehört. Wir sind mit denen im Schloß von jeher nur offiziell zusammengekommen.«

»Aber das Verhältnis hat sich doch geändert, seitdem Lutz dort wie ein Kind im Haus ist.«

»Nichts hat sich geändert. Jedenfalls nicht, soweit es einen freundschaftlichen Verkehr betrifft. Die haben ihren festen Freundeskreis, in den kein anderer hineinkommt, und wir haben den unseren, mit dem wir auch nur alle Jubeljahre mal zusammenkommen, wie man so sagt. Wir müssen im Betrieb tüchtig heran, und in den wenigen Freistunden ruhen wir uns aus.«

In dem Moment trat Lutz ein. Er begrüßte die Schwester und ließ sich dann in der Runde nieder.

»Hunger?« fragte die Schwägerin.

»Danke, ich bin satt bis zur Halskrause. Ich war nämlich in der Konditorei.«

»Nanu, so viel Taschengeld?«

»Nun kürze es mir bloß nicht«, brummte Lutz. »Es ist ohnehin schon knapp genug bemessen. Die Zeche hat Folko bezahlt.«

»Wie kamst du denn zu dem?« fuhr Jella wie elektrisiert auf, und Heinz wechselte mit seiner Frau einen vielsagenden Blick. Sie hatten natürlich sofort gewußt, warum Jella ihnen nahelegte, mit den Björns in freundschaftlichen Verkehr zu treten.

»Hast du dich denn mit dem Grafen zu dem Besuch in der Konditorei verabredet?« fragte sie nicht gerade sehr geschickt, und dementsprechend reagierte Lutz.

»Herrjeh, nein! Ich bin doch kein Fräulein, das sich mit dem Herzallerliebsten verabredet. Unsere zufällige Begegnung fand auf der Straße statt. Ich war per pedes, er saß im Auto mit Mutter und Chauffeur.

Als man mich bemerkte, hielt der Wagen und hinter ihm noch einer, gleichfalls nobel mit Chauffeur. Er fuhr die Herrschaften Herrn Dr. von der Gylt, Fräulein von Hollgan, Kapitän a. D. Fröke mit Frau Gemahlin.

Warum siehst du mich denn so wenig freundlich an, meine Schwester, erzähle ich noch nicht ausführlich genug?« fragte er scheinheilig und fiel dann in das herzliche Lachen von Bruder und Schwägerin mit ein. Doch Jella lachte nicht, sie ärgerte sich.

»Albere hier nicht herum, dummer Bengel, erzähle sachlich.«

»Also sachlich. Man befand sich auf der Rückfahrt von der Hinfahrt zum Hause des Herrn Senators von der Gylt, wo es was zu feiern gab. Da man Kaffeedurst verspürte, kehrte man in der Konditorei ein, mit mir, der ich ihnen vorher über den Weg lief. Nach der Labung zog Graf Björn sein großes Portemonnaie und zahlte pauschal aus.«

»Wieviel Stück Torte hast du denn verputzt?« erkundigte sich seine Schwägerin, was mit großartiger Geste abgetan wurde.

»Der Wohltätigkeit waren keine Schranken gesetzt.«

»Was du nach Kräften ausgenutzt haben wirst«, meinte der Bruder schmunzelnd. »Das Wort Vielfraß ist wohl nicht gefallen?«

»Doch, aber das macht mir nichts aus.«

»Dir scheint überhaupt sobald nichts auszumachen«, bemerkte Jella ziemlich mißbilligend. »Sonst würdest du nicht bei Menschen herumschmarotzen…«

»Nur kein Neid, wer hat, der hat.«

Pomadig wehrte er die Hand ab, die nach seiner Wange zielte.

»Aber Schwesterchen, du wirst doch nicht«, lachte er sie freundlich an. »Du mußt doch nicht gleich hauen wollen.«

»Also Heinz, dieser Bengel…«

»Laß ihn in Ruh«, unterbrach er sie ungehalten. »Du hast dich so lange nicht um den Jungen gekümmert, also laß es auch fernerhin bleiben. Wir wissen ganz genau, daß er dir Mittel zum Zweck sein soll, doch das Ziel erreichst du nie. Gib das Rennen auf, bevor du dich noch mehr blamierst.«

»Ich soll mich blamiert haben?« fauchte sie ihn an. »Womit denn?«

»Mit deinen unverschämten Besuchen im Schloß.«

»Na, das ist doch, das ist doch…«

»Unerhört, jawohl«, fiel er gelassen ein. »Kehr zurück in deine Welt, in unsere paßt du nicht hinein.«

»Das hier ist mein Elternhaus.«

»Das du seit deiner Heirat nicht mehr aufgesucht hast. Nicht einmal zu den Begräbnissen der Eltern bist du erschienen…«

»Da war mein Mann schwer krank«, schnitt sie ihm hastig das Wort ab. »Sonst wäre ich bestimmt hergekommen, wo ich doch so große Sehnsucht nach meinem lieben Zuhause hatte.«

»Erzähl hier doch keine Märchen.«

»Erlaube mal, bin ich nicht sofort hergekommen, nachdem der Tyrann mir das nicht mehr verbieten konnte? Habe ich mir nicht in meiner Heimatstadt eine Wohnung eingerichtet?«

»Die du gleich verlassen hast, um dich zwei Jahre in deiner Welt herumzutreiben und nach einem Mann zu angeln, natürlich nach einem…«

»Unverschämter!«

»Der Geld hat«, fuhr er unbeirrt fort. »Denn bei dir fing es an, knapp zu werden. Da besannst du dich auf deine Wohnung, kamst her, sahst nach Jahren den Grafen Björn wieder, der indes ein Mann geworden ist und was für ein Mann! So was schafft unser Herrgott nicht alleweil. Für dich schon gar nicht, meine liebe Jella, also mach dich nicht weiter lächerlich.«

»Jetzt ist es aber genug!« schrie sie krebsrot vor Wut, die Fäuste nach ihm schüttelnd. »Das sollst du mir büßen!«

Wie eine Furie fegte sie los und dann war Ruhe nach dem Sturm.

»Das ist ja gräßlich«, sagte Klara kläglich. »Mußtest du denn so rigoros vorgehen, Heinz?«

»Ja«, entgegnete er fest. »Sie muß wissen, daß wir über alles Bescheid wissen, sonst reißt der Ärger mit ihr nicht ab.«

*

Armgard hatte von ihrem Großvater einen Wagen bekommen, elfenbeinfarben mit grünen Polstern. Ein schnittiger Zweisitzer, flink und wendig, so ein richtiger Flitzer. In wenigen Minuten war sie mit ihm im Dorf, um Einkäufe zu machen, was bisher größtenteils Spierke erledigt hatte.

Dünen hießen zuerst Gut wie Dorf, was zu Verwechslungen führte. Also nannte man es um in Schloß Dünen und Klein-Dünen, weil es zuerst nur aus einigen Häusern bestand. Im Laufe der Jahre kamen dann so viele hinzu, daß eine Schule erbaut werden mußte, später sogar eine Kirche, Geschäfte wurden notwendig, Arzt und Apotheke, sogar einen Bahnhof konnte das schmucke Dorf aufweisen.

Und dann kamen die Fremden. Zuerst reichte das kleine Gasthaus noch aus, doch dann mußte es erweitert werden, und nicht lange darauf wurde ein zweites erbaut und zwar vom gleichen Wirt.

Armgard fuhr gern nach Klein-Dünen und war dort auch gern gesehen. Jemand hatte sie mal Senatorfräulein genannt, und der Name hing ihr nun an.

Sie fuhr aber auch gerne nach Seestadt, das den Namen Kurort mit Recht trug. Denn alles war vorhanden, was dazu gehörte. Da die Gäste viel Geld hineinbrachten, war die Verwaltung in der Lage, ihr Seestadt zu hegen und zu pflegen.

So fuhr Armgard denn mit ihrem Flitzer in der Umgegend herum, und oft fuhr der Großvater mit. Das frisch-fröhliche Menschenkind wirkte auf ihn wie ein Jungquell.

»Er ist so richtig flott geworden«, sah der Kapitän ihm schmunzelnd nach, als er mit jugendlichem Elan aus dem Zimmer ging. »Nun müssen wir aufpassen, daß er nicht womöglich über die Stränge schlägt.«

»Mit oder ohne Trauschein?« fragte Lottchen so trocken, daß Armgard hell herauslachte. Es klang so überschäumend lustig, daß es nicht nur die beiden Frökes mitriß, sondern auch den Großvater und die Björns, die er mitbrachte.

»Wo man lacht, da laß dich ruhig nieder«, zeigte er einladend auf die Sesselgruppe. »Und nun möchte ich gern wissen, worüber Tausendschönchen so übermütig gelacht hat.«

»Über ein Bemerkung von Tante Lottchen«, antwortete sie noch immer lachend.

»Und was für eine Bemerkung?«

»Die ist zu delikat, um verraten zu werden, Großpapachen.«

»Nanu Lottchen, du wirst doch nicht?« zwinkerte er ihr zu, sie zwinkerte zurück und ließ dabei die Nadeln munter klappern.

»Wir sind gekommen, um euch zum Eiersuchen einzuladen«, brachte nun die Gräfin ihr Anliegen vor. »Jonathan hat bereits die Einladung angenommen und wird am ersten Ostertag mit Kind und Kegel erscheinen. Dann werden wir endlich einmal frohes Leben um uns haben.«

»Das ihr doch nicht womöglich von den steifleinenen Gylts erwartet?« fragte Fröke, und sie wehrte lachend ab.

»Von den würdigen natürlich nicht. Aber von den noch nicht würdigen, Christine und Jo und vor allen Dingen von Armgard und Lutz. Wo die beiden sind, geht es immer lustig zu.«

»Wir älteren Semester sollen womöglich auch suchen?« fragte der Kapitän unbehaglich.

»Selbstverständlich. Mitgefangen, mitgehangen.«

»Dann wird er aber bald hängen«, meinte Lottchen pomadig. »Das tut er nämlich immer, wenn er was sucht. Doch vorher zertrampelt er noch die Eier.«

»Na, vielleicht geht es andersrum«, zog er ungerührt an seiner Pfeife. »Bei einem Pummelchen kann man nie wissen.«

»Wir werden es erleben«, sagte Gräfin Erdmuthe, die immer ihren Spaß an den Neckereien der beiden hatte, die sich so herzlich zugetan waren. Sie konnte sie sich aus ihrem Leben nicht wegdenken, gleichfalls nicht Frederik von der Gylt nebst seinen Angehörigen. Das waren Menschen, auf die man sich verlassen konnte. Auch in schlechten Zeiten, das hatten sie mehr als einmal bewiesen.

Ostern war in diesem Jahr Anfang April, und so mußte man sich bei dem mürrischen Gesellen auf unwirtliches Wetter gefaßt machen. Doch er zeigte sich gnädig. Ließ sogar während der Eiersuche im Schloßpark die Sonne scheinen. Aber man hätte sich auch bei Regen nicht davon abhalten lassen. Warm und wetterfest angezogen machte man sich auf die Suche nach all den netten Ostersachen.

Man fand sie in den raffiniertesten Verstecken. Einzeln, in Päckchen, in Nestern mit buntgefärbten Hühnereiern, solchen aus Schokolade und Marzipan, Küken, Häschen und ein kleines persönliches Geschenk.

An jedem Stück hing ein Zettel mit Namen, damit keiner zu kurz kam. Sechs Sachen waren jedem zugedacht, die er allein suchen mußte: Zu zweit oder gar zu dritt zu gehen, war nicht gestattet.

Natürlich erstreckten sich die Verstecke nicht über den ganzen riesengroßen Park, sondern nur über einen kleinen Teil, der gekennzeichnet war. Mutter und Sohn Björn, die Spender, standen hinter einem Gebüsch und sahen mit Vergnügen dem Suchen zu. Selbst der würdige Herr Senator nebst Gattin, der Grandseigneur von der Gylt, der tapsige Herr Kapitän mit seinem Pummelchen, machten eifrig mit. Man suchte, äugte, machte groteske Sprünge, reckte sich, ging in die Hocke, legte sich sogar lang, wenn man unter einem Strauch etwas erspähte. Wie komisch man dabei wirkte, war ja so egal.

Es war auch egal, daß man sich auf dem feuchten Boden schmutzig machte. Man hatte sich ja danach angezogen, trug ein sogenanntes Räuberzivil.

So schwärmte man denn nach allen Seiten aus. Die dreizehnjährige Christine von der Gylt irrte zuerst planlos umher. Sie war ein langbeiniges, hochaufgeschossenes Etwas, bei dem man den Ausdruck anwenden konnte: Nicht Fisch, nicht Vogel. Aber daß sie eine Gylt war, sah man auf den ersten Blick.

Und die drei männlichen Gylts konnten ihre Abstammung schon gar nicht verleugnen. Traditionsgemäß hießen die Erstgeborenen Jonathan, und von denen gab es jetzt drei. Um sie auseinanderhalten zu können, wurde der Senior Jonathan, dessen Sohn Jonas und wieder dessen Sohn Jo genannt. Der Zehnjährige ging gleich forsch vor, na was, das waren doch »kleine Fische«.

Jedenfalls machte das Suchen allen riesigen Spaß. Jubel und Lachen erfüllte den Park, aber auch manch ein enttäuschtes »Oh«, wenn man etwas gefunden hatte, dessen Zettel nicht seinen Namen trug. Doch verraten durfte nichts werden, damit büßte man eins von seinen Sachen ein, und darauf wollte man es nun wirklich nicht ankommen lassen. Man lief durcheinander, rief sich neckende Worte zu und amüsierte sich köstlich.

»Ahoi, volle Fracht!« schrie der Kapitän lauthals und schwenkte sein gefülltes Körbchen. Von allen Seiten eilte man herbei, um zu sehen, ob der Spaßvogel sie auch nicht zum Narren hielt. Aber nein, es stimmte. In dem Körbchen lagen sechs Sachen mit seinem Namen versehen, darunter eine besonders gute Pfeife und ein Päckchen vom besten Tabak.

Ihnen leutselig zuwinkend, ging er hocherhobenen Hauptes auf die Gruppe von drei Bänken zu, die als Sammelplatz bestimmt war. Dort untersuchte er die Osterspende genau, und die beiden Björns, die ganz in der Nähe hinter dem Gebüsch standen, konnten sehen, wie herzlich er sich über die kleinen Gaben freute.

Als zweite erschien Marlene von der Gylt, die Mutter der beiden Kinder, die so gut in die Familie hineinpaßte, im Aussehen wie charakterlich. Sie äußerte den Sieg als zweite weniger geräuschvoll.

Jetzt ging Armgard an dem Busch vorbei, hinter dem die Gastgeber sich versteckt hielten. Sie blieb stehen und sagte lachend:

»Wem gehören denn nun die Beine?«

Denn mehr war nicht zu sehen, der übrige Mensch lag unter dem Busch. Und was sich da hochrappelte, war Lutz mit zu Berge stehendem Haar und hochrotem Gesicht.

»Verflixt, die haben sich vielleicht Verstecke für meine Angebinde ausgesucht«, sagte er außer Atem. »Wo das Gestrüpp am dicksten war, da lagen sie, sechs an der Zahl. Hast du deine Beute vollzählig?«

»Ja. Aber bestimmt nicht als erste, wie ich sehe«, zeigte sie nach den Bänken. »Da sind sie versammelt, bis auf Tante Lottchen und die beiden Kinder. Eigentlich blamabel für uns, sich von den älteren Herrschaften ausstechen zu lassen.«

»Die Verstecke werden ja auch nicht so schwierig zu finden gewesen sein wie unsere«, tat er achselzuckend ab. »Aha, dort naht Jo.«

Gleich darauf stand er vor ihnen und zeigte auf das Körbchen.

»Er zählt die Häupter seiner Lieben, und sieh, es sind statt sechse sieben. Kann nichts dafür, der Segen kam von oben.«

»Was denn?«

»Das da«, reichte er der fragenden Armgard ein flaches Päckchen hin. »Und das mir.«

»Allerdings«, sie besah sich lachend das zarte Gebilde unter Zellophan. »Dieses kokette Schürzchen oder Blüschen dürfte deinem Jungengesicht schlecht anstehen. Eigentlich kann es nur Chrstine zugedacht sein; denn Lottchen, die sich ja auch noch unter den Suchenden befindet, dürfte in diese Niedlichkeit kaum hineinpassen. War denn keine Karte an dem Karton?«

»Nein.«

»Dann wird sie wahrscheinlich abgefallen sein. Aber halt mal, hier steht ja der Name: Christine.«

»Da kann die sich ja buntkariert suchen«, meinte Lutz. »Na, denn wollen wir sie mal gleich erlösen.«

Er formte die Hände zum Sprachrohr und rief hindurch: »Hallo, Christine, wo steckst du?!«

»Hier«, kam der Ruf aus der Nähe.

»Hast du schon alles gefunden?«

»Nein, ein Stück fehlt noch.«

»Komm mal rasch her.«

Eilig kam sie mit ihren langen Beinen angestelzt, beschmutzt, verstrubbelt und mit vor Eifer glühenden Wangen.

»Habt ihr schon alles?«

»Ich hab’ sogar sieben Sachen«, prahlte Jo, nahm Armgard den Karton aus der Hand und hielt ihn der Schwester hin. Als sie zugreifen wollte, zog er ihn rasch zurück.

»Erst Finderlohn.«

»Das fehlte gerade noch«, entrüstete sie sich. »Klauen und dann noch Finderlohn. Grinse nicht wie ein Teller Brotsupp’, gib her!«

»Von wem hast du denn den Ausdruck?« fragte Armgard lachend.

»Von Lutz natürlich.«

Sie hatte sich inzwischen des Kartons bemächtigt und sah entzückt auf den Inhalt.

»Schau mal, Armgard, ist das nicht süß? So was kann auch nur Tante Erdmuthe aussuchen.«

»Und wenn es Folko getan hat?« fragte Lutz scheinheilig, worauf sie ihm einen nachsichtigen Blick zuwarf, etwa wie eine erfahrungsreiche Tante einem Neffen, der noch nicht trocken hinter den Ohren ist. Gemeinsam gingen sie zum Sammelplatz, wo sich indes auch die Gastgeber eingefunden hatten, nur Lottchen fehlte.

»Hoffentlich ist ihr nichts passiert«, wurde Fröke unruhig. »Ich will doch mal Ausschau halten.«

Doch schon nach ein paar Schritten blieb er stehen und sah schmunzelnd seinem Pummelchen entgegen, das da angetrudelt kam, das gute Gesicht in bekümmerte Falten gelegt.

»Claas, ich kann meine Nummer sechs nicht finden!« rief sie ihm zu, achtete dabei nicht auf das mit Tannen zugedeckte Beet, stolperte, drehte sich einmal um ihre eigene Achse und setzte sich mit Aplomb mitten in ein Nest mit gefärbten Eiern.

Nun saß sie da wie eine brütende Glucke, sah sich verdutzt um, und als ihr Ehegespons noch ebenso verdutzt fragte: »Aber Pummelchen, so spät noch willst du brüten?«, da war es kein Wunder, daß die andern Tränen lachten, und das brütende Pummelchen lachte vergnügt mit. Und so endete denn das Eiersuchen ebenso lustig, wie es angefangen hatte.

Man hatte vor dem Mittagessen noch genügend Zeit, sich umzuziehen, was Armgard in Christines Zimmer tat. In einem Köfferchen hatte sie alles Notwendige mitgebracht. Gewaschen war sie, also konnte sie mit dem Anziehen beginnen.

Christine, die sich auch bereits im Badezimmer einer gründlichen Reinigung unterzogen hatte, saß wie ein Türke mit untergeschlagenen Beinen auf dem Diwan und sah interessiert zu. Armgard war ihr augenblicklicher Schwarm, wie ihn ja so blutjunge Mädchen älteren gegenüber oft haben.

»Was bist du bloß schick und schön«, sagte sie bewundernd, als Armgard angekleidet war. »Was meinst du, ob ich später genauso aussehen werde wie du, da wir ja verwandt sind?«

»Das sind wir wohl, Christinchen. Nur du bist eine echte Gylt, und ich bin eine echte Hollgan.«

»Trotzdem sind wir blutsverwandt, und das schlägt immer durch, sagt mein Papa. Du, auf den bin ich stolz, wie auf alle andern, die zu unserer Sippe gehören. Bist du auch stolz auf sie?«

»O ja, weil man auf sie stolz sein kann.«

»Magst du den Folko auch so gern wie ich?« ging die Fragerei weiter.

»Doch, Christinchen.«

»So einen Mann möchte ich gern haben, du auch?«

»Na hör mal, dann wären wir ja Rivalinnen«, lachte Armgard belustigt über den Kindskopf. »Und nun mach, daß du dich anziehst. Oder gedenkst du im Unterkleid an der Tafel zu erscheinen?«

»Uijeh, nein. Dann würden ja allen Björns die Haare zu Berge stehen, den gemalten, wie denen in natura.«

Sie beendete rasch ihre Toilette, und mit dem ersten Gongschlag betraten sie das Speisezimmer, wo sich auch gleich darauf die andern einfanden. Alle waren sie feiertäglich gekleidet und boten ein Bild von Kultur und großer Eleganz.

Armgard sah entzückend aus in dem lichtgrünen Kleid. Sie trug eine kunstvoll gearbeitete Kette mit passendem Armband, eine Ostergabe des Großvaters. Da der Schmuck aus dem Nachlaß seiner zweiten Frau stammte, war er sehr kostbar.

Die Eiersuche hatte allen Appetit gemacht, und so ließen sie sich das vorzügliche Festmahl gut munden. Nach dem Essen zogen sich die älteren Herrschaften zurück, und die andern, darunter auch Graf Folko, machten einen Verdauungsspaziergang, wie Lutz sich fachmännisch ausdrückte.

»Der April benimmt sich heute recht anständig«, sagte Christine. »Wohl ist es ziemlich kühl, aber es regnet nicht. Wollen wir reiten, Lutz?«

»Nee, mein Kind, nicht gleich nach dem üppigen Mahl. Frage in einer Stunde wieder an, vielleicht kann ich dann meinen Riemen enger schnallen.«

»Und du, Folko?«

»Ich sitze schon an Arbeitstagen genug im Sattel.«

»Ist auch wieder wahr. Schade, daß du nicht reiten kannst, Armgard.«

»Vielleicht kann ich es noch.«

»Noch?« wurde die Kleine hellhörig. »Wieso noch?«

»Weil ich schon mit fünf Jahren reiten lernte. Vater brachte es mir bei.«

»Du, dann hast du aber bestimmt was gelernt«, sagte Christine aufgeregt. »Neulich noch sprach mein Großvater darüber, daß der Rittmeister von Hollgan der glänzendste Reiter seines Regiments war, bis…«

Sie stockte verlegen, und Armgard sprach weiter:

»Ja, bis. Ich war damals zehn Jahre und habe seitdem nicht mehr im Sattel gesessen. Das ist also zwölf Jahre her, und ich werde in der langen Zeit das Reiten wohl verlernt haben.«

»Das verlernt man nicht«, schaltete Folko sich ein. »Ein kurzes Training und du bist wieder fit.«

»Und wo bekomme ich ein Pferd her?«

»Von deinem Großvater«, sagte Christine eifrig. »Von dem kriegst du alles, was du willst.«

»Eben deshalb muß ich mit meinen Wünschen vorsichtig sein.«

»Warum denn?« fragte die Kleine verständnislos.

»Um die Güte eines Menschen nicht auszunutzen.«

»Verstehe ich nicht. Ich nehme, was ich nur kriegen kann.«

»Und ich erst«, meldete sich Jo, der aufmerksam dem Gespräch gefolgt war. »Ich kann nie genug kriegen.«

»Ich auch nicht«, gab Lutz zu. »O Ärmstegard, wie kann man nur so bescheiden sein.«

»Du, laß dir die Verschandelung deines Namens nicht gefallen«, stichelte Christine.

»Und was soll ich dagegen tun?«

»Ihm eine runterhauen.«

»Und wenn er wiederhaut?«

»Dann ist er ein schlechterzogener Junge.«

»Aha! Und wenn du haust, was bist du dann?«

»Ich hau ja nicht, ich rate dir das.«

Da mußte man über das gerissene Persönchen denn doch lachen. Mittlerweile hatte man die Pforte erreicht, welche in die Parkmauer eingelassen war. Und hinter dieser Pforte aus festem Bohlenholz führten Stufen hinunter zum See. Sie waren in Fels gehauen, waren so unverwüstlich, daß sie schon viele Jahre überdauert hatten.

»Bist du schon einmal hier gewesen, Armgard?« fragte Folko. Als sie verneinend den Kopf schüttelte, zog er aus der Hosentasche einen Ring, an dem einige kompliziert gearbeitete Schlüssel hingen. Mit dem kleinsten schloß er auf, öffnete die gutgeölte Pforte, und der Blick zum Meer lag frei.

Der Strand war ziemlich breit. Auf einem Podest standen ein komfortables Badehaus und ein langgestreckter Schuppen, in dem die Fahrzeuge untergebracht waren; eine Rollbahn führte ins Wasser.

»Hast du eine Jacht?« fragte Armgard den neben ihr stehenden Folko.

»Ja.«

»Und was für eine«, setzte Lutz hinzu. »Prima, sage ich dir, da ist alles dran. Willst du sie dir ansehen?«

»Wenn Folko nichts dagegen hat.«

»Was sollte ich wohl dagegen haben«, entgegnete er, nicht ganz bei der Sache. Denn den Weg entlang kam ein Bursche gelaufen, lachend über das ganze Gesicht.

»Herr Graf, es ist da!« meldete er atemlos vom schnellen Lauf. »Das flutschte man so.«

»Meint er ein Fohlchen?« fragte Lutz gespannt.

»Ja, von unserer Primadonna.«

»Tun die auch fohlen?« fragte Jo und ärgerte sich, daß man ihn auslachte. »Lacht nicht so dumm, man kann doch wohl was fragen.«

»Ist auch wirklich wahr«, strich Folko ihm über den hellen Schopf. »Primadonna nennen wir unsere beste Zuchtstute, weil sie so kokett tänzelt.«

»Ach so. Darf ich das Fohlchen mal sehen?«

»Natürlich, mein Junge, kannst mitkommen.«

Das wollten die andern auch. Nachdem der Graf die Pforte verschlossen hatte, gingen sie vereint zum Pferdestall, wo freudige Erregung herrschte. Mindestens zehn Männer standen um die »Primadonna« herum, die sich wie eine wirkliche Primadonna feiern ließ. Der kleine Hengst, dessen Merkmale seine edle Abstammung kennzeichneten, versuchte auf die staksigen Beine zu kommen, knickte aber ein. Da rollte er sich, schnaufte, prustete und freute sich seines eben erst begonnenen Lebens.

»Na, der gibt vielleicht an«, blähte sich der Betreuer der kostbaren Stute und jetzt auch noch der Betreuer ihres kostbaren Nachwuchses auf wie eine eitle Mutter. »Der amüsiert sich wie ein Schwein im Regen.«

Ein Städter hätte wohl kaum so viel Stolz und Freude über ein Fohlen verstehen können, das konnte nur ein Landmann und Pferdenarr. Und das waren sie alle, die hier standen. Auch Armgard, obwohl sie länger als ein Jahrzehnt nicht mehr mit Pferden in Berührung gekommen war.

Interessiert ließ sie ihre Blicke durch den geräumigen Stall schweifen, der vor Sauberkeit nur so blitzte. Helle abwaschbare Wände, der Fußboden mit Fliesen ausgelegt. Auf der einen Seite standen fünf Pferde in offenen Boxen, auf der anderen zwei tragende Stuten in geschlossenen.

Langsam ging Armgard den Mittelweg entlang, um sich die Pferde näher anzusehen. Sie war so vertieft, daß sie zusammenzuckte, als sie neben sich die sonore Stimme Folkos hörte. »Nun, welches Pferd gefällt dir am besten?«

»Der braunglänzende Prachtkerl dort«, erwiderte sie rasch gefaßt.

»Das ist mein Reitpferd, gleichfalls der Rappe.«

»Und die andern?«

»Werden abwechselnd von den Eleven geritten.«

»Ist der Fuchs nicht zu zierlich für einen ausgewachsenen Reiter?«

»Stimmt. Weil die hiesigen Reiter alle kein Fliegengewicht sind, wollte ich das übrigens so schöne wie wertvolle Tier schweren Herzens verkaufen. Nun freue ich mich, es behalten zu können, es ist nämlich so das richtige Reitpferd für dich. Doch darüber sprechen wir später«, unterbrach er sich, als Christine nahte.

»Ach, hier bist du, Armgard. Gefallen dir die Pferde?«

»Sehr.«

»Dann such dir doch eins aus, Folko gibt es dir gern.«

»Wie willst du das denn wissen?«

»Weil ich ihn genau kenne«, erklärte sie großartig. »Erstens ist er sehr großzügig, und dann würde er es für Onkel Frederik tun, den er sehr verehrt.«

»Christinchen, du bist gar nicht so dumm.«

»Nun sag bloß noch: wie du aussiehst«, unterbrach sie ihn lachend und hängte sich zutraulich in seinen Arm.

Da nun auch Lutz und Jo hinzukamen, verließ man den Stall, nachdem der Herr vom Ganzen sich davon überzeugt hatte, daß in der »Wochenstube« alles in Ordnung war. Unverweilt begab man sich zum Schloß, um sich für die Kaffeetafel ein wenig frisch zu machen.

*

Wenn Gylt sen. mit seiner Frau allein nach Dünen kam, quartierte er sich bei seinem Bruder Frederik ein, doch erschien er mit Kind und Kegel, wohnte man im Schloß; denn sechs so anspruchsvolle Gäste wollen gut untergebracht sein. Im Gylthaus guckte man natürlich auch ein, wie man den Besuch nebst Bewirtung nannte, doch sein Quartier hatte man im Schloß. Zweitfeiertag nahm man denn Abschied und freute sich schon auf das nächste Wiedersehen. Man wohnte ja nur einen »Katzensprung« voneinander entfernt.

Doch aus dem Wiedersehen sollte vorerst nichts werden. Wohl blieben Frederik von der Gylt und seine Enkelin zu Hause, aber die Gräfin mußte gleich nach Ostern zu einer schwer erkrankten Verwandten fahren, ihr Sohn mußte einen landwirtschaftlichen Lehrgang übernehmen, und Frökes flogen nach Kanada, wo wieder einmal ein Enkelchen eingetroffen war. Er wollte durchaus nicht diese Reise antreten, schon gar nicht im Flugzeug.

»Was hat ein Seebär in der Luft zu suchen!« polterte er sich im Gyltschen Wohngemach den Ärger ab. »Der bleibt auf dem Wasser, wie es sich gehört.«

»Bei einer Fahrt mit dem Schiff kämen wir zur Taufe nicht zurecht«, gab Lottchen zu bedenken, doch er winkte unwirsch ab.

»Und was wäre dann? Unsere Enkelkinder sind uns ja sowieso fremd, so fremd, wie ihre Väter es uns geworden sind.

Kein Wunder, da man sie alle Jubeljahre mal zu sehen kriegt. Da hat man nun zwei Kinder und hat doch keine, weil sie am Ende der Welt hängengeblieben sind, wo kein Sonn’, kein Mond scheint.«

»Hat dich denn keins von beiden dort beschienen?« fragte Lottchen ruhig. »Nein, hat nicht? Dann bist du auch nicht wert, daß dich die Sonne bescheint.«

Na ja, da mußte selbst der verdrießliche Claas lachen, und schon war alles nur noch halb so schlimm. Jedenfalls fuhren sie zwei Tage später ab. Frederik und Armgard gaben ihnen bis zum Flugplatz das Geleit, am Steuer saß Spierke, der ihnen auch bei der Gepäckabfertigung behilflich war. Man winkte dem entschwebenden Flugzeug nach, dann ging man zum Wagen zurück.

»Scheußlich, so ein Abschied«, seufzte Armgard. »Wer das Scheiden hat erfunden, hat an Liebe nicht gedacht.«

»Du wirst mir zu elegisch, Kleine«, schob der Großvater seinen Arm unter den ihren. »Laß uns beraten, was wir beginnen sollen. Wie wär’s, wenn wir Folko einen Besuch machten?«

»Ist das nicht zu weit?«

»Höchstens zehn Kilometer. Eine hübsche Stadt, in der viel los ist. Es gibt dort gute Lokale und entzückende Tanzbars…«

»Woher weißt du das?« warf sie lachend ein, und er zog forsch die Weste glatt.

»Was meinst du wohl, was ich für ein Kerl bin.«

»Natürlich einer von Welt.«

»Also machen wir einen Bummel, mit dem routinierten Grafen Björn als Führer.«

Schon zehn Minuten später hatten sie die Stadt erreicht, in deren Straßen es um diese Hauptverkehrszeit turbulent zuging. Doch der gute Chauffeur Spierke lavierte den breiten Wagen geschickt hindurch. Er fand sogar eine Parklücke in einer Seitenstraße.

»Brav gemacht«, lobte sein Herr, als man den Wagen verlassen hatte. »Da brauchen wir nur um die Ecke zu gehen, und schon liegt vor uns das Hotel, wo Graf Björn vorübergehend wohnen wird, bis er sein Dauerquartier beziehen kann.«

»Und wenn er es schon bezogen hat?« folgerte Armgard.

»Dann haben wir Pech gehabt. Ich weiß nur seine Hoteladresse.«

»Soll ich hier warten, bis die Herrschaften zurückkommen?«

»Nein, Spierke. Wir kommen nicht sobald zurück, ob wir nun den Grafen antreffen oder nicht. Jetzt haben wir halb sechs«, stellte er mit einem Blick auf die Armbanduhr fest, »sagen wir Treffpunkt hier um neun Uhr. Indes machen Sie sich einen guten Tag.«

»Wird besorgt, Herr Doktor, pünktlich um neun Uhr.«

Bis dahin waren es noch dreieinhalb Stunden, in denen man noch etwas unternehmen konnte. Die beiden Unternehmungslustigen hatten fast das Hotel erreicht, als Armgard ruckartig stehenblieb und dann ihren überraschten Begleiter schnell in einen Hauseingang zog. Dort zeigte sie auf ein Paar, das ziemlich dicht an ihnen vorüberging, und dieses Paar war Frau Jella Kaunz und Graf Björn. Eben bogen sie um die Ecke und waren somit den spähenden Augen entschwunden.

»Also doch –«, sagte Gylt. »Ist es ihr doch gelungen, ihn aufs neue einzufangen. Wird seiner Mutter schwer ankommen, wenn sie erfährt, daß er sich mit der Person hier heimlich trifft. Offen gestanden hätte ich dem Folko diese Geschmacklosigkeit nicht zugetraut. Und vielleicht, nun, zerbrechen wir uns nicht weiter den Kopf, stillen wir lieber unseren Hunger.«

Das taten sie in einem vornehmen Lokal, während zur gleichen Zeit Jella hungrig bleiben mußte, weil ihr Begleiter es ablehnte, mit ihr essen zu gehen.

Das heißt, Begleiter war wohl nicht die richtige Bezeichnung, weil sie ihm ihre Begleitung aufgezwungen hatte, er ließ sie einfach nebenher laufen.

Schon gestern hatte er kurzen Prozeß machen müssen, als sie plötzlich im Hotel an dem Tisch stand, an dem er sein Abendessen einnahm.

»Da bin ich«, sagte sie strahlend. »Freust du dich?«

»Auch das noch«, versetzte er rasch gefaßt. »Was willst du hier?«

»Glückliche Stunden mit dir verleben.«

»Meine liebe Jella, ich bin nicht hier, um glückliche Stunden zu verleben, sondern nur, um einen landwirtschaftlichen Lehrgang zu leiten, da bleibt mir zum Glücklichsein keine Zeit. Entschuldige, daß ich mich verabschieden muß, aber ich habe ein unbezwingbares Verlangen nach Hausschuhen, Hausjoppe, einen weichen Sessel, Pfeife und einem Buch, in dem Frauen geschildert werden, die Männern nicht nachlaufen.«

Bevor sie ihn zurückhalten konnte, war er gegangen, aber abgeschüttelt, wie er annahm, hatte er sie noch lange nicht. Denn als er am nächsten Nachmittag das Hotel verließ, in dem er seine Rechnung beglichen hatte, war sie plötzlich an seiner Seite.

»Ach du lieber Gott«, stieß er einen Seufzer aus. »Bist du immer noch hier?«

»Wie du siehst«, lächelte sie ihn verführerisch an. »Und ich gedenke auch zu bleiben.«

»Ach nee, wie nett.«

»Das bin ich immer. Gehen wir erst einmal essen.«

»Bedaure sehr, mein Essen ist schon bestellt.«

»Wo denn?«

»In meinem neuen Quartier.«

»Ja, wohnst du denn nicht mehr im Hotel?«

»Nein.«

»Wo wohnst du jetzt?«

»Im Haus der Landwirte, wo auch der Lehrgang stattfindet, das ist für mich sehr bequem.«

»Wohnen da auch Damen?«

»Natürlich nicht, sonst würde es ja nicht Haus der Landwirte heißen. Wir sind da nur unter rauhen Männern, keine auch noch so verführerische Frau hat Zutritt. Ein wahrer Menschenfreund, der diese Bestimmung festlegte.«

»O Folko, wie hast du dich verändert«, schlug sie nun andere Töne an, aber auch die rührten ihn nicht. Als sie ihn gar noch unterfassen wollte, legte er den Arm fest an.

»Folko, was soll das!« gab sie nun langsam ihre Pose auf. »Ich muß einen Halt haben, mir tun die Füße weh.«

»Kein Wunder bei diesen Stöckelschuhen, die bestimmt noch um zwei Nummern zu klein sind.«

»Ich habe ja nicht ahnen können, daß du zu Fuß gehen wirst«, wurde sie immer gereizter, da die Füße immer ärger schmerzten. »Können wir nicht in das Lokal dort drüben gehen? Dort essen wir in aller Ruhe. Dann holst du deinen Wagen.«

»Mein Wagen ist zu Hause.«

»Wie bist du denn hergekommen?«

»Mit der Bahn. Aber schau mal, da kommt eine Taxe wie gerufen. Mit der kannst du fahren.«

»Ich will aber nicht!«

»Tja, dann kann ich dir nicht helfen«, meinte er achselzuckend. »Ich muß mich ohnehin beeilen, um zum Abendessen zurecht zu kommen. Du siehst, meine Zeit ist knapp bemessen.«

Trotz ihrer Weigerung hatte er die Taxe herangewinkt, die nun am Bordstein hielt. So blieb denn der erbosten Frau nichts anderes übrig, als einzusteigen. Doch bevor sie es tat, zischte sie ihm zu wie eine gereizte Schlange:

»Das sollst du mir büßen!«

*

Es war Freitag vor Pfingsten. Armgard und ihr Großvater ruhten in Liegestühlen auf der Terrasse in all der duftenden Maienpracht. Auf den Gartenbeeten blühten die Blumen, es blühte der Flieder, Rhododendron, Schneeball und Pfingstrosen, und es blühten die Obstbäume im Garten. Auf den Feldern grünte die Saat, vom nahen Wald her leuchtete das junge Laub der Bäume, und an allen Ecken sangen und zwitscherten die Vögel, was die kleinen Kehlen nur hergeben wollten.

In dieses Idyll traten nun Gräfin Björn und ihr Sohn, freudig vom Hausherrn begrüßt.

»Da seid ihr ja endlich«, lärmte er aufgeräumt. »Streckt euch in die Stühle und dann erzählt.«

So machten sie es sich denn bequem. Warum auch nicht, sie waren ja hier zu Hause. Robert versorgte sie mit einer Erfrischung, der Graf steckte seine Pfeife an, und seine Mutter begann zuerst mit ihrem Bericht. Was man da zu hören bekam, war wohl traurig, aber leider schon fast alltäglich.

Frau Elise von Segimer, die nach dem Freitod ihres Mannes mittellos dastand, mußte bei Verwandten unterkriechen, wie man so sagt, und wurde von ihnen schamlos ausgenutzt, daß sie unter der Bürde zusammenbrach.

Krankenhaus kam nicht in Frage, da sie in keiner Krankenkasse war.

So lag sie denn in einer armseligen Stube, und wenn sich nicht eine mitfühlende Angestellte um sie gekümmert hätte, wäre sie elendig zugrunde gegangen.

Diese Angestellte war es auch, die an Gräfin Björn schrieb und für deren Verwandte um Hilfe bat. Zwar war es eine Verwandtschaft so um sieben Ecken herum, aber das spielte ja keine Rolle. Ein Mensch war in Not.

So fuhr die Gräfin denn zu der Verwandten, und was sie vorfand, war ein bedauernswertes Geschöpf, krank, verängstigt und bis auf die eine mitfühlende Seele von aller Welt verlassen. Man hatte die Ärmste nicht einmal im Herrenhaus behalten, hatte sie in die Stube eines leeren Insthauses bringen lassen.

Zuerst sorgte die Gräfin dafür, daß die Kranke in eine Klinik kam. Wohl war ihr Körperzustand miserabel, aber bei ärztlicher Behandlung und guter Pflege würde es schon wieder werden, wie der Arzt sich ausdrückte.

Und nun stellte sich heraus, daß der einzige Mensch, der die bedauernswerte Frau nicht im Stich ließ, eine langjährige Dienerin von ihr war. Um nach dem Zusammenbruch dennoch mit ihrer Herrin zusammenbleiben zu können, nahm die treue Therese gewissermaßen inkognito eine Stelle in dem Hause an, in dem die nun Verarmte Unterschlupf gefunden hatte.

»Es galt nun die Sache mit der Rente zu klären, die ihr aus dem Familienfonds zusteht«, führte die Gräfin weiter aus. »Denn Elise hatte gleich, nachdem sie in das Haus des Vetters kam, diesen gebeten, sich der Sache anzunehmen, was er auch versprach. Aber wie sich jetzt herausstellte, hat er sich nie mit der maßgebenden Stelle in Verbindung gesetzt. Und zwar absichtlich nicht, weil er wußte, daß er eine Sklavin verlieren würde, sofern sie Rente bezog. Zwar ist diese Rente nicht üppig, doch immerhin so, daß ein genügsamer Mensch davon leben kann.

Na kurz und gut: Ich fand diese Handlung so gemein, daß ich mich sofort mit Folko in Verbindung setzte. Der wiederum tat es mit einem Rechtsanwalt, und innerhalb von vier Wochen hatte die hintergangene Frau ihte Rente. Und da sie so bitterlich weinte, als ich nach Hause fahren wollte, nahm ich sie und ihre treue Resi mit.«

»Das ist wieder einmal ganz unsere hilfsbereite Erdmuthe«, sagte Frederik warm, doch sie winkte ab.

»Keine Lobeshymnen, mein Lieber. Ich habe bei der ganzen Sache nur das eine Opfer gebracht, daß ich trotz meines Heimwehs sechs Wochen bei Elise ausharrte. Ansonsten habe ich durch den Zuwachs nur gewonnen. Die eine habe ich zur Gesellschaft, und die andere ist eine robuste und tüchtige Arbeitskraft, die wir gut gebrauchen können. So, mein lieber Sohn, jetzt berichte du.«

»Ich bin zu faul.«

»Na das wäre! Deine arme Mutter läßt du stundenlang reden und du…«

»Nicht übertreiben«, stoppte er ab, genüßlich dabei sein Pfeifchen schmauchend. »Keine zehn Minuten hast du geredet. Und bei mir wird es noch weniger werden, weil es nicht viel zu reden gibt. Die Zeit verging sehr schnell, bei den Schulungsstunden, beim geselligen Beisammensein mit seinesgleichen, also mit Landwirten, ab und zu ein kleiner Bummel, dabei vergeht schon die Zeit.«

Die verführerische Jella, in dessen Banden du so schmachtest, daß du sie nachkommen ließt? hätte der alte Herr gern gefragt, was er natürlich nicht tat. Statt dessen fragte er:

»Warst du mit der Unterkunft im Hotel zufrieden?«

»Da war ich nur einige Tage. Als ein Zimmer im Haus der Landwirte frei wurde, siedelte ich dahin über. Man wohnt dort wirklich gut. Nette Zimmer, vorzügliche Verpflegung, und der Lehrgang findet im Hause statt. Man kann jede Art Karten spielen, ferner Billard, Halma, Mensch ärgere dich nicht und so weiter. Man kann musizieren, sich unterhalten und auch einen trinken. Allerdings nicht über den Durst, das ist verpönt.«

»Und ein Tänzchen machen, nicht?« warf Frederik ein.

»Das fällt allerdings weg. Denn der Zutritt ist Damen streng verboten.«

»Auch für Angehörige?«

»Auch für die. Die Erfahrung hat nämlich gelehrt, daß nicht alle Angehörige waren, die sich dafür ausgaben. Daher das strikte Verbot.«

»Das ist ja die reinste Kasernierung. Gibt es auch Zapfenstreich?«

»Nein, du Spötter. Es ist für die Beteiligten kein Zwang, dort zu wohnen. Trotzdem sind die Zimmer immer belegt.

Doch nun weiter: Ursprünglich sollte der Lehrgang vier Wochen dauern, aber es wurden sechs daraus. Und das im Frühjahr, wo der Landwirt alle Hände voll zu tun hat. Das habe ich den Herren am grünen Tisch ausdrücklich klargemacht, doch sie blieben wie gewöhnlich stur. Nun, ihretwegen beendete ich den Lehrgang bestimmt nicht, sondern wegen der Teilnehmer. Aber noch einmal finden die ›obern‹ Herren in mir den Dummen nicht.«

»Das habe ich schon einmal gehört«, sagte seine Mutter neckend. »Wenn du in allem so wankelmütig bist.«

Lachend sahen sie sich an, die sich so herzlich liebten und so prächtig verstanden. Kaum zu glauben, daß so ein Sohn Heimlichkeiten vor seiner Mutter haben könnte.

Aber vielleicht wußte sie um sein Zusammensein mit Jella, obwohl sie bisher nicht viel von ihr gehalten hatte. Aber der Mensch kann seine Meinung ja ändern.

»Nanu, Frederik, du machst ja ein so arg bekümmertes Gesicht«, sprach die Gräfin in seine Grübeleien hinein.

»Was bedrückt dich denn?«

»Anderer Leute Sorgen.«

»Ach herrjeh! Sei doch froh, daß es nicht deine eigenen sind.«

»Ist auch wieder wahr. Was werdet ihr Pfingsten beginnen?«

»Wenn das Wetter so bleibt, segeln wir zum ›Fidelen Seefahrer‹, wozu ihr beide herzlich eingeladen seid. Schade, Zutritt ist Damen streng verboten, daß Frökes nicht dabeisein können.«

»Auch für Angehörige?« In dem Augenblick erschien Robert mit der Meldung, daß die Herrschaften von drüben soeben im Mietwagen eingetroffen sind. Und bevor die andern sich von der Überraschung erholen konnten, war Armgard schon aus dem Liegestuhl geschnellt, wirbelte den Würdigen herum und rief jubelnd:

»Er hat die Frökchen herbeigezaubert. Mach ihm das mal einer nach!«

Alle lachten, selbst Robert verzog den Mund. Gleich den andern sah er ihr nach, wie sie dahinflitzte zum Nachbarhaus. Das Haar gleißte im Sonnenlicht, der sachte Wind bauschte den Rock des leichten Kleides, die langen braungebrannten Beine steckten in weißen Sandaletten. Alles nichts besonderes, aber ungemein reizvoll wirkend an seiner bezaubernden Trägerin.

Jetzt hörte man ihr herzfrohes Lachen, dazwischen den Baß des Kapitäns und Strubbels freudiges Bellen.

»Spektakel ist bei der Begrüßung ja gerade genug«, sagte die Gräfin amüsiert. »Ich freue mich richtig auf die beiden lieben Menschen, sicherlich werden sie bald erscheinen.«

Es dauerte aber doch noch eine halbe Stunde, bis sie da waren, und weitere fünf Minuten, bis die lärmende Begrüßung vorüber war. Dann trat wohl Ruhe ein, aber es nahm des Erzählens kein Ende.

O ja, nett war es schon gewesen. Man hatte wirklich alles getan, um ihnen den Aufenthalt so schön wie möglich zu machen, wenn nur nicht alles so turbulent zugegangen wäre.

»Gott in deine Hände, die haben dort vielleicht ein Tempo«, beklagte sich das pomadige Lottchen. »Kaum ließ man sich morgens blicken, schon ging es los, rein ins Auto, raus aus dem Auto, rauf aufs Schiff, runter vom Schiff. Partys am laufenden Band, Gäste wie im Hotel. Alles wirbelt durcheinander und amüsiert sich wie ein Schwein im Regen.«

»O Lottchen!« lachte Armgard. »Kennt man den Ausdruck dort auch?«

»Natürlich nicht. Sie haben ja dort gar keine Schweine, sonst hätten diese bestimmt durchs Haus gegrunzt und wären uns durch die Beine gelaufen, wie das Kleinzeug.

Ich habe es nie so richtig zählen können, auch ihre Nursens nicht, aber es waren nicht weniger als ein Dutzend.«

»Na, Lottchen, da gab es aber zu stricken«, neckte Erdmuthe, doch Pummelchen winkte verächtlich ab.

»Von wegen stricken. Nicht eine Nadel habe ich während der ganzen Zeit in die Hand zu nehmen gewagt, aus lauter Angst, daß sich bei der Wirbelei jemand aufspießen könnte.

Wie habe ich das Stricken bloß vermißt, aber jetzt kann ich ja wieder«, holte sie flink ein Strickzeug aus der Tasche und war selig.

»Na also«, schmunzelte der Eheliebste. »Pummelchen ist schon wieder in ihrem Element. Sind liebe Leute dort, aber zu anstrengend. Ich habe ja nicht soviel davon mitgekriegt, weil ich fast den ganzen Tag auf der Werft war und auf den Schiffen. Tolle Dinger sind das, überhaupt ist alles ganz großartig. Da haben unsere Jungens eine Bombenpartie mit den beiden Schwestern gemacht, mit denen sie sich prächtig verstehen. Der Schwiegervater ist sehr zufrieden mit ihnen und läßt ihnen in der Werft und auf den Schiffen immer mehr freie Hand. Im Schoße der Familie sind sie jedenfalls aufs beste aufgehoben. Wenn wir Sehnsucht haben sind wir dort jederzeit herzlich willkommen.«

*

Sonnenhell und klar stieg der Pfingsttag herauf. Es war ein Grünen und Blühen, ein Singen und Klingen von all den Vogelstimmen, die da sangen dem Herrgott zu Lob und Preis.

Armgard stand in ihrem Zimmer am offenen Fenster und breitete die Arme aus, als wollte sie das lachende Land umfangen. Quer durch den Garten kam Hilde und schwenkte einen Korb, der bis oben mit Maiglöckchen gefüllt war.

»Fröhliche Pfingsten, gnädiges Fräulein!«

»Gleichfalls, Hilde. Waren Sie denn schon so früh im Wald?«

»Ja, um Maiglöckchen zu holen. Wenn man sich da nicht sputet, sind sie alle weg.«

»Sind Sie im Wald auch dem Pfingstochsen begegnet?«

»Nein, bloß dem Herrn Grafen. Was ist denn mit dem Ochs?«

»O Hilde!« Armgard wollte sich ausschütten vor Lachen. »Da haben Sie aber mal einen Witz gemacht.«

»Der Ochs ist doch kein Witz. Was ist denn bloß mit dem?«

»Das lassen Sie sich besser von Frau Spierke erzählen.«

Da trollte Hildchen ab, und immer noch lachend sah Armgard ihr nach. Doof aber glücklich, pflegte Lutz von ihr zu sagen. Nun ja, intelligent war sie nicht, aber dafür von gutem Charakter, fleißig und treu.

Mit der Morgentoilette war sie heute bald fertig. Unterwäsche, darüber Shorts und ein kokettes Blüschen, Sandaletten an den bloßen Füßen und ein breites lichtblaues Seidenband über den Scheitel gebunden und im Nacken verknotet. So war sie zum Segeln wohl zünftig gekleidet, aber nicht zum Frühstück und zur Stippvisite im Schloß.

Also zog sie ein duftiges Kleid über, das mit seinen Streublümchen so richtig pfingstlich aussah. Dann ging sie hinunter zum Frühstückszimmer, wo auch gleich darauf der Hausherr eintrat. Er trug eine lange weiße Hose, über dem weißen Hemd ein blaues Jackett und sah wie immer distinguiert aus.

»Guten Morgen, Großpapa«, begrüßte Armgard ihn mit einem Wangenkuß. »Fröhliche Pfingsten.«

»Dir auch, mein Mädchen«, strich er zärtlich über das schimmernde Gelock. »Warum hast du denn vorhin so mitreißend gelacht?«

Als er es wußte, da lachte auch er, und so vergnügt ließ man sich zum Frühstück nieder; zu dem sich auch Frökes einfanden. Indes fuhr Spierke den

Wagen vor, Robert verstaute Stricksachen nebst Mänteln, und der Pfingstausflug konnte beginnen. Zuerst bis zum Schloß, wo sie außer von

Graf Folko und seiner Mutter auch von Lutz begrüßt wurden.

Trotz der Schulversäumnis war er dennoch versetzt worden, was er Armgard zuschrieb, die mit ihm so unermüdlich gepaukt hatte, wie er sich ausdrückte. Er durfte auch mit auf die Wanderschaft, die seine Klasse in Begleitung des Klassenlehrers antrat. Am Donnerstag war er nach Hause gekommen, und am Sonnabend erschien er im Schloß, braungebrannt und kreuzfidel.

Und da war noch eine Dame, die nun auch zum Schloß gehörte. So ein richtiges Häuflein Unglück, verängstigt und vergrämt. Herzlich kam man ihr entgegen, und langsam ließen ihre Hemmungen nach.

»Nun wir alle beisammen sind, kann die Fahrt beginnen«, sagte der Schloßherr. »Lutz und ich gehen schon vor.«

Sie gingen durch den Park, der Ostern noch so kahl gewesen war, doch jetzt hatte ihn der Mai gar herrlich geschmückt. Diese vielen Blumen, die blühenden Sträucher, der samtige Rasen, das junge Grün der Bäume, alles das war wohl prachtvoller und großartiger als im Garten des Gylthauses, aber Armgard fand ihn schöner, weil es ihr Zuhause war.

Der Graf hatte die Mauerpforte offengelassen, die seine Mutter sorgfältig wieder abschloß. Als man merkte, wie unsicher Frau von Segimer die Treppe hinabging, reichte Fröke ihr galant den Arm.

»Hängen Sie sich nur fest ein, gnädige Frau, so ein alter Kapitän wankt und weicht nicht.«

Unten lag schon die Jacht fahrbereit. Ein wahres Prachtstück und der Stolz seines Besitzers. Auf Deck standen Liegestühle, die an der Rückenlehne einen Schirm hatten, zum Abfangen der Sonne. Wer sie vertrug, klappte den Schirm einfach zu.Von den beiden Männern und Lutz bedient, setzte sich das schmucke Schiff bald in Bewegung. Man kam nur langsam vorwärts, da nur eine leichte Brise wehte bei trägem Wellenschlag, aber man hatte ja Zeit.

Die Damen hatten es sich in den Stühlen bequem gemacht und Fröke gesellte sich bald zu ihnen, da es für ihn nichts zu tun gab. Die paar Handgriffe, die jetzt noch nötig waren, konnte Folko allein bewältigen.

Armgard saß am Bootsrand. Sie hatte das Kleid abgelegt; denn hier genügten Shorts und Blüschen. Herrlich war es, so über das laugrüne Wasser zu gleiten den Wind zu spüren und die herbe, salzige Luft zu atmen. Lange hatte sie auf den Genuß verzichten müssen, den sie als Kind oft gehabt. Als sie noch hinausgesegelt war mit ihrem Paps, bis er es nicht mehr konnte. Seitdem war auch sie nicht mehr auf dem Meer gewesen.

Sie ließ ihre Augen umherschweifen bis sie an dem Grafen haften blieben, der am Mastbaum gelehnt stand. Er hatte die Jacke abgelegt, die Ärmel seines Hemdes hochgerollt und den Kragenknopf am Hals geöffnet. Die gradlinige Pfeife steckte zwischen den Zähnen, die Arme waren über der Brust verschränkt. Blendend sah er aus, war so richtig eine Gefahr für Frauenherzen.

Nun kam Lutz angestelzt. Weit ragten die langen Beine aus den Shorts, die langen Arme aus den kurzen Ärmeln des Polohemdes. Jetzt war noch alles unfertig an ihm, aber so zehn Jahre später wird wahrscheinlich bei seinem Anblick so manches Mädchenherz höher schlagen.

»Uff –.« Er ließ sich neben Armgard nieder, streckte die langen Beine von sich, zog eine schon gestopfte Pfeife aus der Hosentasche und grinste seine Nachbarin an.

»Ärmstegard, daß dir bloß nicht die Augen aus dem Kopf kullern. Ein Pfeifchen in Ehren…«

»Na du, ob das, was hinterher kommt, auch in Ehren geschieht?« lachte sie schadenfroh, doch er winkte nonchalant ab.

»Schon längst dagewesen, mein Herzchen.«

»Wann?«

»Als ich noch ein Jüngling war.«

»Und was bist du jetzt?«

»Ein Mann.«

»Aha! Hier ist es Zeit, durch Taten zu beweisen, daß Manneswürde nicht den Göttern weicht.«

»Eine dieser Taten werde ich dir gleich beweisen, indem ich dich ins Meer kippe.«

»Und die zweite wäre dann, mich herauszuholen.«

Lustig blinzelten sie sich zu, lachten und schwatzten und freuten sich ihres Lebens.

Die Stimmung war überhaupt froh und leichtbeschwingt, wozu man auch allen Grund hatte. Das Wetter war herrlich, die, Fahrt einzig schön und die Gesellschaft lieb und vertraut. Dazu gab es noch einen Imbiß, den man freudig begrüßte, denn Seeluft macht hungrig.

Armgard und Lutz servierten die delikaten Happen, die sie in der winzigen Küche dem großen Korb entnahmen den die Mamsell fürsorglich gepackt hatte. Hinterher spülten sie das Geschirr ab und brachten es an Ort und Stelle.

Die Jacht war so eingerichtet, daß sie auf längere Fahrt fünf Personen beherbergen konnte. Unten befanden sich ein Wohnraum, zwei Schlafräume mit je zwei übereinandergestellten Betten, ein Raum mit einem Bett, Küche, Bad und Gerätekammer. Wohl war alles klein, aber nicht beengt. Außerdem verfügte das ohnehin schon seetüchtige Fahrzeug noch über einen starken Motor.

Ruhig und gleichmäßig glitt das elegante Schiff dahin, was leider nicht alle taten, die sich auf dem Wasser tummelten. Hauptsächlich kleinere Boote waren vertreten, darunter auch solche, mit denen es direkt ein Leichtsinn war, sich aufs Meer zu wagen.

Und mochte es noch so träge sein, harmlos war es nie.

Aber Frechheit siegt, sagten sich die kleinen Dinger und wirbelten, hopsten und sprangen wie weiße Flöhe auf den Wellen. Eins war bereits gekentert, aber das machte dem Pärchen, das ins Wasser kippte, nichts aus, zumal es bereits aufgefischt wurde. Und kaum, daß es wieder in dem Kohlenkasten saß, wie Lutz das Boot bezeichnete, flitzte es auch schon ab.

»Na, die haben Nerven«, sagte der Kapitän, der gleich den anderen dem Vorgang mit Interesse gefolgt war. »Wenn die so weiter machen, saufen sie doch noch ab. Ist ein Mordsbetrieb heute. Hoffentlich wollen nicht alle Menschen ausgerechnet im ›Fidelen Seefahrer‹ Rast machen.«

Nein, alle waren es nicht, aber immerhin ein gutes Dutzend, das in der Bucht anlegte. Darunter auch die Stammgäste, die jede Pfingsten hier eintrafen, allerdings nur bei gutem Wetter.

Wie auf einem Parkplatz lagen die Boote in Reih und Glied. Sie wurden von einem Mann betreut, der Gebühren kassierte. Aber die zahlte man für die Betreuung gern, gab größtenteils noch ein Trinkgeld drauf.

Vom Strand führten Stufen hinauf zum »Fidelen Seefahrer«. Ein beliebter Ausflugsort, gut eingerichtet, vorzügliche Küche, gepflegte Getränke und nicht zu teuer. Auch eine Bar, ein Saal und draußen eine Tanzfläche fehlten nicht, auch nicht die Musiker, die zum Tanz aufspielten.

»Na komm, mein Pummelchen«, nahm der Kapitän seine Eheliebste am Arm. »Wollen wir da oben einen scherbeln.«

»Nee, du, tritt andern auf die Füße.«

Lachend ging man nach oben, und wer winkte ihnen da von der Terrasse zu? Das Ehepaar Briet, das hier auch zu den Pfingststammgästen gehörte, und die lustige Witwe Jella. Warum die hier war, lag wohl klar auf der Hand. Armgards Vermutung ging sogar soweit, daß die heimlich Liebenden sich hier verabredet hatten, zum lauschigen Stelldichein.

Wie verführerisch sie aussah in dem raffiniert einfachen Strandkleid, und wie freudestrahlend begrüßte sie doch die Angekommenen, selbst Frau von Segimer, die ihr vorgestellt wurde, und wie verheißend lächelte sie den Grafen an. Claas, der mit Frederik abseits stand, knurrte ihn an, als wäre er an allem schuld:

»Das reinste Affentheater. Dieses Weibsbild hat uns gerade noch gefehlt.«

»Aber, aber, du sprichst von einer schönen Frau.«

»Ach was«, winkte er unwirsch ab. »Schön ist anders. Das da ist natürliche Schönheit«, zeigte er auf Armgard, die gerade mit Lutz über etwas lachte. »Bei der andern ist doch alles nur ›Komm mir zur Hilfe‹.«

»Kannst recht haben«, lachte nun auch Frederik und wandte sich der Enkelin zu, die jetzt neben ihm stand und ihre Hand unter seinen Arm schob.

»Komm, Großpapa, und du auch, Onkel Claas. Ich bin von Tante Lottchen ausgesandt, euch in die sichere Ecke zu holen, damit ihr nicht unter das Otterngezücht geratet.«

»Na, da sag einer, daß mein Pummelchen nicht fürsorglich ist«, schmunzelte der Gatte. »Die hat den Sinn erfaßt.«

*

Im »Fidelen Seefahrer« ging es heute wirklich fidel zu. Von überall hörte man Lachen, Musik, Gesang, und draußen auf der Tanzfläche tummelte sich jung und alt, sofern diese Herrschaften nicht so pomadig waren wie Lottchen. Nach dem guten und reichlichen Mittagessen tanzen? Na, das wäre!

Der Ansicht waren auch der Eheliebste und sein Freund Frederik. Sie saßen geruhsam da und rauchten. Lottchen hätte ja am liebsten gestrickt, doch da das hier nicht angebracht war, faltete sie die Hände über dem Bäuchlein, schloß die Augen.

»Sieh dir das mal an«, zeigte Claas mit dem Pfeifenstiel auf die anscheinend Schlummernde. »Schläft bei all dem Radau…«

»Denkste«, blinzelte sie ihm zu. »Von schlafen kann keine Rede sein, ich schone nur so ein bißchen meine Augen. Wo sind die andern?«

»Die tanzen.«

»Etwa auch Erdmuthe und Frau von Segimer?«

»Die sehe ich allerdings nicht. Aber das Ehepaar Briet, Armgard und Lutz, die hopsen quietschvergnügt herum.«

»Und Folko mit der Pechnelke?«

»Wieso Pechnelke?«

»Na, die klebt doch an ihm so zäh wie Pech. Um sich davon zu befreien, wird er drastischere Maßnahmen anwenden müssen als bisher.«

In dem Moment erschienen die Gräfin und Frau Elise, beide lachend und außer Atem.

»Habt ihr etwa getanzt?« fragte Lottchen.

»Und wie!« ließ Erdmuthe sich in den nächsten Gartensessel sinken. »Die übermütige Bande hat uns in eine Wechselpolka hineingezogen, als wir am Tanzplatz vorübergingen. Aber schadet nichts, schön war’s doch.«

Jetzt wurden auch die andern sichtbar. Die drei Briets, Armgard und Folko marschierten untergehakt auf die Terrasse. Jella schlenderte hinterher, weil sie die Alberei nicht mitmachen wollte, wie sie denen am Tisch erklärte. Sie tat überhaupt höchst gelangweilt, fand alles hier läppisch und ihrer unwürdig.

»Tja, mit mondänem Klimbim können wir hier nicht aufwarten«, fuhr Lutz ihr in die Parade. »Wir sind hier ländlich sittlich.«

Wie zur Bestätigung spielte die Musik einen Ländler, und lachend reichte Folko der neben ihm stehenden Armgard den Arm.

»Komm, ländlern wir los.«

Und ausgerechnet bei diesem so gar nicht romantischen Tanz wurde sie sich dessen bewußt, daß sie den Mann liebte, dessen Arm sie so fest und unbeirrt umfing. So plötzlich kam ihr diese Erkenntnis, daß sie den Schritt verhielt und ihn erschrocken anstarrte.

»Was hast du denn?« fragte er beunruhigt. »Du bist ja plötzlich ganz blaß. Tut dir was weh?«

»Ist schon vorbei«, antwortete sie rasch gefaßt. »War nur ein Rippenstoß eines derben Ellenbogens.«

»Dann wollen wir aufhören«, entschied er. »Bei der Fülle macht die Hopserei ohnehin keinen Spaß.«

Damit schob er sie vor sich her aus dem Gedränge. Als sie freie Bahn hatte, holte sie tief Luft und kam sich vor, als wäre sie einer Gefahr entronnen.

»Nun, ausgehopst?« fragte Jella maliziös, als sie am Tisch anlangten und ihre Plätze dort einnahmen.

»Wie ein Mann von Welt daran Spaß haben kann. Lutz, laß das!«

»Was, das Hopsen?« fragte er begriffsstutzig. »Aber das darf ich ja, ich bin doch kein Mann von Welt.«

Das Lachen der andern machte die ohnehin schon gereizte Jella immer wütender. Zumal ihr der Fuß weh tat auf den der neben ihr sitzende Lutz herzhaft getreten hatte. Und gewiß nicht aus Ungeschicklichkeit, sondern um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wohl mußte er mit einer Ohrfeige rechnen, aber nein, sie blieb aus. Denn in diesem exquisiten Kreis sich so gehenzulassen, das wagte sie denn doch nicht. So sagte sie nur ärgerlich:

»Du ungeschickter Bengel! Kannst du die Füße nicht ruhig halten? Hast mir mit dem Tritt meinen ganzen Schuh verdorben.«

»O Jellachen, das tut mir aber leid«, tat er zerknirscht. »Entschuldige bitte.«

»Na ja, ist schon gut«, erteilte sie gnädig Absolution. »Bist eben noch ein Tolpatsch. Nanu, wer jault denn da?«

Zu sehen war sie nicht, aber zu hören, die da so sehnsüchtig zur Laute sang:

»Ach, wärst du doch ein Ritter,

ein Ritter vom Goldenen Vlies,

o Lieb, wie bist du bitter,

o Lieb, wie bist du süß –«

»Anspruchsvolle Maid«, grinste Lutz. »Ausgerechnet einen Ritter vom Goldenen Vlies will sie haben. Ich wäre schon mit ›arme Ritter‹ zufrieden, die hab ich nämlich zum Fressen gern.«

Das hatten die andern auch, was lachend bestätigt wurde. Nur Jella fragte: »Arme Ritter, was ist denn das?«

»Nun tu nur so, als ob du die nicht kennst«, versetzte Heinz, dem das Gebaren der Schwester immer mehr auf die Nerven fiel. »Hast früher, als du noch zu Hause warst, das Gebäck oft genug zum Kaffee gegessen.«

»Tatsächlich? Mag schon sein.«

Als Lutz die Falte zwischen den Brauen des Bruders bemerkte, griff er rasch ein.

»Es gibt noch mehr, was arm ist«, blinzelte er Armgard zu. »Eine Armgard und eine Ärmstegard.«

Somit hatte er die Lacher auf seiner Seite und dadurch einen Peinlichkeitsmoment überbrückt. Er kannte den Bruder zwar als beherrschten Menschen, aber auch einem solchen konnte sozusagen der Hut hochgehen, wenn er mit ansehen mußte, wie seine Schwester sich vorbeibenahm. Er war froh, als der Aufbruch erfolgte.

Man sah es Jella direkt an, wie gern sie mit der Björnchen Jacht gefahren wäre, doch die Andeutungen, die sie machte, wurden überhört. Verlangend schaute sie den Davonschreitenden nach.

»Nun komm schon«, faßte Heinz sie nicht gerade behutsam am Arm und zog sie mit zur Jacht, die wohl nicht so groß und elegant war wie die andere, aber auch recht schmuck. Mißmutig ließ Jella sich auf dem Bordstuhl nieder, so richtig unzufrieden mit sich und der ganzen Welt. So viel hatte sie sich von dem Ausflug versprochen, und nichts war dabei herausgekommen.

»Na, was brütest du wieder aus?« fragte der Bruder barsch. »Hast dich wohl noch nicht genug blamiert.«

»Ich mich blamiert?« warf sie empört dazwischen. »Ich, eine Dame von Welt?«

»Eben. Kehr wieder in deine Sphäre zurück und laß uns hier in Frieden. Dort magst du beliebt sein, doch hier wirkst du überall störend. Es ist das letztemal, daß ich dich irgendwohin mitnehme, merk dir das. Heul nicht, das sind ja doch Krokodilstränen.«

Schroff wandte er sich ab und brachte das Boot in Gang. Der Ärger wäre ihm erspart geblieben, wenn er Jella nicht mitgenommen hätte. Aber als er mit seiner Frau heute früh die Jacht betrat, fanden sie den unerwünschten Passagier bereits vor. Und hinunterweisen mochte er sie nicht, weil er die Szene fürchtete, die an dem belebten Ort nicht ohne Zeugen geblieben wäre, und er war immerhin eine stadtbekannte Persönlichkeit. So mußte er sie denn mitnehmen und sich und seiner Frau dadurch den Ausflug verderben, auf den sie sich gefreut hatten, verflixter Kram!

Also herrschte auf dem einen Boot Mißklang, auf dem andern die schönste Harmonie. Dort war man mit dem Ausflug restlos zufrieden und genoß die wunderschöne Fahrt mit allen Sinnen.

Ruhig und sacht glitt das schneeweiße Schiff durch die Wogen. Wie ein Feuerball näherte sich die Sonne dem Horizont, alles ringsum in rote Glut tauchend. Lutz, der neben Armgard am Bootsrand saß, spielte auf der Handharmonika die schönsten Seemannslieder, und wer sie kannte, sang mit.

Eben sang man das wehmutsvolle Lied von dem Wanderer, der rastlos umherirrte, bis sein heimwehkrankes Herz endlich nach Hause fand. Das Lied verklang mit den Worten:

»Wo die Meereswellen rauschen, mein Herz vor Anker ging.«

*

An dieses Lied mußte Armgard denken, als sie im Bett lag. Auch ihr Herz war vor Anker gegangen, wo die Meereswellen rauschen. Der Anker lag so tief und fest, daß nichts auf der Welt ihn lösen konnte, auch eine aussichtslose Liebe nicht. Mit der mußte sie fertig werden, ohne vor ihr Reißaus zu nehmen, wie es ja so üblich sein soll; denn davon wußte die unerfahrene Armgard so gut wie nichts. Aber was sie genau wußte war, daß sie den Großvater nicht verlassen durfte, der sein ganzes Herz an sie gehängt hatte. Und dann, so töricht war sie nicht, ein sorgloses Wohlleben aufzugeben, um irgendwo unterzukriechen, wie sie es nach der Mutter Tod gezwungenermaßen tun mußte, aber freiwillig? Nein! Da mußte man auch den Verstand sprechen lassen, nicht nur dieses tyrannische Herz, das die Menschen beherrschen wollte, ihnen Leid und Not schuf.

Herzensnot, o süße Not!

Die ist schon immer dagewesen und wird immer weiter sein, weil sie Naturgesetz ist. Und die Menschen mußten zusehen, wie sie damit fertig wurden.

Manchmal schuf ein junges Menschenkind sich auch unnötig diese Herzensnot, genauso wie Armgard es tat. Denn Grund hatte sie nicht dazu, noch nicht. Noch war der Mann nicht einmal verlobt, und vielleicht gingen ihm doch die Augen auf, bevor er sich an sie band. Dann würde er schon sehen, daß diese Jella nicht viel taugte.

Vielleicht, ach, vielleicht.

Mit diesem Hoffnungsschimmer schlief das grübelnde Mädchen ein, und Meeresrauschen und der Möwe Ruf sangen ihm ein trautes Schlummerlied.

Und Sonnenschein weckte die Schlummernde am Morgen. Da war alles nur noch halb so schlimm, was ihr in der Nacht so trostlos erschienen war. Aber das sagte ja schon Nietzsche: Und tiefer als der Tag gedacht, tief ist ihr Weh.

»Ärmstegard!« rief eine Stimme von unten, und dazwischen schnaubte etwas. Flugs war sie aus dem Bett, schlüpfte in die Pantöffelchen, hüllte den Oberkörper in eine weiche Decke und trat an das offene Fenster. Was sie jenseits des Gartenzaunes erblickte, waren zwei Reiter auf ihren schnaubenden Pferden.

»Hallo, hallo, Jungfräulein schön, wir beide wollen spazierengehen!« rief Lutz hinauf, und Folko sprach schmunzelnd weiter:

»Durch grüne Au, bei Tau und Tag, ich weiß nicht, was noch werden

mag.«

»Will nicht der Unsinn enden«, rief Armgard lachend dazwischen. »Denn Unsinn ist es, wenn ein Reiter vom Spazierengehen spricht, Spazierenreiten müßte es heißen. Aber dann nicht durch die Au. Die würden die Pferdchen schön zertrampeln und einen Landwirt damit in Rage versetzen.«

»Schwing hier keine großen Töne«, winkte Lutz ab. »Wir haben es eilig, müssen pünktlich zum Frühstück erscheinen. Wir wollten dir nur kund tun, daß du so schnell wie möglich dort oben auf der Höh antreten sollst, frischauf zum fröhlichen Jagen.«

»Kann ich nicht, wir bekommen Besuch.«

»Ach herrjeh, wen denn?«

»Einen Freund von Großpapa.«

»Wann kommt er?«

»Am Frühnachmittag.«

»Dann hast du den ganzen Vormittag Zeit. Noch eine Ausrede?«

»Keine Ausrede, sondern Tatsache. Ich besitze nämlich keinen Reitdreß.«

»Damit könnte meine Mutter aushelfen«, schaltete Folko sich ein. »Was zu groß ist, wird mit Klammernadeln zusammengesteckt.«

»Na hör mal, so wenig eitel bin ich denn doch nicht. Nun mal Scherz beiseite. Ich kann heute wirklich nicht kommen, vielleicht ein andermal.«

»Na schön, lassen wir uns vertrösten. Aber aufs Pferd mußt du, da hilft dir kein Gott.«

Sie ritten ab, und sehnsüchtig sah Armgard ihnen nach. Schön wäre es, zu reiten, doch nicht auf einem Pferd aus Folkos Stall und nicht mit ihm als Reitlehrer. Mit ihm wollte sie nichts zu tun haben.

Am Frühstückstisch erzählte sie dem Großvater von dem Morgenbesuch.

»Folko und Lutz waren hier. Hoch zu Roß hielten sie jenseits des Zaunes. Ich sollte mich oben zur Reitstunde einfinden, was ich natürlich ablehnte. Denn erstens erwarten wir Besuch, zweitens habe ich keinen Reitdreß und dann will ich nicht.«

»Und warum nicht?«

»Na hör mal, Großpapa, ein Mann, der mit einer Frau einig ist, darf sich doch nicht mit einer anderen befassen.«

»Hm«, meinte der alte Herr, einen guten Bissen mit einem Schluck Kaffee hinunterspülend. »Um die Reitstunde wirst du wohl nicht herumkomme, mein Kind, Folko kann nämlich sehr hartnäckig sein.«

»Ich noch hartnäckiger.«

»Nun, warten wir ab.«

»Großpapa, warum bist du eigentlich immer so zugeknöpft, wenn es um Folko und diese Jella geht?«

»Weil ich aus der ganzen Sache nicht recht klug werde. Wohl spricht manches dafür, aber mehr noch dagegen. Und wenn man schon einem Menschen in Gedanken Unrecht tut, so sollte man sich davor hüten, diese Gedanken lautwerden zu lassen, bevor die bekrittelte Angelegenheit spruchreif ist. Außerdem geht uns das alles nichts an, nicht wahr, mein Kind?«

Unter dem prüfenden Blick stieg heiße Röte in das Mädchengesicht, die Augen senkten sich, die Lippen zuckten, und da wußte der Mann Bescheid. Da jedes diesbezügliche Wort jetzt fehl am Platze gewesen wäre, wechselte er das heikle Thema und kam auf den Gast zu sprechen, den sie erwarteten:

»Ich freue mich richtig auf meinen guten Hans Naudin. Trotz der Sorge um unsere Frauen haben wir zwei manche nette Stunde verlebt. Nun ist auch seine Frau tot, und er steht allein, der arme Kerl.«

»Dann biete ihm doch hier ein Zuhause«, schlug Armgard, die inzwischen ihre Verwirrung überwunden hatte, eifrig vor. »So hättest du einen Kameraden, der deiner würdig ist, nicht so einen dummen wie mich.«

»Ich bin aber mit dem dummen Kameraden vollauf zufrieden«, entgegnete er schmunzelnd. »Trotzdem soll der jetzt so einsame Mann hier ein Zuhause finden, wenn er will.«

»Vielleicht heiratet er wieder.«

»Dafür dürfte er mit seinen gut Sechzig denn doch schon zu alt sein, obwohl er noch recht vital ist oder war. Denn der Tod seiner Frau wird seinem Herzen einen Knacks gegeben haben, genauso wie meinem.«

»Du hast dich aber wieder prächtig erholt«, besah sie sich stolz den alten Herrn mit der straffen Gestalt, dem braungebrannten Gesicht, den hellen blauen Augen und dem vollen weißen Haar. Frisch sah er aus, vital und vornehm.

Sein Freund Hans Naudin hingegen war mittelgroß und hager.

Er hatte ein faltiges Gesicht und stahlgraue Augen, die so lachend aufblitzen konnten. Wenn ihn etwas erheiterte, grinste er wie ein verschmitzter Junge, das graumelierte Haar war kurz und dicht. Armgard gefiel er auf den ersten Blick und sie ihm.

»Potztausend, Frederik, deine Enkeltochter ist ja ganz was Blitzsauberes«, sagte er begeistert. »Bei dem Anblick muß selbst mir altem Knaben das Herz im Leibe hüpfen, wie muß es da erst bei dem Jungen rumoren. Wirst deinen Kolibri nicht lange behalten, alter Freund.«

»Kolibri an der See«, lachte der ihn aus. »Was bin ich doch bloß froh, dich hierzuhaben, du verdrehter Kerl.«

Als nach dem Kaffee der Gast die Pfeife und der Hausherr die Importe in Brand gesteckt hatte, kam ersterer auf seine Frau zu sprechen.

»Friedlich ist sie eingeschlafen«, erzählte er wohl traurig, aber gefaßt. »Für sie war es eine Erlösung, für mich jedoch…«

»Nun, du hast ja dasselbe mitgemacht, Frederik, und weißt daher, wie hart das einem ankommen kann. Ich habe sie auf ihren Wunsch im Erbbegräbnis ihrer Familie beisetzen lassen, da ist sie gut aufgehoben.«

Mehr sagte er nicht. Es tat ihm wohl noch zu weh, die frische Wunde zu berühren. Wie Armgard von ihrem Großvater wußte, war die Frau dem Mann nicht nur eine gute Gattin gewesen, sondern auch Kameradin durch dick und dünn. Hatte alle Forschungsreisen des Geologen mitgemacht, bis sie sich eine schleichende Krankheit zuzog. Da gab er die Reisen auf und ließ sich an der Riviera nieder, wo er Frederik von der Gylt kennenlernte. Der Kummer um ihre Frauen ließ sie sich fester aneinander schließen, als es wohl sonst der Fall gewesen wäre.

Man merkte direkt, wie wohl der Gast sich fühlte in dieser Atmosphäre voll Harmonie und Herzlichkeit. Von den beiden Räumen, die ihm als eigenes Reich zugewiesen wurden, war er begeistert.

Den Björns und Frökes war er übrigens kein Fremder. Sie kannten ihn von den Besuchen bei Clarissa, und so gab es ein herzliches Wiedersehen.

*

Armgards Hoffnung, daß Folko und Lutz den Plan mit den Reitstunden aufgeben würden, erfüllte sich nicht. Zuerst war es Lutz, der sie herantrieb, wie er sich ausdrückte. Als dann die Ferien zu Ende waren und er nach Hause mußte, trat Folko als Reitlehrer an seine Stelle, was die Schülerin aufmucken ließ.

»Ich mach nicht länger mit«, erklärte sie kurz und bündig, als er sie zu Hause abholte. »Ich stehle dir damit nur deine recht kostbare Zeit, die du weiß

Gott nutzbringender anwenden kannst. Und so viel Zeit habe auch ich nicht, um sie totzuschlagen.«

»Nanu, was hast du denn zu tun, etwa von sieben Gänsen Wurst zu machen?«

»Du brauchst gar nicht zu spotten«, funkelte sie ihn an. »Du weißt ganz genau, daß ich die Arbeiten von Großpapa und Onkel Hans stenographiere und in die Maschine schreibe.«

»Aber doch nicht den ganzen Tag. Warum sträubst du dich eigentlich so gegen den Reitunterricht, hast du einen besonderen Grund?«

Liebes Gottchen, jetzt hilf du, fluchte sie inbrünstig, als sie seinen forschenden Blick auf sich fühlte. Nie und nimmer darf er den wahren Grund erfahren.

Und das liebe Gottchen half. Es gelang ihr tatsächlich gleichmütig zu tun, als sie sagte:

»Ja, das Reiten macht mir keinen Spaß.«

»Und warum hast du denn überhaupt damit angefangen?«

»Weil Lutz mir keine Ruhe ließ.«

»So werde auch ich dir keine Ruhe lassen.«

»Aber warum bloß nicht, um alles in der Welt?«

»Den Grund kann ich dir nicht sagen, jetzt noch nicht.«

»Hängt denn so viel davon ab?«

»Allerdings.«

»Auch für mich?«

»Ich hoffe es.«

Da gab sie es auf. Brüsk wandte sie sich ab, ging nach oben und zog den Reitdreß an, der so elegant war, wie alles, was sie jetzt trug. Und zwar mit der Selbstverständlichkeit einer reichen Erbin. Da die beiden Herren ihr Mittagsschläfchen hielten, sagte sie Robert Bescheid, daß sie zum Schloß ginge und zum Kaffee wahrscheinlich nicht zurück sein würde.

Dann folgte sie Folko, der sie auf den Weg führte, den sie bei ihrem ersten Spaziergang hier eingeschlagen hatte. Damals war sie durch Schnee gewatet, heute ging sie auf weichem, moosigem Grund. Rechts grünten die weiten Felder, links unten brandete die See. Armgard wurde das Herz ganz groß und weit.

»Schön«, sagte sie, und es klang wie ein Seufzer. »Wie habe ich es nur so lange in einer Großstadt aushalten können, nie mehr möchte ich dahin zurück.

Auf Stunden wohl oder auch Tage, aber nicht mehr dort wohnen.«

»Was bist du doch für ein merkwürdiges Mädchen«, entgegnete er kopfschüttelnd. »Andere halten es nicht auf dem Lande aus und streben zur Stadt, wo es doch so viele Vergnügungen gibt…«

»Möchtest du denn in der Stadt leben?« warf sie ein, doch schon wehrte er ab.

»Um alles nicht. Aber dafür bin ich auch ein Landmann, der mit der Erde hier verwachsen ist, während du doch…«

»Nun sag bloß noch, daß ich eine Großstadtpflanze bin…«

»Wo werde ich denn so ungalant sein«, wies er schmunzelnd ab. »Sagen wir eine Asphalttreterin. Übrigens will Christine die Sommerferien bei uns hier verleben.«

»Also noch eine Asphalttreterin, die es aufs Land zieht.«

»Aber nur, weil sie noch zu jung ist, um die Freuden der Großstadt genießen zu dürfen. Wenn sie aber erst mal…«

»An dem Freudenbecher genippt hat«, fiel Armgard lachend ein, »dann wird sie bald in vollen Zügen aus ihm trinken. Ist nicht von mir, habe ich irgendwo gelesen.«

»Und dem Poeten recht gegeben?«

»Konnte ich nicht, da ich keine Ahnung davon habe. Denn was man mir, nachdem ich flügge geworden war, an die Lippen setzte, war ein Kelch mit bitteren…

Ach was«, unterbrach sie sich hastig. »Dafür geht es mir jetzt beneidenswert gut. Aber schau mal, was dort angerast kommt.«

Es war Strubbel, der seine kurzen Beinchen hurtig in Bewegung setzte. Als er Armgard erreicht hatte, legte er das Köpfchen schief und sah sie wie lachend an.

»Hast du es wieder einmal geschafft«, beutelte sie seine Ohren. »Nun komm schon mit. Gib aber nicht bei deinen Artgenossen so schrecklich an, hörst du?«

Wuuufff, machte Strubbelchen lustig und trottete neben ihr her. Am schmiedeeisernen Tor stand er artig still, bis es geöffnet war. Doch dann lief er los mit freudigem Gekläff, das aus der Tiefe des Parkes mehrstimmig erwidert wurde. Lachend sahen die beiden Menschen dem sich fast überkugelnden Knäuel nach und setzten dann ihren Weg fort. Über kiesbestreute Wege, unter alten Bäumen, an blühenden Sträuchern und Blumen vorbei, am Weiher der eingebettet war im Grün. Auf ihm schwamm ein Schwanenpaar mit seiner Brut, ein Bild friedlichen Familienlebens.

Ein herrlicher Park und ein herrliches Schloß, das in vornehmer Ruhe dalag. Vor ihm auf dem großen Rasen plätscherte ein Springbrunnen, und auf der Terrasse ruhten die beiden Damen in Liegestühlen. Die des Weges daher kamen, wollten vorüberschleichen, doch schon rief ihnen die Gräfin zu:

»Was habt ihr denn zu verbergen, ihr Spitzbuben, daß ihr so schleichen müßt? Kommt her und beichtet.«

Gleich darauf standen sie da, ein schönes Paar. Er distinguiert und elegant, sie von bezaubernder Frische und bezwingendem Scharm. Zwei Menschen wie gemalt, hatte einmal Frau Spierke von ihnen gesagt.

»Wie geht’s denn zu Hause?« fragte die Gräfin. »Spielen die Männer noch immer mit so bewundernswerter Ausdauer Skat?«

»Vorläufig nicht«, gab Armgard Auskunft. »Es fehlt der dritte Mann, da Onkel Claas sich auf Tour befindet, Schach ist jetzt der letzte Schrei.

Und zwischendurch schreit Robert, allerdings bildlich genommen, über die beispiellose Unordnung in Onkel Hans’ Reich. Aber der schreit nun wirklich, wenn Robert wenigstens die Brocken vom Fußboden räumen will, damit er nicht darüber stolpert.«

»Das muß ja eine schöne Schreierei bei euch sein«, lachte die Gräfin. »Was sagt denn der friedliebende Frederik dazu?«

»Er fühlt sich mopsfidel dabei. Hat immer seinen Spaß daran, wenn ich für Onkel Hans ein Stenogramm aufnehme. Das ist nämlich so wirr und kraus, daß er mich ganz verdutzt ansieht, wenn ich es vorlese, doch irgendwie kommen wir immer zu Rande. Wenn er dann so zerknirscht tut, ist er zu nett. Wir mögen ihn alle schrecklich gern, hoffentlich bleibt er bei uns.«

»Ich glaube schon«, meinte Erdmuthe. »Ihr behandelt ihn doch wie ein Familienmitglied, und so ein Zugehörigkeitsgefühl braucht ein alleinstehender Mensch. Doch nun macht, daß ihr an die Arbeit kommt, zum Kaffee erwarten wir euch.«

»Ein ganz entzückendes Mädchen«, sagte Frau von Segimer, als die beiden außer Hörweite waren.

»Das ist sie«, bestätigte die Gräfin. Es klang jedoch irgendwie abschließend, und so behielt die andere das, was sie sagen wollte, für sich.

Indes gingen Armgard und Folko zum Stall, wo der Pferdepfleger schon nach ihnen Ausschau hielt. Die Pferde waren gesattelt, und der Ritt konnte beginnen.

Obwohl die Fuchsstute Gloria hieß, nannte Armgard sie Lise. Es klang so zärtlich und gut, daß das Tier aufhorchend die Ohren spitzte und mit dem Kopf nickte, als ob sie mit dem Namen einverstanden wäre.

»Was wird die nicht«, meinte ihr Betreuer stolz. »Die hat doch Menschenverstand. Nicht den Zucker vergessen, gnädiges Fräulein, sonst ist sie beleidigt.«

Sie bekam ihren Zucker, der Rappe auch, und dann begann für Armgard der Drill, wie sie es seufzend bezeichnete. Lutz hatte doch mal was durchgehen lassen, aber Folko tat es nicht.

Er fand so manches auszusetzen, obwohl er zugeben mußte, daß sie gut im Sattel saß. Ein Zeichen, daß beim Anfangsunterricht nicht gepfuscht worden war.

»So, jetzt können wir uns ins Freie wagen«, sagte der Graf, nachdem die Pferde einige Male den großen Hof umtrabt hatten. »Deine Lise ist heute besonders brav, und du bist auch gut in Form.«

Als Armgard das weite Feld vor sich sah, wurde sie ängstlich wie ein Kind, das die ersten Schritte in eine ihm unbekannte Welt machen soll, und schon hörte sie eine sonore Stimme neben sich:

»Keine Bange, wenn ich dabei bin, kann dir nichts passieren. Diese Platzangst haben so ziemlich alle Reiter, doch die verliert sich rasch.«

Er hatte recht, schon nach einigen Minuten war die Angst überwunden. Als er sich mit seiner Pfeife beschäftigte und daher nicht auf sie achtete, hatte sie Muße, ihn zu betrachten.

Blendend sah er aus in dem Reitdreß. Und wie er im Sattel saß. Mit einer gewissen Nonchalance, die sich nur ein tadelloser Reiter erlauben darf.

Aber wie gut sie selbst sich hielt, davon hatte sie keine Ahnung. Auch nicht, daß sie ganz reizend aussah in dem knappen Dreß, der wie angegossen saß. Das unbedeckte Haar wehte im Wind, die Wangen glühten, die Augen blitzten.

Schön war das. Aber um wieviel schöner müßte es noch sein, wenn das Pferd ihr gehörte und der Mann.

Na, nun mal hoppla, wies sie sich erschrocken zurecht. Das waren verbotene Gedanken, die sie erst gar nicht aufkommen lassen durfte. Immer das Herz fest an der Kandare halten, wenn es durchgehen wollte. Nicht denken, nicht grübeln, alles hübsch auf sich zukommen lassen und gegen alles gewappnet sein.

Nur so konnte sie diese Ritte ertragen, die er ihr aufgedrängt hatte. Sie freute sich sogar schon darauf. Es waren auch keine Extraritte, die der vielbeschäftigte Gutsherr machte, da er sie auf den Inspektionsritten durch Wirtschaft und Feld mitnahm. Und dabei umschloß die beiden Menschen immer fester das Band der Zugehörigkeit.

Und wo war die schöne Jella? Die war bei Armgard schon fast in Vergessenheit geraten, bis sie an einem Nachmittag Ende Juni ihrer ansichtig wurde.

Sie war in ihrem Flitzer nach Seestadt gefahren, um Einkäufe zu machen, die es in Klein-Dünen nicht gab. Anschließend wollte sie in der Konditorei ein Eis essen, stoppte jedoch zurück, als sie durch die große Fensterscheibe Jella und Folko an einem Tischchen sitzen sah, anscheinend in vertrautem Gespräch. Jetzt nahm sie seine Hand, die auf dem Tisch lag, schmiegte ihre Wange daran, und da nahm Armgard Reißaus zum Wagen hin, der etwas abseits auf dem Parkplatz stand. Abfahren konnte sie allerdings nicht gleich, dafür war sie zu erregt.

Erbärmlich war ihr zumute. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie in einen Abgrund gestürzt, an dem sie mit verbundenen Augen entlanggetapst war.

Und nun, was nun? Würde sie die Kraft haben, sich aufzuraffen oder würde sie auf der Strecke liegenbleiben wie ein waidwundes Tier?

Es starb schon manches arme Herz, da man sein Lieben ihm entriß, kamen ihr die Worte Freiligraths in den Sinn. Sterben, nein, das würde ihr Herz wohl nicht, um dann so schwer wie ein Stein in der Brust zu liegen, aber es würde durch die Kelter des Schmerzes gepreßt werden und das tut weh.

Da saß nun so ein armes Menschenkind, zerquälte sich Herz und Hirn, weil wieder einmal der Schein getrogen hatte. Gewiß, sehen geht ja wohl vor sagen, und was Armgard gesehen hatte, war der Anblick zweier Liebender, die sich in der Konditorei ein Stelldichein geben.

Wären Armgards Gedanken logisch gewesen, hätte sie sich sagen müssen, daß sich ein paar zu einem Schmusestündchen nicht wie auf dem Präsentierteller ins Fenster setzt, sondern möglichst dunkle Winkel aufsucht. Aber in solcher Verfassung, in der Armgard sich befand, ist jedes logische Denken ausgeschaltet, da glaubt man, was man sieht.

Womit Jella auch gerechnet hatte. O ja, diese gerissene Mondäne wußte, wie man so unerfahrene Gänschen täuschen konnte, so eine Rivalin ist leicht aus dem Weg geräumt. Und diese mußte weg, sonst kam sie bei dem Mann, in den sie toll verliebt war, nicht zum Ziel.

Als sie nun Armgard auf die Konditorei zukommen sah, reagierte sie blitzschnell, setzte sich in Pose als liebendes Weib und siehe da, es klappte. Mit einem hämischen Grinsen sah sie dem flüchtenden Mädchen nach und nahm es gelassen hin, daß der überrumpelte Mann sie anherrschte:

»Bist du denn ganz von Gott verlassen! Was sollen die Menschen von diesem blöden Getue denken! Du wirst ja immer lästiger!«

Er legte ein Geldstück für die Zeche auf den Tisch und ging, ohne sich von ihr verabschiedet zu haben. Das machte ihr aber gar nichts aus. Sie hatte ihre Rivalin in die Flucht geschlagen, dafür konnte sie schon einen Rüffel einstecken.

Wie gut, daß sie Appetit auf Eis gehabt hatte und in die Konditorei gegangen war, wo sie Folko vorfand. Daß sie sich an seinen Tisch setzte, war selbstverständlich, und daß sie eine so nette Intrige in Szene setzen konnte, paßte ganz wunderbar in ihren Plan.

Als sie die Konditorei verließ, bemerkte sie in einem der parkenden Wagen ihr Opfer, und schon nahm sie die Gelegenheit wahr. Lachend ging sie auf das Auto zu und sprach durch das geöffnete Fenster:

»Guten Tag, Fräulein von Hollgan. Wie nett, Sie mal zu treffen. Sicher haben Sie mich in der Konditorei mit Folko gesehen. Er muß noch rasch etwas erledigen, dann wollen wir erst ein ausgiebiges Seebad nehmen und dann ins Kurhaus gehen, wo heute Tanz ist.«

»Dann viel Vergnügen«, wünschte Armgard mit einer Gleichmütigkeit, über die sie selbst staunte. »Vielleicht gehe ich auch hin. Muß erst mal sehen, ob meine beiden Anstandswauwaus Zeit und Lust haben. Denn ohne Herrenbegleitung kann man ja nicht gut zu so einer Veranstaltung gehen, und Folko muß sich ja Ihnen widmen. Nochmals viel Spaß.«

Damit fuhr sie ab, und wütend starrte ihr die Zurückbleibende nach.

*

»Nun, welches Gift hast du denn da verspritzt?« ließ eine Stimme sie herumfahren. Sie stand Folko gegenüber, der sie mit dem bewußten Lächeln ansah, dem Gemisch von Ironie und Verachtung.

»Hast du mich etwa belauscht?« fauchte sie gereizt wie eine aufgescheuchte Katze.

»Leider kam ich zu spät. Was hast du Fräulein von Hollgan vorgelogen?«

»Erlaube mal…«

»Laß das Theater!« schnitt er ihr mit einer herrischen Handbewegung das Wort ab. »Mich kannst du nicht täuschen, dafür kenne ich dich zu gut. Was für Intrigen hast du gesponnen?«

»Frag doch diese hochnäsige…«

»Jella, ich warne dich!« peitschte seine Stimme dazwischen. Erschrocken fuhr sie zusammen und sah ihn unsicher an. Wenn in seinem harten Gesicht die Wangenmuskeln spielten und seine Augen den grünlichen Schimmer hatten, dann war er zornig. Von dem kalten Zorn, der vernichtender wirkt als ein aufbrausender.

»Herrgott, ja, sei doch nicht gleich so eklig«, schob sie die Unterlippe vor und warf dann einen Blick auf die Armbanduhr. »So spät schon? Da muß ich eilen, sonst verpasse ich meine Verabredung.«

Weg war sie, und er sah ihr nach mit verächtlichem Blick. Feige wie alle nichtswürdigen Kreaturen. Wenn er sie doch endlich abschütteln könnte, die ihn verfolgte wie ein lästiges Insekt.

Wenn er nur wüßte, was sie Armgard vorgelogen hatte und was diese wahrscheinlich glaubte. Denn sie war ja in solchen Dingen nicht erfahren wie die mit allen Wassern gewaschene Intrigantin. Kaum zu glauben, daß eine Jugendeselei einem ankleben konnte wie Pech.

Ärgerlich fuhr er herum, als sich von hinten zwei Hände auf seine Augen legten. Sollte Jella es etwa wagen?

Doch nein, es war Lutz, der ihn vergnügt angrinste.

»Kommst mir wie gerufen. Denn ich überlegte gerade, wie ich mit meinem Koffer nach Schloß Dünen gelangen könnte. Die Sommerferien haben nämlich begonnen. Nimmst du mich mit?«

»Ehrensache. Dort steht mein Wagen. Ich fahre dich zuerst nach Hause, du meldest dich bei deinen Verwandten ab…«

»Die sind nicht da, verreist. Diesmal aber auf Urlaub, den sie sich redlich verdient haben. Der Koffer ist gepackt, also braucht der Herr Graf nicht lange auf seinen Mitfahrer zu warten.«

Als sie auf Schloß Dünen zufuhren, fragte Folko:

»Hast du denn kein Verlangen, deine Ferien mal woanders zu verleben?«

»Nein. Wenn ich die Schule hinter mir habe und studiere, werde ich lange genug dem allen fernbleiben müssen, woran mein Herz hängt. Und wo noch Christine nach Schloß Dünen kommt, Armgard, ihr Großvater, der famose Naudin und die Frökens dort ein und aus gehen, das gibt doch ein Leben, wie es schöner gar nicht sein kann. Ist Armgard im Reiten schon fit?«

»Sie ist jedenfalls so weit, daß sie mich auf den Inspektionsritten überallhin begleiten kann.«

»Na du, dann kann sie schon viel. Denn bei den Ritten geht es, wie ich aus Erfahrung weiß, über Stock und Stein.«

Mittlerweile hatten sie Schloß Dünen erreicht, wo der Feriengast mit offenen Armen empfangen wurde. Als ob der Sohn des Hauses nach Hause kommt, so war es. Er rumorte in seinem Zimmer herum, pfiff vergnügt vor sich hin und sorgte beim Abendessen für lustige Unterhaltung. Danach rief er im Gylthaus an und erfuhr zu seiner Bestürzung vom Hausherrn, daß Armgard sich beim Baden einen Glasscherben in den Fuß getreten hatte.

»Ist’s schlimm?« forschte Lutz bang.

»Nein, schlimm ist es nicht. Die Wunde ist desinfiziert und verbunden, braucht also nur zu heilen, was ja seine Zeit dauert.«

»So kann Sie nicht reiten?«

»Ausgeschlossen.«

»Dann den schönsten Gruß. Morgen besuche ich die nun wirklich Ärmstegard. Danke für die schlechte Nachricht, Onkel Frederik.«

»Bist du aber höflich«, lachte er »Grüß alle bei euch schön.«

»Danke, wird bestellt.«

Nachdem Lutz berichtet hatte, sagte Folko:

»Aber ich habe Armgard doch heute in Seestadt gesehen. Gesprochen allerdings nicht, da sie mir sozusagen an der Nase vorbeifuhr.«

»Dann wird sie wohl hinterher das Bad genommen haben. Schade, daß sie vorerst zu Hause bleiben muß.«

Das fand Armgard gar nicht schade. Sie freute sich sogar über die kleine Verletzung. Da hatte sie doch einen Grund, dem Schloß und damit Folko fernzubleiben. Konnte erst in Ruhe von allem Abstand nehmen, bevor sie ihm unter die Augen trat.

Das tat er übrigens bei ihr, und zwar schon am nächsten Tag. Sie saß allein auf der Terrasse in einem bequemen Sessel, den verletzten Fuß auf einen Hocker gelegt. Als sie ihn sah, erschrak sie heftig, faßte sich jedoch rasch. Denn Selbstbeherrschung und Stolz sind ein guter Panzer, der einen fest umschließt, wenn man in Gefahr ist.

Und sie war in Gefahr, sich dem Mann gegenüber zu verraten. Das durfte nicht sein. Lieber leiden als sich demütigen.

»Was machst du denn für Sachen«, wandte er die übliche Redensart an, ihr eine Blume in den Schoß legend, die berauschenden Duft verströmte. Es war eine neue Lilienzüchtung des Schloßgärtners, deren Exemplare er wie ein Heiligtum hütete. Er rückte mit der Kostbarkeit raus, als sein Herr ihm sagte, daß er sie dem Fräulein von Hollgan bringen wollte, die sich den Fuß verletzt hatte.

»Das ist denn was anderes, Herr Graf«, meinte der Mann schmunzelnd. »Für so ein liebes Marjellchen ist nichts zu schade.«

Als Folko das Armgard erzählte, sagte sie lachend:

»O ja, er kann auch galant sein, der sonst so berstige Alte, mit dem ich schon längst gut Freund bin. Daß er mir aber eine seiner Kleinodien opfert, wie er sie nennt, hätte ich dennoch nicht erwartet. Jedenfalls freue ich mich sehr.«

»Was wiederum mich freut.«

Sie errötete unter seinem seltsamen Blick, schüttelte wie abwehrend den Kopf und sagte hastig:

»Drück mal bitte auf den Klingelknopf, damit Robert kommt und die Blüte in Wasser stellt.«

»Das werde ich tun, ich weiß ja hier Bescheid.«

Als er gegangen war, drückte sie die Handflächen gegen die heißen Wangen, ihr Herz schlug bang und schwer. Jetzt erst begriff sie so richtig, was der »Trompeter von Säckingen« in seinem Lied meinte: »O Lieb’, wie bist du bitter, o Lieb’, wie bist du süß.«

Weshalb brachte er diese seltene Blüte ihr und nicht seiner Jella?

Das war nun eine neue Frage, die sie sich genausowenig beantworten konnte wie die andern alle, die doch so widersinnig waren. Gut, daß Lutz erschien und mit seiner lärmenden Fröhlichkeit alle Hirngespinste verscheuchte. Als er den Grafen mit der Vase erblickte, in der die köstliche Blüte steckte, sagte er grinsend:

»Hast du sie dem alten Geizkragen doch abgeluchst?«

»Habe ich. Deshalb brauchst du gar nicht so zu grinsen wie ein Teller Brotsupp’.«

»Herr Graf, was muß ich hören!« lachte Armgard hellauf. »So ein drastischer Ausdruck.«

»Bitte sehr, stammt von Ludwig Briet, den man allgemein für gut erzogen hält. Ist die Vase richtig?«

»Ja, besten Dank.«

Jetzt wurden auch Frökes sichtbar. Er mit Pfeife, sie mit der Tasche, ein Zeichen, daß sie sich häuslich niederlassen wollten. Auch sie bewunderten die Blume, hauptsächlich Lottchen.

»Hast du die gebracht, Folko?«

»Ich war so frei.«

»Das gehört sich auch so. Unser Kind muß etwas Besonderes haben, weil es etwas Besonderes ist.«

»Ach, du lieber Gott«, sagte Armgard verdutzt. »Ich soll etwas Besonderes sein? Das geht über meinen Verstand.«

»Nun«, schmunzelte Folko. »Was kein Verstand der Verständigen sieht, das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.«

»Damit meint er mich«, meinte Lottchen einverstanden. »Das kindliche Gemüt habe ich mir erhalten.«

Sie lachte vergnügt mit den andern, setzte sich in einen Gartensessel und strickte. Über die Brille hinweg lugte sie zu Armgard hin und stellte dann sachlich fest:

»Siehst gut aus. Was macht die Wunde?«

»Onkel Hans fand sie heute früh beim Verbinden bildhübsch.«

»Versteht er denn was davon?«

»Muß doch wohl, da er Mediziner ist.«

»Ach was«, staunte Lottchen. »Habt ihr das vorher gewußt?«

»Ich nicht, aber Großpapa.«

Sie hielt inne, da von oben Singsang kam, falsch aber lustig:

»Ich bin der Doktor Eisenbart, valleri juchhe.«

Hochblickend erspähten sie im offenen Fenster das pfiffige Gesicht Naudins, der jetzt hinterherrief:

»Ist da jemand zu verarzten, vielleicht gar unser Pummelchen?«

»Was willst du denn bei mir?« zwinkerte sie ihm vergnügt zu. »Speck wegoperieren? Laß ab davon, das ist Kummerspeck, der sich festgesetzt hat, seitdem du hier dein Unwesen treibst.«

Das Du war ein Zeichen, daß man Hans Naudin in die Gemeinschaft aufgenommen hatte, genauso wie Frau von Segimer. Das gab den vereinsamten Menschen erst richtig das Zusammengehörigkeitsgefühl.

Jetzt kam der Geologe und Arzt herbei, flink, behende, wie auf Draht, hätte man da sagen können.

»Seid mir gegrüßt allesamt. Warum seht ihr mich denn so mißbilligend an?«

»Weil du aussiehst wie ein Junge, der sich zuerst ins Wasser gesetzt und dann im Sand gerollt hat«, sagte Armgard lachend, und er grinste, was er genauso gut konnte wie Lutz.

»Genauso war’s. Herrliche Steinchen habe ich am Strand gefunden, bloß ich hab sie wieder verkramt.«

»Wo?«

»Oben im Zimmer.«

»Robert wird sie schon finden, wenn er darüber stolpert.«

»Das hat man davon, wenn man eine Schlange an seinem Busen nährt«, beklagte er sich und zeigte dann nach der Vase, die auf dem Tisch stand. »Was ist das denn für eine Blume, sieht so exotisch aus. Etwa ein Experiment vom Schloßgärtner?«

»Ja.«

»Ist ihm prächtig gelungen. Sieht beinahe so aus wie einer meiner Steine.«

Bevor der Entrüstungssturm losbrechen konnte, war er schon geflüchtet. Dafür kam Frederik hinzu, der kopfschüttelnd fragte:

»Ist Hans etwa übergeschnappt? Ich traf mit ihm auf der Treppe zusammen, wo er mir erzählte, Folko hätte Armgard eine Blume gebracht, die aussieht wie ein Stein, und dafür wollte man ihn verprügeln.«

Als man es ihm erklärt hatte, stimmte er in das Lachen der andern ein.

»Wenn der nicht Unsinn machen kann, ist ihm nicht wohl. Gestern hat er Hilde erzählt, daß in Afrika die Affen Schlips und Kragen tragen.«

»Hat sie das womöglich geglaubt?« fragte Folko lachend.

»Decken wir das mit dem Mantel der Liebe zu«, war die schmunzelnde Erwiderung.

*

Einige Tage später holte Armgard ihre Base Christine vom Dorfbahnhof ab, und wieder sah sie Jella Kaunz in Begleitung des Grafen Björn. Und wieder war es ein zufälliges Zuammentreffen, diesmal sogar von seiten Jellas, und wieder glaubte Armgard nicht an einen Zufall. Denn wie sagt Wilhelm Busch:

»Wer durch des Argwohns Brille schaut, sieht Raupen selbst im Sauerkraut.«

Und Armgard sah sie. Am liebsten hatte sie ja kurz kehrtgemacht. Doch da das nicht anging, trat sie auf die beiden zu, die sie jetzt erst bemerkten.

»Nanu, Armgard, willst du etwa auch einen Gast abholen?« fragte Folko erstaunt. »Wen erwartest du?«

»Christine.«

»Was, du auch?«

»Allerdings«, bestätigte sie, Jella mit einem hochmütigen Kopfneigen begrüßend, was diese nicht wenig erboste. »Onkel Jonathan meldete ihr Eintreffen bei uns an.«

»Das tat er auch bei uns. Na, macht nichts. Zweimal abgeholt ist besser als keinmal. Was macht dein Fuß?«

»Ist tadellos in Ordnung. Ich bin neugierig, in wessen Wagen Christine steigen wird.«

»In deinen, da du ihr Idol bist.«

»Na du, dich schwärmt sie auch ganz nett an.«

Beide lachten, und die verführerische Jella stand unbeachtet dabei. Na, so was gab’s ja gar nicht! Sie konnte sich doch unmöglich von dem Gänschen ausstechen lassen, sie, die schöne, mondäne Frau. Sie mußte unbedingt des Grafen Aufmerksamkeit auf sich lenken. Doch zu spät. Schon lief der Zug ein, und aus einem Abteil langbeinte Christine, strahlend über das ganze Gesicht.

»Was, so ein großer Bahnhof für mich kleines Etwas, wie komm’ ich denn zu so viel Ehre?«

Als man es ihr gesagt hatte, meinte sie lachend:

»Das ist ganz meine fürsorgliche Familie. Aus lauter Besorgnis, daß man mich nicht rechtzeitig abholen könnte, avisiert man mich an zwei Stellen. Und was machen wir nun? Halbieren kann ich mich nicht.«

»Das nicht, aber in den Wagen steigen, der dir am meisten zusagt.«

»Das tun beide. Ich möchte ins Schloß, ich möchte ins Gylthaus.«

»Stimmen wir ab«, entschied Folko und setzte das bekannte Fragespiel mit den Streichhölzern in Szene. Christine zog aus seiner Hand das Hölzchen mit Kopf und wußte nun, wo sie hingehörte.

Das alles war genau beobachtet worden; denn die vom Schloß und ihre Freunde standen nun mal im Blickfeld der Neugierde. Alles was sie sagten und taten wurde bekrittelt, aber mehr noch bewundert und nachgeahmt.

Jetzt beobachteten diejenigen, die sich auf dem Bahnhof befanden, das Spielchen mit den Streichhölzern sahen, wie der Graf die beiden Mädchen unterfaßte und mit ihnen davonging.

Sahen aber auch die Mondäne, deren Mienenspiel so unbeherrscht war, daß man ihr die Gedanken vom Gesicht ablesen konnte. Natürlich waren ihre Bemühungen um den Grafen nicht unbeobachtet geblieben, aber die Trauben schienen ihr da verflixt hoch zu hängen.

Na was, so was heiratet ein Mann wie Graf Björn nicht, mit so was techtelmechtelte man. Heiraten tat man ein Mädchen wie Armgard von Hollgan, jung, von bezaubernder Schönheit, aus vornehmer Familie, die Erbin ihres sehr reichen Großvaters und ohne jede Vergangenheit. Wenn ein Graf Björn so ein Mädchen heiratete, würde sich kein Ahn im Grab umdrehen, aber bei einer Jella? Na, man wußte ja schließlich Bescheid.

Neugierig sah man ihr nach, wie sie dem Grafen und seinen beiden Begleiterinnen folgte. Keinen Blick hatte man für sie, hatte ihre Anwesenheit wahrscheinlich vergessen.

Zuerst fuhr das Fräulein vom Gylthaus ab, dann der Graf mit der Senatortochter, und dann die schöne Jella, die aber momentan gar nicht schön aussah mit dem wutverzerrten Gesicht.

Und sollte man da nicht wütend sein, wo man so schofel behandelt wurde? Was dachte dieses hochnäsige Volk sich eigentlich, war es denn mehr als sie, die doch auch aus guter Familie stammte?

Stammte wohl, aber was sie daraus gemacht hatte, gereichte ihr nicht immer zur Ehre. Es gab da manches, an das sie lieber nicht zurückdachte, das sie möglichst weit von sich schob, und das dem Grafen Björn aber auch gar nicht gefallen hätte. Ach was, woher sollte der das wohl erfahren.

Aber: Es ist nichts so fein gesponnen…

Jedenfalls war Jella in Rage, und wenn man in Rage ist, sollte man sich nicht ans Steuer setzen, da sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Nun, es genügte ein Baum, der dem so miserabel gesteuerten Wagen Halt gebot. Es gab einen verbeulten Kühler, für die Fahrerin eine blutende Nase, mit der sie gegen die Schutzscheibe geknallt war, ein verstauchtes Handgelenk und ein aufgeschlagenes Knie.

Aus. Und wer hatte Schuld? Natürlich die andern.

Nur daß diese keine Ahnung davon hatten, was hinter ihnen geschah. Sie jedenfalls kamen unversehrt an, Armgard zum Gylthaus, Christine und Folko zum Schloß, wo dieser Feriengast genauso mit offenen Armen empfangen wurde, wie einige Tage vorher der andere.

Und die beiden gaben ein gutes Gespann oder besser gesagt, es gab einen flotten Viererzug. Denn Armgard wurde ja mit eingespannt und auch der fidele Onkel Hans, der sich immer mittenmang der Jugend befand, wie er sich ausdrückte.

Nur Folko war wie das fünfte Rad am Wagen, obwohl er mit seinen noch nicht ganz dreißig Jahren bestimmt noch zur Jugend gehörte. Aber in ihm wurde der Gutsherr respektiert, der dafür verantwortlich war, daß der in diesem Jahr so reiche Erntesegen knistertrocken unter Dach und Fach kam.

So lag er denn stramm in den Sielen, wie es in der Bauernsprache heißt, und befand er sich einmal unter den fröhlichen Vier, war er still und in sich gekehrt, was man seiner Abgespanntheit zuschob.

Nun ja, abgespannt war er schon, aber da gab es noch etwas anderes, was er mit sich selbst abmachen mußte und was ihm so manche verbitterte Stunde schuf.

Und der Grund war Armgard. Wenn sie ihm ausgewichen wäre, das hätte er zur Not noch verstehen können, aber daß er für sie einfach nicht vorhanden war, das ging denn doch zu weit, da mußte er sich mal ganz nachdrücklich bemerkbar machen.

Doch nicht jetzt, dafür fehlte ihm die Zeit. So was Schwerwiegendes ließ sich nicht sozusagen zwischen Tür und Angel erledigen. Aber der Tag, an dem er alles klären konnte, was jetzt so unklar war, der Tag, der kam schon noch, darauf konnten sich die nichtswürdige Jella und die stolze, widerspenstige Armgard verlassen.

»Verflixter Kram!« stieß Graf Björn verbissen hervor und starrte das Briefblatt in seiner Hand mit solchem Ekel an, als züngelten daraus Schlangen. Da verlangte doch diese Kreatur, die er nicht abschütteln konnte, in aller Unverfrorenheit, daß er zu ihr kommen und sie trösten sollte. Sie hatte einen Autounfall gehabt und lag nun schwerverletzt auf ihrem Schmerzenslager.

Schrieb sie, was ja nur mit Vorsicht zu genießen war; denn dieser Intrigantin kam es auf ein paar faustdicke Lügen nicht an. Aber da hatte sie in ihrer Beschränktheit mit Lutz nicht gerechnet, der über den Unfall seiner Schwester ja Bescheid wissen mußte. Als Folko ihn danach fragte, entgegnete er gleichmütig:

»Ach, die Jella, ja, die ist mit ihrem Wagen gegen einen Baum gerasselt. Kühler eingedrückt, Handgelenk verstaucht und Knie aufgeschlagen. Ist noch ganz gut davongekommen, gibt aber fürchterlich an.«

»Bist du dagewesen?«

»Ja. Aber ich gehe nicht mehr hin, um weiteren Ohrfeigen auszuweichen.«

»Und weshalb ohrfeigte sie dich?«

»Weil ich nicht augenblicklich da war, als sie mich telefonisch zu sich beorderte. Ich befand mich gerade im Gylthaus, als der Anruf kam; Armgard fuhr mich in ihrem Flitzer hin, na ja, und da fand ich meine Schwester in der Pose einer Schwerkranken. Bloß ihr Mundwerk war recht beweglich und ihr Handgelenk nicht minder.«

»Ich dachte, das wäre verstaucht.«

»Sie hat ja zwei Hände.«

»Befindet sie sich im Krankenhaus?«

»Ach wo, dazu langt das bißchen nicht aus. Sie wird zu Hause von einer Pflegerin betreut. Woher weißt du überhaupt von dem Unfall, den ich euch doch absichtlich verschwieg?«

»Jella hat an mich geschrieben.«

»Du sollst kommen und sie trösten?«

»Ja.«

»Tu das nicht, Folko, bitte, tu das nicht. Wenn Armgard davon erfährt, zieht sie wieder ihre Schlüsse daraus, und Jella lacht sich ins Fäustchen«, stotterte er mit rotem Kopf, und der Graf sah ihn durchdringend an.

»Merkwürdig, wie gut du Bescheid weißt. Hat Armgard mit dir über die heikle Angelegenheit gesprochen?«

»Armgard? Na hör mal, die beißt sich eher die Zunge ab, als über so was, na ja, zu sprechen. Aber da ich meine Schwester kenne und außerdem noch weiß, wie toll sie hinter dir her ist, hat sie bestimmt Intrigen gesponnen, in denen sie ja groß ist. Wenn du nun zu ihr gehst, wird sie das gegen Armgard ausspielen. Und dann, ach, Folko, tu es nicht.«

»Nein, mein Junge, ich tu es nicht«, gab er ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Wange. »Ich danke dir, bist ein guter Kamerad.«

Das Lob steckte sich Lutz an wie einen Orden. Zufrieden trollte er ab zum Gylthaus hin, das wie ausgestorben dalag. Also ging er hinunter zum Strand, wo er die vorfand, die er suchte. Frederik und Armgard saßen im Sand und sichteten die Steine, die Christine ihnen brachte, während Hans dicht am Wasser saß und eifrig an einem glitzernden Brocken herumfeilte. Sie waren alle barfuß und trugen Shorts und kurzärmelige Strandhemden, genauso wie Lutz und Folko, der soeben auftauchte und mit Hallo begrüßt wurde.

»Junge, läßt du dich einmal blicken«, sagte Frederik erfreut. »Komm, setz dich zu uns.«

»Aber Steine sammele ich nicht«, ließ er sich lachend nieder. »Von der Krankheit bin ich noch nicht befallen.«

»Aber von der Hopserei über die Stoppeln«, ließ sich Hans vernehmen. »Jedem das Seine.«

Folko zog aus der Hosentasche Tabaksbeutel nebst Pfeife, die er stopfte und in Brand steckte. Er tat es so zufrieden und bedächtig, daß Frederik schmunzelnd sagte:

»Machst den Eindruck wie jemand, der gesät hat.«

»Aber Onkel Frederik, im Sommer sät man doch nicht, da erntet man«, belehrte ihn Christine. »Habt ihr den letzten Roggenschlag geschafft, Folko?«

»Schau mal an, Kleine, was du nicht alles weißt. Ja, die Roggenernte ist unter Dach und Fach.«

»Und wann ist Erntefest?«

»Wenn die gesamte Getreideernte eingebracht ist.«

»Bin ich dazu eingeladen?«

»Von Herzen gern.«

»Christinchen, mir scheint, du bist schon eine rechte Landpomeranze geworden«, tat Onkel Hans betrübt. »Und ich dachte schon, du würdest als meine Assistentin mit nach Afrika ziehen…«

»Mach ich«, unterbrach sie ihn sachlich. »Schon um mich davon zu überzeugen, daß die Affen dort Kragen und Schlips tragen.«

»Wer sagt denn das?« fragte er scheinheilig.

»Hilde«, war die ebenso scheinheilige Antwort, und die andern hatten ihre Freude an dem lustigen Geplänkel.

Es wurden so herrliche Ferien für Christine und Lutz, daß sie schweren Herzens Abschied nahmen. Aber Schloß Dünen und das Gylthaus waren ja nicht aus der Welt, schon gar nicht für Lutz. Wenn er Sehnsucht hatte, genügte ein Anruf an Armgard, und sie holte ihn in ihrem Flitzer zum Wochenende ab.

Als die beiden fort waren, wurde es wohl etwas stiller in dem Kreis, aber durchaus nicht trist. Dafür sorgten schon Hans und Armgard in ihrer Fröhlichkeit und Lottchen in ihrem trockenen Humor. Außerdem hatten sie alle ihre Beschäftigung, und solange ein Mensch die hat, kann es ihm nie langweilig werden.

*

Es war an einem Tag im August, als Armgard zum Schloß ging, und zwar den oberen Weg entlang, da sie einen Schlüssel zum Parktor besaß. Sie trug ein leichtes Kleid, Sandaletten an den bloßen Füßen und sah wie gewöhnlich entzückend aus. An der Hand hing ein Korb, in dem einige Einmachgläser mit Marmelade standen, die Gräfin Erdmuthe so gut schmeckte, daß Frau Spierke der Kamm schwoll, wie man so sagt. Das Rezept gab sie nicht her, das war ihr Geheimnis.

»Die Mamsell da oben ist schon hochnäsig genug«, sagte sie zu Armgard, als sie die Gläser im Korb verpackte. »Unsereins will ja auch einmal etwas Besonderes haben. Und das ist diese Marmelade, die kriegt sie nicht so gut hin wie ich. Das hat mir auch die Gräfin gesagt, und deshalb soll sie die Schmeckprobe haben.«

»Na, Schmeckprobe«, zeigte Armgard lachend auf die vier Gläser. »Die da dürften schon eine Weile reichen.«

Nun trug sie die Gläser wie eine Kostbarkeit, um sie nur ja heil abzuliefern. Da sie die Hausherrin auf der Terrasse vermutete, schlug sie den Weg dorthin ein. Doch was sie fand, war der Herr des Hauses, der sich sofort aus dem Liegestuhl erhob.

»Bleib doch liegen«, wehrte sie hastig. »Du hast doch die Ruhe nötig. Ich wollte nur deiner Mutter dieses hier bringen.«

»Die ist nicht da, ist mit Tante Elise nach Seestadt gefahren.«

»Dann stelle ich den Korb hier hin. Es sind Marmeladengläser darin, die Frau Spierke schickt, weil sie die Marmelade doch so gern ißt, ich meine deine Mutter…«

»Ja sag mal, Ärmstegard, seit wann stotterst du denn so erbärmlich«, trat er lachend auf sie zu, was sie in eine Art Panik versetzte. Und dabei war sogar möglich, daß man bei einer raschen Wendung über seine eigenen Füße stolperte und demjenigen in die Arme sank, dem man entfliehen wollte.

Lenzesgebot, o süße Not!

Der Mann liebte das Mädchen mit seinem ganzen heißen Herzen und war ihm dennoch nicht zu nahe getreten, weil er das unfair fand. Erst mußten alle Mißverständnisse geklärt werden, und erst mußte sie ihm das Recht dazu geben, sie ans Herz zu nehmen. Doch nun er sie so fest daran hielt, der Mund ihm so verlockend nahe war, was Wunder, wenn er den küßte.

Was ihm aber nicht gut bekam. Der obligaten Ohrfeige entging er wohl, aber das schneeweiße Mädchengesicht und die zornverdunkelten Augen ließen ihn denn doch schuldbewußt zusammenzucken.

»Du«, sagte sie dumpf und schwer. »Das wage nicht noch einmal.«

»Armgard, so hör mich doch an, ich liebe dich.«

»Auch das noch«, höhnte sie. »Wieviel Frauen liebst du eigentlich zugleich, das sind ja die reinsten Paschamanieren. Für einen deutschen Edelmann immerhin erstaunlich.«

»Werde nicht beleidigend«, begehrte er nun auch auf. »Was ist schon ein Kuß.«

»Für mich sehr viel. Wohl sind das veraltete Ansichten, aber keiner kann aus seiner Haut heraus. Laß deine Entgleisung ja nicht die eifersüchtige Jella wissen, sonst kratzt sie dir die Augen aus.«

Bevor er noch etwas sagen konnte, war sie schon auf und davon. Aufstöhnend sank er in den nächsten Gartensessel und drückte das zuckende Gesicht in die zitternden Hände.

Großartig hatte er das gemacht. Dieser einzig Augenblick hatte seine sorgfältig ausgetüftelten Pläne über den Haufen geworfen. Er als Jäger müßte doch wissen, daß man ein Wild nicht vergrämen darf, auf das man ein Auge geworfen hat.

»Ja, was ist denn mit dir los«, ließ eine Stimme ihn zusammenschrecken. »Und warum hetzte Armgard davon, als wäre der Böse hinter ihr drein. Was hat es zwischen euch gegeben?«

Ja, da mußte er nun wohl Farbe bekennen, was die Mutter mißbilligend den Kopf schütteln ließ.

»Da hast du dich ja gehörig vorbeibenommen, mein Sohn. So einem Mädchen wie Armgard…«

»Ja, Mutter, ich weiß. Bitte, jetzt keine Vorwürfe, die mach ich mir schon zur Genüge. Es wäre lächerlich, jetzt noch in aller Form um sie anzuhalten.«

»Und sich einen Korb zu holen.«

»Eben. Ich werde da allein nicht mehr fertig, wie beschämend das für einen Mann auch ist. Da mußt du mir schon helfen, kleine Mama.«

»Gern, aber wie?«

»Versuche von Armgard zu erfahren, wie weit Jella gegen mich intrigiert hat.«

»Und du meinst, daß sie sich aushorchen läßt?«

»Eigentlich nicht.«

»Siehst du. So stolze Mädchen sind von einer mimosenhaften Empfindlichkeit, wenn es um ihre Gefühle geht. Daher werde ich nicht sie aushorchen sondern Frederik. Möglich, daß sie ihm etwas gesagt hat. Vor allen Dingen muß diese widerliche Jella verschwinden, sonst wirst du bei Armgard nie zum Ziel kommen. Da mußt du ganz rigoros vorgehen.«

»Als ob ich das nicht schon wäre. Aber kriege mal eine Laus aus dem Pelz.«

»Kein schöner, aber treffender Vergleich.«

Sie mußten das Gespräch abbrechen, da Frau von Segimer hinzukam. Erschrocken sah sie Folko nach, der sich mit einer gemurmelten Entschuldigung entfernte.

»O Gott, habe ich ihn etwa vertrieben?«

»Aber nein«, beschwichtigte die Gräfin. »Sei doch nicht so ängstlich, Liesel. Du gehörst doch zur Familie. Und daher werde ich dir auch sagen, was Folko und mich bedrückt.«

Als sie sich ausgesprochen hatten, sagte Elise so freudestrahlend, wie man sie hier noch nie gesehen hatte:

»Ach, Erdmuthe, ich bin ja so glücklich, euch helfen zu können, die ihr doch so lieb

zu mir seid. Ich setzte schon verschiedentlich an, euch über diese Jella Bescheid zu sagen, aber ich traute nicht, weil ich ja nicht wußte, ob Folko nicht doch…«

»Liesel, man immer langsam«, lachte die Gräfin in das Gestammel hinein. »Laß gut sein, ich weiß schon, was du meinst. Was ist dir nun über diese Jella bekannt?«

»Daß sie bestimmt keine Frau für unseren prächtigen Folko ist«, erklärte sie stolz. »Du weißt ja, daß mein Mann viel auf Reisen war und mich auch manchmal mitnahm in die große Welt, wie er prahlte.

Na ja, und da konnte ich auch die Kaunz beobachten. Daß sie einen lockeren Lebenswandel führte, wäre zuviel gesagt, aber sie war kein Freund von Traurigkeit, falls du verstehst, was ich damit meine. Hatte immer einen Schwarm Verehrer um sich, darunter auch einen Baron, mit dem sie ziemlich liiert gewesen sein soll. Das nahm aber seine Frau sehr übel, als sie davon Wind bekam. Und da sie ein Mensch war, der nicht lange fackelt, überraschte sie den Ungetreuen, als er eines Abends im Hotelgarten mit seinem Gespusi lustwandelte, haute ihr ohne jeden Kommentar eine ’runter und zog mit ihrem verdatterten Gemahl hocherhobenen Hauptes von dannen.«

»Das ist ja köstlich!« lachte die Gräfin amüsiert. »Ich hab gar nicht gewußt, daß du so humorvoll erzählen kannst. Und wie verhielt sich die Kaunz?«

»Die packte schleunigst die Koffer und verschwand. Denn die Ohrfeige war nicht unbeobachtet geblieben, dafür hielten sich zu viele Menschen im Garten auf.«

»Du auch?«

»Ja. Wenn Folko mich als Augenzeuge brauchen sollte, ich stehe gern zur Verfügung.«

»Danke, Liesel, du hast uns wirklich sehr geholfen. Jetzt kann Folko rücksichtslos gegen die aufdringliche Person vorgehen. Aber zuerst müssen wir wissen, was sie Armgard vorgelogen hat. Vielleicht können wir über Frederik etwas davon erfahren, gehen wir gleich zu ihm, hoffentlich ist er zu Hause.«

Doch, er war es. Sie fanden ihn auf dem lauschigen Plätzchen im Garten unterm Lindenbaum und wurden erfreut begrüßt.

»Kommt ihr mir Gesellschaft leisten, ja? Das ist aber nett. Nehmt bitte Platz, Robert wird eine Erfrischung bringen.«

»Später!« winkte die Gräfin ab. »Wo ist Armgard?«

»Sie ist mit Lottchen in ihrem Flitzer unterwegs.«

»Dann können wir ja in Ruhe miteinander reden. Hör zu, Frederik.«

Es war aber auch des Zuhörens wert, was ihm da so anschaulich und ausführlich geschildert wurde, und was er danach erzählte, ließ wiederum die beiden Damen aufhorchen.

»Na so was«, sagte Erdmuthe kopfschüttelnd.

»Jetzt kann ich Armgard erst so richtig verstehen. Hast etwa auch du daran geglaubt, daß Folko die Person heimlich nachkommen ließ?«

»Eigentlich ja«, gab er verlegen zu. »Aber wiederum war alles so widersinnig, das paßte alles so gar nicht zu Folkos vornehmen Charakter, und einige abfällige Bemerkungen Frökes über die Kaunz gaben mir dann die Gewißheit, daß wir Folko zu Unrecht verdächtigten. Aber um Armgard das klarzumachen, dafür fehlten die Beweise. Doch nun ich sie habe, werde ich mit ihr sprechen und hoffentlich auch erfahren, was die Kaunz ihr alles vorgelogen hat.«

Er erfuhr es und somit auch die vom Schloß, die Frökes und der Onkel Hans. Wie ein Bollwerk stand man hinter dem jungen Paar, bereit, die Intrigantin zu massakrieren.

Aber das tat nur einer, und zwar mit Worten.

Und dabei strahlten deren Augen nur so vor Freude, als sie ihre Wohnungstür öffnete und den Heißersehnten stehen sah.

»O Liebster, bist du doch gekommen.«

»Moment mal«, schob er sie in den kleinen Flur und schloß die Tür, damit die Nachbarn nicht hellhörig wurden. Die Hand, die ihn ins Zimmer ziehen wollte, schob er nachdrücklich von seinem Arm und lehnte sich gegen die Tür. Seine Haltung war unnahbar, die Augen in dem harten Gesicht glitzerten wie Eis.

»Mein Gott, aber Folko, was hast du denn.«

»Das werde ich dir gleich sagen«, klirrte seine Stimme auf. »Und zwar, daß du eine ganz gemeine Intrigantin bist.«

»Wieso, hat die Hollgan gepetzt?« verplapperte sie sich. »Damit, damit habe ich nicht gerechnet.«

»Kann ich mir denken. Du scheinst mit manchem nicht zu rechnen, auch nicht, daß die Ohrfeige, die dir die Baronin Steinitz im Garten eines Hotels gab. Nun, muß ich noch weitersprechen? Das widert mich nämlich an.«

»Das ist nicht wahr, Folko, das ist nicht wahr! Die Person hat gelogen.«

»Die Person ist meine Tante, Frau von Segimer«, schnitt er ihr scharf das Wort ab. »Sie hat die kurze, aber nachdrückliche Auseinandersetzung mit angesehen. Und wenn dir diese seriöse Dame als Zeugin nicht genügt, dann eine Anfrage bei der Baronin Steinitz.«

»Nein!« schrie sie auf.« »Was willst du eigentlich von mir?«

»Abrechnung halten.«

»Das hast du ja schon getan. Du und deine hochnoble Clique, ihr könnt mir gestohlen bleiben.«

»Oh, wie nett«, lächelte er sein bewußtes Lächeln, das sie vor Wut mit den Zähnen knirschen ließ. »Das ist nämlich alles, was ich von dir verlange.«

Die Tür fiel hinter ihm zu, und in der Wohnung der Frau Kaunz gab es Scherben.

*

Der Kuß, den Folko Björn diesmal auf die weichen Lippen Armgards drückte, wurde sogar erwidert. Sie saßen beide im Rosengang, wie es sich für ein Brautpaar gehörte. Rechts und links Rosen in allen Sorten und Farben, da konnte man wirklich sagen: Tausend rote Rosen blühen in dem Land der Liebe.

Onkel Hans sang ihnen das wohl vor, aber da er dabei den Text verdrehte, blühten tausend Lieben im Land der Rosen, von der Melodie ganz zu schweigen.

Wie konnte man da herzlich lachen und hatte dazu auch allen Grund. War doch alles so gekommen, wie man gehofft hatte.

Der Graf bekam eine Frau, die so ganz seinem Ideal entsprach, seine Mutter eine Schwiegertochter, die so ganz nach ihrem Herzen war, der Großvater war glücklich, sein geliebtes Enkelkind so ganz in der Nähe behalten zu dürfen, und die andern freuten sich, daß alles so schön in der Familie blieb, wie Lottchen sich ausdrückte.

Und das viele Geld, das Clarissa ihrem zweiten Mann vererbt hatte. Auch der wertvolle Schmuck und die beiden Zimmer, in dem jedes Stück eine Kostbarkeit war. Unter Verwendung der Sachen schuf man für die junge Herrin ein neues Nestchen, das auch dem verwöhntesten Geschmack genügen mußte.

Die Verlobung wurde nicht eigentlich gefeiert, nur Familie Gylt stellte sich übers Wochenende ein. Für sie war es einfach eine Selbstverständlichkeit, daß dieses Paar zusammenkam.

»Eine andere Frau hätte ich hinausgegrault«, prahlte Christine, als man gemütlich beisammensaß, und Lutz, der natürlich auch zugegen war, fragte interessiert:

»Etwa als Ahnfrau?«

»Ach wo, Mäuse hätte ich ihr ins Bett gesetzt…«

»Und ich Frösche«, warf Jo eifrig ein. »Und was hättest du getan, Lutz?«

»Ich hätte ihre Malutensilien versteckt.«

»Na, ihr seid ja gute Herzchen«, lachte Lottchen gleich den andern. »Und wenn die junge Frau euch dann an die frische Luft gesetzt hätte?«

»Dann hätte uns Tante Erdmuthe wieder reingeholt, allein schon, um die unerwünschte Schwiegertochter zu ärgern.«

»Na, Folko, da sei man froh, daß du hier eine hineinsetzt, die allen genehm ist«, sagte der Kapitän schmunzelnd. »Sonst hätte es die schönste Palastrevolution gegeben.«

Anfang Oktober wurde die Hochzeit mit allem Glanz gefeiert. Sie war für die Umgegend ein Ereignis, und so fanden sich denn zahlreiche Neugierige ein.

Nach der standesamtlichen Trauung, bei der Jonathan von der Gylt und Kapitän Claas Fröke als Trauzeugen fungierten, nahm man im vertrauten Kreis ein exquisites Frühstück ein und zog sich dann zur kurzen Ruhepause zurück. Der Hochzeiter, der es sich in seinem Zimmer ein wenig bequem gemacht hatte und geruhsam die erste Pfeife an diesem Tag rauchte, forderte nicht gerade freundlich zum Eintritt auf, als es klopfte. Doch um so freundlicher begrüßte er den eintretenden Frederik von der Gylt, der in seinem schwarzen Rock sehr feierlich wirkte.

»Ach du bist es, geliebter Schwiegergroßpapa, denn man immer rein in die gute Stube.«

»Bleib sitzen, Junge, ich geselle mich zu dir und rauche in Ruhe eine Zigarre.«

Als er bequem saß und das gute Kraut brannte, zog er aus der Innentasche seines feierlichen Rockes ein Kuvert und reichte es dem Grafen.

»Was da drin steckt, ist mein Hochzeitsgeschenk für dich.«

»Mein Gott, Frederik, aber das geht doch nicht«, sah der Beschenkte fast entsetzt auf die hohe Ziffer, die da auf einem so harmlos scheinenden Blatt vermerkt war. »Du kannst doch nicht so viel Geld weggeben und wenn, käme es doch eher deiner Enkeltochter zu.«

»Beruhige dich, mein Junge, ich habe redlich zwischen euch geteilt, nämlich die Summe, die Clarissa mir hinterließ. Und da sie ja auch einmal eine Björn gewesen ist, darf der letzte Björn nicht übergangen werden. Also hättest du auf jeden Fall das Geld von mir bekommen, auch wenn Armgard nicht deine Frau geworden wäre, das ist nichts weiter als fair.«

»Na, ich danke, von wegen fair, nobel wäre die richtigere Bezeichnung.«

»Nenne es, wie du willst, aber stecke den Zettel weg und sei friedlich. Hast genug geschuftet, um Schloß Dünen überhaupt halten zu können, betrachte das da als Frucht deiner Arbeit.«

»Hast du aber auch wirklich für dich…«

»Ach, du meinst, ob ich für mich genug zurückbehalten habe? Laß man, es reicht für alle, für Armgard, für dich, für mich und auch noch für ein Dutzend Urgroßenkel.«

»Gott soll mich bewahren!« hob Folko lachend die Hände. »Das wäre dann ja schon Dutzendware.«

So wurde denn das lachend überbrückt, von dem es heißt: Geben ist seliger als nehmen, aber nehmen bringt mehr ein.

Armgard hätte später nie so richtig sagen können, wie ihr Hochzeitstag in allen Einzelheiten verlaufen war. Daß sie eine bezaubernde Braut war, hörte sie an allen Ecken und Enden, und daß der Bräutigam wie die personifizierte Vornehmheit wirkte, sah sie selbst.

Die Segnung des greisen Pfarrers am Altar beeindruckte sie sehr. Demütig neigte sie den Kopf, den die Krone der Grafen Björn schmückte, denn sie gehörte ja nun auch zu dem alten erlauchten Geschlecht. Ein Dankgebet zu Gott stieg auf und die Bitte um Gnade und Huld für die Zukunft.

Dann kam die Gratulationscour. Sie wurde von Menschen umarmt und geküßt, von denen sie bisher keine Ahnung hatte. Es war ja aber auch alles geladen, was irgendwie zu den Björns gehörte. Man wollte damit die Ehre des Namens wiederherstellen, die ein Björn befleckt hatte. Die erlauchten Namen Björn, der von Hollgan, der von der Gylt, das gab einen guten Klang.

Die illustre Gesellschaft an der prächtig geschmückten Hochzeitstafel, das Umkleiden zur Hochzeitsreise, der Abschied von den Lieben, das erlebte Armgard alles wie im Traum. Und als sie im Auto saß und ein Arm sie zärtlich umfing, da begann für sie der Traum der Liebe, aus dem es ja auch einmal ein Erwachen geben würde, aber hoffentlich ein glückliches und hoffnungsfrohes.

Als der Wagen langsam die Zufahrtsstraße entlang fuhr, standen auf der See die Boote vom Segelklub in Reih und Glied, herrlich geschmückt und bunt illuminiert. Hochrufe wurden laut, Glückwünsche für das junge Paar und dann spielten Handharmonikas die alte liebe Weise, deren Schlußworte ein glückseliges Menschenkind mitsprach wie ein Gebet:

»Wo die Meereswellen rauschen, mein Herz vor Anker ging.«

Leni Behrendt Staffel 2 – Liebesroman

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