Читать книгу Leni Behrendt Staffel 2 – Liebesroman - Leni Behrendt - Страница 9

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Es war im November und das passende Wetter dazu – nämlich eines, wo der Bauer nicht einmal seinen Hund hinausjagt, wie es im Volksmund heißt.

Zwar regnete es nicht Bindfäden vom grauverhangenen Himmel, es nieselte nur; aber gerade dieses haarfeine Nieseln hat es bekanntlich in sich, es dringt auf die Dauer durch den dichtesten Wettermantel.

Also drang es auch durch den des Mannes, der die Endstation der Straßenbahn verließ und raschen Schrittes eine nur mäßig beleuchtete Straße entlangging, möglichst die blanken Pfützen vermeidend, die sich auf dem ausgetretenen Pflaster gebildet hatten. Trotzdem wurden seine Füße naß, die Kleider unter dem Mantel unangenehm feucht.

Nachdem der Mann wohl zehn Minuten gegangen war, hörte nicht nur das Pflaster auf, sondern auch die karge Straßenbeleuchtung. Der Weg, den er rechts einschlug, war sehr dunkel und schlecht gehalten, obwohl zu beiden Seiten Häuser standen.

Am letzten Haus verhielt der Mann den raschen Schritt, öffnete eine Pforte, die im Staketenzaun eingelassen war, überquerte den kurzen Fliesengang und stand nun vor dem Haus, in dem er wohnte.

Durch die Fenster im Parterre schimmerte Licht mit traulichem Schein. Dahinter klang gedämpfte Musik, flatterte Lachen zu dem Mann hin, der mit den fröhlichen Menschen nichts gemein hatte; denn seine Wohnung befand sich in der ersten Etage, und hinter seinen Fenstern war es dunkel. Ein Zeichen, daß er nicht erwartet wurde, der da durchnäßt, müde und hungrig von einer Reise zurückkehrte.

Zwar hatte er seine Ankunft nicht genau auf die Stunde angegeben, und dennoch...

Mit einem Gefühl der Enttäuschung schloß er die Haustür auf, knipste Licht an, durchquerte den kleinen Flur und stieg langsam die Treppe hinauf.

Rosalia Skörsen konnte man auf dem Emailleschild lesen, das an der Etagentür angebracht war. Darunter hielten zwei Reißstifte eine Visitenkarte mit dem Namen: Doktor Ralf Skörsen.

Der Mann schloß nun auch diese Tür auf und stand jetzt in einem Korridor, in dem gerade nur eine Flurgarderobe Platz fand, an die er sorglich den nassen Mantel und den Hut hängte, bevor er nachsah, ob Mutter und Schwester zu dieser frühen Abendstunde etwa schon zu Bett gegangen wären. Doch das Schlafzimmer war leer.

Ein resignierter Zug grub sich um den hartgeschnittenen Mund des jungen Arztes, als er in die Küche ging, die kalt und unaufgeräumt war. Wahrscheinlich waren die beiden gleich nach Mittag fortgegangen, da Geschirr und Kochtöpfe ungesäubert herumstanden.

Aber dafür hatte der nachsichtige Sohn und Bruder eine Entschuldigung. Nun ja, wenn man ohne Hilfe den Haushalt versehen mußte, konnte so etwas schon mal vorkommen.

Also setzte er den Wasserkessel auf den elektrischen Herd und suchte sich etwas zu essen. Was er fand, war Brot, Butter, Wurst. Und dabei lechzte der hungrige und durchfrorene Mann aber nach einem warmen Essen und einem heißen Trunk, den er sich allerdings mit einer Tasse Tee verschaffen konnte. Er trank sie während des Abwaschens, aß einige belegte Schnitten dazu und verließ die Küche erst, als sie wieder sauber war.

Im Wohnzimmer, wo der Ofen nicht mehr brannte, war es auch nicht gerade mollig, aber immerhin wärmer als in der Küche.

Ohne Licht zu machen, ließ er sich in einen Sessel sinken, steckte seine zweitletzte Zigarette in Brand und dachte an die Vergangenheit.

Die war sorglos gewesen, bis der Vater, der die Stellung eines Regierungsrats einnahm, eine Frau kennenlernte, die den alternden Mann von seinem bisher korrekten Lebensweg abirren ließ. Und da solche Frauen ja immer viel Geld kosten, ließ der blindverliebte Narr sich zu etwas hinreißen, was er im normalen Zustand nie getan hätte:

Er begann zu spielen.

Und wie das bei einem so gefährlichen Wagnis wohl öfter vorkommt, war ihm zuerst Fortuna hold, bis – ja, bis sie sich hohnlachend von ihm abwandte. Er verlor an einem Abend eine Summe, die ihm nicht zur Verfügung stand.

Nun wandte sich noch jemand von ihm ab: Die Frau, die ihn ruinierte. Als nichts mehr von dem närrischen Liebhaber zu holen war, ließ sie ihn kaltlächelnd im Stich und ging mit einem anderen auf und davon.

Und der verlassene Mann? Er konnte mit Schiller sagen: Ich habe ein gewagtes Spiel gespielt. Aber da die meisten Menschen die Schuld nie bei sich, sondern bei anderen zu suchen pflegen, so geschah es auch hier.

Schuld hatte seine Frau, jawohl! Wäre sie mit ihm in Urlaub gefahren, so hätte er zu einer Liebelei gar keine Gelegenheit gehabt!

Aber nein, sie wollte, wie gewöhnlich in den Ferien, an die See, die er so gar nicht vertrug. Jedesmal holte er sich in der rauhen Luft eine Erkältung, die er dann nur schwer wieder loswurde.

Außerdem wollte er auch einmal in ein mondänes Bad.

Als seine Frau ihm klarmachte, daß ihr zurückgelegtes Urlaubsgeld für Extravaganzen nicht ausreichte, erklärte er kurz:

»Anka geben wir zu Bekannten aufs Land, wo sie den Ferienaufenthalt umsonst hat, und Ralf braucht uns nicht ewig am Rock zu hängen. Der soll zusehen, daß er uns nach dem teuren Studium endlich von der Tasche kommt, indem er sich um einen Posten als Assistenzarzt bemüht.«

»Du bist ja der reinste Rabenvater!« geriet die Gattin nun auch in Rage.

Es fielen harte, böse Worte, da sie beide hitzige, rechthaberische Naturen waren. Also gab keiner nach, und man fuhr getrennt in Urlaub: die Mutter mit ihren Kindern an die See, der Vater in ein mondänes Bad.

Und damit begann ein Elend, das der Mann zwar allein verursachte, dessen Ursache er jedoch seiner Frau zuschob. Rücksichtslos eröffnete er ihr, als man wieder zu Hause war, was sich ereignet hatte. Der Krach war da, eine bis dahin ganz gute Ehe bekam einen gehörigen Knacks, aber die Spielschulden blieben.

In seiner Bedrängnis ging der Mann in Gedanken sämtliche Freunde und Bekannten durch – bis ihm ein Studienfreund einfiel, der ihm als Studenten in seiner Gutmütigkeit so manches liebe Mal aus der Patsche geholfen hatte. Vielleicht würde er es jetzt wieder tun.

Und er tat es. Allerdings nicht um Skörsens willen – mit dem hatte dieser Mann von hohen Ehrbegriffen kein Erbarmen, sondern weil ihn die Familie dauerte, die dieser skrupellose Spieler und Ehebrecher mit sich in Schande und Not ziehen würde, falls er die Spielschulden nicht zahlte.

Also bekam er das Geld, aber erst, nachdem es notariell gesichert war; denn sein Gläubiger, Privatdozent Doktor Ingwart, war ein vorsichtiger Mensch.

Skörsen mußte sich verpflichten, monatlich die Schuld, einschließlich Zinsen, mit einer Summe abzudecken, die die Hälfte seines Gehalts ausmachte. Nach seinem Ableben hatte die Witwe die Zahlungen fortzusetzen, nach deren Ableben wiederum ihre Kinder; und so fort, bis die Schuld abgedeckt war; was immerhin zehn Jahre dauern würde. Sollte jedoch Ingwart inzwischen sterben, so erhielten seine Erben die Raten.

Nun, auf das alles ging der bedrängte Mann ohne weiteres ein. Was er damit seiner Familie antat, war ihm gleichgültig. Hauptsache, er konnte die Spielschulden bezahlen und somit in den Augen seiner Mitmenschen der »ehrenwerte« Bürger bleiben – was ihm tatsächlich auch gelang, selbst über seinen Tod hinaus, der schon einige Monate danach erfolgte.

Herzschlag hieß es allgemein. Doch sein Sohn, der ja Arzt war, wußte es besser. Er wußte, der Vater hatte eine zu starke Dosis von Schlaftabletten genommen, die ihm der Arzt verschrieb. Diesem jedoch lag gar nichts daran, das Geschehnis an die große Glocke zu hängen.

Auch Doktor Skörsen, der an einem auswärtigen Krankenhaus angestellt war, lag nichts daran, und so fiel denn kein Schatten auf das Andenken des Toten. Er, der sich so feige aus dem Leben stahl, weil er die jetzige »Misere« nicht länger ertragen konnte, bekam ein ehrenwertes Begräbnis – und manch einer beneidete die Witwe um die gute Pension. Daß sie jedoch die Hälfte davon abgeben mußte, um die Schuld des Gatten noch über das Grab hinaus zu sühnen, das ahnte man allerdings nicht.

Als die Skörsens dann in die Stadt zogen, wo der junge Arzt seinen Posten hatte, verlor man die angesehene Familie aus den Augen, was dieser nur recht sein konnte.

*

Soweit war der Grübler in seinen unerquicklichen Gedanken gekommen, als die Tür geöffnet wurde.

Das Licht wurde angeknipst, und die Mutter riß überrascht die Augen auf.

»Junge, du bist schon hier? Ich habe dich frühestens morgen erwartet, sonst hätte ich mich gewiß nicht aus dem Hause gerührt. Aber warum sitzt du im Dunkeln?«

»Weil das die Augen schont«, gab er scherzend zurück, während er die Mutter mit einem Handkuß begrüßte und die Wange der Schwester tätschelte.

»Einen netten Bummel gemacht, Ankalein?«

»Er war nicht nur nett, sondern zauberhaft«, schwärmte das Mädchen. »Zuerst waren wir im Café, anschließend im Kino. Da spielte ein Mann, einfach gottvoll! Nicht wahr, Mama?«

»Na ja«, dämpfte diese den Enthusiasmus der Siebzehnjährigen, weil sie augenblicklich dafür kein Interesse hatte. Denn sie brannte förmlich vor Neugierde, zu erfahren, was den Sohn so lange bei Frau Ingwart festgehalten hatte.

Aber soweit konnte sie sich denn doch beherrschen, ihn nicht gleich mit Fragen zu überfallen. Also sondierte sie erst einmal vorsichtig.

»Du – bliebst lange fort, mein Sohn. Gab es etwas Besonderes zu regeln?«

»Zuerst eine Hochzeit – und dann ein Begräbnis.«

»Junge, redest du etwa irre?«

»Keineswegs, mein Verstand ist klar wie eh und je.«

»Dann drück dich gefälligst deutlicher aus.«

»Ich bin ja gerade dabei. Du weißt, daß Frau Ingwart gleich nach dem Tode des Gatten vom Schlag gerührt wurde?«

»Allerdings. Aber was hat das mit dir zu tun? Warum rief sie dich überhaupt außer der Zeit zu sich? Deine Besuche viermal im Jahr müßten doch vollauf genügen. Was wollte sie also jetzt von dir?«

»Sie rief mich zu sich, weil sie ihr Ende nahen fühlte. Da sie ihre Tochter nicht mutterseelenallein zurücklassen wollte, bat sie mich, sich ihrer anzunehmen.«

»Mein Gott, Ralf, du kannst dich als junger Mann doch unmöglich mit einem Mädchen belasten!« fiel die Mutter ihm erregt ins Wort, und da blitzte ein Lachen in seinen Augen auf.

»Siehst du, Mama, der Ansicht war ich auch. Also habe ich der Einfachheit halber dieses Mädchen geheiratet.«

Nach diesen schwerwiegenden Worten war es zuerst einmal beklemmend still.

Entsetzt starrte die Mutter ihren Sohn an, als zweifelte sie an seinem Verstand. Mühsam rang sie nach Fassung, bis es ihr gelang, ihre Stimme soweit zu meistern, daß sie überhaupt sprechen konnte.

»Ralf, warst du überhaupt zurechnungsfähig, als du diesen übereilten Schritt tatest? Oder hat dich die Frau dazu gezwungen – angesichts unserer Schulden?«

»Die wir bisher vertragsmäßig abzahlten«, unterbrach er die Erregte gelassen. »Also kann von Zwang nicht die Rede sein – in keiner Beziehung. Was ich tat, geschah aus freiem Willen, das merke dir nur für alle Zeit, Mama.«

»Damit willst du doch nicht sagen, daß du deine Frau aus Liebe geheiratet hast?«

»Genau das.«

»Warum hast du nie darüber gesprochen? Ich meine, so eine Liebe kommt doch nicht von heute auf morgen.«

»Das wohl kaum. Aber ich wurde mir dieses Gefühls erst recht bewußt, als ich mir vorstellte, daß dieses junge und dazu noch schöne Menschenkind nach der Mutter Tod schutzlos allen Fährnissen des Lebens ausgesetzt sein würde. Es davor zu behüten und zu bewahren, dieser Wunsch stieg fordernd in mir auf. Und wie könnte ich das wohl besser und einfacher tun als bei meiner Frau?«

»Das schon«, räumte die Mutter widerwillig ein. »Aber mußte diese Heirat denn so überstürzt werden?«

»Ja. Denn die Tage Frau Ingwarts waren gezählt. Sie sollte mit dem Bewußtsein dahingehen, ihr Kind, das nach dem Tod des geliebten Mannes ihr einziges Glück war, wohlbehütet zurückzulassen.«

»Wann habt ihr geheiratet?«

»Vor einer Woche.«

»Aber das ist doch gar nicht möglich! Du warst doch nur zwölf Tage vom Hause fort, und schon die Frist des Aufgebots allein...«

»Man hat eine Ausnahme gemacht«, warf er kurz ein. »Jedenfalls sind Lenore und ich vorschriftsmäßig getraut, standesamtlich wie auch kirchlich.«

»Nur deine Mutter wußte nichts davon«, bemerkte sie spitz.

Er zog ihre Hand an die Lippen und sah sie bittend an.

»Mama, du bist doch eine vernünftige Frau, nicht wahr? Also wirst du auch das verstehen, was gewiß nicht aus böser Absicht geschah, sondern vielmehr der Not gehorchend. Frau Ingwart befand sich nämlich in einem Zustand, wo jede Unruhe ihr Ende beschleunigt hätte. Es war sowieso bewundernswert, daß sie die Kraft aufbrachte, der kirchlichen Trauung überhaupt beiwohnen zu

können. Zwei Tage später setzte dann ein Herzschlag ihrem Leben ein jähes Ende.«

»Mein Gott, wie gräßlich!« schauerte Anka zusammen, die dem allen mit atemloser Spannung gelauscht hatte. »So heiraten – nein, das könnte ich nicht.«

»Davor möge dich auch Gott bewahren, mein Kleines«, sprach Ralf mit einem warmen Blick auf die um zwölf Jahre jüngere Schwester. »Auch für Lenore hoffte ich inbrünstig, daß ihre Mutter, an der sie mit ganzer Kindesliebe hing, wenigstens noch einige Wochen nach der so traurigen Hochzeit gelebt hätte. Aber was können wir gegen das Schicksal tun? Es springt mit uns Menschen um nach Lust und Laune. Nun, Lenore wird zunächst einmal bei uns wohnen. Oder bist du damit nicht einverstanden, Mama?«

Nein, das war sie ganz und gar nicht. Doch was blieb ihr anderes übrig, als so zu tun, als ob das der Fall wäre? Denn erstens gehörte die Wohnung dem Sohn, weil er die Miete zahlte, zweitens trug er noch einen Teil zum gemeinsamen Lebensunterhalt bei, was beides aufhören würde, wenn er seinen eigenen Hausstand gründete.

Doch halt, seine Frau bekam ja jetzt laut Vertrag die monatlichen Raten. Wenn sie ihnen die erlassen würde? Man mußte mal vorsichtig sondieren, wie Ralf darüber dachte.

Doch bevor sie es tun konnte, kam Anka ihr bereits zuvor, die allerdings die Worte nicht wog, sondern ungeniert herausplatzte:

»Jetzt sind wir wenigstens unsere Schulden los! Somit hat deine Heirat schon etwas für sich.«

»Halt mal!« unterbrach der Bruder sie scharf. »Deine Annahme ist falsch. Wie kommst du überhaupt darauf?«

»Och, nur so.« Sie schob maulend die Unterlippe vor. »Weil es doch unter Eheleuten heißt: Was mein ist, ist auch dein.«

»Das stimmt, soweit es sich auf die Eheleute selbst bezieht, aber nicht mehr für deren Anhang.«

»Aber Ralf, wie kannst du unser Dummchen nur so ernstnehmen!« fiel die Mutter hastig ein, um dieses verfängliche Gespräch im Keim zu et sticken. »So eine Siebzehnjährige spricht doch nur gedankenlos nach, was sie hört oder liest. Laß uns lieber beraten, wie wir uns wohl am besten einrichten. Wir haben doch nur die drei Zimmer.«

»Und eins davon gehört mir. Darin wird Lenore mit mir zusammen wohnen.«

»Wenn ihr euch damit begnügen wollt, mir soll es recht sein. Wenn du mit der jungen Frau zusammen in deinem Zimmer wohnen willst, wirst du wohl noch verschiedene Sachen anschaffen müssen.«

»Nicht erforderlich. Lenore besitzt von ihren Eltern Wohn- und Schlafzimmer mit allem Drum und Dran.«

»Gott, wie altmodisch!« rümpfte Anka das Näschen. »Ich würde mich als junge Frau bestimmt nicht mit dem alten Kram begnügen.«

»Mein liebes Kind, dieser Kram, wie du sehr geschmacklos zu sagen beliebst, sind Stilmöbel von hohem Wert«, versetzte der Bruder gelassen. »Du müßtest schon einen wohlhabenden Mann heiraten, damit er dir so wertvolle Stücke kaufen könnte. Ich bin ordentlich stolz auf die Zimmer die Lenore auf meinen Wunsch behielt, während sie die übrige Einrichtung verkaufte. Bis wir uns eine eigene Wohnung leisten können, haben wir das, was in mein Zimmer nicht hineingeht, einem Spediteur zur Aufbewahrung übergeben.«

»Wann wirst du dir die Wohnung denn leisten können?« warf die Mutter lauernd ein.

»Wahrscheinlich erst, wenn ich Oberarzt geworden bin. – Und nun wollen wir schlafen gehen, mein Bettzipfel winkt ganz gehörig. Gute Nacht, meine Lieben, schlaft wohl. Wenn die Eröffnung über meine so rasch geschlossene Ehe euch auch nicht gefallen hat – um so mehr wird euch Lenore gefallen, das weiß ich bestimmt.«

*

Am nächsten Tag trafen die von Ralf erwarteten Möbel ein und konnten aufgestellt werden, nachdem die Möbelräumer die Sachen, die bisher in Ralfs Zimmer gestanden hatten, auf den Boden gebracht hatten. Mit einem guten Trinkgeld zogen sie ab, was Frau Rosalia mit einem süßsauren Lächeln zur Kenntnis nahm, während Anka ungeniert herausplatzte:

»Ralf, kannst du aber nobel sein. Wenn doch auch ich einmal etwas davon zu spüren bekäme! Doch da hältst du dein Portemonnaie verschlossen, wie die Muschel ihre Perle. Aber weißt du, die Möbel sind doch ganz nett.«

»Beruhigt mich ungemein«, kam es trocken zurück. »Nämlich, daß der ›Kram‹ Gnade vor deinen Augen findet.«

Von der Frau Mama wurden die Sachen von vornherein verächtlich abgetan, was bei ihrer Voreingenommenheit gar kein Wunder war. Was konnte schließlich von diesen Leuten Gutes kommen? Sie hütete sich jedoch, dem Sohn gegenüber derartiges lautwerden zu lassen, enthielt sich überhaupt jeder Kritik, während Anka diese ohne jede Hemmung kundtat.

Jedes Stück, das der Bruder den Koffern und Kisten entnahm, wurde von ihr bewundert oder kritisiert. Doch als das Zimmer komplett eingerichtet war, mußte sie zugeben, daß ihr eigenes dagegen geradezu schäbig wirkte.

Und was die Tochter aussprach, dachte die Mutter. Nun kam zu der Abneigung, die sie ohnehin für die Schwiegertochter hegte, noch der Neid – eine Wurzel vielen Übels.

Hätte Ralf seine Mutter besser gekannt, so hätte er seine junge, unerfahrene Frau gewiß nicht hierher gebracht. Aber leider kannte er sie nur so, wie sie sich gab, nicht so, wie sie wirklich war.

Nachdem alles säuberlich verstaut war, nahm der junge Arzt in einem Sessel Platz und steckte eine Zigarette in Brand. Dabei ließ er die Blicke durch das Zimmer schweifen, das einen unbedingt vornehmen Eindruck machte. Alles, was sich darin befand, war wertvoll und gediegen.

Der große dicke Teppich, der so lange im Wohnzimmer der Ingwarts gelegen, hatte jetzt seinen Platz in dem kombinierten Wohn- und Schlafgemach, ihm Wärme und Traulichkeit verleihend. Auf den Betten glänzten die Daunendecken in ihrem stickereibesetzten Überschlag. Die selbe Stickerei wiesen auch die Kissen auf, denen man die Daunenfüllung geradezu ansah. Die eine Querwand nahm der wuchtige Garderobenschrank fast völlig ein. Die dazu passende Kommode, die Frisiertoilette, der Hocker davon und zwei Stühle machten die Schlafzimmereinrichtung komplett.

Die anderen Möbelstücke waren dem Wohnzimmer entnommen: zwei weiche, bequeme Sessel, die in einer Ecke standen, dazwischen der reichgeschnitzte Klubtisch. Zwischen den beiden Fenstern stand schräggestellt der Schreibtisch. Dann gab es noch einen Schrank, oben mit Glas, unten mit Schüben. Das alles zusammen bot einen höchst erfreulichen Anblick.

Nur die billigen Gardinen wollten zu dieser Möblierung durchaus nicht passen, ebenso die Lampe nicht. Aber dieses beides stammte eben aus der bescheidenen Einrichtung des ebenso bescheidenen Mannes, der es noch gar nicht fassen konnte, daß er dieses wunderbare Zimmer nun bewohnen sollte, zusammen mit der Frau, die ihm so herrliche Dinge in die Ehe brachte. Und wenn er noch alles das dazu rechnete, was bei einem Spediteur untergestellt war, so hatte er eigentlich eine ganz gute Partie gemacht.

Das sagte er auch der Mutter, als er später deren Wohnzimmer betrat, wohin sie sich mit Anka zurückgezogen hatte. Und obwohl sie anderer Ansicht war, enthielt sie sich jeder Äußerung, während Anka ihr vorlautes Zünglein wieder einmal nicht zügeln konnte.

»Bist du bescheiden!« rümpfte sie das Stupsnäschen. »Du hättest eine ganz andere Partie machen können.«

»Anka!« griff die Mutter mahnend ein. »Was redest du nur wieder für einen Unsinn Übrigens hast du uns noch gar nicht verraten, wo deine Frau sich zur Zeit befindet, mein lieber Junge. Etwa noch in der alten Wohnung?«

»Nein, Mama, die ist seit vier Tagen geräumt. Bevor ich herkam, brachte ich Lenore in einem Fremdenheim unter. Ich wollte sie erst abholen, wenn das Zimmer hergerichtet ist, damit sie sich darin gleich zu Hause fühlt. Das sind wir ihr ja wohl schuldig, deren Vater so viel für uns tat.«

»Ja, gewiß«, gab Frau Rosalia gegen ihre Überzeugung zu. Was hatte Ingwart schon viel getan? Er verlieh nach raffinierten Sicherungen Geld, das ihm an Zinsen mehr einbrachte, als die Bank zahlte. Aber Ralf, dieser Narr, sprach großartig von Dankbarkeit, aus der heraus wahrscheinlich seine unsinnige Ehe zustande gekommen war.

Aber nichts davon kam über die Lippen der Frau, der noch immer die Angst im Nacken saß, daß der Sohn seine Hand von ihr abziehen könnte. Daher überlegte sie erst jedes Wort, bevor sie es aussprach, wenigstens in dieser heiklen Angelegenheit.

»Wann kommt sie her?« fragte sie jetzt lauernd.

»Morgen. Entschuldige bitte, daß ich so rasch aufbreche, aber ich muß mich beeilen, damit ich den Zug noch erreiche.«

»Du holst sie ab?«

»Natürlich.«

Nachdem er gegangen war, konnte die erboste Mutter nun endlich der Tochter gegenüber ihrem Ärger Luft machen.

»So viel Aufhebens ist dieses dumme Ding doch nun wirklich nicht wert. Als ob sie nicht ohne ihn herfinden könnte. Diese unnötige Reise ist doch nichts weiter als Geldvergeudung.«

In der Art redete sie weiter, unterstützt von Anka, die mit der Mutter durchaus einer Meinung war.

Und hätte Ralf das alles mitangehört.

Aber leider hörte er es nicht, und so nahm denn das Schicksal seinen Lauf.

*

Nach zwei Stunden Fahrt hatte Doktor Skörsen sein Ziel erreicht und wurde auf dem Bahnsteig von seiner jungen Frau empfangen, die sich an seinen Arm hängte und die Wange an seinem Ärmel rieb gleich einem zärtlichen Kätzchen.

»Wie bin ich froh, daß du da bist!« bekannte sie leise, und neckend kam die Frage:

»Hast du etwa angenommen, daß ich dich sitzenlassen könnte – nach einwöchiger Ehe?«

»Ist alles schon dagewesen.«

»Aber nicht bei mir, du Dummes«, lachte er, ihren Arm an sich drückend und mit ihr dem Ausgang des Bahnhofs zustrebend.

Ein schönes Paar, wie es unser Herrgott nicht oft zusammenbringt. Er hochgewachsen, blondhaarig, blauäugig, mit rassigem Kopf und scharfgeschnittenem Gesicht; sie mittelgroß, grazil, mit goldbraunem Gelock und feinem Gesicht, aus dem die blauen Augen wie zwei Sonnen herausstrahlten.

Am nächsten Vormittag fuhr das junge Paar der Stadt zu, die Lenore fortan Heimat sein sollte. Und obwohl sie den Gatten neben sich hatte, war ihr bitter weh ums Herz. Sie mußte sich zusammenreißen, um den Tränen nicht freien Lauf zu lassen, die ihr die Kehle eng machten.

Das Gehetze der Menschen, überhaupt das ganze nervöse Treiben, das nun einmal auf den Bahnhöfen herrscht, wirkte beängstigend auf sie. Kein Wunder, da sie drei Jahre lang kaum aus den vier Wänden des Krankenzimmers herausgekommen war.

Sie schrak aus ihren Gedanken auf, als jetzt die Abteiltüren zugeworfen wurden. Gleich darauf setzte sich der Zug in Bewegung.

Und nun kamen Lenore doch die Tränen.

Denn es war ja ihre Heimatstadt, die sie verließ, um in eine fremde Umgebung zu gehen. Die Stadt, wo sie als fröhliches Kind gelebt, als übermütiger Backfisch, als junges Mädchen, wo sie glücklich gewesen war, selbst dann noch, als sie als Krankenpflegerin auf alle Freuden der Jugend verzichten mußte.

Aber die Mutter war doch dagewesen, mit ihrer Liebe, ihrem gütigen Verständnis.

Und jetzt? Nichts mehr war ihr davon geblieben als das Grab neben dem des Vaters. Selbst von diesen Gräbern mußte sie fort, die das Liebste bargen, was sie je besessen.

Ein wehes Schluchzen klang auf, und erschrocken sah Lenore zu dem Mann hin, der ihr gegenüber saß. Wahrscheinlich hatte er nichts gehört, sonst hätte er doch wenigstens von der Zeitung aufgeschaut, in die er so vertieft war, daß er nichts anderes sah.

Ein bitteres Gefühl stieg in Lenore auf, als sie sich fester in die Ecke drückte. Dabei stieß sie mit der Fußspitze an das Bein des Gatten, so daß er erschrocken hochfuhr.

»Verzeihung, Ralf, das war ungeschickt von mir«, sagte sie leise unter seinem forschenden Blick.

»Du weinst, Lenore?«

»Nur so ein bißchen. Entschuldige, bitte.«

»Vor allen Dingen entschuldige du, daß ich mich so gar nicht um dich kümmerte. Aber der Artikel im Fachblatt, er ist so interessant…«

»Dann lies nur ruhig weiter«, unterbrach sie ihn freundlich, und er hätte es vielleicht auch getan, wenn der Zug nicht eben auf einer Station gehalten hätte.

Gleich darauf betrat ein Herr das Abteil, welches das junge Paar bisher allein gehabt hatte. Der Hinzugekommene machte den Eindruck, als ob er sich selbst nicht leiden könnte.

»Machen Sie das Fenster auf!« gebot er barsch, während er sich bemühte, den Koffer ins Netz zu heben, wobei er mit ganz besonderem Ungeschick vorging. »Es ist ja hier wirklich eine Luft zum Ersticken.«

»Bedaure sehr«, entgegnete Ralf kühl. »Sie sehen doch, wie die Tropfen gegen die Scheiben schlagen.«

»Was ist schon dabei?«

»Daß es bei geöffnetem Fenster hereinregnen würde... Ja, sind Sie denn ganz von Gott verlassen?«

Mit diesem empörten Ruf sprang Ralf auf und griff nach dem schweren Koffer, der unweigerlich auf Lenore gefallen wäre, hätte der Gatte nicht so schnell gehandelt.

Anstatt sich nun zu entschuldigen, knurrte der Ungeschickte wie ein böser Kettenhund. Bedankte sich auch nicht, als der Arzt den Koffer ins Netz hob, sondern drückte sich in die dritte Ecke des Abteils und spielte mit sich selbst böse.

Doch nur Sekunden war ihm das Spezialvergnügen gegönnt. Es kam nämlich eine junge Frau dazu. Auf dem einen Arm trug sie ein Baby, das aus Leibeskräften schrie, der andere Arm schleppte eine vollgestopfte Tasche, aus der es überquoll.

»Was wollen Sie denn mit dem Schreihals hier?!« fuhr der Choleriker sie an, worauf sie ihn zuerst verdutzt ansah und dann etwas schnippisch bemerkte:

»Fahren natürlich, wie Sie ja auch.«

»Aber nicht in diesem Abteil.«

»Warum denn nicht?«

»Weil ich Kindergebrüll nicht vertragen kann.«

»Dann müssen Sie zu Hause bleiben. Denn auch Schreihälse haben das Recht, mit der Bahn zu fahren. – Danke, mein Herr!« Das galt dem Arzt, der ihr die schwere Tasche abnahm. »Bitte, nicht ins Netz tun. Da ist nämlich so allerlei darin, was der Junge braucht. Stellen Sie also das Ding auf den Sitz.«

»Das ist verboten«, belferte der Mann in der Ecke dazwischen. »Der Sitz muß für die Reisenden freibleiben.«

»Wenn noch welche hinzukommen sollten, werde ich mich schon danach richten.«

Sprach’s, hielt Umschau – und ehe Lenore, die sich verschüchtert in ihre Ecke drückte, es sich so recht versah, hatte sie das Kind auf dem Schoß.

»Halten Sie ihn mal, Fräulein«, forderte die Mama kurz und bündig. »Ich muß nach der Flasche suchen.«

Schon wühlte sie in der Tasche herum. Warf alles, was ihr im Wege war, auf den Sitz, bis sie dann endlich von tief unten herauf die Flasche hervorklaubte.

Indes schrie der Junge wie am Spieß. Strampelte dazwischen mit Armen und Beinen, so daß Lenore alle Mühe hatte, ihn zu halten.

»Werfen Sie das Balg doch einfach zum Fenster hinaus!« brüllte der cholerische Herr dazwischen. »Es ist eine Unverschämtheit von dieser Person.«

»Wer ist denn hier eine Person, he?« fuhr die verächtlich Betitelte empört auf, dabei eine Windel – gleich einer Fahne schwenkend. Und wer weiß, ob die Erboste diesen wichtigen Gegenstand dem Angreifer nicht um die Ohren geschlagen hätte, wenn der Arzt nicht eingegriffen hätte.

»Ruhe!« gebot er so scharf, daß selbst der kleine Knabe zu schreien aufhörte und angstvoll den Hals Lenores umklammerte. »Man muß tatsächlich anzweifeln, sich hier unter kultivierten Menschen zu befinden.«

»Ich bin sonst schon einer...«, sagte die junge Mutter.

»Dann benehmen Sie sich auch danach«, schnitt Ralf ihr kurz den Faden der Beredsamkeit ab. »Ignorieren Sie den ungemütlichen Mitreisenden. Kümmern Sie sich lieber um Ihr Kind, das wahrscheinlich vor Hunger schreit.«

»Herrjeh, herrjeh, spielt der sich aber auf!« murrte die Zurechtgewiesene, indem sie den Jungen nahm und ihm die Flasche reichte, aus der er sofort in langen Zügen saugte. »Schade, daß mein Mann nicht hier ist, der würde schon dreinschlagen, er ist nämlich Amateurboxer. Nehmen, Sie sich also nur in acht, Sie – Sie da in der Ecke! Er holt mich nämlich vom Bahnhof ab. – Aha, jetzt hat er Angst!« fuhr sie triumphierend fort. »Ganz käsig sieht er aus.«

»Moment mal!« fiel Ralf hastig ein, indem er aufsprang und zu dem Herrn trat, der mit schmerzverzogenem Gesicht dasaß und die Hand rechtsseitig auf die Magengegend preßte. Der Mund war verkrampft, auf der Stirn perlten Schweißtropfen.

»Ich bin Arzt, mein Herr, und möchte Ihnen helfen. Ist es die Galle?«

»Ja. Bitte eine Spritze!«

»Die habe ich leider nicht bei mir. Ist es denn so arg?«

»Es fängt erst an, aber bald wird’s unerträglich werden, das kenne ich aus Erfahrung. Wenn ich wenigstens Wasser hätte, um eine Tablette nehmen zu können.«

»Das hole ich Ihnen rasch aus dem Speisewagen.«

»Damit kann auch ich aushelfen«, meldete sich die junge Frau, die angesichts des leidenden Mannes ihre Rachegelüste vergessen hatte. »Ich habe nämlich immer auf Reisen eine Flasche Wasser bei mir, für alle Fälle.«

Schon hatte Lenore das Baby wieder auf dem Schoß, das jetzt jedoch friedlich war, weil es satt war und schlief. Flinke Hände kramten in der Tasche und förderten nicht nur eine Flasche Wasser, sondern auch einen Becher zutage.

Indes hatte der Arzt sich von dem Herrn die Tabletten zeigen lassen, die dieser der Rocktasche entnahm.

»Das Mittel ist gut, wenn auch stark. Vom Arzt verordnet?«

»Na, was denn sonst? Ohne Rezept kriegt man die Dinger ja nicht.«

»Ein Glück. Und nun geben Sie mal her, meine kleine Gnädige. Sie sammeln ja direkt feurige Kohlen auf das Haupt Ihres Widersachers.«

»Wenn er Schmerzen hat, muß man doch schon«, lachte sie Ralf an, daß die Zähne nur so blitzten.

Sie war überhaupt eine hübsche Frau – rosig, mollig, blitzsauber. Ein rasches Mundwerk, aber ein gutes Herz.

Nachdem der Leidende die Tablette geschluckt hatte, knurrte er den jungen Mann an:

»Danke. Sie sollten sich um einen so unleidlichen Kerl gar nicht bemühen.«

»Dafür bin ich Arzt«, kam es ruhig zurück. »Haben Sie noch weit zu fahren?«

»Auf der nächsten Station steige ich aus. Ich will dort ins Krankenhaus zur Beobachtung. Da sollen nämlich die Ärzte eine Menge verstehen. Hauptsächlich der eine Arzt, Skörsen heißt er wohl.«

In Ralfs Augen blitzte es überrascht auf, allein er gab sich nicht zu erkennen. Auch nicht, als die junge Frau eifrig sagte:

»Da kann sich der Herr mir anschließen. Ich will nämlich auch ins Kranken haus, wo

dieser Doktor Skörsen arbeitet.«

»Nanu, was wollen Sie denn da?« fragte Ralf verwundert. »Sie schauen doch aus wie das blühende Leben.«

»Ich will ja auch nicht als Patientin ins Krankenhaus, sondern anders. Mein Mann ist nämlich Portier dort. Er heißt Ewald Druschke. Gott, was bin ich froh, daß der alte Portier gestorben ist und Ewald nicht nur seinen Posten, sondern auch seine Wohnung bekommen hat!« machte sie aus ihrem Herzen keine Mördergrube. »Da – hört doch endlich das getrennte Leben auf. Ich da, er dort – das bekamen wir auf die Dauer nun wirklich satt. Ach herrjeh, da fahren wir ja schon in den Bahnhof ein, und hier liegt alles herum wie in Sodom und Gomorrha.«

Schon stopfte sie alles kunterbunt in die Tasche, bis diese seitwärts wie ein Ballon anschwoll und oben heraushängen ließ, was beim besten Willen nicht mehr Platz hatte.

Ihr Kind schien die Aufgeregte vergessen zu haben, und hätte Lenore sie nicht daran erinnert, wäre die Mutter wohl ohne ihr Kind ausgestiegen.

»Richtig, der Junge!« klatschte sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Na, so was! Komm her, mein Süßer, was hast du bloß für eine Rabenmutter! – Da hält der Zug ja schon. Kommen Sie mit, Sie kranker Herr?«

»Gott soll mich bewahren!« hob dieser entsetzt die Hände.

Da wandte sie sich achselzuckend ab, während er sich bemühte, seinen Koffer aus dem Netz zu ziehen.

»Lassen Sie mich das machen«, schob Ralf ihn zur Seite. »Der Koffer ist für Sie doch viel zu schwer. Konnten Sie ihn denn nicht aufgeben?«

»Nein«, kam es verdrießlich zurück. »Es wird so viel gestohlen.«

»Gehen Sie schon voran, ich folge Ihnen mit dem Gepäck.«

»Danke, das trage ich.«

Damit riß er dem Arzt förmlich den Koffer aus der Hand und hastete so schnell davon, als wäre ihm das Angebot des jungen Mannes nicht ganz geheuer.

Ralf wandte sich nun Lenore zu, die dem allem mit gemischten Gefühlen gefolgt war.

»Ich muß hinter dem Mann her, damit er nicht zusammenklappt«, erklärte er hastig. »Muß ihn ins Krankenhaus bringen.«

»Aber du hast doch heute und morgen noch Urlaub«, wagte die Gattin einzuwenden, was ihr einen unwilligen Blick eintrug.

»Wenn ein hilfloser Kranker den Arzt braucht, gibt es für diesen keinen Urlaub, das mußt du dir merken für alle Zeit. Geh in den Wartesaal und warte da auf mich.«

Fort war er, und Lenore kam sich vor wie ein Kind, das die Mutter im Dunkeln allein gelassen hatte.

*

Obwohl das große Gepäck mit den Möbeln zusammen vorausgeschickt worden war, hatte Lenore doch manches an Handgepäck bei sich. So den Koffer, der außer dem Nachtzeug die Wertsachen barg, ferner die Handtasche, den Schirm und eine Decke. Außerdem hatte Ralf in der Eile seinen Koffer mitzunehmen vergessen, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich auch mit dem noch zu beladen.

Die Decke über die Schulter geworfen, die Handtasche unter einen, den Schirm unter den anderen Arm geklemmt, in jeder Hand einen Koffer, so wankte Lenore den D-Zuggang entlang. Sie hatte alle Mühe, nicht die Balance zu verlieren, als sie über das Trittbrett auf den Bahnsteig kletterte.

Doch kaum stand sie unten, als sie hinter sich eine bekannte Stimme hörte:

»Herrjeh, Fräulein, Sie sind ja der reinste Packesel! Los, Ewald, nimm der Ärmsten was ab, sie hat im Zug so lieb unsern Jungen gehalten.«

»Na, denn geben Sie mal her, Fräuleinchen!« Ein Mann stand jetzt vor Lenore – groß und breit wie ein Haus. »Was Sie Küken da mühsam schleppen, nimmt unsereins auf den kleinen Finger.«

»Aber Sie haben doch das Kind auf dem Arm und in der anderen Hand die Tasche.«

»Die kann meine Frau tragen, außerdem noch Ihre Decke. Den größeren Koffer geben Sie mir, ich gehe bestimmt nicht mit ihm durch.«

»Nehme ich auch gar nicht an.«

»Dann sind wir uns ja einig.«

Kurz und bündig nahm er ihr den Koffer aus der Hand und reichte die Decke seiner Frau, die lachend sagte:

»Ja, ja, mein Ewald fackelt nicht lange.«

Danach setzte man sich einträchtig in Bewegung und strebte dem Bahnhofsgebäude zu.

Auf einmal sagte der Mann überrascht:

»Nanu, da geht doch unser Doktor durch die Sperre mit einem Herrn am Arm, der ganz wacklige Beine hat!«

»Was, das ist euer Doktor?« unterbrach seine Frau ihn perplex. »Du, da kann ich dir erklären, was es mit dem Herrn für eine Bewandtnis hat...«

Sie erzählte nun von dem Intermezzo im Zug, und Ewald nickte stolz.

»Ganz unser Doktor Skörsen. Wo es etwas zu helfen gibt, da packt er zu. Und gar noch bei einem Kranken. Den liefert er bestimmt im Krankenhaus ab, obwohl er das gar nicht nötig hat, weil er in Urlaub ist. Heiratsurlaub, man denke sich! Wir dachten alle, uns laust der Affe, als wir hörten, daß er in den heiligen Stand der Ehe treten will. Manch eine von den Mädels, von denen es bei uns nur so wimmelt, mag heimlich ein Tränchen zerdrückt haben, denn es gibt kaum eine, die nicht verliebt in ihn ist. Ist aber auch ein feiner Kerl, der nicht nur prima aussieht, sondern auch einen tadellosen Charakter hat. Ehrenmann nennt man das wohl. Hoffentlich hat er die richtige Frau erwischt, ich wünsche es ihm von ganzem Herzen.«

Indes hatten auch sie die Sperre passiert, und nun meldete sich Lenore, die bisher schweigend mit dem Ehepaar gegangen war.

»Darf ich meinen Koffer haben, Herr Druschke? Ich muß nämlich in den Wartesaal, wo ich abgeholt werde.«

Lenore sah ihnen nach, bis sie ihrem Blick entschwanden. Dann ging sie in den Wartesaal, der so überfüllt war, daß sie in einer Ecke gerade noch einen Tisch erwischte, der nur zwei Personen Platz bot. Hoffentlich blieb der andere Stuhl unbesetzt; denn ihr lag gar nichts daran, Gesellschaft zu bekommen. Ihr genügte die vollkommen, die sie im Abteil gehabt hatte.

Wie verloren kam Lenore sich vor, wie ein Kind, das von der Mutter ausgesetzt worden war.

Nur mit Mühe konnte sie ein Gefühl der Bitterkeit unterdrücken gegen den Mann, der sie so allein ließ. Er wußte doch, daß sie drei Jahre lang kaum aus den vier Wänden herausgekommen und darüber weltfremd geworden war. Wie konnte er sie da in dem Wirrwarr sich selbst überlassen.

Ein Wunder, daß er sie nicht allein zu seinen Angehörigen schickte. Denen sie ohnehin schon bang genug entgegensah. Wohl sollte die Mutter nach seiner Aussage ein gutherziger Mensch sein, die Schwester wohl keck und vorlaut wie alle Backfische, sonst jedoch gut zu leiden.

Und dennoch.

Still weinte sie in sich hinein – und schrak zusammen, als eine angenehme Stimme neben ihr sprach:

»Ist dieser Stuhl noch frei?«

»Ja, bitte.«

»Danke sehr«, die Dame mittleren Alters ließ sich nieder. »Habe ich denn doch noch den letzten Platz erwischt! Ich weiß nicht, was heute los sein mag, das quirlt ja durcheinander wie im Ameisenhaufen. Nun, ich sitze, das ist mir die Hauptsache. Und ich werde nicht warten, bis die über Gebühr beanspruchte Bedienung für mich eventuell Zeit hat, sondern werde mich selbst verpflegen.«

Damit zog sie ein Päckchen mit belegten Broten aus der großen Tasche und biß gleich darauf so herzhaft in eine Schnitte, daß Lenore tatsächlich das Wasser im Mund zusammenlief. Sie hatte nämlich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und jetzt war es bereits über die Kaffeezeit hinaus.

Verlegen senkte sie die Augen, als die Dame sie so forschend ansah, als wollte sie ihre Seele ergründen – doch der Blick hatte etwas Gütiges, Ritterliches.

Überhaupt erinnerte die Dame Lenore an ihre Mutter, wie diese vor ihrer Krankheit gewesen war. Genau das volle Gesicht mit den blühenden Farben, das dunkle, leichtgewellte Haar, die hellbraunen Augen mit den Goldpünktchen, die wohlproportionierte Gestalt. Selbst die Stimme erschien ihr ähnlich und das Lächeln, das Grübchen in die Wangen zauberte.

Lenore hatte keine Ahnung, wie sehnsüchtig der Blick war, mit dem sie die Dame musterte. Sie ahnte auch nicht, daß diese sofort ihre verweinten Augen bemerkt hatte und sich darüber Gedanken machte.

Sollte dieses junge schöne Geschöpf etwa...?

»Getraude, kombiniere nicht!« hörte sie so deutlich des Gatten Stimme, als ob er neben ihr wäre.

Da lachte sie ein gutes, herzliches Lachen, das Lenore entzückte, denn so hatte ihre Mutter einst gelacht.

Und schon kamen wieder die Tränen, deren die junge Frau sich schämte. Um so mehr noch, als die Dame nun behutsam fragte:

»Mein liebes Fräulein, fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Doch, gewiß«, kam die Antwort verwirrt. »Ich habe wohl nur Hunger.«

»Muß der aber groß sein«, bemerkte ihr Gegenüber trocken. »Nun, dem ist rasch abzuhelfen. Darf ich Ihnen eine Schnitte anbieten?«

»O ja, danke, sehr gern nehme ich sie. Ich habe nämlich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«

»Dann allerdings. Bitte, sich zu bedienen!«

Damit schob sie Lenore die Brote zu, und als diese danach griff, bemerkte sie an der Rechten den schmalen Reif, dessen Gold so neu und unbenutzt funkelte.

Das gab der guten Getraude noch mehr zu kombinieren. Doch sie ließ sich nichts anmerken, sondern sagte lachend:

»Wie ich sehe, sind Sie verheiratet. Entschuldigen Sie die falsche Bezeichnung, aber Sie sehen wirklich noch so ganz und gar fräuleinhaft aus.«

»Ich bin ja auch erst eine Woche verheiratet.«

»Und dann weinen Sie schon? Kindchen, wo gibt’s denn so was! Scheint ein böser Barbar zu sein, der Herr Gemahl.«

Da mußte Lenore denn doch lachen, wenngleich ihr wahrlich nicht danach zumute war.

In dem Moment trat der junge Arzt an den Tisch und sagte zufrieden:

»Du bist ja so vergnügt, Nore, das beruhigt mich ungemein. Ich hatte nämlich schon Gewissensbisse, daß ich dich so lange allein ließ, aber es ging wirklich nicht anders. Es freut mich, daß du Gesellschaft hast.«

»Die sich gleich auf die Strümpfe machen wird, weil der Zug nicht wartet«, warf die Fremde ein, indem sie die Brote in die Tasche tat und dabei schon aufstand.

»Leben Sie wohl, kleine Frau. Lachen Sie viel, dann sehen Sie nämlich bezaubernd aus.«

Lenore verschmitzt zuwinkend nahm sie die Tasche auf und setzte sich in Bewegung.

Ralf fragte unangenehm berührt:

»Kennst du die Dame, weil sie so vertraut tat?«

»Nein, ich kenne sie nicht. Sie setzte sich zu mir an den Tisch und gab mir eine Schnitte ab, weil ich sehr hungrig war. Schließlich habe ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«

»Aber es gibt doch hier zu essen.«

»Wenn man Glück hat. Und das hatte ich nicht, weil die Bedienung nicht zu erwischen war.«

»Es ist heute auch ganz besonders voll hier. Es tut mir leid, Nore.«

»Ach, laß doch, jetzt bist du ja da. Es wird wohl nicht das letzte Mal sein, daß ich auf dich warten muß, dafür bist du Arzt. Wie wurde es übrigens mit dem kranken Herrn?«

»Wir erreichten gerade so knapp das Krankenhaus, als die Schmerzen richtig losbrachen. Doch nun müssen wir zusehen, daß wir endlich nach Hause kommen. Wohl gab ich Mama fernmündlich Bescheid, daß wir später als vereinbart eintreffen werden, aber länger als unbedingt nötig wollen wir sie dennoch nicht warten lassen.«

Als er nach dem Gepäck griff, bemerkte er auch seinen Koffer und sah die Gattin, die ihren Mantel zuknöpfte, bestürzt an.

»Du lieber Himmel, Lenore, da hast du dich auch noch mit meinem Koffer abschleppen müssen! Daß ich den vergessen konnte, ist einfach unverzeihlich. Wie hast du das alles überhaupt tragen können?«

»Ich hatte einen Helfer, und zwar Herrn Druschke.«

»Wie kamst du denn zu dem?«

»Er holte seine Frau ab. Übrigens bemerkte der Mann dich, als du mit dem Kranken durch die Sperre gingst, und war des Lobes voll über deine Hilfsbereitschaft.«

»Hinter der die eigene Frau zurückstehen mußte«, warf er seufzend ein. »Aber ich muß mich erst daran gewöhnen, daß ich nun eine Frau habe.«

»Ach, du Armer! Ging ja ganz ohne dich.«

»Das beruhigt mich ungemein. Doch jetzt komm.«

Als sie am Portal des Bahnhofsgebäudes anlangten, regnete es so arg, daß Ralf sagte:

»Da hilft nun nichts, ich muß eine Taxe nehmen. Bis wir zur Straßenbahn kommen, und dann wieder von der Endstation bis nach Hause, wären wir naß wie gebadete Katzen.«

Also winkte er eine Taxe herbei und stieg zuerst ein, was ihm erst bewußt wurde, als Lenore hinterherkam.

Dunkel schoß ihm das Blut ins Gesicht, doch er entschuldigte sich erst, nachdem der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte. Da legte er den Arm um die grazile Gestalt und zog sie dicht zu sich heran.

»Verzeih, Norelein«, murmelte er beschämt. »Ich benehme mich heute einfach unglaublich. Wird dir nicht angst, einen solchen Banausen geheiratet zu haben?«

»Ich glaube schon«, lachte sie ihn so lieblich an, daß er sich beherrschen mußte, sie nicht ganz toll und heiß zu küssen, wozu er durchaus berechtigt war.

Aber der Chauffeur störte ihn.

Schön ist das jetzt, dachte Lenore beglückt, sich fester in den Arm des Gatten schmiegend. So möchte ich dahinfahren, Stunde um Stunde. Aber bald werde ich in meinem neuen Zuhause sein. Was wird mich dort erwarten? Ich habe Angst.

*

Daß diese Angst nicht unbegründet war, merkte die junge Frau gleich, als sie den neuen Anverwandten gegenüberstand.

Nein, sie gefielen ihr nicht. Nicht die üppige Frau mit der eingepferchten Figur, der zu jugendlichen Kleidung, dem geschminkten Gesicht, den kühlen Augen. Auch nicht das junge Mädchen, das zwar hübsch aussah, aber in seiner ganzen Art etwas Dreistes hatte. Wenn es nach Lenore gegangen, wäre sie dieser Stätte sofort wieder entflohen.

Aber wo sollte sie hin? Sie hatte ja kein anderes Zuhause mehr und war außerdem an den Mann, der neben ihr stand, durch das Ehegesetz gebunden. Hätte er doch nur geahnt, was in ihr vorging!

Doch er ahnte es nicht. Er war außerordentlich aufgeräumt, als er Mutter und Schwester seine junge Frau zuführte.

»Da habt ihr sie, meine Lenore. Gefällt sie euch?«

»Gewiß«, entgegnete die Frau Mama mit scheinheiliger Freundlichkeit, die Lenore herausfühlte. »Sie ist reizend, aber noch so sehr jung.«

»Immerhin zwanzig«, gab Ralf launig zurück. »Also schon fast hinter den Öhrchen trocken. Und nun tischt auf, wir haben nämlich seit dem Frühstück fasten müssen. Das kam so…«

Kurz schilderte er, was sich begeben hatte, und die Frau Mama nickte stolzgeschwellt dazu.

»Das warst wieder einmal du, mein Sohn. Man nennt dich ja nicht umsonst einen vorzüglichen, hilfsbereiten Arzt. Nur noch ein wenig Geduld, ich richte sofort das Essen, das allerdings gewärmt werden muß, weil es bereits um die Mittagszeit fertig war. Sollte es verbrutzelt sein, bitte ich um Nachsicht.«

»Die ist dir schon zugebilligt, Mamachen«, lachte Ralf gutgelaunt. »Während du auftischst, führe ich meine Lenore in ihr neues Heim.«

Was denn auch geschah. Nur daß nicht die junge Frau zuerst über die Schwelle schritt, sondern Anka, die sich mit der Frechheit ihres Naturells einfach vordrängte, was Lenore befremdete, den Gatten jedoch nur amüsierte.

»Natürlich muß unser Fräulein Naseweis immer voran sein. Zur Begrüßung Blumen hier hineinzustellen, das fiel dir wohl nicht ein, du Irrwisch, wie?«

»Hätte ich schon getan, aber leider die Moneten«, versetzte sie keck. »Du hältst mich verflixt kurz.«

»Ein Schelm gibt mehr, als er hat«, kam es launig zurück. »Nun troll dich, mein Mädchen, und hilf der Mama.«

»Ooch, die wird auch ohne mich fertig. Ihr Jungvermählten seid mir doch zu interessant.«

»Anka!«

Dieser Warnungsruf mußte der kecken Kleinen wohl geläufig sein, denn sie zog sich zwar maulend, aber immerhin zurück.

»Sie ist doch noch ein ganzes Kind«, sprach der nachsichtige Bruder ihr schmunzelnd nach. »Aber wohl gerade deshalb so harmlos von Sinn und Gemüt. Und nun komm, mein Liebes, laß dich in deinem Heim herzlich willkommen heißen. Mögest du darin nur frohe Stunden verleben, zusammen mit mir in Liebe und Glück.«

Er zog sie in die Arme, küßte sie zärtlich und sagte dann stolz:

»Ist es nicht schön bei uns? Bis auf die Lampe und die Gardinen, die passen zu der feudalen Einrichtung allerdings nicht.«

»Da hast du recht«, bestätigte Lenore, nachdem sie sich mit prüfendem Blick umgeschaut hatte. »Aber soviel ich weiß, ist beides mit den anderen Sachen mitgeschickt worden.«

»Ist es auch«, unterbrach er sie verlegen. »Aber weißt du, da wagte ich mich nicht heran. In solchen Dingen bin ich reichlich ungeschickt.«

»Dafür bist du ja Arzt und kein Handwerker. Laß nur, ich bringe das schon in Ordnung.«

»Kannst du denn das?«

»Ich glaube schon. Die Ständerlampe, die zwischen den Sesseln fehlt, kaufen wir uns.«

»Kind, bedenke...«

»Sie kostet Geld«, vollendete sie lachend den stockenden Satz. »Aber so viel haben wir schon noch.«

»Wir – Nore?«

»Natürlich, was denn sonst? Oder gedenkst du etwa streng getrennte Kassen zwischen uns einzuführen? Das wäre ja...«

In dem Moment steckte Anka den Wuschelkopf durch den Türspalt und sagte mit einem Lächeln, das Lenore irgendwie abstieß:

»Störe ich das zärtliche Tête-à-tête sehr empfindlich? Aber es geht nicht anders. Das Essen steht auf dem Tisch, und Mama kann fuchsteufelswild werden…«

»Anka!«

»Herrjeh, ja. Zanke nicht, sondern komm!«

Wenig später betraten sie den Raum, der als Wohn- und Eßzimmer zugleich diente. Die Einrichtung war gut, aber trotzdem vermißte Lenore darin das gewisse Etwas, das man Traulichkeit nennt.

Und dann das Essen. Gewiß, es war als Mittagsmahl bestimmt gewesen und mußte gewärmt werden, nichtsdestoweniger hätte es nicht lauwarm und vertrocknet zu sein brauchen; das konnte Lenore gar wohl beurteilen, die vom Kochen etwas verstand.

Natürlich enthielt sie sich jeder Äußerung. Sie machte schweigend ihre Beobachtungen, die gewiß nicht dazu beitrugen, den ersten Eindruck, den sie von den neuen Anverwandten bekam, zu korrigieren.

Zum Beispiel fand sie es empörend, daß die Mutter der Tochter die besten Bissen vorlegte. Wohl war Anka schmal und blaß – bleichsüchtig, wie die Ärzte es früher zu bezeichnen pflegten. Da war es schon verständlich, daß die Mutter die heranwachsende Tochter mit Sorgfalt pflegte. Aber darüber durfte sie nicht den Sohn vergessen, und das war hier der Fall.

Kurz und gut: Lenore war im Bilde.

Und daß dieses Bild nicht falsch war, sollte die Zukunft lehren.

*

Eine Zukunft, in der das Herz der blutjungen Frau durch alle Höhen und Tiefen des Lebens geschleift werden sollte. War der Gatte mit ihr allein in seiner Liebe und Zärtlichkeit, glaubte sie wenigstens am Rande des siebenten Himmels zu weilen; doch war er fort, sorgten seine Angehörigen schon dafür, daß Lenore mit beiden Beinen in der realen Welt stand, wo Gehässigkeit und Heuchelei sie umgaben.

Wie sollte sich nun das bisher so wohlbehütete, weltfremde Menschenkind darin behaupten? Ja, wenn sie hätte mit dem Gatten rückhaltlos über alles sprechen können, dann wäre manches leichter zu ertragen gewesen. Aber so vernünftige Ansichten der junge Arzt im allgemeinen auch hatte, eine so gute Menschenkenntnis er sonst besaß, wenn es jedoch um Mutter und Schwester ging, war er einfach mit Blindheit geschlagen. Sie waren für ihn unantastbar.

Also schwieg Lenore und machte alles mit sich allein ab, um jede Streiterei mit dem Gatten zu vermeiden. Denn sie wußte ganz genau, daß sie dabei immer nur den kürzeren ziehen würde. Wenn sie sich mit diesen »gutherzigen Menschen« nicht vertrug, dann war es bestimmt ihre Schuld.

Denn die beiden waren schlau genug, sich in Gegenwart Ralfs der jungen Frau gegenüber einer Freundlichkeit zu befleißigen, die Lenore verbittert bei sich mit katzenfreundlich bezeichnete. Doch sobald der Mann den Rücken kehrte, zeigten sie ungeniert ihr wahres Gesicht.

Das heißt, in der ersten Zeit umgaben sie Lenore mit einer süßlichen Liebenswürdigkeit, und zwar aus Berechnung. Nahmen sie doch an, daß diese »einfältige Person« eben einfältig genug sein würde, ihnen Geld und andere Dinge zu geben, auf die sie ein Auge geworfen hatten: Frau Rosalia auf Wäsche, die ja reichlich vorhanden war, Anka auf Kleider und Schmuck.

Nun, Lenore war alles andere als einfältig. Sie war im Gegenteil so klug, daß sie sofort begriff, was man da von ihr mit honigsüßer Miene erpressen wollte.

Diese Anstrengung hätten die beiden nicht nötig gehabt, wenn sie der jungen Frau zum mindesten sympathisch gewesen wären. Dann hätte Lenore das getan, was sie ursprünglich vorgehabt, nämlich mit vollen Händen gegeben von dem, was sie selbst besaß. Hätte wahrscheinlich der Schwiegermutter die monatlichen Abzahlungen bis auf ein Taschengeld für sich erlassen – auch gegen das ausdrückliche Verbot des Gatten. Aber da sie nun diese Frau kennenlernte in ihrer ganzen Schäbigkeit, ballte sie die Hand eher zur Faust, als daß sie diese mildtätig auftat.

Denn Lenore war zwar ein warmherziger, hilfsbereiter Mensch, aber deshalb noch lange nicht so sanftmütig, daß sie nach einem Backenstreich auch noch geduldig die andere Wange hinhielt. Da hielt sie sich eher an eine andere Stelle der Bibel: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Zumal sich bei der ständigen Abwehrstellung, zu der sie ja geradezu herausgefordert wurde, der Trotz zu regen begann, von dem sie nicht wenig besaß. Und wenn der Mensch trotzig ist, dann ist er eben unzugänglich – in jeder Beziehung.

Also knöpfte Lenore nicht nur ihr Portemonnaie fest zu, sondern sie verschloß auch Schübe und Schränke, nachdem sich Anka dieses und jenes einfach anzueignen versucht hatte. Im anderen Fall hätte Lenore gern mit der Schwägerin geteilt, was sie im Überfluß besaß – freiwillig, aber nicht gezwungen.

Was sie dann allerdings büßen mußte. Denn als Frau Rosalia zu ihrer grenzenlosen Enttäuschung merkte, wie »geizig« die Schwiegertochter war, ließ sie die honigsüße Maske fallen und zeigte das, was sich darunter verbarg.

Zuerst ging sie dabei vorsichtig vor, weil sie nicht ganz sicher war, ob Lenore bei Ralf nicht petzte. Das tat lieber sie, und zwar nach Art des Maulwurfs, der zwar wühlt, aber dabei unsichtbar bleibt.

Leider war Ralf gegen die Einflüsterungen seiner Mutter nicht gefeit, die allerdings auch sehr geschickt angebracht wurden. Er war eben von der Ehrbarkeit der Seinen so überzeugt, daß er ihnen Intrigen einfach nicht zutraute.

Dann schon eher seiner Frau, obwohl sie über seine Angehörigen nie Klage führte. Aber sie benahm sich auch ihm gegenüber so, daß sich nach und nach eine Entfremdung einstellte, die den Mann verstimmte. Und als er gar an einem Tag, da er unerwartet nach Hause kam, die Tür verschlossen fand, stellte er, nachdem Lenore ihn auf sein energisches Klopfen eingelassen hatte, sie unwillig zur Rede:

»Lenore, was soll das? Hast du denn gar keine Ahnung, wie sehr du die Mama damit kränkst, wenn du dich nicht nur von ihr absonderst, sondern gar die Tür verschließt? Das hat meine Mutter doch wahrlich nicht um dich verdient, die dich hier so lieb aufgenommen hat, die deinen Trotz und deine Launen so nachsichtig erträgt. Schäm dich, Lenore!«

Darauf erwiderte sie nichts, sah ihn nur mit Augen an, in denen der Trotz. funkelte.

Ihre Haltung drückte so viel Aufsässigkeit aus, daß der sonst so ruhige, besonnene Mann die Beherrschung verlor, sie bei den Schultern packte und schüttelte.

»Du – laß mich los!« sprach sie so dumpf und schwer, daß er betroffen von ihr abließ.

Hastig fuhr er sich über Kopf und Stirn, in seinen Augen brannte der Schmerz.

Das hätte Lenore wohl stutzig gemacht, wenn sie nicht so verbittert gewesen wäre. Und Verbitterung nimmt dem Menschen genauso die Logik und den klaren Verstand wie Verblendung.

Wenn Lenore jetzt gesprochen, sich alles vom Herzen geredet hätte, was ihr junges Leben kaum erträglich machte, vielleicht hätte sie dann dem Gatten die Binde von den Augen gerissen, und er hätte Mutter und Schwester so erkannt, wie sie waren. Aber sie preßte den Mund zusammen und schwieg verbissen.

Da wandte er sich brüsk ab und ging hinaus. Ein tiefer Riß war da – nach sechswöchiger Ehe.

*

Da Lenore gewohnt war, sich im Haushalt zu betätigen, so erschien es ihr selbstverständlich, es gleich von Anfang an auch hier zu tun, was wiederum die Schwiegermutter für selbstverständlich hielt. Aber nur bei der Schwiegertochter, versteht sich. Die Tochter durfte sich schon erlauben, faul zu sein, sie wurde von der Mutter sogar noch bedient.

So wurden Lenore nicht nur die Bissen sozusagen in den Mund gezählt, ihr wurden so nach und nach auch sämtliche Hausarbeiten zugeschoben, was ihr nur recht war. Sonst hätte sie ja gar nicht gewußt, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte.

Sie nahm es gelassen hin, als die Frau ausblieb, die zu Anfang jede Woche einmal zu dem üblichen Hausputz erschienen war. Sie kochte auch und kaufte ein, als Frau Rosalia sich plötzlich so leidend fühlte, so schwindlig und schwach, daß sie sich kaum noch auf die Straße wagte.

Nur wenn es ins Kino ging, ins Café und zu sonstigen Vergnügungen, dann hatte die »Leidende« ihren »guten Tag«, wo sie schon wagen durfte auszugehen, zumal in Begleitung des Töchterchens.

Sie schlief nun auch genau wie dieses bis in den Vormittag hinein. Das heißt, sie stand morgens auf, um ihrem »lieben Jungen« das Frühstück zu bereiten, es auch mit ihm einzunehmen, weil er nun einmal daran gewöhnt war. Doch sobald er das Haus verließ, legte sie sich ins Bett zur wohlverdienten Ruhe.

Von dem allen hatte Ralf keine Ahnung. Ihm genügte es, daß alles so reibungslos verlief. Er war ja auch so wenig zu Hause. Ging morgens fort und erschien zum Mittagessen, sofern im Dienst nichts Besonderes vorlag. Dann begnügte er sich mit einem Imbiß. Im Krankenhaus, wo er auch über Nacht blieb, wenn er Dienst hatte.

Kurz vor Weihnachten bekam man ihn zu Hause kaum noch zu sehen, weil eine heftige Grippeepidemie ausbrach und so die Ärzte alle Hände voll zu tun hatten. Außerdem mußte Ralf noch den Chefarzt vertreten, da dieser sich auf einem Ärztekongreß befand.

Und gerade in der Zeit wurde auch noch Anka krank. In heller Aufregung rief Frau Rosalia den Sohn mitten aus der Arbeit herbei, der die Schwester gründlich untersuchte, jedoch nichts Besonderes festellen konnte. Vorsichtshalber verordnete er Bettruhe, die ja nie schaden konnte.

Und nun hatte die bedauernswerte Lenore auch noch die Schwägerin zu pflegen, die bei dem Schnupfenfieber und anderen leichten Beschwerden ein Lamento machte, in das die vernarrte Mutter natürlich einstimmte.

Ihr armes Kind, was mußte es doch leiden. Und dabei konnte man es noch nicht einmal so richtig pflegen, weil das Geld dazu fehlte. Ja, wenn man nicht diese unseligen Schulden abzahlen müßte.

Das bekam Lenore jeden Tag zu hören, sie stellte sich jedoch taub.

Als sie nach getaner Arbeit endlich zu Bett gehen konnte, fieberte sie stark. Und da das bedauernswerte junge Menschenkind seit seiner Heirat wie an einer Pechsträhne zu kleben schien, war es gar nieht verwunderlich, daß Dr. Skörsen heute Nachtdienst hatte.

Und morgen war Weihnachten, das für Frau Rosalia schon morgens eine gute Bescherung brachte. Denn als sie wie eine Fregatte ins Zimmer segelte, um das »faule Ding« aus den Federn zu jagen, fand sie dieses mit fieberheißem Gesicht vor.

Da blieb ihr denn doch das Wort im Hals stecken. Aber nicht etwa vor Besorgnis, sondern vor Ärger.

Das ausgerechnet heute, wo es alle Hände voll zu tun gab! Am liebsten hätte sie ja die Kranke aus dem Bett gezerrt und sie an die Arbeit getrieben, aber die Angst vor dem Sohn war denn doch zu groß.

»Du machst ja nette Geschichten«, bemühte sie sich einen besorgten Ton anzuschlagen, in dem jedoch der Ärger vibrierte. »Ausgerechnet zu Weihnachten wirst du krank. Ist es arg, soll ich Ralf verständigen?«

»Danke, er kommt gegen Abend ja nach Hause.«

»Wie du willst. Wenn du etwas brauchst, wirst du dich schon melden müssen. Ich habe heute gerade genug zu tun und kann dich nicht noch großartig bedienen.«

Das verlangte Lenore auch gar nicht. Sie war ganz zufrieden, hier unbehelligt liegen und schlafen zu dürfen, was sie denn nach einer Schlaftablette auch tat.

Bis Ralf sie aus diesem Paradies riß. Er sprach erregt. Kein Wunder, da er auf dem Nachttisch die Tabletten entdeckte, die durchaus nicht harmlos waren.

»Lenore, wach auf! Mein Gott, Kind, so wach doch endlich auf!« drang es in ihr noch schlafumnebeltes Hirn. Es waren jedoch nicht die beschwörenden Worte, was sie wach werden ließ, sondern vielmehr das derbe Schütteln.

»Ralf, laß mich doch los, du tust mir weh!«

»Na endlich! Du bereitest mir ja eine schöne Bescherung zum Weihnachtsfest. Wie viele Tabletten hast du geschluckt?«

»Zwei.«

»Du bist wohl nicht recht gescheit! Woher hast du die Dinger überhaupt?«

»Der Arzt verschrieb sie Mutti, die danach immer so wunderbar schlief.

Und das wollte ich auch, ich will es auch noch weiter.«

»Zuerst wirst du dich noch untersuchen lassen.«

»Warum? Mir fehlt doch nichts.«

»Woher denn auch?« versetzte er trocken. »Du fieberst nur und krächzt wie eine Krähe.«

Nachdem er sie untersucht hatte, hellte sich seine besorgte Miene auf.

»Es ist wahrscheinlich nichts weiter als eine Erkältung«, erklärte er auf ihren fragenden Blick, worauf sie sich dann mit tiefem Seufzer auf die Seite legte und erneut dem Schlaf in die Arme sank.

Am liebsten hätte der Gatte es ihr gleichgetan, denn er war zum Umfallen müde. Kein Wunder nach einer aufreibenden Arbeitszeit von sechzehn Stunden.

Aber Mutter und Schwester warteten auf ihn. Außerdem verspürte er Hunger, da er heute kaum etwas gegessen hatte, weil ihm die Zeit dazu fehlte. Also ging er ins Wohnzimmer, wo die Mutter ihn aufgeregt empfing:

»Wo bleibst du nur so lange? Das Essen ist inzwischen wieder kalt geworden.«

»Dann hättest du es erst nach meinem Erscheinen auftragen sollen«, entgegnete er gereizt. Denn er war ja auch nur ein Mensch, dessen Nerven keine Drahtseile waren. Und diese Nerven waren bis zum Reißen gespannt. »Ich mußte doch erst einmal feststellen, was meiner Frau fehlt. Das ging doch wohl vor, oder?«

»Gewiß, gewiß. Was fehlt ihr denn?«

»Sie ist erkältet.«

»Habe ich mir doch gleich gedacht.«

»Trotzdem hättest du mich fernmündlich davon verständigen müssen, daß Lenore erkrankt ist.«

»Sie wollte es nicht haben.«

»Ach was, ein Kranker hat gar nichts zu wollen, das müssen Gesunde für ihn tun.«

»Nun mach mir auch noch Vorwürfe!« weinte die Frau auf. »Wo ich mich heute so abgeschuftet habe.«

»Na ja, ist doch schon gut«, winkte er verlegen ab und würgte dann das Essen hinunter, das nicht nur kalt, sondern auch angebrannt war. Aber wenn der Mensch so richtigen Hunger hat, kommt es ihm mehr auf die Quantität als auf die Qualität an.

Nachdem der knurrende Magen befriedigt war, legte sich auch die Gereiztheit. Die Nerven, die heute ihr Äußerstes hatten hergeben müssen, entspannten sich, und so fand der Mann denn seine gewohnte Gelassenheit wieder.

Inzwischen hatte die Frau Mama ihre »Krokodilstränen« getrocknet und den Baum angezündet, damit »ihr armer Junge doch auch seine Weihnacht haben sollte«, wie sie sich pathetisch ausdrückte. Auch seine Geschenke bekam er, die an denen der Schwester gemessen als etwas karg zu bezeichnen waren.

Allein der bescheidene Mann empfand das gar nicht, er freute sich darüber und überreichte dann seine Geschenke, die auch nicht gerade kostbar waren, weil er ja nicht über viel Geld verfügte.

Es war bezeichnend für Anka, daß sie ihre Enttäuschung nicht unterdrückte, sondern ihr freien Lauf ließ.

»Das ist alles, Ralf? Ich habe mir doch so sehr ein Armband gewünscht – natürlich Gold.«

»Und woher sollte ich wohl das Geld dazu nehmen?« fragte er peinlich berührt. »Du mußt nicht so unbescheiden sein, Anka. Wie ich sehe, hat dir das Christkind sogar einen Pelzmantel beschert.«

»Ach, das billige Ding!« tat sie wegwerfend ab. »Der von Lenore hat mindestens das Zehnfache gekostet.«

»Aber Kind, sei doch zufrieden«, schaltete sich die Mutter ein, als sie die Falte zwischen den Brauen des Sohnes bemerkte. »Ralf hat ihr den wertvollen Mantel ja nicht geschenkt, den hat sie wahrscheinlich von ihren Eltern. Sei ihr nicht böse, mein Junge! Sie ist eben noch ein unbedachtes Kind, das nicht bedenkt, was es spricht. Komm, versuch den Wein, den ich zur Feier des Tages spendiert habe.«

Ralf tat’s, rauchte dazu die geschenkten Zigaretten, und als er eine halbe Stunde später aufstand, war er so müde, daß er taumelte.

Nachdem er festgestellt hatte, daß Lenore schlief, streckte er sich aufs Bett, wo er fast augenblicklich in einen bleiernen Schlaf versank.

Und somit endete das erste Weihnachtsfest in dieser jungen Ehe.

*

Ein Arzt hat es bestimmt nicht leicht, hauptsächlich dann nicht, wenn er so gewissenhaft ist, wie Doktor Skörsen es war. Daher hatte er die beiden Ruhetage, die der Chefarzt ihm Weihnachten zubilligte, auch redlich verdient und wollte sie als wirkliche Ruhetage verbringen.

Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten – sagt Schiller, und er hat recht.

Denn es war acht Uhr morgens, als die Flurglocke aufreizend schrillte und den Arzt, dem so ein Alarmzeichen geläufig war, aus dem festen, wohlverdienten Schlaf riß. Mit einem Satz war er aus dem Bett, warf rasch den Morgenmantel über, schlüpfte in die Pantoffeln, eilte zur Tür und stand gleich darauf dem Hauswirt gegenüber, der erregt sprach:

»Herr Doktor, Verzeihung! Ich weiß, Sie üben keine Praxis aus, aber meine Schwiegertochter – helfen Sie ihr!«

»Was hat sie denn?«

»Sie kriegt ein Kind.«

»Olala, ausgerechnet zu Weihnachten?«

»Es kommt nach unserer Berechnung um eine Woche zu früh, sonst hätten wir uns

besser eingerichtet.« Der alte Herr wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sie hat wohl gestern zuviel Bowle getrunken.«

»Ist die Hebamme schon da?«

»Keine zu bekommen. Drei rief ich an – alle unterwegs.«

»Da scheint ja das Geschäft zu blühen«, schmunzelte der Arzt. »Ich ziehe mich rasch an; so schnell wie möglich bin ich unten.«

»Besten Dank, Herr Doktor, besten Dank.«

Der Mann polterte die Treppe hinunter, und Ralf schloß die Korridortür. Lenore, die den Gatten erst gar nicht zu fragen brauchte, weil sie durch die halbgeöffnete Tür das Gespräch mit angehört hatte, stellte sich schlafend, obwohl ihr sterbenselend war. Das kam wohl daher, daß sie seit vorgestern abend nichts gegessen und auf den leeren Magen die starken Tabletten gekommen hatte.

Als Ralf fort war, stand sie auf und schlich in die Küche, um sich etwas zu essen zu holen. Denn soweit sie die Schwiegermutter kannte, war diese ins Bett zurückgegangen und würde sich auch später nicht bequemen, der verhaßten Schwiegertochter gar noch das Frühstück ans Bett zu bringen. Also mußte die kranke Lenore sich selbst damit versorgen.

In der Küche, die sie immer so blitzblank gehalten hatte, sah es jetzt lustig aus. Gebrauchtes Geschirr, angebrannte Töpfe und Lebensmittel aller Art bildeten ein kunterbuntes Durcheinander. Lenore kribbelte es förmlich in den Fingern, hier Ordnung zu schaffen, aber erstens fühlte sie sich zu matt, und dann würde man ihr die Arbeit gewiß nicht danken, sondern für eine Selbstverständlichkeit halten.

Außerdem bereitete es der jungen Frau eine Genugtuung, daß die bequeme Dame nun einmal gezwungen war, den Haushalt selbst zu versorgen, noch dazu ausgerechnet am Feiertag. Lenore konnte sich denken, wie sehr Frau Rosalia das erboste.

So beeilte sie sich denn, aus der Küche zu kommen, nachdem sie eine Schnitte Brot und einen Wurstzipfel gewissermaßen stibitzt hatte. Im Bett angelangt, wollte sie es heißhungrig verzehren, doch schon nach dem ersten Bissen wurde ihr übel. Trotzdem würgte sie Brot und Wurst hinunter, in der Hoffnung, daß ihr dann besser werden würde, was jedoch nicht zutraf.

Was hatte sie nur? Sollte etwa... Es war nicht das erste Mal, daß ihr übel wurde, hauptsächlich morgens nach dem Aufstehen.

Ob sie sich Ralf anvertraute? Nein zuerst noch abwarten. Und wenn es stimmte, was sie befürchtete, wollte sie es verheimlichen, solange es ging.

Befürchten, dachte sie bitter. Eine häßliche Bezeichnung für das, worüber man sich freuen müßte.

Aber konnte sie das – hier, unter der Fuchtel einer rücksichtslosen, hochfahrenden Frau? Da würde nicht nur sie selbst zu leiden haben, sondern auch...

Weiter kam sie mit ihren trostlosen Gedanken nicht, weil der Gatte ins Zimmer kam und an ihr Bett trat.

»Ach, da sind wir ja schon wieder!« sprach er in dem Ton, den er bei seinen Patienten anzuwenden pflegte. »Wie geht es dir?«

»Danke, ich habe wunderbar geschlafen.«

»Du scheinst zu den Patienten zu gehören, die sich gesundschlafen«, stellte er lächelnd fest, nachdem er den Puls gefühlt hatte. »Das Fieber hat erheblich nachgelassen, was mich beruhigt. Denn ich kann mich jetzt nicht um dich kümmern, weil ich die junge Frau Warteck ins Krankenhaus bringen muß. Ich möchte den schwierigen Fall nicht allein übernehmen.«

»Kommst du wieder zurück, wenn du die junge Frau im Krankenhaus eingeliefert hast?«

»Ich glaube nicht. Die Ärmste bat mich so flehentlich, sie nicht zu verlassen, und sie leidet schwer.«

»Du hast doch heute deinen freien Tag.«

»Na, wenn schon«, sagte er ungeduldig. »Das verstehst du eben nicht, Lenore. Da höre ich unten die Hupe des Krankenwagens. Bleib ja im Bett, Lenore, hörst du?«

Fort war er. Und Lenore drückte das Gesicht in die Kissen und weinte bitterlich.

*

Sie schlief über alle Not und Kümmernisse hinweg, bis der keimkehrende Gatte an ihr Bett trat – müde und erschöpft von den heißen Stunden, da er der Gebärenden, die wirklich schwer leiden mußte, alle nur erdenkliche Hilfe geleistet hatte. Darüber war es Kaffeezeit geworden.

»Nun, Kind, wie geht es dir?« fragte er, dabei gewohnheitsgemäß den Puls fühlend. »Nun, schon ganz ordentlich. Irgendwo Schmerzen?«

»Nein.«

»Guten Appetit gehabt?«

»Bisher nicht.«

»Und jetzt?«

»Allerdings«, mußte sie zugeben, da sie ja außer Brot und Wurst am Morgen seit zwei Tagen nichts genossen hatte. Nun jedoch verlangte der Magen energisch sein Recht.

»Dann werde ich dir wohl was servieren müssen«, scherzte er. »Mama und Anka sind nämlich ins Kino gegangen, wie der hinterlassene Zettel besagt. Trotzdem sollst du deine Atzung haben. Nur noch ein wenig Geduld.«

Bevor Lenore ihn zurückhalten konnte, hatte er bereits das Zimmer verlassen – und sah dann in der Küche betroffen auf die Unordnung. So viel gebrauchtes Geschirr stand herum, daß nicht nur Tisch und Abwaschtisch damit vollgestellt waren, sondern auch ein Teil des Fußbodens. Aus dem Geschirrschrank dagegen, dessen Türen weit offenstanden, gähnte Leere.

Und doch fand der Sohn dafür eine Entschuldigung. Nun ja, die Mutter hatte alles allein machen, außerdem noch eine Kranke und eine Rekonvaleszentin versorgen müssen. Schließlich war sie nicht mehr die Jüngste.

Allerdings, Anka war von der Mutter gepäppelt worden – als verhätscheltes, als vielgeliebtes Töchterchen. Doch daß dieselbe Frau der Schwiegertochter weder Speise noch Trank gereicht hatte, darauf kam der arglose Mann nicht. Er nahm mit Selbstverständlichkeit an, daß Lenore zu Mittag gegessen hatte, und brachte ihr daher Kaffee nebst Kuchen ans Bett. Wohl hatte die Kranke Appetit auf ein warmes Mahl, doch sie sagte nichts, aß ein Stück Kuchen und trank zwei Tassen des belebenden Tranks.

»Ist der Kaffee gut?« fragte er, und sie nickte.

»Sehr gut, er hat mich richtig erquickt. Aber warum hältst du nicht mit?«

»Weil ich mehr als satt bin. Die Wartecks unten haben mich nämlich genudelt wie eine Weihnachtsgans.«

»O weh, da habe ich ja ganz vergessen zu fragen, wie es der jungen Frau geht. Ist das Kind schon da?«

»Natürlich, sonst wäre ich bestimmt nicht hier. Es ging heiß her, aber wenigstens nicht umsonst, wie es zuerst den Anschein hatte. Das kleine Mädchen ist gesund, die junge Mutter verhältnismäßig munter, der junge Vater und die Großeltern sind halb närrisch vor Freude. Sie ließen nicht nach, bis ich mit ihnen im Mietauto hierher fuhr und in ihre Wohnung kam, wo sie auftischten wie zur Hochzeit. Ich habe bisher nicht gewußt, was für nette Menschen die Wartecks sind, weil Mama doch stets Klage über sie führt und so schlecht mit ihnen auskommt.«

Daß dieses an ihr liegen könnte, darauf kommst du in deiner Arglosigkeit natürlich nicht, dachte Lenore bitter. Sie sagte jedoch nichts, weil sie wußte, daß der Gatte sie doch nur der bösen Verleumdung bezichtigen würde.

Außerdem sah er so müde und abgespannt aus, daß sie nicht das Herz hatte, ihm auch noch mit einer erregenden Debatte zu kommen.

»Hast du noch einen Wunsch?«

»Nein, du hast mich ja versorgt. Warum fragst du?«

»Weil ich sonst zu Bett gehen möchte. Ich bin rechtschaffen müde.«

»Tu’s doch. Aber nein, zuerst komm einmal her, damit ich dir dein verspätetes Weihnachtsgeschenk überreichen kann.«

»Was ich natürlich prompt versäumte«, unterbrach er sie beschämt. »Es ist ohnehin nicht viel – und kommt nun noch zu spät.«

»Beruhige dich, meines auch.«

»Du bist aber auch krank.«

»Und du bist überarbeitet.«

Indes hatte sie der Nachttischschublade einen Umschlag entnommen, den sie ihm, der sich auf den Bettrand setzte, in die Hand drückte. Verständnislos drehte er ihn zuerst herum, öffnete ihn dann zögernd, und was er herauszog, waren runde tausend Mark.

»Nore, das kann ich doch nicht annehmen«, sagte er betroffen, doch sie winkte kurz ab.

»Ralf, sprich bitte nicht weiter!« warnte sie. »Ich weiß schon, was du sagen willst, doch das würde mich zutiefst verletzen.«

»Ja, aber was soll ich denn mit dem vielen Geld?«

»Erstens ist es gar nicht so viel, du bescheidener Mensch, und zweitens ist es der Grundstein zu einer Praxis.«

»Nein, Nore.«

»Ja, Ralf. Rege mich hier gefälligst nicht auf, sonst steigt das Fieber so hoch, daß das Thermometer platzt.«

Da mußte er doch lachen.

»Darauf will ich es natürlich nicht ankommen lassen, nicht als Arzt und schon gar nicht als dein Gatte.«

»Also, Kommentar überflüssig. Doch wo bleibt mein Geschenk?«

Er gab es ihr mit verlegenem Lächeln.

»Nore, es ist so wenig, aber man weiß ja gar nicht, was man dir schenken soll, weil du alles hast. Als ich jedoch das Tuch sah, stellte ich mir vor, wie gut es dich kleiden müßte zu deinem schönen Gesicht und dem goldig schimmernden Haar.«

»Herr Doktor, Sie machen ja Komplimente!« sagte sie neckend. »Das ist ja ganz was Neues!«

»Jetzt lachst du Schelm mich auch noch aus.«

»Keineswegs, ich freue mich. Das Tuch gefällt mir gut.«

»Wirklich?«

»Ganz wirklich. Nun mach, daß du ins Bett kommst, dir fallen ja vor Müdigkeit die Augen zu.«

»Zuerst noch einen Kuß. Ich finde, du bist in letzter Zeit sehr sparsam damit geworden.«

»Du dito, mein Lieber.«

Weiter kam sie nicht, weil sein Mund den ihren verschloß.

Dann stand der Mann auf, reckte die Arme und sagte froh:

»Jetzt haben wir beide doch noch Weihnacht gefeiert. Nun geh ich zu Bett und schlafe mit dir um die Wette, mein Murmeltierchen.«

Kaum daß er im Bett war, schlief er auch schon tief und fest.

Leise stand Lenore auf und schlich zur Küche, weil sie einen Heißhunger auf ein Stück Gänsebraten verspürte, der, wie sie wußte, auf dem feiertäglichen Küchenzettel stand.

Zuerst war sie enttäuscht, als sie nur noch das Gerippe vorfand, doch nachdem sie es richtig beäugt hatte, entdeckte sie daran einige Stücke Fleisch, die sie sich gut schmecken ließ. Zwar wurde ihr wieder übel, dennoch aß sie drauflos. Trank auch die halbe Flasche Bier leer und kehrte dann gesättigt ins Bett zurück.

Da es mittlerweile dunkel geworden war, knipste sie die Nachttischlampe an, rückte sie jedoch so, daß der schlafende Gatte von dem Schein nicht direkt getroffen wurde.

Ganz ruhig lag er da, das Gesicht ihr zugekehrt. Schlief so tief und auch fest wie ein Mensch, der nicht nur einen arbeitsreichen Tag hinter sich hat, sondern auch über ein ganz ruhiges Gewissen verfügt.

Und das hatte dieser Mann wohl auch, weil er fest davon überzeugt war, stets seine Pflicht zu tun, ob es sich nun um seine Kranken, seine Mutter, Schwester oder um seine Frau handelte.

*

Es war schon nach neun Uhr, als Lenore am nächsten Morgen erwachte.

In der Wohnung war alles noch still. Kein Wunder, da Frau Rosalia gewohnt war, bis mindestens elf Uhr zu schlafen, und diesen Schlaf heute wohl noch länger ausdehnte, weil sie wahrscheinlich erst nach Mitternacht von der Bummeltour zurückgekehrt war.

Lenore schaute zu Ralf hinüber, der ihr den Rücken zudrehte und immer noch fest schlief. Vorsichtig griff sie zum Thermometer, steckte es ein und war dann fünf Minuten später recht zufrieden, daß der rote Strich bis zur Zahl achtunddreißig geklettert war. Nun würde ihr Ralf weitere Bettruhe verordnen und, da er nicht zum Dienst mußte, sich um sie kümmern, wenn nicht wieder etwas Unvorhergesehenes dazwischenkam.

Doch davor sollte der Mann bewahrt bleiben, der einen Ruhetag so nötig hatte.

Als er erwachte, sah er auf die Uhr und wollte seinen Augen einfach nicht trauen.

»Schon zehn vorbei? Das ist doch kaum zu glauben! Da habe ich dich gestern ein Murmeltier genannt und bin selbst eins. Bist du schon lange wach?«

»Seit ungefähr einer Stunde.«

»Warum hast du mich nicht geweckt?«

»Sollte mir einfallen. Du hast den Schlaf doch wahrlich nötig.«

»Der mich auch wunderbar erquickt hat. Ich bin durchaus wieder zu neuen Taten gerüstet. Und wie geht es dir?«

Schon griff er nach ihrem Puls und war gar nicht zufrieden.

»Kind, du hast ja Fieber! Da wollen wir mal messen.«

»Ist bereits geschehen.«

»Wie hoch?«

»Nicht ganz achtunddreißig.«

»Das gefällt mir aber gar nicht, Nore.«

»Mir doch«, lachte sie. »Da darf ich wenigstens im Bett bleiben, was bei dem scheußlichen Wetter geradezu ein Vergnügen ist. Schau nur, wie es draußen schlackert, und hör nur, wie es stürmt. Da muß ja Himmel und Erde zusammen sein, und hier im Bett ist es so heimelig. Wenn du schlau bist, verläßt du es auch nicht.«

»Vorausgesetzt, daß man mich nicht mit Gewalt hinausjagt. Trotzdem muß ich jemand verarzten, und zwar dich, meine holde Patientin.«

»Und das wäre?«

»Erst einmal Tabletten schlucken. Helfen die nicht, kommt unweigerlich die Spritze. – Es ist hier übrigens eine Grabesstille. Ob Mama und Anka noch schlafen?«

»Wahrscheinlich.«

»Hast du gehört, wann sie nach Hause kamen?«

»Nein.«

»Da will ich doch mal nachsehen.«

Er stand auf, schlüpfte in die Pantoffeln, warf den Morgenmantel über, ging in den Korridor und klopfte dort an die Schlafzimmertür. Mußte es mehrmals wiederholen, wobei es jedes mal lauter wurde. Und endlich kam dann die Mutter an die Tür.

»Mein Gott, Ralf, du trommelst ja wie ein Wilder«, gähnte sie verschlafen.

»Was ist denn los, mußt du wieder fort?«

»Nein. Ich finde nur, daß es Zeit ist, aufzustehen, wir haben bald elf Uhr.

Wann seid ihr übrigens nach Hause gekommen?«

»Um zwei«, drang Ankas helle Stimme vom Bett aus zu ihm hin. Sehr zum Ärger der Mutter, der diese wahrheitsgemäße Zeitangabe gar nicht gefiel. »Es war einfach prima, Bruderherz.«

»Also prima«, wiederholte er, indem er an das Bett trat und die Schwester forschend betrachtete. »Wird es auch prima sein, wenn du einen Rückfall bekommst und somit kränker wirst, als du es warst?«

»Wer denkt denn daran?«

»Ich als Arzt. Aber du kannst ja weniger für deinen Leichtsinn als die Mama«, wandte er sich ihr zu, die ein Gesicht machte wie ein beleidigter Mops. »Wie konntest du nur so lange mit Anka wegbleiben?«

»Ach, Junge, sie bettelte doch so sehr.«

»Na, eben, dann laß sie mich auch um meine Behandlung anbetteln, die ich trotzdem ablehnen werde.«

»Wenn du dazu kommst«, warf Anka schnippisch ein, während die Frau Mama sie mühte, ein paar »Krokodilstränen« zu erpressen.

Und da war der Sohn wieder einmal beschämt. Er entschuldigte sich sogar für seine Heftigkeit, bevor er das Zimmer verließ.

Er ist und bleibt ein blinder Narr, dachte Lenore, die durch die geöffnete Tür alles mit angehört hatte. Aber nur, wenn es um Mutter und Schwester geht, sonst verfügt er sogar über Scharfsinn.

»Na ja«, meinte er entschuldigend, nachdem er wieder bei Lenore war. »Die Mama kann Anka eben nichts abschlagen, wie es die Mütter bei den Nesthäkchen wohl alle nicht können. Und Anka hat ja auch wirklich wenig Abwechslung.«

Habe ich etwa mehr? wäre es Lenore beinahe entfahren, und sie war froh, daß sie ihre Zunge noch gerade so meistern konnte. Denn es lag ihr gar nichts daran, einen Streit zu entfachen und den Gatten damit zu verärgern, der endlich einmal zu Hause war.

»Es ist kalt hier, ergo werde ich heizen«, erklärte Ralf, was dann auch geschah. Er heizte auch die Öfen in den beiden anderen Zimmern, schleppte unermüdlich Holz und Kohlen aus dem Keller, was sonst Lenores Arbeit war, und half der Mutter sogar beim Abwasch. Dann erschien er wieder bei Lenore, ein Tablett tragend, auf dem bei der Frühstück stand.

»So, mein Liebes, jetzt werde ich mir mal den Luxus erlauben, mit meiner holden Gemahlin im Bett zu frühstücken«, lachte er so jungenhaft froh, wie Lenore ihn überhaupt noch nicht kannte. »Setz dich auf, mein herziges Kind, der gute Onkel Doktor wird dich mit Kissen liebevoll stützen.«

»Ja, sag mal, Ralf, was hat dich in diese so ungewohnt heitere Stimmung versetzt?« fragte sie verwundert, und er lachte.

»Daß ich meine erste Privatpatientin habe, die mich so fürstlich bezahlt. Mit tausend Mark Honorar komm ich mir wie eine Kapazität vor. So, halte bitte das Tablett, damit ich mich an deine grüne Seite setzen kann. Denn grün ist das verführerische Nachtgewand, grün sind die Decken, und grün ist die Hoffnung.«

Mit einem Satz war er im Bett, stellte das Tablett in die Mitte und schmauste mit Lenore um die Wette.

»Wie ist es mit einer Zigarette – genehmigt?«

»Etwa für dich?«

»Natürlich.«

»Mein liebes Kind, ich bin Arzt.«

»Aber jetzt im Schlafanzug und somit aller Würde bar.«

Da lachte der Mann voll überschäumender Herzlichkeit.

»Na, warte nur, du keckes Persönchen, für die allerliebste Bosheit räche ich mich noch!«

»Daß ich nicht lache.«

»Wird dir vergehen, wenn ich in deinen klassisch schönen Arm pieke, wovor du doch so schreckliche Angst hast.«

»Und du willst ein barmherziger Samariter sein?«

»Warum denn nicht?«

»Recht barmherzig sein will heißen: wenden eines andern Pein – verlangt der Dichter Logau. Und was willst du tun? Dich an meiner Pein weiden. Schäm dich!«

»Wenn ich es tue, dann höchstens deshalb, weil ich so gar keine Rücksicht auf deinen Zustand nehme.«

»Wieso Zustand?« fragte sie hastig dazwischen.

»Nun, du bist doch krank.«

»Ach so.« Sie atmete auf. »Na, laß man, die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes.«

»Wieder ein Zitat. Also zwingst du mich, auch damit zu kommen: Der Stunden wünsche ich mir viele, nämlich solche wie heute. Aber alle Tage ist kein Sonntag.«

*

Und dieser Sonntag sollte auch der letzte sein, den das junge Paar in Harmonie verbrachte.

Zuerst einmal mußte sich der Arzt sechs Wochen von der Gattin trennen.

Denn als er am nächsten Tag im Krankenhaus erschien, erklärte ihm der Chefarzt kurz und bündig, daß Doktor Skörsen als Leiter eines Ärztekursus angefordert worden wäre.

»Ja, mein lieber Ralf, das kommt davon, wenn man so tüchtig ist, daß man auffällt«, lachte der joviale Herr schadenfroh. »Ob Sie das nun wollen oder nicht, Sie müssen. Befehl ist Befehl. Mir ist es wahrlich auch nicht recht, daß die Wahl ausgerechnet auf Sie gefallen ist, ich werde Ihre Arbeitskraft hier sehr vermissen. So reisen Sie denn mit Gott, und zwar schon morgen früh, denn die Sache eilt.«

Mit warmem Händedruck war er entlassen.

Aber es dauerte dann doch noch Stunden, bis er aufbrechen konnte. Immer wieder kam etwas dazwischen, und so wurde es gegen Abend, bis Ralf zu Hause anlangte, wo er aber nur Lenore im Bett vorfand. Mutter und Schwester waren wieder mal unterwegs.

So bekam die junge Frau als erste die Neuigkeit zu hören, die sie so hart traf, daß sie zuerst davon wie betäubt war. Doch dann kam eine solche Verzweiflung über sie, daß sie sich an ihren Mann klammerte und anflehte:

»Geh nicht, Ralf, hörst du – geh nicht! Laß mich hier nicht so allein! Bitte, bitte, geh nicht!«

»Aber Kind, was hast du denn?« fragte er erschrocken. »Du bist ja ganz außer dir, zitterst am ganzen Körper. Wie kannst du dich nur so erregen? Du wirst wieder Fieber bekommen, was nicht sein darf. Ich würde dann beunruhigt abfahren.«

»Nur deshalb, Ralf?«

»Ja, warum denn sonst?« fragte er verwundert zurück. »Ich lasse dich doch hier in guter Hut zurück.«

»Das nennst du gute Hut?« schrie sie so jäh auf, daß er zusammenzuckte. »Wenn du fort bist und sie dich nicht mehr zu fürchten brauchen, werden sie mich so richtig in die Hand bekommen. Werden mich immer mehr peinigen und quälen mit ihren Schikanen, ihren Erpressungen um Geld. Werden mir immer mehr an Arbeit aufbürden, werden mir kaum noch etwas zu essen geben. Oh, sie sind ja so gehässig und faul, deine von dir so sehr geliebte Mutter und Schwester.«

Bis dahin hatte der Mann wie erstarrt zugehört, doch nun machte er sich mit brutalem Griff von den ihn umklammernden Armen frei. Sprang vom Bettrand auf und stand vor ihr, blaß bis in die Lippen.

»Genug, Lenore, kein Wort weiter!« gebot er scharf und schneidend. »Du bist ja ein ganz boshaftes Geschöpf, hinterhältig und verlogen! Wäre dein wahrer Charakter schon damals zutage getreten, dann hätte ich mich nimmermehr von deiner Mutter zur Heirat überreden lassen, selbst nicht um aller Dankbarkeit willen, die ich ihr zu schulden glaubte...«

»Hör auf! Hör doch auf!« unterbrach sie ihn mit ganz fremder Stimme, die wie zerbrochen klang, wie sprödes Glas, und das brachte den erregten Mann endlich zur Besinnung.

Zögernd streckte er seine zitternde Hand nach ihr aus, doch nachdrücklich wurde sie zurückgestoßen.

»Rühre mich nicht an!« sagte sie dumpf und schwer. »Ich verachte dich.«

Da fuhr der Mann auf, als habe ihn ein Stich getroffen durch und durch.

Doch ehe er etwas erwidern konnte, hörte er die Korridortür schließen, riß sich mit aller Energie zusammen und trat in den Korridor, um zu verhüten, daß die Mutter ins Zimmer kam, um nach Lenore zu sehen, was er als selbstverständlich annahm. Denn wie er seine Frau jetzt kennengelernt hatte, hielt er sie zu allem fähig, auch daß sie ihm im Beisein der Mama weitere Szenen machte.

Also ging er dieser entgegen, die hastig fragte:

»Junge, du bist schon hier?«

»Und zwar aus einem besonderen Grund. Ich muß morgen früh nach Berlin, als Leiter eines Ärztekursus.«

»Ralf, welch eine Auszeichnung!« rief die Mutter entzückt. »Dann wird es bestimmt nicht lange dauern, bis du Oberarzt wirst.«

»Daß weiß ich nicht, Mama«, dämpfte er ihre Hoffnungsfreudigkeit. »Zuerst möchte ich mit dir über Lenore sprechen.«

»Warum, ist sie kränker geworden?«

»Nein, sie ist fieberfrei. Aber da du dich so oft über ihre trotzige, launenhafte Art beklagtest, wirst du kaum mit ihr fertigwerden, wenn ich fort bin.«

»Aber Junge, darüber brauchst du dir doch keine Sorge zu machen«, schauspielerte sie so überzeugend, daß manch ein Star vor Neid erblaßt wäre. »Ich bin bisher ganz gut mit ihr ausgekommen und werde es auch weiter tun. Gott ja, man muß wohl so allerlei einstecken, aber was tut man nicht alles seinem Sohn zuliebe. Lenore ist eben von ihren Eltern zu sehr verzogen worden, die in dem einzigen Kind einen Abgott sahen, mit dem andere Menschen sich dann abplagen müssen. Aber ich beschwichtige sie schon, wenn sie zu bocken anfängt«, schloß die vortreffliche Dame lachend. Und da beugte der Sohn sich voll Verehrung über ihre Hand.

»Ich danke dir, Mama.«

Für Lenore hatte er keinen Blick, kein Wort. Er tat so, als ob sie gar nicht anwesend wäre. Regungslos lag sie da, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, den schmerzverdunkelten Blick auf die Decke gerichtet. Ihr war sterbenselend zumute.

Sie zuckte zusammen, als die Schlösser des Koffers einschnappten. Ungemein aufreizend klang es, so als wollte der Mann damit ausdrücken, daß er nun sein Bündel geschnürt hätte, um damit einen Weg zu wandern, der weit ab von dem ihren führte.

Dann ging er hinaus.

Als er nach Stunden zurückkehrte und zu Bett ging, stellte Lenore sich schlafend. Ach, wenn sie es doch wirklich könnte! Aber sie lag schlaflos da, starrte in die Dunkelheit und zergrübelte sich das Hirn, was nun werden sollte.

Sie hatte Angst, eine bebende Angst vor der Zukunft. Für die wenigen Minuten, da sie die Beherrschung verlor und ihm entgegenschrie, was sie so lange schweigend erduldet hatte, würde sie schwer büßen müssen.

Erst beim Morgengrauen schlief sie ein, und zwar so fest, daß sie nicht merkte, wie der Gatte aufstand. Erst als sie die Stimme der Schwiegermutter hörte, die im Korridor laut und wortreich den Sohn verabschiedete, da schreckte sie auf.

Er war gegangen, wirklich gegangen, ohne ihr Lebewohl zu sagen.

Doch nein, nicht ganz so. Lenore entdeckte auf ihrem Nachttisch einen Umschlag, den sie mit zitternden Fingern aufriß und dann die wenigen Zeilen las.

Du wirst bei meiner Mutter bleiben, bis ich zurückkomme, das befehle ich Dir! Alles Weitere wird sich dann finden.

Ralf

Und dem Brief lag das Geld bei – ihre Weihnachtsgabe an ihn.

So schieden zwei Menschen, die sich doch eigentlich aus Liebe geheiratet hatten. Und die gewiß glücklich gelebt hätten, wenn sie es zu zweit hätten tun dürfen.

*

Und nun begann für die junge Frau eine Leidenszeit, die sie kaum ertragen konnte. Immer wieder spielte sie mit dem Gedanken, ihrem armseligen Leben einfach ein Ende zu machen, schreckte aber immer wieder davor zurück. Denn was sie vermutet hatte, war nun zur Gewißheit geworden.

Ihr Leben zu vernichten, wäre ihre eigene Angelegenheit gewesen, aber bei dem keimenden Leben, das sie in sich trug, hielt sie es für Mord.

Allmählich stumpfte sie so ab, daß ihr alles gleichgültig war. Sie verrichtete in ihrem Zustand nicht nur die gesamte Hausarbeit, sondern schleppte auch Brennmaterial aus dem Keller, wusch die große Wäsche, alles Arbeiten, bei denen sie zu Schaden kommen konnte.

Es war an einem bitterkalten Tag Anfang Februar, als Lenore zur großen Wäsche befohlen wurde. Sie war gerade dabei, einen Korb voll davon in die Waschküche zu tragen, als ihr so schwindlig wurde, daß sie haltsuchend nach dem Treppengeländer griff, wobei sie den Korb fallen ließ, der mit großem Gepolter die Treppe hinabsauste.

Das hörte man in der Parterrewohnung, wo man gerade beim Frühstück saß.

»Was war denn das?« fuhr Herr Warteck samt Gattin und Schwiegertochter erschrocken hoch. »Es hörte sich fast so an, als wäre jemand die Treppe heruntergefallen.«

Schon sprangen sie auf, eilten in den Flur und bemerkten zuerst einmal den Korb, der seines Inhalts entledigt dalag. Und als die Blicke weiterschweiften, erfaßten Sie auch Lenore, die sich krampfhaft arn Geländer festhielt. Das Gesicht erschreckend blaß, die Augen wie erloschen.

Gleich darauf wurde die regungslose Gestalt von hilfreichen Armen umfaßt und vorsichtig in das Wohnzimmer geführt, wo Frau Warteck das elende Geschöpf behutsam in den Sessel drückte.

»Frau Skörsen, was haben Sie denn?« fragte sie leise, »Sie sind ja weiß wie die Wand.«

»Mir – wurde – schwindlig«, tropften die Worte langsam von den Lippen. »Aber das – vergeht – wieder.«

»Dann haben Sie es schon öfter gehabt?«

»Ja, das gehört wohl zu – meinem – Zustand.«

Die drei Menschen warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu.

Mütterlich streichelte Frau Warteck über das goldschimmernde Köpfchen und sagte mit leisem Vorwurf:

»Aber Kindchen, dann dürfen Sie doch nicht so schwere Körbe schleppen! Das sollte der Herr Gemahl nun wirklich nicht dulden, schon gar nicht als Arzt.«

»Er ist ja nicht da und weiß außerdem von meinem Zustand noch nichts.«

»Und die Schwiegermutter?«

»Auch nicht. Und wenn, würde sie bestimmt keine Rücksicht darauf nehmen.«

»Sieht der Menschenschinderin ähnlich«, brummte der alte Herr. »Was sie nämlich mit Ihnen treibt, kann man nur mit Schinderei bezeichnen. Die ganze Nachbarschaft hält sich schon darüber auf. Wenn der Herr Doktor zurückkommt, wird sich schon jemand finden, der den Mut hat, ihm über seine von ihm so verehrte Mutter die verblendeten Augen zu öffnen. Ich aber werde sofort zu der Megäre gehen und ihr gehörig den Marsch blasen.«

»Bitte, nicht!« hielt Lenore ihn angstvoll am Ärmel zurück. »Ich müßte ja doch nur dafür büßen.«

»Sie hat recht«, bestätigte Frau Warteck, ein liebes, betuliches Muttchen, das man sich beim besten Willen nicht als böse Schwiegermutter vorstellen konnte, und die es gewiß auch nicht war. Sie liebte ihre Schwiegertochter wie ein eigenes Kind und begriff es einfach nicht, daß es auch anders sein könnte.

»Lenore!« drang jetzt eine laute, scharfe Stimme bis zu ihnen hin. Erschrocken sprang Lenore auf und hastete davon.

»Na, wenn einem da nicht der Kragen platzen soll, dann gibt es sowas überhaupt nicht«, knurrte Herr Warteck wie ein gereizter Kettenhund. »Und es findet sich keiner, der dieses bedauernswerte Geschöpfchen aus den Krallen dieser Bestien befreit. Alle sind zu feige dazu – auch wir.«

»Mann, es tut nicht gut, sich in die Angelegenheiten seiner Mitmenschen zu mischen.«

»Ach was!« sagte er unwirsch. »Es gibt ja sogar Tierschutzvereine... Halt mal, zetert die alte Scharteke da oben nicht wieder? Das höre ich mir jetzt nicht mehr länger mit an. Ich werde ihr so fünf Minuten lang das Leben bestimmt nicht lieb machen.«

Zornig stampfte er ab, doch schon hängten Gattin und Schwiegertochter sich an seinen Armen.

»Alter, mach keine Dummheiten!« bat Frau Warteck beschwörend. »Wenn du denen da oben Grobheiten sagst, schadest du dem armen Ding mehr, als du ihm nützt. Wir wollen erst mal sehen, was da überhaupt los ist.«

Spaltbreit öffnete sie die Korridortür, und nun konnte man jedes Wort hören, das gesprochen wurde.

»Beeil dich gefälligst, damit ich sehen kann, daß du auch wirklich in die Waschküche gehst!« schrillte die Stimme Frau Rosalias, die gleich der Tochter zum Ausgehen gekleidet auf der halben Treppe stand, die Lenore nun hinabhastete. Wobei sie das Pech hatte, im Vorbeigehen der Schwägerin auf den Fuß zu treten, was diese so erboste, daß sie der jungen Frau einen harten Stoß versetzte.

»Kannst du nicht aufpassen, du Tolpatsch!«

Weitere Betitelungen erstarben ihr im Mund, denn Lenore stolperte, griff ins Leere und fiel die letzten Stufen hinunter, wo sie reglos liegenblieb.

Aber da wurde der alte Herr mobil. Die Tür flog auf, mit einigen Sätzen war er auf der Treppe und sprang mit erhobenen Fäusten auf Anka zu, die sich mit lautem Aufschrei hinter den Rücken der Mutter flüchtete.

»Kanaille!« knirschte der Mann, außer sich vor Empörung. »Raus aus meinem ehrbaren Haus, das keinen Platz für Mörder hat! Zur Polizei werde ich gehen und Anzeige erstatten.«

Weiter kam er nicht, weil die beiden Feiglinge Reißaus nahmen. Wie gejagt hetzten sie die Treppe hinauf, die Etagentür knallte zu. Und dann atembeklemmende Stille, in die nur das Weinen der jungen Frau Warteck tönte. Auf dem Boden kniend, hielt sie im Schoß Lenores Kopf, der aus einer Wunde blutete, die sie sich am Fußabkratzer geschlagen. hatte. Todblaß war das Gesicht, der Mund im Schmerz verkrampft.

»Mein Gott, sie ist doch nicht etwa tot?« fragte schluchzend die junge Frau, doch der Schwiegervater, gleich der Gattin zutiefst erschüttert, sagte leise:

»Gottlob nicht, mein Kind. Sieh nur, ihre Augenlider zucken. Faß an, wir bringen sie zu uns. Dann rufe ich sofort das Krankenhaus an und bestelle den Wagen, denn bei dem harten Aufprall wird die Wunde wohl nicht die einzige Verletzung sein.«

Damit sollte er recht behalten. Als Lenore nämlich nach vielen Bemühungen endlich zu sich kam, krümmte sie sich vor Leibschmerzen. Zum Glück kam der Krankenwagen überraschend schnell, die Bahre wurde hineingeschoben, die Türen schlossen sich.

Das war Lenores Auszug aus dem Haus, das sie vor einem Vierteljahr so bangenden Herzens betreten hatte.

*

Der Chefarzt des Krankenhauses »Zur Barmherzigkeit« saß in seinem Zimmer und prüfte die Röntgenaufnahmen, die heute gemacht worden waren. Er hatte einen verantwortungsvollen Posten, war ihm aber durchaus gewachsen.

Klein, rundlich, mit einem rosigen Gesicht und respektabler Glatze sah er eher wie ein gemütlicher Onkel als wie eine Respektsperson aus. Aber er war eine, das wußten alle, die mit ihm zu tun hatten.

»Herein!« forderte seine markige Stimme, die an dem Mann geradezu frappierte, zum Eintritt auf, und schon schob sich ein haubengeschmückter Kopf vorsichtig durch den Türspalt.

»Ist’s erlaubt, Herr Professor?«

»Eigentlich nicht, verehrte Oberin, aber kommen Sie schon.«

Gleich darauf stand ein weibliches Wesen vor dem mächtigen Schreibtisch, das man als Pendant des Arztes bezeichnen konnte. Aber auch hier trog der Schein, das war längst bewiesen; denn die Oberschwester war alles andere als ein rundliches Tantchen.

Professor Hollgart lehnte sich im Schreibtischsessel zurück, schob die große Brille auf die Stirn und sah die Oberschwester vergnügt an, die seine beste Mitarbeiterin und Vertraute war seit vielen Jahren. Daher bestand auch zwischen ihnen ein Ton, den sich ein gewöhnlicher Sterblicher beileibe nicht diesen beiden Gefürchteten gegenüber erlauben durfte.

»Na, nun schießen Sie mal los,

Agathchen, was gibt’s denn? Sie machen nämlich den Eindruck, als hätten Sie so allerlei auf dem Herzen. In der Klemme?«

»Man hat eine Patientin eingeliefert, Herr Professor.«

»Das dürfte bei uns wohl nichts Neues sein.«

»Aber die Patientin heißt Lenore Skörsen.«

»Wie – was? Etwa die Frau unseres Ralf?« horchte er auf, und sie nickte.

»Stimmt genau.«

»Was hat sie?«

»Eine nicht ungefährliche Kopfwunde und einen Abortus.«

»Nanu, wie ist das beides zugleich möglich? Ist das Unglückswürmchen etwa vor Schmerzen gegen die Wände gerannt?«

»Nein. Die liebe Schwägerin hat sie wutentbrannt die Treppe hinuntergestoßen.«

»Jetzt schlägt’s aber dreizehn«, sagte der Arzt verblüfft. »Wo gibt’s denn so was?«

»Kommt in den besten Familien vor – sagt ein Ausspruch.«

»Oberin, Ihre Pomadigkeit möchte ich auch mal haben. Gottsdonner, da wird der Ralf aber staunen, wenn er zurück kommt! Wo haben Sie die Ärmste untergebracht?«

»In meinem Zimmer.«

»Wozu das? Ist sonst nichts mehr frei?«

»Sogar noch ein Bett in Zweiter.«

»Und warum bringen Sie die Kranke da nicht unter?«

»Sie spricht im Fieber, Herr Professor, und zwar mancherlei, was dem Ralf nebst Angehörigen nicht gerade zur Ehre gereicht.«

Sie sahen sich an und verstanden sich wie immer, auch ohne viele Worte.

»Wer hat sie eingeliefert?« fragte der Arzt nach sekundenlangem Schweigen.

»Etwa die lieben Anverwandten?«

»Die werden sich hüten. Die Wirtsleute, die auch mitansahen, wie der Unfall geschah, begleiteten die Kranke.«

»Sie sind noch im Haus?«

»Ja.«

»Ich möchte sie sprechen.«

Minuten später standen Wartecks vor dem Professor und der Oberschwester. Sie weinte in sich hinein, er machte ein Gesicht, als würde er am liebsten alles um sich her verschlingen. Bevor der Arzt ihn noch dazu auffordern konnte, legte er auch schon los, mit Grimm und Groll geladen bis zur Halskrause.

Und so bekamen denn die beiden atemlos Lauschenden das ganze Martyrium Lenores zu hören – kraß, schonungslos, aber auch wahrheitsgemäß. Denn Herr Warteck war kein Freund von Klatsch, der in der engeren Umgebung natürlich herrlich blühte, er verließ sich lieber auf seine eigenen Augen und Ohren.

»Wird für die Lenore auch wirklich alles getan werden?«

»Was in Menschenkräften steht. Das sind wir schon allein unserm Mitarbeiter Doktor Skörsen schuldig.«

»Ach, der«, brummelte der alte Herr. »Der hat ja keine Rücksicht verdient. Wann kommt er zurück?«

»Übermorgen. Und nun muß ich Sie leider verabschieden, weil ich zu der Patientin gehen möchte. Haben Sie nochmals herzlichen Dank.«

»Was wir taten, war Selbstverständlichkeit, Herr Professor. Dürfen wir mal anrufen und fragen, wie es der Lenore geht?«

»Sooft Sie wollen.«

»Dann danke schön.«

Damit zogen sie ab, und der Arzt sah die Oberschwester so durchbohrend an, als wollte er ihr die Gedanken aus dem Hirn ziehen.

»Wieviel glauben Sie von dem Gehörten, Agathe?«

»Jedes Wort, Herr Professor. Das ist kein Mann, der aufschneidet oder gar lügt.«

»Ei, der Donner!« Er kratzte sich den Kopf. »Na, proste Mahlzeit! Denn Ihre Menschenkenntnis ist mir zu gut bekannt, als daß ich sie anzuzweifeln wage. Kommen Sie, sehen wir uns das Unglückswürmchen mal an.«

Als sie das Zimmer der Oberschwester betraten, fanden sie außer der Patientin auch noch den jüngsten der Ärzte vor.

»Nun, mein Lieber, solo?« fragte der Chef. »Ohne Assistenz?«

»Zu gefährlich, Herr Professor«, entgegnete der lange Mensch mit dem sommersprossigen Gesicht und den weißblonden Haaren in aller Trockenheit, die ihm eigen. »Lenorchen schwatzt nämlich, und das ist nicht von Pappe. Wirft kein gutes Licht auf unsern lieben Ralf.«

»Wie steht es mit dem Wehwehchen?«

»Das im Bäuchlein ist futsch.«

»Von wie lange ungefähr?«

»Zwei Monate.«

»Hat sie sehr zu leiden gehabt?«

»Nein, ich gab ihr eine Spritze. Nun duselt sie dahin und redet.«

Prüfend sah der Professor auf die Patientin nieder, die ein fieberheißes Gesicht hatte. Um die Stirn trug sie einen Verband.

»Kleine Frau, wie geht es Ihnen?« sprach Hollgart sie behutsam an, und da huschte ein Ausdruck von Qual über ihr Gesicht.

»Lassen Sie mich, ich bin tot!« kam es dann murmelnd über die zersprungenen Lippen. »Das wird Ralf freuen.«

Betroffen richtete der Arzt sich auf und flüsterte den beiden anderen zu:

»Was mag der Skörsen da bloß angerichtet haben? Hat Ihnen das die kleine Frau vielleicht in ihrem Halbdusel verraten, Wilmar?«

»Bruchstücke«, kam es gleichfalls flüsternd zurück. »Aber wenn man sie zu leimen versteht, formen sie sich

hübsch zu einem Ganzen.«

»Und das wäre?«

»Die Schwiegermutter hat den Skörsen wahrscheinlich zur Hochzeit mit der Tochter bewogen. Geld muß da auch eine Rolle spielen, da das süße Dinglein von Raten spricht, welche zwei Weiblichkeiten erpressen wollen, die wohl überhaupt ihre Peiniger sind. Müssen ja liebe Herzehen sein – Pack möchte ich am liebsten sagen, nach alledem, was das arme Hascherchen da mir über sie verriet. Na ja, und dann der gute Ralf. Muß ganz nett was auf dem Kerbholz haben. Zuerst heißes Flehen, sie nicht zu verlassen, und zuletzt der gequälte Schrei: Rühr mich nicht an, ich verachte dich!«

»Ei, verflixt!« Der Chef kratzte sich den Kopf. »Das scheint ja böse auszusehen. Hört mal zu: nur wir drei allein dürfen die Kranke betreuen, dürfen keinen anderen Arzt, keine andere Schwester zu ihr lassen. Sonst gibt es hier einen Klatsch, der nicht so ohne ist.«

Leni Behrendt Staffel 2 – Liebesroman

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