Читать книгу Leni Behrendt Staffel 2 – Liebesroman - Leni Behrendt - Страница 7

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Mit einem konventionellen Lächeln sah die junge Frau der stattlichen Dame entgegen, die nach Anmeldung des Dieners das luxuriöse Zimmer betrat. Hüben wie drüben ein forschender Blick, und dann umschlang ein Band von Sympathie die beiden ungleichen Frauen.

»Seien Sie mir herzlich willkommen«, sprach die jüngere zaghaft. »Ich freue mich, daß Sie gekommen sind.«

»Wie formell!« lachte die andere. »Den Ton wollen wir erst gar nicht zwischen uns aufkommen lassen, mein Kind. Du bist immerhin die Frau meines Neffen, und ich bin daher die Tante Beate, die sogar auf deiner Hochzeit war.«

»Entschuldige bitte, Tante Beate, aber da waren so viele. Bitte, nimm Platz. Darf ich dir eine Erfrischung anbieten?«

»Gegen eine Tasse Kaffee hätte ich nichts einzuwenden«, ließ Frau Beate Norber sich in einen der tiefen Sessel sinken, die den Kamin umstanden. »Es ist so ein richtiges Hubberwetter draußen, das bis auf die Knochen geht. Da ist ein heißer Kaffee schon angebracht. – Praktisch«, meinte sie, nachdem die junge Frau durch das Haustelefon die Bestellung aufgegeben hatte. »Da braucht man die dienstbaren Geister nicht erst herbeizuklingeln. Du hast es überhaupt wunderschön hier.«

»Ja, das habe ich.«

Es klang so sonderbar, daß Beate ihr Gegenüber forschend betrachtete. Und was sie da sah, ließ sie betroffen werden.

»Bist du krank, Elonie?« fragte sie leise. »Oder hat dein – verzeih – erbärmliches Aussehen einen anderen Grund?«

»Nichts von beiden, Tante Beate«, kam es bitter über die zuckenden Lippen. »Ich war und bleibe eben ein verzärteltes Treibhauspflänzchen.«

Mitleidig sah Beate in das durchsichtig weiße Gesichtchen. Unter den verschleierten Augen lagen tiefe Schatten. Die Gestalt konnte man mit verhungert bezeichnen. Selbst das einst so wunderschöne lichtbraune Haar hatte seinen goldigen Glanz verloren. Nichts, aber auch gar nichts war von der bezaubernden Braut übriggeblieben, die sie vor einem halben Jahr gewesen. Die Augen hatten gestrahlt, der Mund gelacht. Eine zaubersüße Braut, die man entzückt betrachtet hatte.

Der Eintritt des Dieners riß Beate aus ihren Gedanken. Er schob den Servierwagen vor sich her, mit einer Miene, die etwas Herablassendes hatte.

»Ist gut, Jan, Sie können gehen«, wurde er von der Herrin verabschiedet, die dann den niedrigen Tisch zwischen den Sesseln deckte, ihren Gast aus der Maschine mit Kaffee versorgte und den Teller mit Gebäck vor ihn hin stellte.

»Bitte, Tante Beate, greif zu«, sagte sie mit einem Lächeln, das der menschenkundigen Frau mehr verriet als viele Worte es vermocht hätten. Hier saß ein Mensch, der Weg und Steg verlor und den sie spontan in ihr mitfühlendes Herz schloß.

»Der Kaffee ist gut«, schlug sie absichtlich einen munteren Ton an. »Wie geht es Diederich?«

»Ich weiß es nicht, Tante Beate«, kam es ziemlich gleichgültig zurück. »Er war vier Wochen unterwegs. Ich glaube, er ist heute nacht zurückgekehrt.«

»Aber, aber, hat er dich denn nicht begrüßt?«

»Nein.«

»Auch heute früh nicht?«

»Ich pflege bis elf Uhr zu schlafen.«

»Und wer kümmert sich um den Hausstand?«

»Ein Phänomen von Hausdame und ein ebensolcher Diener. Sie sind länger als ich in diesem Haus und ihrem Herrn treu ergeben. Iß doch bitte, Tante Beate.«

»Nein, mein Kind!« Sie stellte energisch die Tasse auf den Unterteller. »Mir würde der Bissen im Hals steckenbleiben. Denn wer dich früher gekannt hat und dich heute sieht, dem muß sich das Herz krümmen vor Jammer. Wie konntest du nur so herunterkommen?«

»Das liegt an mir«, erfolgte die Antwort wie eingelernt. »Zu essen gibt es hier in Hülle und Fülle.«

»Und was gibt es noch?«

»Alles das, was zu einem Luxusgeschöpf gehört. Ein Faulenzerleben, schöne Kleider, Schmuck, Reitpferd, Auto.«

»Und einen goldenen Käfig«, warf Beate trocken ein, »an dessen Stäben du wahrscheinlich solange gerüttelt hast, bis du erschöpft zusammenbrachst. Du mußt raus von hier, Elonie, sonst gehst du ganz kaputt. Halb bist du es nämlich schon.«

»Sicherlich legt Diederich es darauf an«, zuckte sie gleichmütig die Achseln. »Dann wird er wenigstens die Last auf anständige Art los, die er sich vor einem halben Jahr in einer Anwandlung von Edelmut aufbürdete.«

»Kind, es ist doch fürchterlich, was du da sagst.«

»Aber es ist die Wahrheit, ungetünchte Wahrheit. Denn der reiche Industrielle Diederich Brendor übernahm mit dem verkrachten Konkurrenzunternehmen des Herrn Reigerts auch dessen Tochter, dieses von maßloser Elternliebe überzüchtete Treibhauspflänzchen, weil er doch nun mal ein großmütiger Mensch ist.«

»Na du, nach Großmut sah es mir bei eurer Hochzeit nicht aus. Man war allgemein der Ansicht, daß der Bräutigam ganz gehörig in seine bezaubernde Braut verliebt sei. Es gab wohl keinen, der nicht eine glückhafte Ehe prophezeite.«

»Doch, einen gab es.« Die Mundwinkel zogen sich spöttisch nach unten. »Ich habe nämlich selbst gehört, wie ein männlicher Gast zu dem anderen sagte: ›Ziemlich gewagt von dem guten Brendor, sich nach all den feurigen Granatblüten seines bewegten Junggesellenlebens eine feine weiße Lilie als Hüterin seines Heims und Herdes zu wählen. Wenn die Ehe man gutgeht.‹ – Damals war ich natürlich empört«, setzte sie hinzu. »Doch heute geb’ ich dem Mann recht. Und nun wollen wir das Thema fallenlassen, Tante Beate. Es ist unerquicklich und führt zu nichts.«

»Also gedenkst du hier immer weiter zu vegetieren. Denn leben kann man das wohl nicht gut nennen.«

»Ich will ja auch gar nicht leben.«

»Sondern? »

»Sterben.«

»Großer Gott, Kind, du bist wohl nicht recht gescheit! Dieser Gedanke ist direkt frevelhaft für ein blutjunges Geschöpf.«

»Tante Beate, ob man da zwanzig Jahre zählt oder achtzig. Wenn man lebensmüde ist, will man eben sterben. Wäre ich nicht so feige, hätte ich längst diesem Leben ein Ende gemacht. Aber es wird auch so klappen, denn mein Herz schlägt immer träger.«

»Hast du denn einen Herzfehler?«

»Wahrscheinlich.«

»Was sagt Diederich dazu?«

»Nichts, weil er keine Ahnung hat.«

»Elonie, du mußt es ihm sagen.«

»Dazu habe ich keine Gelegenheit, weil er sich fast ständig auf Reisen befindet. Und wenn er mal hier ist, steckt er im Werk.«

»Hast du wenigstens einen netten Bekanntenkreis?«

»Nein.«

»Besuchst du Vergnügungen?«

»Nein.«

»Treibst du Sport?«

»Nein.«

»Betätigst du dich im Haushalt?«

»Nein.«

»Ja, um alles in der Welt, womit vertreibst du dir denn die Zeit?«

»Ich schlafe lange, lese, musiziere, stümpere ein bißchen Handarbeit und gehe mit den Hühnern zu Bett.«

»Und das mit zwanzig Jahren. Kind, du bist mir direkt unheimlich. Könntest du nicht wenigstens in ein Bad fahren, das dir wahrscheinlich notwendig ist?«

»Gewiß könnte ich das.«

»Und warum tust du es nicht?«

»Weil ich nicht will.«

Der Fernsprecher schlug an, sie hob den Hörer ab, meldete sich und sprach gleich darauf:

»Guten Tag, Diederich. Ja, es geht mir gut. Eine Verabredung hast du für heute abend und ißt daher außerhalb? Wäre mir schon recht. Aber wir haben einen Gast. Tante Beate Norber. Da wirst du dich schon herbemühen müssen. Gut, ich gebe den Hörer an sie ab.«

Sie tat es, und Beate sprach:

»Jawohl, Diederich, ich bin’s höchstpersönlich. Ich muß dich sprechen, daher bin ich hier. Nein, am Telefon kann ich dir das nicht sagen, es handelt sich um eine Familienangelegenheit. Du kommst, das ist nett. Tu es aber bald. Ich muß heute noch nach Hause zurückfahren. Also bis nachher.«

*

Zehn Minuten später trat er ein. Ein Typ von Mann, auf dien die Frauen sozusagen fliegen. Hochgewachsen, blond, blauäugig, markantes Gesicht, hartgeschnittener Mund, um den es humorvoll, aber auch ironisch zucken konnte, mit dem herrischen Gebaren des Gebieters und dem Fluidum des Mannes von Welt. Das war der Industrielle Diederich Brendor. Im Werk beliebt, von der Konkurrenz gefürchtet.

Ganz artig begrüßte er die Schwester seiner Mutter, für die Gattin hatte er einen ebenso flüchtigen Handkuß wie auch Blick, was Beate nicht gerade wenig empörte. Diesem arroganten, sehr selbstherrlichen Menschen mal die Meinung sagen zu dürfen, eine wahre Wonne müßte das sein.

»Darf ich mich verabschieden, Tante Beate? Hab Dank für deinen lieben Besuch, hoffentlich wiederholst du ihn«, sagte Elonie.

Ehe die Dame noch etwas erwidern konnte, war die erschreckend schmale Gestalt verschwunden wie ein Schemen. Mit einem unterdrückten Seufzer wandte Frau Norber sich dem Mann zu, der sich ihr gegenüber niederließ und bedauernd sagte:

»Ich habe dich wohl beim Kaffeetrinken gestört, Tante Beate.«

»Nein, das hast du nicht«, entgegnete sie kühl. »Laß bitte abräumen, ich genieße sowieso nichts mehr.«

Er beorderte den Diener, der lautlos seines Amtes waltete und ebenso lautlos verschwand. Unbehaglich zog Beate die Schultern hoch.

»Gräßlicher Kerl! Falsch und hintergründig. Nicht eine Stunde möchte ich ihn um mich haben. Na ja, nun paß mal auf, Diederich. Ich bin hier, um mit dir über Tante Henriette zu sprechen. Ist die dir überhaupt ein Begriff?«

»Ja. Ein verhutzeltes Weibchen, das ständig Pillen schluckte. Was ist mit ihr?«

»Sie ist vor einer Woche gestorben, ohne ein Testament zu hinterlassen. Somit treten die gesetzlichen Erben an, und das sind wir beide.«

»Wieviel Pillen hat sie denn zu vererben?« fragte er lachend, doch sie winkte unwirsch ab.

»Laß den Spott, Diederich.«

»Aber Tante Beatchen, warum denn so knurrig? Darf ich dir ein Glas Wein anbieten, damit du gemütlich wirst?«

»Nein, danke. Laß uns zum Ende kommen, meine Zeit ist knapp bemessen. Es handelt sich nicht um Pillen, sondern um einen Strumpf.«

»Um was, bitte?«

»Um einen Strumpf«, mußte sie jetzt über sein verdutztes Gesicht lachen. »Um eine Männersocke, grau, selbstgestrickt und mit Goldstücken halb gefüllt. Wir fanden sie im Strohsack. Mein Junge, sieh doch nicht so dämlich drein.«

»Du verlangst wahrscheinlich viel von mir, Tante Beate. Welcher Mensch schläft heute noch auf einem Strohsack?«

»Henriette tat’s, das muß dir genügen. Sie war nämlich sehr konservativ. Trug Kleider aus dem vorigen Jahrhundert und einen Kapotthut.«

»Ach du liebes Bißchen! Wie alt war sie denn, als sie starb?«

»Vierundneunzig.«

»Dann allerdings. Wer hat sie gepflegt?«

»Da gab es nichts zu pflegen. Am Abend war sie noch munter wie ein Wiesel, morgens fanden wir sie tot im Bett.«

»Beneidenswert. Und was ist nun mit dem Strumpf?«

»Der liegt jetzt beim Notar. Gleichfalls eine Zigarrenkiste, in der sich kostbarer Schmuck befindet und ihr Sparkassenbuch, in dem mehr als fünftausend Mark vermerkt sind.«

»Und das alles befand sich im Strohsack?«

»Ja. Nun erwartet der Notar die beiden Erben.«

»Auch das noch«, hob er abwesend die Hände. »Hab’ Erbarmen und verschone mich.«

»Das geht nicht, Diederich. Du gehörst nun einmal mit zu den Erben.«

»Hab’ ich eben gehört.« Er hielt ihr sein kostbares Zigarettenetui hin.

»Danke, ich rauche nicht.«

»Dann darf ich?«

»Bitte.«

Er steckte eine Zigarette in Brand, legte sich im Sessel zurück, schlug ein Bein über das andere und sah nachdenklich auf die Frau, die wie das blühende Leben vor ihm saß. Groß, kräftig, mit eimem vollwangigen Gesicht, hellen blauen Augen unter blondem Haar, glich sie einer Gestalt aus den alten Sagen. Seine Mutter hatte ganz anders ausgesehen. Zierlich, brünett, mondän.

»Nun starr mich nicht so an, sondern entscheide dich«, wurde die Tante nervös. »Wann könnten wir zusammen zum Notar gehen?«

»Ich muß morgen früh wieder eine längere Reise antreten, Tante Beate. Also wird vor Weihnachten kaum etwas aus der Regelung des Nachlasses werden. Aber es eilt damit auch wohl nicht sehr, nicht wahr?«

»Nein, obwohl ich es recht gern erledigt hätte. Doch deine Zusage ist auch schon was wert. Und die habe ich doch?«

»Ja.«

»Danke. Es wäre ja nun an der Zeit, mich zur Bahn zu begeben«, stellte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr fest. »Nun, wenn es einen Zug später wird, schadet es auch nichts. Ich möchte nämlich mit dir über deine Frau sprechen. Fahr nicht hoch, laß mich erst reden. Hinterher kannst du mich meinetwegen zurechtweisen oder auch hinauswerfen. Diederich, als ich heute Elonie sah, war ich entsetzt, was aus dem strahlend schönen Geschöpf in einem halben Jahr geworden ist. Sie ist krank, ernstlich krank. Und wenn nichts unternommen wird, löscht sie langsam, aber sicher aus wie ein trübes Licht. Hast du denn wirklich nicht gewußt, wie krank sie ist, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch?«

»Nein.« Seine Brauen zogen sich zusammen. »Ich habe sie seit einem Vierteljahr kaum zu sehen bekommen. Ich war viel unterwegs, und wenn ich zwischendurch nach Hause kam, stand ich vor verschlossener Tür.«

»Sie scheint ernstlich auf den Tod zu warten und könnte, wenn sie des Wartens müde ist, durch irgend etwas nachhelfen.«

»Ach was, dummes Geschwätz!«

»Diederich, ich warne dich, diese Angelegenheit zu bagatellisieren. Es hat sich schon manch ein Mensch in einem unzurechnungsfähigen Augenblick das Leben genommen, du mußt mit Elonie sprechen.«

»Erst können«, lachte er hart dazwischen. »Dann müßte ich erst die verschlossene Tür einschlagen, denn gutwillig öffnet sie mir diese nicht. Was will sie überhaupt? Geht es ihr hier nicht gut? Sie hat doch alles, was nur ein Mensch haben kann.«

»Nur dich nicht, Died.«

»Könnte sie auch haben, wenn sie nicht so entsetzlich halsstarrig wäre.«

»Du hast sie zuviel allein gelassen.«

»Das geschieht anderen Frauen auch, die einen Geschäftsmann geheiratet haben. Aber die sind vernünftig, während meine Frau verbohrt ist.«

»Nicht verbohrt, sondern krank. Am besten ist, du bringst sie in ein Sanatorium.«

»Dazu müßte ich Gewalt anwenden, und das widerstrebt mir.«

»Soll ich mal mit ihr sprechen?«

»Wenn dir das gelingt, wäre ich dir sehr verbunden. Aber ich fürchte, daß sie dich genauso schroff abtun wird wie alle anderen, die sich ihr zu nähern wagten. Sie hat es nämlich erstklassig raus, die Menschen vor den Kopf zu stoßen.«

»Na du, mein Kopf ist hart. Der verträgt schon einen gehörigen Puff. Sollte jedoch der ihre noch härter sein, habe ich dann wenigstens versucht, mein Möglichstes zu tun. Willst du hier warten?«

»Leider nicht. Ich habe eine Besprechung.«

»Ach was!« winkte sie unwillig ab. »Jetzt geht mal erst deine Frau vor.«

»Bitte. Ich werde dich hier erwarten.«

*

Als Beate durch die Halle ging, stieß sie auf eine Dame, die sie auf der Hochzeit hier kennengelernt hatte und die ihr schon damals unsympathisch gewesen war. Doch nun sie in das süßlächelnde Gesicht sah, verstärkte sich das Gefühl noch, wurde zur Abneigung. Sie mochte wohl eine hervorragende Hausdame sein, aber bestimmt auch eine solche Intrigantin.

»Guten Tag, gnädige Frau«, grüßte das lange, hagere, tadellos gekleidete Wesen katzenfreundlich. »Suchen Sie jemanden?«

»Ganz recht, die Herrin des Hauses.«

»Die wird leider nicht zu sprechen sein.«

»Das überlassen Sie gefälligst mir. Ich bin nämlich die Tante der gnädigen Frau, falls Sie das noch nicht wissen sollten.«

»O ja, das weiß ich, gnädige Frau.«

»Also!«

Brüsk wandte sich Beate ab, etwas vor sich hin murmelnd, das ganz nach ›ekelhafte Viper‹ klang. Langsam stieg sie die Treppe hinauf, die mit Läufern belegt war, in denen der Fuß fast versank. Überall wohin man auch schaute, Glanz und Pracht, und doch war die Herrin all der Herrlichkeit ein armes, bemitleidenswertes Geschöpf, ein flügellahmes Vöglein in einem großen goldenen Käfig.

In der ersten Etage, die viele reichgeschnitzte Türen aufwies, mußte Beate erst an verschiedene klopfen, bis hinter einer eine unwillige Stimme hörbar wurde:

»Ich möchte nicht gestört sein!«

»Auch nicht von mir, Elonie? Du läßt mich doch sicher nicht wie einen Bettler vor der Tür stehen?«

Das half. Ein Schlüssel wurde gedreht, die Tür spaltbreit geöffnet, und flugs schob Beate sich hindurch.

»Soweit wäre es ja nun geschafft«, bemerkte sie gemütlich, dabei scharf die junge Frau musternd, die zitternd vor ihr stand, sie mit großen, bittenden Augen ansah.

»Verzeih, Tante Beate, ich konnte ja zuerst nicht wissen, daß du es bist.«

»Schon gut. Geh ins Bett zurück. Und dann wollen wir beide mal miteinander reden wie Mutter und Tochter. Denn eine Mutter hast du bestimmt nötig, du armes Kind.«

Da wandte Elonie sich schweigend ab, legte sich ins Bett, auf dessen Rand die Tante sich niederließ. Ihr Blick schweifte durch das Zimmer, das man als luxuriös bezeichnen konnte, bis der prüfende Blick an dem Nachttisch hängenblieb, auf dessen Platte einige Fläschchen und Tablettenröhrchen zu sehen waren.

»Großer Gott, Kind, das schluckst du doch nicht womöglich alles?« fragte die Arztfrau entsetzt.

»Doch, Tante Beate.«

»Also bist du doch nicht zu feige, um dich langsam umzubringen. Aber das werde ich verhindern, verlaß dich darauf.«

Damit griff sie nach den Medikamenten, steckte sie in die Handtasche und besah sich kopfschüttelnd das junge Geschöpf, das da halbverhungert in den spitzenüberrieselten Kissen lag.

»Armes Ding«, sagte sie mitleidig. »Hast du Vertrauen zu mir?«

»Ja, Tante Beate.«

»Na, Gott sei Dank, damit ist schon viel gewonnen. Um selbst zu handeln, dafür bist du viel zu elend, daher werde ich es für dich tun. Zuerst kommst du einmal in ein Sanatorium.«

»Nein, Tante Beate, nein!«

»Ja, warum denn nicht? Da bist du bestimmt besser aufgehoben als hier.«

»Aber ich will doch nicht in ein Sanatorium«, wehrte sie sich verzweifelt. »Da käme ich ja nie wieder heraus!«

»Na, nun schlägt’s dreizehn. Deine Hirngespinste sind ja noch ärger, als ich dachte. Ein Sanatorium pflegt die Patienten nur so lange zu behalten, wie es erforderlich ist.«

»Oder sie ins Irrenhaus zu überweisen.«

»Gott in deine Hände, Elonie! Du bist doch nicht allein, du hast doch einen Mann.«

»Der mich gern los sein möchte.«

Ja, da war die kluge Beate mal erst am Ende mit ihrer Weisheit. Ratlos sah sie auf die junge Frau, die das Gesicht ins Kissen gedrückt hatte und so jammervoll weinte, daß der weichherzigen Beate auch die Tränen kamen. Angestrengt dachte sie nach, wie dem verirrten jungen Menschenkind wohl zu helfen sei. Endlich fiel ihr etwas ein, zu dem sie sich spontan entschloß.

»Sei still, Elo«, beschwichtigte sie mit tränendunkler Stimme. »Sei ganz still, ich nehme dich mit nach Hause. Dort wirst du Menschen finden, denen du vertrauen kannst. Die dich verstehen und liebhaben, du verirrtes Seelchen, du. – Paß mal auf: Da bin zuerst einmal ich. Dann Onkel Fritz, ein ebenso guter Mensch wie Arzt. Dann gibt es noch die Itt mit den lachenden Blauaugen und den langen blonden Zöpfen. Zehnjährig, manchmal unartig, aber größtenteils lieb. Unser großer Bengel ist ein lustiger Studiosus, der sich öfter mal zu Hause einfindet, um sich an Mutters Fleischtöpfen gütlich zu tun. Dann ist da Huschchen, ein liebes Altjüngferlein, das alles päppelt und es auch bei dir tun wird, bis du aus allen Nähten platzt. Else, das Hausmädchen, ist gut, fleißig und treu. Dann haben wir noch einen Hund, eine Katze, allerlei Geflügel und das alte Doktorhaus. Es ist längst nicht so pompös wie dieser Palast, aber es ist ein Haus, in dem die Liebe immer wohnt.«

Schon längst war das Weinen verstummt. Der Blick zweier großer, flackernder Augen hing gespannt an den Lippen der Erzählenden. Und als die Stimme schwieg, sprach die andere in fliegender Hast:

»Ist das auch alles wahr, Tante Beate? Gibt es denn wirklich so was wunderbar Schönes?«

»Das Doktorhaus liefert den Beweis.«

»Der Student und die Itt, sind das deine Kinder?«

»Ja. Knut ist ungefähr so alt wie du, und Birgit ist ein Nachkömmling.«

»Und Onkel Fritz?«

»Ist der gute Onkel Doktor. Der wird in dem Städtchen verehrt von jung und alt.«

»Oh, Tante Beate, nimm mich mit! Bitte, nimm mich mit. Fahren wir gleich?«

»Na, nun mal langsam. Ich muß doch erst bei deinem Mann die Erlaubnis einholen.«

»Ach ja.« Elonie ließ sich entmutigt in die Kissen zurücksinken. »Er wird bestimmt dagegen sein.«

»Abwarten. Ich gehe jetzt zu ihm. Indes kannst du dich anziehen.«

»So sicher bist du, Tante Beate?«

»Jawohl, so sicher.«

Wenig später betrat sie das Zimmer, wo der Herr des Hauses ihr skeptisch entgegensah.

»Diederich, ich habe Elonie versprochen, sie mit mir nach Hause zu nehmen.«

»Das habe ich geahnt«, entgegnete er zu ihrer Überraschung gelassen. »Und Elonie will tatsächlich mit dir gehen?«

»Ja. Hast du etwas dagegen?«

»Nein. Ich halte es jedoch für meine Pflicht, dich darauf aufmerksam zu machen, daß du mit Elonie einen Störenfried in euer harmonisches Familienleben bringen würdest.«

»Inwiefern?«

»Weil sie unnachgiebig und eigensinnig ist. Sie wird alle beherrschen wollen, und wenn sie auf Widerstand stößt, wird sie die gleichen Methoden anwenden wie hier: trotzen, sich einschliessen und in den Hungerstreik treten.«

»Trotzdem möchte ich es mit ihr versuchen.«

»Na schön. Aber ich habe dich gewarnt. Und wie soll ich mich weiter verhalten?«

»Das wird dir Onkel Fritz sagen, der, wie du ja weißt, ein ganz guter Psychiater ist. Und wenn er einen Sanatoriumsaufenthalt für erforderlich hält, wird er dafür sorgen, daß Elonie einer zuteil wird.«

»Also sei es. Es bleibt mir ja auch nichts anderes übrig, als eure großmütige Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich mit meiner Frau nicht fertig werde. Wann wollt ihr fahren?«

»Möglichst bald.«

»Bist du mit dem Auto gekommen?«

»Nein, mit der Bahn. Das Auto muß Onkel Friltz jederzeit zur Verfügung stehen. Aber Elonie hat ja wohl ihren eigenen Wagen?«

»Den hat sie. Doch es wäre nicht ratsam, sie in ihrer miserablen Verfassung ans Steuer zu lassen, zumal sie seit Monaten nicht mehr gefahren ist. Der Chauffeur kann euch mit meinem Wagen hinbringen.«

»Brauchst du ihn denn nicht?«

»Das schon. Da muß ich mich heute eben behelfen, und morgen, wenn ich abreisen muß, sind ja Wagen und Fahrer wieder zur Stelle.«

In dem Moment trat die Zofe ein, die Beate genauso mißfiel wie Hausdame und Diener.

»Was wollen Sie, Kathi?« fragte ihr Herr kurz.

»Die gnädige Frau läßt fragen, was für Sachen sie einpacken soll.«

»Darum werde ich mich kümmern«, erklärte Tante Beate unfreundlich. »Sie brauchen dabei nicht zu helfen.«

»Du bist ja kurz angebunden«, meinte Diederich unbehaglich, nachdem das Mädchen gekränkt abgewippt war.

»Das bin ich immer, wenn ich eine so freche Visage sehe. Ich gehe jetzt, um Elonie beim Packen der notwendigen Sachen zu helfen.«

Als sie nach geraumer Zeit zurückkehrte, sagte sie aufatmend:

»Das wäre nun auch geschafft. Jetzt möchte ich noch meinen Fritz sprechen, um ihn auf unseren Gast vorzubereiten. Darf ich den Apparat benutzen?«

»Ja, selbstverständlich. Ich stelle die Verbindung her.«

Wenig später bekam sie den Gatten in die Leitung und sagte lachend:

»Fritzchen, du brummst ja wie ein mißgestimmter Bär. Paß mal auf: Ich bringe einen Gast mit, Elonie Brendor. Erschrick nicht, wenn du sie siehst, sie hat sich sehr verändert. Was ihr fehlt, sollst du feststellen. Jawohl, Diederich ist einverstanden, da kannst du ganz beruhigt sein. Huschchen soll das größere Fremdenzimmer gut lüften und dann die Heizung anstellen. Jawohl, wir brechen bald auf. In Diederichs Auto nebst Chauffeur. Also, dann bis bald, Alterchen.«

Sie legte auf und sagte zufrieden:

»So, nun wäre auch das erledigt!«

»War Onkel Fritz nicht erstaunt?«

»Eigentlich nicht. Er wollte nur wissen, ob du mit allem einverstanden bist. Weiß der Chauffeur Bescheid?«

»Das Auto steht schon bereit.«

»Dann kann die Reise losgehen. Also, Diederich, mach dir keine Sorgen. Elonie ist bei uns gut aufgehoben. Laß uns immer wissen, wo du dich aufhältst, damit wir

dich benachrichtigen können, wenn es notwendig sein sollte.«

Sie ging in die Halle, ließ sich von dem Neffen in den Mantel helfen und sah unruhig zur Treppe hin.

»Wo bleibt denn nun Elonie?«

»Die gnädige Frau sitzt bereits im Wagen«, meldete der Diener. Und obgleich seine Miene unbeweglich war, glaubte Tante Beate dennoch ein hämisches Grinsen zu bemerken. Brüsk drehte sie sich um und ging zum Auto, dessen Schlag der Chauffeur für sie offenhielt. Sie reichte dem Neffen, der ihr gefolgt war, die Hand, über die er sich artig neigte.

»Ich danke dir, Tante Beate.«

»Schon gut, Diederich. Melde dich bald.«

Sie stieg ein, und der Chauffeur brachte den schweren Wagen in Gang.

*

Nach einer halben Stunde hatte man die Stadt erreicht, die ungefähr fünfzigtausend Einwohner zählte. Das Doktorhaus lag ein wenig außerhalb. Nicht sehr günstig für einen Arzt. Doch war dieser der Ansicht, daß diejenigen, die Wert auf seine Behandlung legten, ihn schon finden würden, was denn auch der Fall war. Zu ihm kamen mehr Patienten als zu den anderen Ärzten, die ihre Praxis mitten in der Stadt hatten.

Frau Norber sagte dem Chauffeur, wie er fahren solle, und so langte man gut und sicher an. Kaum, daß der Wagen hielt, wurde die Tür geöffnet, und eine helle Kinderstimme rief:

»Endlich bist du da, Mamilein. Ich wußte vor Ungeduld kaum noch, was ich anfangen sollte.«

»Das sieht dir ähnlich, du Firlefanz«, lachte die Mutter dieses reizenden Töchterleins amüsiert. »Wo ist der Papi?«

»Hier hängt er.« Mit diesen Worten trat aus der Haustür ein Mann, der mehr einem Landwirt als einem Arzt glich. Groß, mit frischem Gesicht, blondem Schopf und vergnügten Blauaugen, deren Blick sich nun forschend auf den Gast hefteten, der indes ausgestiegen war.

»Guten Abend, Elonie«, sagte er munter. »Nett, daß du uns besuchst. Sei herzlich willkommen.«

Er nahm ihren Arm und zog sie in die Diele, wo ein Airedaleterrier angehetzt kam und der Fremden sein prachtvolles Gebiß zeigte.

»Benimm dich, Adolar«, wies Herrchen ihn zurecht. »Das hier ist ein liebes Frauchen, zu dem du freundlich zu sein hast, verstanden?«

Als Antwort setzte sich das Stummelschwänzchen in Bewegung, und somit war der Gast gnädigst anerkannt.

Jetzt trat auch die Hausherrin ein. Hinter ihr kam der Chauffeur, der zwei große Koffer abstellte und dann Haltung annahm.

»Ich möchte mich abmelden.«

»So eilig? Wollen Sie nicht noch eine Erfrischung nehmen?«

»Besten Dank, Herr Doktor. Ich habe Befehl von meinem Herrn, unverzüglich zurückzufahren.«

»Dann allerdings.«

Er ging mit dem Mann hinaus, und Beate sagte:

»Leg ab, mein Kind. Hat dich die Fahrt sehr angestrengt?«

»Ja, Tante Beate. Ich bin eben ein altes Wrack.«

»Na, nun wird’s Tag«, lachte der Hausherr, der soeben eintrat. »Bist ja noch nicht einmal hinter den Öhrchen trocken, du Heimchen. Gehen wir ins Wohnzimmer, da kannst du in aller Ruhe verschnaufen.«

Es war ein weites Gemach, das sie aufnahm. Mit schönen, gepflegten Mahagonimöbeln, weichen Polstern, einem dicken Teppich und ebensolchen Brücken. Im Kamin prasselte helles Feuer, eine Stehlampe erhellte heimelig den Raum.

»Wie schön«, sagte Elonie leise. »Das ist wie ein Nachhausekommen.«

»Du bist hier ja auch zu Hause«, sagte Tante Beate herzlich. »Nimm in dem Sessel dort Platz und halte die Hände ans Feuer, sie sind eiskalt.«

Als sie saß, schlängelte sich die kleine Tochter des Hauses zu ihr hin und betrachtete sie mit schiefgeneigtem Köpfchen.

»Du bist ja noch so schrecklich jung«, platzte sie heraus. »Und hast so einen alten Mann wie Vetter Diederich Brendor. Wie die Mutti mir erzählte, ist er schon dreißig Jahre.«

»Also ein Greis«, lachte der Vater. »Wie kann man bloß einen so steinalten Vetter haben? Du sehst blaß aus, Elonie. Bist du müde, mein Kind?«

»Ja, Onkel Fritz.«

»Dann husch, husch ins Körbchen. Birgit, du bleibst hier.«

Elonie bot leise den Gutenachtgruß und ging mit Tante Beate hinaus.

Diese führte sie durch die nett eingerichtete Diele, die breite reichgeschnitzte Treppe hinauf, deren dicke Läufer die Schritte dämpften. Man gelangte in eilnen Gang, der zu beiden Seiten weißlackierte Türen aufwies. Eine davon öffnete Beate Norber, knipste das Licht an, und man betrat ein Zimmer, in dem alles licht und hell war. Das breite weiße Bett mit der lichtgrünen Daunendecke machte einen bequemen Eindruck.

»So, Elo, das ist dein Reich«, sagte die Tante munter. »Fühle dich nur wohl darin.«

»Das werde ich bestimmt, Tante Beate. Hab Dank für die Güte, die ich gar nicht verdiene.«

»Das wollen wir erst einmal abwarten. Da stehen ja auch schon deine Koffer. Entnehmen wir einem nur das, was du heute brauchst, alles andere packen wir morgen aus. Setz dich hin, damit du nicht womöglich umfällst. Den Eindruck machst du nämlich.«

Elonie ließ sich auf dem Bettrand nieder und sah zu, wie die Tante dem Koffer das Nachtzeug entnahm. Alles sehr elegant, sehr teuer, wie es sich für die Gattin des reichen Brendor gehörte.

»So, meine feine Dame, jetzt werde ich mal Zofe spielen. Also, heraus aus den Kleidern, das Bad schenken wir uns. Himmel, bist du kalt, wie eine Eisfee. Das kommt davon, daß du zuwenig Blut hast. Da wollen wir mal für künstliche Erwärmung sorgen. Kriech indes unter die Decke, ich bin gleich wieder da.«

Sie ging, und als sie zurückkehrte, trug sie ein Tablett, auf dem ein Teller mit einer Butterschnitte und einer Banane stand. Daneben ein Glas mit einem Gemisch aus Pepsinwein, Baldrian und einigen Essenzen. Unter dem Arm trug Tante Beate eine Gummiwärmflasche, die sie der jungen Dame vorsichtig an die eiskalten Füße legte.

»Ist sie zu heiß?«

»Nein, danke, sie tut gut.«

»Dann ist ja der Zweck erfüllt. Nun sperr mal dein Schnäbelchen auf, du zerpliesertes Vöglein. Hinterher trinkst du diese Mischung, die der gute Onkel Doktor so wunderbar zu bereiten versteht. Danach wird einem so richtig wohl. Und ehe man sich versieht, wechselt man hinüber ins Land der Träume.«

Während sie sprach, steckte sie abwechselnd Brot und Banane in den Mund ihres Pfleglings, der zwar widerwillig, aber immerhin schluckte. Hinterher kam der Trank, der sehr bald seine Wirkung tat. In das blasse Gesichtchen stieg ein schwaches Rot, das Spitzengeriesel des Nachtkleides erzitterte unter tiefen Atemzügen. Elonie Brendor schlief so ruhig, wie sie es wohl schon lange nicht mehr getan hatte.

Beate knipste die Nachttischlampe aus und verließ leise das Zimmer.

*

»Nun aber mal aufgewacht, du Murmeltierchen!« riß eine Stimme Elonie Brendor aus dem Land der Träume in die Wirklichkeit. Die Augen öffneten sich, schauten verwirrt umher und blieben dann an der Tante hängen, die vor dem Bett stand.

»Na endlich!« sagte sie lachend. »Ermuntere dich, die Zeit deines täglichen Erwachens ist da, das Frühstück wartet.«

»Ist es denn tatsächlich schon elf Uhr?«

»Sogar schon darüber hinaus. Rappel dich mal hoch.«

Sie tat es und sah abweisend auf das Tablett, das die Tante ihr zuschob.

»Das kann ich unmöglich alles essen.«

»Du wirst es essen, mein Herzchen. Zwei Tassen Kaffee und zwei Brötchen sind zum Frühstück wahrlich nicht zuviel.«

»Tante Beate – bitte!«

»Nichts da, hier wird Order pariert.«

So blieb denn Elonie nichts anderes übrig, als alles aufzuessen. Satt wie schon lange nicht mehr, ließ sie sich zurückfallen, und die Tante nickte zufrieden.

»Na also. Nun verpuste dich ein wenig, und dann steh auf. Mußt dich allerdings allein ankleiden, du verwöhntes Prinzeßchen, eine Zofe gibt es hier nicht. Das Bad liegt deinem Zimmer gegenüber.«

Ihr aufmunternd zunickend, nahm sie das Tablett, das sie dann in der Küche ablieferte. Sie ging dann ins Wohnzimmer, wo der Gatte sie schmunzelnd empfing.

»Hast du mit deinem Samariterwerk bereits begonnen, du resolute Frau mit dem weichen Herzen? Wird wohl ein schwieriges Amt werden.«

»Das glaube ich noch nicht einmal«, meinte sie zuversichtlich. »Die Kleine scheint Respekt vor mir zu haben, und das ist schon viel wert. Was hast du da für einen Zettel in der Hand?«

»Diederich rief an und gab mir seine erstmalige Reiseroute bekannt, die ich hier notierte. Wenn die überholt ist, dann meldet er sich wieder, damit wir immer wissen, wo wir ihn auf alle Fälle erreichen können. Nimm bitte den Zettel an dich, weil du es ja sein wirst, der mit ihm in Briefwechsel tritt.«

»Der Not gehorchend!« Sie schnitt eine Grimasse. »Was sagt der hohe Herr sonst noch?«

»Nichts Besonderes. Er bedankte sich dafür, daß wir seiner Frau so großmütig Gastfreundschaft gewähren. Wie geht es ihr?«

»Ich mußte sie nach elf Uhr aufwecken, so fest war der Schlaf nach deinem altbewährten Schlaftrunk.«

»Hat sie denn etwas gegessen?«

»Sie wollte nicht, aber sie mußte. Denn gute Pflege ist meiner Ansicht nach die Hauptsache.«

»Da hast du recht: Und soweit ich dich kenne, wird es dir gewiß gelingen, deinen Pflegling aufzupäppeln.«

»Wie ist es nun mit unserer lebhaften Itt? Soll ich sie Elonie fernhalten?«

»Nein, laß das Kind ruhig gewähren. Wenn wir Rücksicht auf sie nehmen, machen wir sie ja auch hier zur Hauptperson, um die sich alles dreht – und das muß unbedingt vermieden werden. Dieses von den Eltern vergötterte Geschöpf muß endlich erkennen lernen, daß es noch andere Götter neben ihm gibt. Du verstehst doch, was ich meine?«

»Ja, Fritz, ich werde mich danach richten.«

»In Ordnung, Liebste. Ich mache jetzt zwei Krankenbesuche und hoffe, mich pünktlich zu Tisch einzufinden.«

Obwohl sie dreiundzwanzig Jahre verheiratet waren, trennten sie sich nie ohne einen herzlichen Kuß, auch nicht auf eine halbe Stunde.

Als er gegangen war, nahm Beate ein Kleid ihrer Tochter zur Hand, aus dem diese die Beine zu weit heraussteckte. Wenn der Saum ausgelassen wurde, konnte die Kleine das Kleid noch gut einen Winter tragen.

So machte die Mutter sich denn langsam an die Arbeit, die feinen Stiche aufzutrennen. Es herrschte um sie her behagliche Ruhe, in welche die große Standuhr gemächlich hineintickte. Im Kamin prasselten die Scheite.

Adolar lag zu ihren Füßen und gab leise Schnarchtöne von sich. Die Katze Rosamunde mit dem schneeweißen Fell, dem schwarzen Stern am Hals und den schwarzen Pfoten, saß auf der breiten Fensterbank unter den blühenden Topfblumen und wusch sich, dabei behaglich schnurrend. Von der Fahrstraße, die in einem Abstand von ungefähr fünfzig Metern am Haus vorüberführte, klang das Getöse der Laster nur gedämpft in das friedliche Gemach, das Elonie eine Weile später betrat.

»Da bist du ja!« empfing die Tante sie freundlich. »Nimm Platz. Einigermaßen ohne Bedienung ausgekommen?«

»O ja, Tante Beate.« Sie streichelte den Hund, der aufgesprungen war und sich nun zutraulich an ihr Knie schmiegte. »Ich habe sogar schon die Koffer ausgepackt und die Sachen eingeräumt.«

»Für deine Verhältnisse immerhin eine Leistung. Erschrick nicht, hinter dir auf dem Sessel sitzt Rosamunde.«

»Wer ist denn das?«

»Schau dich um, dann wirst du es wissen.«

»Oh, eine Katze, wie reizend. Ob sie mich mag?«

»Sicherlich. Sonst hätte sie dich gemieden. Siehst du, jetzt klettert sie gar noch auf deinen Schoß und schnurrt. Einen größeren Sympathiebeweis kannst du wohl nicht verlangen.«

In dem Moment trat Birgit ein – und schon kam Leben in die Bude.

»Tagchen auch, Elonie!« rief sie strahlend. »Und Rosamunde sitzt auf deinem Schoß? Du, darauf kannst du dir aber was einbilden. Sie ist sonst sehr scheu Fremden gegenüber. Aber du bist ja auch keine Fremde, du gehörst zur Sippe.«

Die Mappe lag auf einem Stuhl, Mantel nebst Mütze folgten – und dann senkte das Mägdlein unter dem strafenden Mutterblick beschämt den Kopf.

»Ist ja schon gut, Mutti«, brummte es, trug die Sachen hinaus, und Frau Beate lachte.

»Sie versucht es immer wieder, obwohl sie weiß, daß sie damit nicht durchkommt. – Da bist du ja wieder, du Tunichtgut. Ich schau mal nach, wie weit Huschchen mit dem Essen ist. Unterhalte indes Elonie, aber fall ihr dabei nicht auf die Nerven.«

Eingedenk der Mahnung hielt die kleine Plaudertasche ihr Zünglein zuerst noch im Zaum. Doch so nach und nach ging es ihr durch. Sie fragte der Base die Seele aus dem Leibe, bis der Eintritt des Vaters dem ein Ende machte.

»Du scheinst wieder einmal nett in Form zu sein.« Er besah sich schmunzelnd sein Töchterchen, das von der angeregten Unterhaltung rote Bäckchen und blanke Augen bekommen hatte.

»Ist sie dir lästig gefallen, Elonie?«

»Ach nein, Onkel Fritz.«

»Na du, sehr überzeugend klang das nicht. Wenn sie dir zuviel wird, schieb sie ruhig ab. Denn ihr Plappermäulchen ist nicht jedermanns Sache.«

»Da bist du ja, Fritz«, sagte die Hausfrau, als sie hinzutrat. »Wunderbar, da können wir gleich essen.«

Das Mahl bestand aus drei Gängen und war vorzüglich zubereitet. Zuerst hatte Elonie das Gefühl, nicht einen Bissen hinunterzukriegen. Doch allmählich aß sie sich gewissermaßen ein, und zuletzt schmeckte es ihr sogar.

Es berührte sie wohltuend, daß keiner ihr etwas aufnötigte, sondern sie gewähren ließ. Selbst Birgit machte keine Bemerkung, wie sie ja überhaupt nicht in die Unterhaltung der Erwachsenen dreinreden durfte, was der kleinen Plaudertasche sichtlich schwerfiel. Erst beim Nachtisch erhielt sie vom Vater Redeerlaubnis, die sie dann weidlich ausnutzte.

Nach dem Essen ging man in ein kleines trauliches Gemach, wo man den Mokka zu trinken pflegte, von dem Birgit natürlich ausgeschlossen war. Aber auch Elonie wurde er von dem Arzt verboten, was sie zum Widerspruch reizte.

»Den Mokka darfst du mir nicht verbieten, Onkel Fritz. Er ist das einzige, was mich hochhält.«

»Und den du daher kannenweise getrunken hast«, warf er trocken ein. »Es ist kein Wunder, daß deine Nerven so zerrüttet sind. Sieh zu, daß sie in Ordnung kommen, dann wird ein Täßchen Mokka nach Tisch dir gewiß nicht schaden. Eine Zigarette doch sei dir bewilligt.«

»Danke«, lehnte sie schroff ab. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte die Tür hinter sich zugeschlagen, wie sie es von Hause aus gewohnt war, sofern man ihrem starren Willen Widerstand entgegenzusetzen wagte. Hier wagte sie das denn doch nicht – und war somit gezwungen, sich zum erstenmal in ihrem verwöhnten Leben Selbstbeherrschung aufzuerlegen. Das Ehepaar wußte wohl, was in ihr vorging, selbst das zehnjährige Kind ahnte etwas davon. Doch bevor es noch eine unangebrachte Bemerkung machen konnte, stand der Vater auf.

»Da nichts Besonderes vorliegt, darf ich mir erlauben, mich für ein Stündchen aufs Ohr zu legen. Wie ist es, Elonie, willst du nicht auch ein Mittagsschläfchen halten?«

»Nein, Onkel Fritz, ich könnte ja doch nicht schlafen, und ruhen kann ich auch im Sessel.«

»Wie du willst. Also gehabt euch wohl. Nach einer Stunde erscheine ich wieder auf der Bildfläche.«

Vergnügt vor sich hin pfeifend ging er davon, und Elonie sagte hastig:

»Wenn du auch ein Mittagsschläfchen halten willst, Tante Beate, dann laß dich durch mich nicht aufhalten.«

»Das würde ich auch gewiß nicht tun«, kam es freundlich zurück. »Aber ich schlafe mittags nie, da ich ja nachts ungestört schlafen kann, während Onkel Fritz so manches liebe Mal hinaus muß. Da schläft er denn, sofern es möglich ist, über Mittag ein Weilchen. Aber, wie gesagt, sofern es möglich ist. Wenn er dringende Krankenbesuche zu machen hat, muß er auf den Mittagsschlaf verzichten.«

»Sag mal, Tante Beate«, Elonie zupfte an ihrem Taschentuch herum, »wird dir eigentlich nie die Zeit lang?«

»Nein, mein Herzchen. Für mich ist manchmal noch der Tag zu kurz.«

»Ja, ach so, hat Onkel Fritz seine Praxis in der Stadt?«

»Nein, hier im Haus. In einem kleinen Anbau mit separatem Eingang. Er kann sein Sprechzimmer von der Diele aus erreichen.«

»Tante Beate, darf ich weiterfragen?«

»Man immer zu. Was willst du wissen?«

»Wie es kommt, daß du so ganz anders bist und aussiehst als meine verstorbene Schwiegermutter. Sie lebte zwar nicht mehr, als ich heiratete, aber ich kannte sie von früheren Geselligkeiten. Wie können Schwestern nur so verschieden sein?«

»Ganz einfach, mein Kind. Ich gleiche dem Vater, sie glich der Mutter. Das heißt: nur im Aussehen, im Wesen war sie anders. Denn mein liebes Mamachen war ein richtiges Hausmütterchen, das nur für Mann und Kinder lebte, während Rena ohne den gesellschaftlichen Klimbim einfach nicht leben konnte. Und da ihr Mann genauso geartet war, standen sie sich in nichts nach.«

»Sind sie oft hier gewesen?«

»Nicht oft, dazu fehlte es ihnen an Zeit. Außerdem paßten wir nicht so ganz zu diesen reichen, exklusiven Leuten und zogen uns daher immer mehr von ihnen zurück.«

»Auch von Diederich?«

»In seinem ersten Jahrzehnt hatten wir ihn öfter mal hier. Doch dann kam er ins Internat, studierte, ging anschließend auf Reisen, so daß wir kaum noch mit ihm zusammentrafen. Auf den Begräbnissen seiner Eltern sowie auf seiner Hochzeit, die wir ja wohl oder übel als nahe Verwandte mitmachen mußten, sprachen wir auch nur flüchtig miteinander, und so entfremdeten wir uns schließlich ganz.«

»Und warum suchtest du ihn gestern auf?«

Als Elonie es wußte, sagte sie leise:

»Diese Tante Henriette soll gesegnet sein. Denn ohne die Notwendigkeit, ihre Hinterlassenschaft zu regeln, wärst du nicht zu Diederich gekommen, hättest mich nicht mitgenommen, und ich hätte weiter dieses furchtbare Leben führen müssen – das Leben der Verlassenheit.«

Mit einem harten Aufschluchzen drückte sie das Gesicht in die Hände, die vor Erregung flatterten. Schon war Beate bei ihr und schloß sie mütterlich in die Arme.

»Du darfst jetzt nicht mehr daran denken, hörst du, Elonie?« sagte sie eindringlich. »Du sollst nur daran denken, körperlich und seelisch wieder hochzukommen. Dann wirst du alles mit anderen Augen ansehen.«

*

Allein bis dahin sollten noch Wochen vergehen; denn eine so schwere Nervenkrise ist natürlich nicht von heute auf morgen behoben. Auch nicht ein so elender Körperzustand.

Also ging Frau Beate erst einmal daran, ihren Pflegling aufzupäppeln, der zuzeiten recht widerspenstig sein konnte, was jedoch in aller Gelassenheit ignoriert wurde. Das eigenwillige Persönchen mußte außer den Mahlzeiten auch noch die Stärkungsmittel nehmen, die der Arzt verordnete.

Der Erfolg blieb denn auch nicht aus. Das hagere Gesichtchen begann sich zu runden und bekam Farbe. Die matten, verschleierten Augen belebten sich, wurden leuchtender mit jedem Tag. Die eckigen Körperformen wurden zur grazilen Schlankheit, und selbst das stumpfe Haar sprühte auf in metallischem Glanz.

Auch in ihrem Wesen ging eine einschneidende Veränderung vor. Langsam taute sie aus ihrer starren Zurückhaltung auf, ging mehr und mehr aus sich heraus. Als sie zum erstenmal hell herauslachte, erschrak sie selbst darüber. Jedenfalls erkannte man nach sechs Wochen das erbarmungswürdige, mit sich zerfallene Menschenkind nicht wieder, als das Beate Norber es ins Haus gebracht hatte.

Es war Weihnachten.

Da es im Doktorhaus noch alle Hände voll zu tun gab, half Elonie fleißig mit. Jetzt war sie dabei, die große Tanne zu schmücken, wobei Birgit ihr eifrig half.

Der Sohn des Hauses, der gestern angekommen war, bot zwar auch seine Hilfe an, die man jedoch ablehnte, weil der übermütige junge Mann ja doch nur Schabernack getrieben hätte.

So begnügte er sich damit, eßbaren Baumschmuck zu stibitzen, die beiden Emsigen zu necken, Schnurren und Späßchen vorzutragen, so daß man aus dem Lachen kaum herauskam.

Als sein Repertoire erschöpft war, ging er in die Küche, wo er solange Unfug trieb, bis Huschchen ihn kurzerhand hinauswarf. Schließlich landete er in dem kleinen Zimmer, wo die Mutter dabei war, die vielerlei Geschenke zu sortieren.

Ein Weilchen sah er der geschäftigen Mutter zu, dann sagte er versonnen:

»Die Elonie ist doch ein verflixt hübsches Frauenzimmer.«

»Knut!« unterbrach die Mutter ihn ärgerlich. »Einen derartigen Ausdruck möchte ich nicht noch einmal hören.«

»Na, Mutz, so arg ist er nun auch wieder nicht«, brummte er mit rotem Kopf. »Dann ist sie eben ein schönes Mädchen.«

»Mädchen pflegen nicht verheiratet zu sein.«

»Bist du aber penibel. Schön, ich nehme den dritten Anlauf: Elonie ist eine bezaubernd schöne Frau, über deren Anblick ich nicht wenig erstaunt war. Denn gemäß deinem Briefe habe ich ein halbverhungertes Wesen erwartet.«

»War sie auch, als ich sie Anfang November hierherbrachte. Gute Pflege und Nestwärme haben sie zu dem gemacht, was sie heute ist.«

»Und ihr Mann? Kümmert er sich etwa nicht um sie?«

»Um sie direkt nicht. Er läßt uns nur immer wissen, wo er sich zur Zeit befindet.«

»Die Ehe scheint ja ganz nett zu wackeln. Und wenn sie in die Brüche geht, was wird dann aus Elonie?«

»Die bleibt bei uns.«

»Na großartig. Gegen so eine Schwester hätte ich nichts einzuwenden.«

»Dann sind wir uns ja einig, mein Sohn. Leg mal die Handtasche weg. Sonst knipst du so lange an dem Schloß herum, bis es kaputt ist. Schau mal nach, was Vater macht. Das dürfte einen Medizinstudenten doch interessieren.«

»Kann ich nicht, muß gleich zum Rendezvous.«

»Du meine Güte! So richtig unter der Normaluhr?« fragte sie lachend, und er schlug sich an die Brust.

»Ehrensache!«

»Jetzt mach aber, daß du rauskommst, du Schlingel!« drohte sie, worauf er sie umfaßte, einen Kuß auf ihre Wange drückte und dann lachend entschwand.

Das Mittagsmahl wurde heute schneller als sonst eingenommen. Dann ging man wieder an die Arbeit und war bis zum Kaffee mit den Vorbereitungen fertig. Doch noch während man ihn trank, wurde der Arzt vom Krankenhaus angerufen.

»Ja, Kinder, da hilft nun nichts«, sagte er bedauernd. »Haltet den Daumen, daß ich bald wieder hier bin. Willst du mitkommen, Knut?«

»Mit Vergnügen kann man in diesem Fall wohl nicht gut sagen. Also denn: Ich bin bereit!«

Schmunzelnd besah sich der Mann sein verjüngtes Ebenbild, das da so frisch und froh vor ihm stand, gesund an Leib und Seele. Dem Vater war um seinen Sohn nicht bange, der würde seinen Weg schon machen. Der Ruhepol darauf sollte immer sein harmonisches Elternhaus bleiben.

Nachdem die beiden gegangen waren, begann für die Zurückbleibenden eine Wartezeit, die sie auf eine harte Probe stellte. Hauptsächlich für das aufgeregte Kind, das sich immerhin leidlich genug hielt.

Und als die Ersehnten dann endlich erschienen, mußte erst noch das Abendessen eingenommen werden, mit dem Huschchen sich so viel Mühe gemacht hatte. Man durfte sie nicht kränken. So wurde es acht Uhr, bis endlich mit der Bescherung begonnen werden konnte.

Allein auch dann gab es noch eine Unterbrechung. Denn als man gerade die Kerzen am Baum entzündet hatte, schrillte die Haustürklingel, was allgemeine Bestürzung hervorrief. Sollte am Ende auch jetzt noch der Arzt fortgeholt werden?

»Laß nur, Else«, winkte dieser ab, als das Hausmädchen gewohnheitsmäßig zur Haustür eilen wollte. »Ich sehe mal selbst nach.«

Er ging, und die Zurückbleibenden hielten lauschend den Atem an. Und was sie dann durch die offene Tür vernahmen, überraschte sie nicht wenig.

»Diederich – du?« hörten sie den Hausherrn sagen. »Na, das ist mal eine Überraschung. Tritt ein, du kommst gerade zur Bescherung zurecht.«

»Habt ihr die noch nicht hinter euch, Onkel Fritz?«

»Nein.«

»Dann möchte ich nicht stören.«

»Unsinn!» schnitt ihm der Onkel das Wort ab. »Von stören kann keine Rede sein. Komm, leg ab. Bist ja mit Päckchen beladen wie ein Weihnachtsmann.«

Jetzt waren Birgit und Knut nicht mehr zu halten. Sie eilten davon, um den unverhofften Gast zu begrüßen. Auch die Mutter wollte folgen, verhielt jedoch den Schritt, als ihr Blick auf Elonie fiel, die stocksteif dastand, blaß bis in die Lippen. Als Frau Beate den Arm um sie legte, merkte sie, wie sehr die junge Frau zitterte.

»Jetzt mal Haltung, Elonie. Oder willst du uns allen die Weihnachtsfeier verderben?«

»Nein, Tante Beate, nein!«

»Na siehst du. Brauchst nichts weiter zu tun, als deinen Mann freundlich zu begrüßen. Alles andere findet sich dann von selbst.«

Mehr konnte sie nicht sagen, da die anderen sichtbar wurden. Der Gast legte die Päckchen ab, trat auf sie zu und neigte sich über ihre Hand.

»Verzeih mein formloses Eindringen, Tante Beate«, klang seine sonore Stimme auf. »Ich nahm an, daß um diese Zeit die Bescherung vorüber sein müßte, sonst wäre ich nicht gekommen.«

Langsam wandte er sich seiner Gattin zu, und in seinen Augen blitzte es überrascht auf. Zwar hatte die Tante ihm in ihren kargen Berichten mitgeteilt, daß Elonie sich gut herausgemacht hätte, doch daß es so grundlegend geschehen war, damit hatte er nicht gerechnet.

»Guten Abend, Elonie«, begrüßte er sie freundlich. »Ich freue mich, dich so frisch und munter vor mir zu sehen. Ganz wunderbar hast du dich herausgemacht. »

»Das hat sie«, bestätigte der Arzt schmunzelnd. »Und nun wollen wir zusehen, daß wir endlich zu unserer Bescherung kommen.«

*

Birgit sagte zuerst das obligate Weihnachtsgedicht auf, durch das sie leidlich kam, weil Elonie hinter ihr stand und soufflierte. Dann machte sich das reizende Persönchen wichtig, indem es am Flügel Platz nahm und sich umständlich zurechtsetzte. Zuerst wollten die Fingerchen nicht so recht, griffen ständig daneben, bis sie sich beruhigt hatten und fast fehlerfrei über die Tasten glitten. Da erst setzte die Geige ein, die unter den zarten Händen sang und klang.

Niemand – außer der kleinen Itt – hatte bisher gewußt, daß Elonie Geige spielen konnte, auch der Gatte nicht. Wie gebannt hingen die Blicke aller an der hellgekleideten Gestalt, die lässig am Flügel lehnte und den Geigenbogen mit sicherer Hand führte. Feierlich klangen die weichen Töne der alten und doch immer wieder neuen Weihnachtslieder durch das Gemach. Zart läutete das Glockenspiel hinein, das sich auf der Tannenspitze drehte. Die Kerzen verströmten ihren milden Schein, das Flitterwerk am Baum klirrte leise. Es war eine Atmosphäre, die das Herz aufgehen ließ.

Nachdem der letzte Ton verklungen war, sprang Birgit auf und nahm stolz das Lob entgegen, das man ihr reichlich spendete. Dann kam Elonie an die Reihe, die lachend abwehrte.

»Die einfachen Lieder zu spielen, war nun wahrlich keine Kunst.«

»Warum hast du uns verschwiegen, daß du Geige spielen kannst?«

»Spielen ist dafür ein zu hochtrabendes Wort, Tante Beate. Nennen wir es ein bißchen herumstümpern. Ich nahm als Backfisch Stunden, weil ich mir einbildete, Talent zu haben. Von dem Wahn wurde ich langsam geheilt, gab nach zwei Jahren die Stunden auf und legte die Geige ad acta, die dann später wohl mit in die Versteigerungsmasse kam.«

»Und woher hast du dieses Instrument?« forschte Beate weiter.

»Ich kaufte es, um Itt beim Spiel zu begleiten. Wir übten heimlich als Überraschung, die uns ja auch gelungen ist.«

»Kann man wohl sagen. Aber nun wollen wir mal sehen, was alles das Christkind uns beschert hat.«

Und somit war man für die nächste halbe Stunde untergebracht. Jeder hatte sich bemüht, dem anderen Wünsche abzulauschen und diese nach Möglichkeit zu erfüllen. Es gab einen fröhlichen Tumult, wie ihn der Gast noch nicht erlebte.

Natürlich hatte er als Kind reicher Eltern alles bekommen, was er sich nur wünschte. Er hatte aber nie rechte Freude darüber empfunden, hatte alles als selbstverständlich hingenommen.

Genauso wie das vergötterte Töchterchen es tat, das so maßlos verwöhnt wurde von den vernarrten Eltern. Der Gatte setzte dann diese Verwöhnung fort, was ihm gnädigst gestattet wurde. Jedenfalls hatte er seine Frau noch nie so gesehen wie heute.

Wie ein fremdes Wesen kam sie ihm vor in ihrer strahlenden Freude. Von allen wurde sie umarmt, gestreichelt und geküßt. Selbst von dem Herrn Studiosus, dem sie mit der kostspieligen Kamera einen langersehnten Wunsch erfüllt hatte. Sie schien sich hier ganz als Kind des Hauses zu fühlen, mit allen ein Herz und eine Seele zu sein.

»So, Diederich, jetzt habe ich endlich auch für dich Zeit.« Die Tante ließ sich aufatmend ihm gegenüber nieder. »Das übermütige Völkchen kann einen schon in Atem halten. Was sagst du zu Elonie?«

»Ich erkenne sie nicht wieder. Was hast du nur angestellt, aus dem verstockten Geschöpf ein so frischfröhliches zu machen?«

»Dazu haben wir alle beigetragen, doch am meisten tat es wohl unser harmonisches Familienleben. Aha, da ist Fritzchen mit der Weihnachtsbowle. Wer Durst hat, der finde sich ein.«

Das taten sie alle, bis auf Else. Sie packte ihre reichlichen Geschenke in die Schürze, bedankte sich und zog strahlend von dannen. Huschchen brachte einen Knabberteller, Knut sorgte für Gläser, die er auch füllte, und vergnügt prostete man sich zu.

Dann folgte die zweite Bescherung, die der Gast bereitete, indem er jedem ein mit Namen versehenes Päckchen überreichte. Selbst an Huschchen hatte der Mann gedacht, was ihm hoch angerechnet wurde.

Lächelnd sah er zu, wie man die unverhofften Gaben auspackte, und die erste, die ihr Entzücken kundtat, war die kleine Itt. Und zwar über die Spieluhr mit dem reizenden Schneewittchen, das bei jedem vollen Glockenschlag von den sieben Zwergen umtanzt wurde. Beim zwölften Schlag trat sogar der Königssohn in Erscheinung.

Auch Beate betrachtete entzückt ihre Uhr unter dem Glassturz. Da tanzte ein zierliches Rokokopärchen nach den silbernen Klängen eines Menuetts.

Der Arzt besah sich schmunzelnd einen Brieföffner von alter, wertvoller Arbeit, sein Sohn berauschte sich an dem Anblick eines goldenen Zigarettenetuis, das bescheidene Huschchen bestaunte andachtsvoll eine aus feinstem Leder gearbeitete Briefmappe nebst Inhalt, und Elonie hielt ein Pelzjäckchen in Händen, weich, mollig, federleicht. Alle Gaben stammten aus fernen Ländern, die große Freude verursachten. Nur das Jäckchen tat es nicht. Dafür erhielt der spendable Geber keinen Dank.

Um so herzlicher fiel der aller anderen aus. Hände streckten sich dem Mann entgegen, von Birgit wurde er sogar umhalst und geküßt.

Nachdem der frohe Tumult sich gelegt hatte, hob man die Gläser und trank auf das Wohl des noblen Spenders. Auch Elonie tat es mit – gezwungenermaßen –, wie sie ja so manches tun mußte, seitdem sie im Doktorhaus weilte, wo selbst von dem zehnjährigen Kind ein artiges Benehmen verlangt wurde, viel mehr denn von einem erwachsenen Menschen.

*

Es war am anderen Morgen um zehn Uhr, als Diederich Brendor das Frühstückszimmer betrat, wo er eine fröhlich schmausende Gesellschaft vorfand. Elonie sowie die beiden Kinder des Hauses hatten bereits eine Skitour hinter sich. Birgit hatte heute auf den Brettern, die sie nebst dem Dreß gestern beschert erhielt, ihr Debüt gegeben und war über das Ereignis immer noch aufgeregt.

»Elo sagt, daß ich gar nicht so viel gefallen bin«, berichtete sie eifrig. »Sie hätte sich ungeschickter angestellt, und jetzt läuft sie wunderbar. Bedeutend besser als Knut.«

»Das tut sie«, gab er neidlos zu, dabei nach dem Schinkenbrötchen angelnd, das auf der Base Teller lag.

»Frech wie gewöhnlich«, lachte sie ihn an. »Aber du kannst ja nichts dafür.«

»Nein.« Er nickte zustimmend. »Was du ererbt von deinen Vätern...«

»Jetzt hör aber auf, du Schlingel«, drohte der Vater ihm lachend. »Ich bin in deinem Alter noch ein schüchterner Jüngling gewesen. Stimmt das, teures Weib?«

»Keine Ahnung, da ich dich damals noch nicht kannte.«

»Aber du glaubst es?«

»Unbedingt.«

Der Gast lauschte amüsiert dem lustigen Geplänkel. Man betrachtete ihn im übrigen gar nicht mehr als Gast, sondern zählte ihn bereits zur Familie. Man war zu ihm von einer herzlichen Vertrautheit – bis auf Elonie, die stand ihm gleichgültig gegenüber. Sie war die beiden Feiertage, die herrliches Winterwetter brachten, wenig im Haus, tummelte sich mit Birgit und Knut auf den Skiern. Wenn man am Abend zusammensaß, war sie frohgemut und guter Dinge, wobei sie jedoch den Gatten geflissentlich übersah. Gleichmütig nahm er es hin, bis zum Dienstagmorgen – dann begann die Abrechnung.

Als er zum Frühstück erschien, fand er die Tante allein am Tisch vor.

»Nanu, Diederich, heute schon so zeitig auf?« begrüßte sie ihn in ihrer charmanten Liebenswürdigkeit. »Und gleich mit dem Köfferchen?

Du willst doch nicht etwa schon fort?«

»Nicht wollen, sondern müssen.« Er setzte sich an seinen Platz und nahm die gefüllte Tasse dankend entgegen. »Es genügt ja, daß meine Frau euch hier zur Last liegt, da darf ich es nicht auch noch tun.«

»Na hör mal, Junge, so kraß wollen wir es nun wirklich nicht bezeichnen«, wehrte sie ab. »Wir haben uns über deinen Besuch ehrlich gefreut, und Elonie haben wir gern hier.«

»Weil ihr gütige Menschen seid, Tante Beate. Andere hätten sich mit so einem verstockten Geschöpf erst gar nicht befaßt.«

»Was sich aber lohnte, Diederich. Du wirst ja selbst gemerkt haben, wie sehr Elonie sich zu ihrem Vorteil verändert hat.«

»Mir gegenüber nicht. Oder willst du abstreiten, daß sie mich einfach als Luft betrachtet?«

»Nein, dafür war es zu offensichtlich.«

»Also. Ich habe sie im Verdacht, daß sie die kleine Itt gebeten hat, nicht von ihrer Seite zu weichen, um einer Aussprache mit mir zu entgehen. Doch um die kommt sie nicht herum, dazu bin ich schließlich hergekommen. Ich habe sie bis heute verschoben, um euch nicht die Feiertage zu verderben. Sei bitte so gut und sorge dafür, daß ich sie ungestört unter vier Augen sprechen kann.«

»Und was wird dabei herauskommen?«

»Das wird sich aus ihrem Verhalten ergeben.«

Das war so hart gesagt, daß es der Tante bang ums Herz wurde. Denn daß der Starrsinn Elonies ganz und gar gebrochen war, daran glaubte sie nicht, und der Mann schien zum äußersten entschlossen zu sein. Er wird nicht lange fackeln, sondern kurz und bündig vorgehen, was man ihm nicht verdenken konnte. Denn wie Elonie sich in den beiden Tagen dem Gatten gegenüber benommen hatte, war so verletzend gewesen, wie er es sich als Ehemann nicht bieten lassen durfte – auch wenn er manches auf dem Kerbholz haben sollte.

»Ist gut, Diederich«, entgegnete sie, einen Seufzer unterdrückend. »Diese Aussprache steht dir natürlich zu, aber was…«

Weiter kam sie nicht, da Elonie eintrat, von der kleinen Itt treulich gefolgt. Sie begrüßte die Tante mit einem Wangenkuß, nickte dem Gatten flüchtig zu und nahm dann ihren Platz ein, wo sie sich das Frühstück mit bestem Appetit schmecken ließ. Dabei lachte sie und schwatzte mit Birgit, das Schweigen der beiden anderen völlig ignorierend. Als sie jedoch das Kind zum Skilaufen aufforderte, erklärte die Tante kurz:

»Birgit bleibt im Haus – und du auch. Ich nehme an, daß du deinem Gatten, der extra deinetwegen am Heiligabend herkam, etwas zu sagen haben wirst, nicht wahr? Geh mit ihm in das kleine Zimmer, dort seid ihr ungestört. Komm, Birgit!«

Sie zog diese mit sich fort, und Elonie sah ihr erschrocken nach. Dann wandte sie sich dem Mann zu und sagte spöttisch:

»Zwar weiß ich nicht, was ich dir noch zu sagen hätte, aber wenn Tante Beate es wünscht...«

Achselzuckend ging sie ihm voran und ließ sich in dem lauschigen Gemach in einen Sessel sinken. Auch er nahm Platz und zündete sich eine Zigarette an, schlug ein Bein über das andere und betrachtete sein Gegenüber.

»Laß das Angestarre!« sagte sie patzig. »Was willst du von mir?«

»Dich fragen, was du dir so eigentlich denkst.«

»Das dürfte dich wohl kaum interessieren.«

»Leider muß ich mich dafür interessieren, weil du meine Frau bist.«

»Gewesen, mein Lieber, gewesen«, höhnte sie. »Seitdem ich dein Haus verließ, betrachte ich mich nicht mehr als deine Frau. Oder besser gesagt: als deine Nebenfrau.«

»Willst du mir das vielleicht näher erklären?«

»Warum nicht?« Sie versuchte gleichmütig zu tun, was ihr jedoch nicht ganz gelang. An den bebenden Händen, ihrem verdunkelten Blick bemerkte er ihre Erregung und machte sich auf eine widerliche Szene gefaßt, die er so gut kannte. Doch davon sollte er zu seiner Überraschung verschont bleiben Sie schluckte nur einige Male schwer, fuhr sich nervös über die Stirn und sprach dann weiter:

»Nun, da ich über der Sache stehe, ist es mir möglich, das zu sagen, was ich dir bisher verschwieg – und was mich so unsagbar demütigte. Du hast mich wohl in einer Anwandlung von Großmut geheiratet, aber so richtig als deine Frau hast du mich nie betrachtet. Das war für dich eine andere, die sicherlich besser zu dir paßt.«

Wieder schluckte sie, als müsse sie etwas hinunterwürgen. Dann sprach sie weiter, erregter zwar, aber immer noch beherrscht:

»Ich schnappte an unserem Hochzeitstag die Bemerkung eines Herrn auf, die er einem anderen gegenüber machte. Ich wiederhole sie wörtlich: Ziemlich gewagt von dem guten Brendor, sich nach all den feurigen Granatblüten seines bewegten Junggesellenlebens eine feine weiße Lilie als Hüterin seines Heimes und Herdes zu wählen. Wenn die Ehe man gutgeht.

Wie recht der Mann hatte, sollte mir bald mit grausamer Deutlichkeit klarwerden. Und zwar, als wir nach der Hochzeitsreise wieder in dein Haus kamen. Da schobst du mich nach und nach ab, weil du meiner überdrüssig geworden warst.

Das konnte und wollte ich zuerst nicht begreifen. Ich bettelte, weinte, flehte, doch umsonst, du entglittest mir immer mehr. Und als du deine Reisen machtest, da verlor ich dich ganz.

Jetzt kann ich es dir ja sagen, daß ich wahnsinnig gelitten habe unter der trostlosen Verlassenheit. Zumal ich diesen widerwärtigen Menschen – Hausdame, Diener und Zofe –, denen du so blindlings vertrautest, schutzlos ausgeliefert war. Und als erstere mir noch den Beweis erbrachte – ich nehme wenigstens an, daß sie es war –, wie sehr du in den Banden einer feurigen Granatblüte schmachtest, da zerbrach etwas in mir. Es waren also keine Geschäftsreisen, die du unternahmst, sondern solche zu deiner Geliebten.«

»Moment mal«, unterbrach er sie, »in welcher Form erhieltest du den Beweis?«

»Durch einen Brief, den die Bose wahrscheinlich unterschlug und mir auf den Schreibtisch legte. Es war ein ganz furchtbarer Brief, so – so... Nun, ich würde mich zu Tode schämen, aber nicht so was an einen Mann schreiben.«

»Und warum hast du mir eigentlich nichts von diesem Brief gesagt, Elonie?«

»Weil du nicht da warst. Außerdem hätte ich bei dir kein Gehör gefunden. Sofern ich nur den Mund aufmachte, wandtest du dich angewidert ab. Zuerst empörte mich das, dann verletzte es mich, und zuletzt fühlte ich mich so gedemütigt, daß ich alles schweigend in mich hineinfraß.«

»Interessant. Und was wurde aus dem Brief?«

»Ich ließ ihn angeekelt liegen. Wo er dann blieb, das weiß ich nicht.«

»Aber ich weiß es.« Er lachte kurz auf. »Ich fand ihn nämlich unter der anderen Post auf meinem Schreibtisch, als ich von der Reise zurückkehrte.«

»Dann ist ja alles in Ordnung.«

»Auch daß du einer üblen Intrigantin so lieb und brav in das aufgestellte Netz getappt bist? Sieh mich nur so groß an, es ist genauso, wie ich es sage. Der Brief war – nun, um bei der Bezeichnung zu bleiben – von einer feurigen Granatblüte, die ich längst vor meiner Ehe abtat. Aber da eben solche Blüten sehr anhänglich sind, bombardierte sie mich mit Briefen, die ich genauso angewidert wie du in den Kamin warf – aber ungelesen. Ein solches Geschmiersel muß der Bose in die Hände gefallen sein, das sie zu ihren Gunsten ausnutzte. Du glaubst mir natürlich nicht. Daher ist es zwecklos, weitere Worte zu verlieren. Wann kommst du nach Hause?«

»Überhaupt nicht mehr. Reiche die Scheidungsklage ein. Ich bin bereit, alle Schuld auf mich zu nehmen.«

»Und wie denkst du dir deine Zukunft?«

»Ich bleibe hier, wo ich ein trautes Zuhause fand.«

»Und willst somit immer weiter den Menschen auf der Tasche liegen. Halt, fahr nicht auf, laß mich zuerst ausreden. Das tätest du nämlich, da du nach der Scheidung mittellos wärst. Denn eine Unterstützung hättest du von mir nicht zu erwarten.«

»Ich würde die von dir auch nicht annehmen!« Ihr Kopf flog in den Nacken. Die Augen sprühten nur so von Aufsässigkeit. »Man betrachtet mich hier ganz als ein Kind des Hauses und wird daher auch für mich sorgen.«

»Was ich diesen gütigen Menschen ohne weiteres zutraue.« Er blieb immer noch gelassen. »Wohl fühlst du dich als Tochter des Hauses, aber du bist es nicht, Elonie. Wirst trotz aller Zuneigung, die man dir in der Familie entgegenbringt, immer nur das sogenannte fünfte Rad am Wagen sein. Aber wie ich deinem vertrotzten Gesicht ansehe, bist du so vernagelt und verbohrt, daß ich mit goldenen Zungen reden könnte, ohne dich zu überzeugen. Ich möchte dich nur darauf aufmerksam machen, daß dir mein Haus jetzt noch offensteht.«

»Danke«, unterbrach sie ihn schroff. »Ich habe in deinem Haus genug gelitten – so sehr, daß ich sterben wollte. Was wahrscheinlich auch geschehen wäre, hätte Tante Beate mich nicht aus dieser Hölle befreit. Ich habe Angst, dahin zurückzukehren«, gab sie nun ihrer Erregung nach. »Angst vor der Verlassenheit, Angst vor den Bediensteten, die nicht die Herrin in mir sehen, sondern ein von dem Hausherrn geduldetes Wesen, dem gegenüber man sich jede Frechheit und Unverschämtheit ungestraft erlauben darf. Sie haben mir das notwendige Essen vorgeworfen wie einem aus Gnade und Barmherzigkeit nur geduldeten Hund.«

Jetzt gaben ihre Nerven nach. Sie weinte auf, hart und stoßweise, gepeinigt und gequält. Doch dann riß sie sich zusammen und sagte müde:

»Laß uns das Gespräch beenden, ich ertrage es nicht länger.«

»Na schön«, gab er nach, während er sich erhob. »Überlege dir das, was ich dir gesagt habe, bis ich die Reise hinter mir habe, die für längere Zeit die letzte sein wird. Ich spreche dann wieder hier vor, um mir deinen endgültigen Bescheid zu holen.«

Die Tür fiel hinter ihm zu, und Elonie drückte aufstöhnend das Gesicht in die Hände.

*

»Nun, was hast du erreicht?« fragte die Tante den Neffen, dessen Gesicht hart und blaß war. »Ist Elonie zur Vernunft gekommen?«

»Sie wünscht die Scheidung, Tante Beate.«

»Und du?«

»Ich gebe ihr Bedenkzeit, bis ich von der Reise zurückkehre, was in ungefähr sechs Wochen der Fall sein wird. Willst du sie noch solange behalten?«

»Das ist doch selbstverständlich, Diederich. Aus welchem Grund will sie sich scheiden lassen?«

»Weil sie nicht mehr länger als – Nebenfrau von mir geduldet sein will. Meine Geschäftsreisen bezeichnet sie als Fahrten zu meiner Geliebten, einer feurigen Granatblüte, in deren Banden ich schmachte. Damit hätte ich meine rechtmäßige Frau, die ich als Nebenfrau betrachte, gewissenlos der Willkür einer unverschämten Dienerschaft überlassen, die ihr das notwendige Essen vorwarf wie einem aus Gnade und Barmherzigkeit geduldeten Hund.

Leider ist es Tatsache, daß ich der Bose vertraute. Im Verein mit ihren Kreaturen intrigierte sie erfolgreich. Sie spielte Elonie einen Brief erwähnter, längst abgetaner ›Blüte‹ zu, und zwar so geschickt, daß dieses unerfahrene Kind ohne weiteres auf das niederträchtige Machwerk hereinfiel.«

»Das ist allerdings fatal«, sagte Tante Beate betroffen. »Es wird schwer sein, Elonies Mißtrauen zu entkräften.«

»Der Ansicht bin ich auch. Daher habe ich erst gar nicht versucht, mich zu rechtfertigen. Denn jedes Wort wäre auf Granit gefallen. Ich kann jetzt nichts weiter tun, als meine Frau dir zu überlassen, Tante Beate. Vielleicht gelingt es dir, sie zur Vernunft zu bringen.«

»Worauf du dich verlassen kannst, mein Sohn. Fahr du nur ruhig zu deiner Granatblüte, ich werde indes deine weiße Lilie hüten.«

»So ist dir der Vergleich, den Elonie am Hochzeitstag aufschnappte, auch bekannt?«

»Ja. Den offerierte sie mir, als ich im November wegen der Erbschaft in dein Haus kam. Die ist übrigens immer noch nicht ad acta gelegt. Wollen wir das nicht heute in Ordnung bringen?«

»Ist von meiner Seite bereits geschehen, Tante Beate. Ich habe am Heiligabend dem Notar mitgeteilt, daß ich auf meinen Anteil verzichte, weil er mir gar nicht zukommt. Somit fällt diese sonderbare Erbschaft dir allein zu. Den Bescheid wirst du wohl in den nächsten Tagen vom Notariat erhalten.«

»Aber Diederich, das kann ich doch nicht so ohne weiteres annehmen.«

»So, und ich soll es ohne weiteres annehmen, daß du dich mit meiner starrsinnigen Frau abgeplagt hast und dich wirst immer weiter mit ihr abplagen müssen. Da steht dir doch wenigstens eine Anerkennung zu. Nimm sie nur, es trifft ja keinen Armen.«

»Hast recht«, lachte sie. »Wenn man dir gibt, nimm, wenn man dir nimmt, schrei.«

»Also, dann sind wir uns ja einig. Hab Dank für die schönen Tage, die ich in deinem behaglichen Heim verleben durfte. Nun habe ich doch einmal ein Familienleben kennengelernt, wie es mir vorschwebte. Aber leider bin ich kein Onkel Fritz, und Elonie ist keine Tante Beate. Grüß bitte die Deinen von mir und übermittle auch ihnen meinen Dank.«

»Soll geschehen, Diederich. Wir haben uns aufrichtig über deinen Besuch gefreut und hoffen auf baldige Wiederholung.«

Sie gab ihm bis zur Haustür das Geleit, sah zu, wie er in den schweren Wagen stieg, machte Winke-winke und suchte dann unverzüglich das Zimmer auf, wo Elonie immer noch auf ihrem Platz verharrte.

»Ist er endlich fort?« fragte sie trotzig.

»Ja, er ist fort.« Tante Beate ließ sich seufzend in dem Sessel nieder, in dem vorhin ihr Neffe gesessen hatte. »Es ist dir glänzend gelungen, ihn zu vertreiben.«

»Tante Beate, du tust mir unrecht.«

»Davon muß ich mich erst überzeugen, mein Kind. Wie er mir erzählte, willst du dich von ihm scheiden lassen. Auch daß er dir eine Frist zugebilligt hat, dir diesen sehr gewagten Schritt ernstlich zu überlegen, hat er mir gesagt.«

»Hat er dir auch gesagt, warum ich die Scheidung wünsche?«

»Auch das. Ich fürchte jedoch, daß du bei dem vagen Beweis schlecht abschneiden wirst, meine liebe Elonie.«

»Aber Tante Beate, ich habe den Beweis doch schwarz auf weiß, den ehelicher Untreue. Und das ist wohl ein triftiger Scheidungsgrund.«

»Elonie, du bist noch sehr jung und kennst daher so gut wie nichts vom Leben, zumal du als behütetes Töchterchen keine Gelegenheit hattest, das wahre Leben kennenzulernen. Sonst müßtest du wissen, daß der Schein oft trügt. Und bei dem ominösen Brief tut er es, das kannst du mir schon glauben. Du bist dabei einer ganz gemeinen Intrige unterlegen, das wird dir Diederich auch gesagt haben, nicht wahr?«

»Ja, Tante Beate. Aber ich kann ihm nicht glauben.«

*

Mitte Februar meldete Brendor seine Ankunft an, was Elonie gelassen hinnahm. Sie blieb es auch, als er an einem Sonntagvormittag erschien. Draußen war es bitterkalt, doch im trauten Wohngemach verbreiteten Heizung und Kamin eine mollige Wärme.

»Da bist du ja«, begrüßte Onkel Fritz den Neffen mit lärmender Fröhlichkeit. »Komm, leg ab, mach es dir gemütlich.«

Was denn auch geschah. Als er Platz genommen hatte, setzte Birgit sich zu ihm auf die Sessellehne, Adolar legte den Kopf auf seine Knie, und Rosamunde sprang ihm auf den Schoß.

»Da bist du ja nun eingerahmt«, lachte die Tante. »Wenn dir die Gesellschaft lästig wird, schieb sie ruhig ab. Wo hast du deinen Wagen?«

»Nebenan in der Garage. Ich weiß ja, daß man aus dem Doktorhaus nicht sobald loskommt.«

»Gut, daß du das einsiehst. Wann bist du zu Hause eingetroffen?«

»Vor zehn Tagen. Da ich das Haus abgeschlossen hatte, gab es viel Arbeit, um es wieder bewohnbar zu machen. Ich habe nämlich, bevor ich auf Reisen ging, die gesamte Dienerschaft entlassen«, führte er weiter aus. »Habe das Haus gewissermaßen mit eisernem Besen ausgekehrt. Inzwischen ist es mir gelungen, eine Hausdame einzustellen, die bisher bei einem Bekannten segensreich wirkte. Da dieser jedoch mit seiner Familie auswanderte, wurde die Dame aus ihrem Vertrag frei und mit ihr die gesamte Dienerschaft, bestehend aus Köchin, Zofe, Hausmädchen und Diener. Die Referenzen, die ich über diesen Stab einholte, waren so vorzüglich, daß ich ihn kurzerhand für mein Haus in Bausch und Bogen verpflichtete. Seit vier Tagen sind sie nun da, und der Rückkehr der Hausherrin steht nun nichts mehr im Wege. Nun, Elonie, was hast du mir darauf zu sagen.«

Aller Augen hingen an ihr, die steif dasaß, den Kopf gesenkt. Die anderen, die vor Spannung den Atem anhielten, spürten wohl, ein wie heißer Kampf da gekämpft wurde, der selbst dem zehnjährigen Kind nicht entging. Verschüchtert stahl sich dessen Hand in die der Mutter.

Jetzt hob sich der gesenkte Kopf mit dem flimmernden Gelock. Die Blicke hasteten hin und her, sahen jedoch in lauter verschlossene Gesichter. Denn in diesem Kampf wollte ihr keiner beistehen, den mußte sie ohne Hilfe ausfechten.

»Ist gut, Diederich«, sprach sie endlich leise, den Kopf wieder senkend. »Ich will es versuchen.«

»Das freut mich«, entgegnete er in seiner beherrschten Art, so daß man nicht wußte, wie er ihren Entschluß aufnahm. Er hatte jedenfalls getan, was er konnte. Hatte, wie er selbst sagte, sein Haus mit eisernem Besen ausgekehrt. Hatte eine neue, schon bewährte Dienerschaft eingestellt. Es lag nun an der Hausherrin, wie sie sich bei den unvoreingenommenen Menschen einführen würde.

Es lag auch an ihr, wie sie mit dem Gatten auskommen würde. Mehr, als er seiner Frau bereits entgegengekommen war, würde er wahrscheinlich nicht tun, was der Onkel richtig fand, der seinen männlichen Standpunkt vertrat.

Aber auch Frau Beate war der Ansicht, daß Diederich seiner Frau nicht mehr Zugeständnisse zu machen brauchte.

»Diederich, es ist nicht nett von dir, daß du die Elo fortholst.« Birgit zog ein Mäulchen. »Ich werde gar nicht wissen, was ich ohne sie anfangen soll. Fährst du nicht bald wieder weg?«

»Nein, kleine Itt. Jetzt bleibe ich für eine gute Weile zu Hause. Wenn du Sehnsucht nach deiner Elo hast, kannst du sie ja besuchen.«

»Aber schöner ist es doch, wenn ich sie hier habe.«

»Birgit, jetzt hör auf«, sagte die Mutter unwillig. »Elonie gehört zu ihrem Mann, der ihr erlaubte, so lange bei uns zu bleiben, wie er sich auf Reisen befand.«

Der Gong machte dem Gespräch ein Ende. Man ging ins Speisezimmer hinüber, wo sich auch Elonie und Birgit einfanden. Huschchen kam auch hinzu, und man konnte mit dem Mittagsmahl beginnen. Birgit sah den Vater so flehend an, daß er sich der kleinen Plaudertasche erbarmte.

»Nun erleichtere dein Herz«, lachte er.

Und schon ging es los.

»Elo hat mir versprochen, mich mit ihrem Auto abzuholen und wieder nach Hause zu bringen. Du hast doch nichts dagegen, Diederich?«

»Wie sollte ich wohl?« Er besah sich lächelnd das reizende Mägdlein.

»Danke.« Sie strahlte ihn an. »Ich mag dich schrecklich gern, großer Vetter. Du bist so human.«

Über den Ausdruck mußte man lachen, weil er gar so komisch aus dem Kindermund klang. Birgit freute sich mit und hielt dann brav ihr Schnäbelchen. Als die Tafel aufgehoben war, griff sie nach den Händen Elonies und zog sie mit sich fort.

»Komm, Elo, wir packen erst zu Ende, damit wir diese unangenehme Arbeit hinter uns haben.«

So gingen denn die beiden nach oben und die anderen nach dem lauschigen Zimmerchen. Sie tranken genüßlich ihren Mokka und unterhielten sich dabei angeregt, bis die beiden Packerinnen erschienen.

»Endlich sind wir fertig«, berichtete die Kleine, hochrot vor Eifer. »Komm, Elonie, setzen wir uns nach der anstrengenden Arbeit.«

»Nein«, widersprach diese. »Wenn ich schon von hier fort muß, dann so schnell wie möglich.«

»Ein so rascher Aufbruch ist zwar unhöflich gegen die Gastgeber, aber ich kann’s nicht ändern.« Brendor erhob sich achselzuckend. »Ich hole den Wagen. Mach dich indes fahrbereit, Elonie.«

Was nun kam, ging überhastet schnell. Und überstürzt war auch der Abschied, dafür sorgte Elonie. Die hellen Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie den ihr lieben Menschen noch einmal aus dem Wagen zuwinkte, bis er um die Ecke verschwand.

*

Rasch und sicher glitt der Wagen über das weiße Band der Straße. Ab und zu warf der Mann am Steuer einen Blick auf seine Nachbarin, die regungslos dasaß, immer noch die Augen voll Tränen. Als diese jedoch wieder überliefen, sagte er gereizt:

»Wenn dir der Abschied so schwer fällt, hättest du mir nur einen Ton zu sagen brauchen.«

»Bitte nicht«, wehrte sie ab, die Tränen hastig wegwischend. »Dieser rasche Abschied tut nicht so weh, als wenn ich ihn in die Länge gezogen hätte. Fort mußte ich ja doch einmal.«

»Warum mußte?« fragte er schroff dazwischen.

»Weil ich nicht ganz und gar zur Familie gehöre.«

»Gut, daß du das einsiehst«, lachte er kurz auf. »Dann habe ich ja Aussicht, in Gnaden von dir aufgenommen zu werden. Oder gedenkst du weiter in deinem Starrsinn zu verharren?«

»Nein, natürlich nicht. Du mußt nur – Geduld – mit mir haben.«

»Na schön. Ich gebe dir nur zu bedenken, mein liebes Kind, daß meine Geduld nicht unerschöpflich ist. Und wenn sie mal reißt, dann aber endgültig.

Vor allen Dingen möchte ich dich bitten, dich der Hausdame, Frau von Gehldorn, gegenüber nicht wie ein störrisches Kind zu benehmen. Ich glaube kaum, daß diese feine, beherrschte Dame dafür Verständnis hat. Und ich, nun, ich möchte mich meiner Frau nicht schämen müssen. Du verstehst doch, was ich damit meine?«

»Ja.«

»Dann richte dich danach. Ich habe jedenfalls alles getan, um dir deine Rückkehr in mein Haus zu erleichtern. Es befinden sich jetzt Menschen darin, die dich als Herrin respektieren werden, solange du dich wie eine solche benimmst.

Und nun laß uns, wenn auch nicht Frieden, so doch einen Waffenstillstand schließen. Denn um ersteres zu tun, dafür sind wir beide zu verbittert.

Aber guter Wille vermag viel. Ich habe ihn. Und wenn auch du ihn hast, kann unsere Ehe sich noch ganz erträglich gestalten.«

Der Wagen hielt, Brendor gab ein bestimmtes Signal, und schon öffnete sich das breite, schmiedeeiserne Tor so geräuschlos, als würde es von Geisterhand bedient. Der Wagen fuhr durch das Tor, schloß sich wieder, und Elonie hatte das Gefühl, eine Gefangene zu sein. Scheu glitt ihr Blick an dem Prachtbau hoch, in dem sie ein Vierteljahr nicht wie eine Herrin, sondern wie ein armseliger Mensch gelebt hatte.

»Elonie, wir sind da«, hörte sie eine mahnende Stimme neben sich. Da riß sie sich zusammen, ließ sich von dem Gatten aus dem Wagen helfen und ging an seiner Seite die Freitreppe hinauf.

In der Halle trat ihnen die Hausdame entgegen, während sich der Diener im Hintergrund hielt. Sie war eine gutaussehende Dame Ende Vierzig, mittelgroß, schlank, elegant, gewandt, beherrscht, taktvoll – also ganz die distinguierte Hausdame eines distinguierten Hauses. Brendor stellte ihr seine Frau vor, die sie mit gewinnender Liebenswürdigkeit begrüßte:

»Guten Tag, gnädige Frau. Ich kann Sie als Herrin des Hauses nicht gut willkommen heißen, aber ich darf Ihnen sagen, daß ich mich auf Ihre Ankunft gefreut habe.«

»Danke, Frau von Gehldorn«, entgegnete Elonie zurückhaltend und ließ sich von dem Diener aus dem Mantel helfen.

Als auch der Hausherr abgelegt hatte, ging man nach dem gemütlichen Frühstücksstübchen, wo auf dem einladend gedeckten Tisch die Kaffeemaschine summte.

»Der Platz des Hausherrn ist mir bereits bekannt«, sagte Irene von Gehldorn zögernd. »Doch der der Hausherrin…«

»... ist hier.« Elonie zog das inmitten des Tisches stehende Gedeck zu sich heran.

Während man Platz nahm, sagte die Hausdame entschluldigend:

»Es ist nämlich gar nicht so einfach, sich in einem fremden Haus ohne Einführung zurechtzufinden. Daher fürchte ich, manches verkehrt gemacht zu haben, hauptsächlich in Ihren Zimmern, gnädige Frau, die ja unbedingt gesäubert werden mußten. Dabei kann etwas verkehrt gestellt worden sein.«

»Wenn schon!« Elonie winkte hastig ab. »Die Fehler lassen sich leicht in Ordnung bringen.«

»Das beruhigt mich, gnädige Frau.«

»Und ich möchte Sie bitten, das ›gnädige‹ bei meiner Frau zu verschlucken«, sagte Brendor lachend. »Sie ist noch zu jung, um sich von einer – Pardon – älteren Dame so ansprechen zu lassen. Bist du nicht auch der Ansicht, Elonie?«

»O ja«, erwiderte sie verlegen unter dem Blick der klaren Augen, die so viel Wärme ausstrahlten.

Obwohl die eigenwillige Elonie sich dagegen sträubte, nahm die Art dieser Frau sie mehr und mehr gefangen Sie hatte sich doch fest vorgenommen, der Hausdame von vornherein die Herrin zu zeigen, damit diese gleich wußte, woran sie bei ihr war.

Und nun? Nun hatte sie sogar Hemmungen dieser wirklichen Dame gegenüber. Diese würde sie höchstens um etwas bitten können, aber ihr nie Befehle erteilen – und somit genausowenig Herrin im Hause sein, wie sie es bei der Bose gewesen war.

Allein, darin sollte sie sich täuschen. Frau von Gehldorn respektierte durchaus in ihr die Gebieterin, und für die Dienerschaft war sie höchste Instanz. Wie ein guter Geist waltete die Hausdame still und unauffällig, und doch spürte man überall ihre straffen Zügel. Im Hause wickelte sich alles reibungslos ab. Pünktlichkeit und Ordnung waren für die Dienerschaft höchstes Gesetz.

Man hatte in diesem Haushalt auch längst nicht so viel Arbeit wie in dem vorherigen. Dort gab es außer dem Ehepaar vier Kinder nebst einem Kinderfräulein, den Senior der Familie, die Mutter der Hausherrin und eine alte Tante. Und alle waren sie sehr anspruchsvoll. Da hieß es für die Dienerschaft, sich hurtig regen. Sonst gab es Verweise oder gar Schelte.

Doch sie hatte es geschafft und empfand daher die Arbeit hier als Kinderspiel. Dazu war der Lohn bedeutend höher; der Zuschnitt des Hauses feudaler, die Herrschaft bedeutend vornehmer und humaner. Was Wunder, wenn die Bediensteten ihren vorzüglichen Posten halten wollten und daher alles taten, um ihre Herrschaft zufriedenzustellen.

In den ersten Tagen nach ihrer Rückkehr wußte Elonie nichts mit sich anzufangen. Wenn sie wenigstens so wie früher bis elf Uhr hätte schlafen können, dann wäre der Tag nicht so lang geworden. Aber da sie im Doktorhause spätestens um acht Uhr aufgestanden war, wurde sie auch jetzt um die Zeit wach und konnte, so große Mühe sie sich auch gab, nicht wieder einschlafen. Und Hunger hatte sie auch.

Also erschien sie um halb neun unten am Frühstückstisch. Frau von Gehldorn, die um halb acht mit dem Hausherrn zusammen frühstückte, ließ jetzt immer noch ein Plätzchen frei, wie sie lachend sagte, um auch mit der Hausherrin zu essen. Denn allein schmeckte es nun einmal nicht so gut.

Und dieses Frühstücksstündchen wurde Elonie bald so lieb und vertraut, daß sie es nicht mehr missen mochte. Das kleine Zimmer war ihr noch nie so heimelig erschienen wie jetzt, überhaupt ihr ganzes Zuhause nicht. Sie war sich darin immer so fremd vorgekommen, so verlassen und verloren. Hatte sich vor der Bose direkt verkrochen wie vor einer schleimigen Viper. Nun, das war jetzt vorbei, das Haus war von der Viper befreit – Gott sei Dank!

*

Das dachte auch Beate Norber, als sie an einem Vormittag das Brendorhaus betrat und von dem Diener in Empfang genommen wurde. Der gefiel ihr schon bedeutend besser als sein Vorgänger, sogar gut gefiel er ihr, und von Frau von Gehldorn war sie direkt entzückt.

»Ich bin Elonies Tante«, führte sie sich ein. »Was ist denn mit der Kleinen? Die läßt ja gar nichts von sich hören. Ist sie krank? »

»Gottlob nicht, gnädige Frau.«

»Bitte nicht so offiziell«, lachte Beate. »Ich finde meinen Namen Norber auch schön. Schläft Elonie etwa noch?«

»Nein. Sie befindet sich, wie immer um diese Zeit, im Tattersal. Wenn sie gewußt hätte, daß ihr der Besuch der geliebten Tante bevorstand, hätte sie sich gewiß nicht aus dem Haus gerührt. Sie muß aber bald erscheinen. Indes müssen Sie schon mit mir vorliebnehmen.«

Als sie sich im Wohnzimmer gegenübersaßen, fühlten sie sich mehr und mehr zueinander hingezogen. So zurückhaltend sonst auch beide gegen jeden Fremden waren, kam zwischen ihnen ein Fremdsein gar nicht erst auf. Man spürte sofort, daß man einander vertrauen konnte. Also ging Beate nicht wie die Katze um den heißen Brei, sondern sprach freiweg:

»Ich weiß nicht, wie weit Sie in die Verhältnisse hier eingeweiht sind, Frau von Gehldorn. Aber wie ich meinen Neffen kenne, wird er nicht sehr mitteilsam gewesen sein, stimmt’s?«

»Ja«, wurde lächelnd bestätigt. »Was Herr Doktor Brendor mir sagte, waren nur Stichworte. Trotzdem glaube ich ganz gut im Bilde zu sein. Es gehört kein großer Scharfsinn dazu, mir das Gesagte mit dem Unausgesprochenen zusammenzureimen, da die Ehe ja eine der alltäglichen ist.«

»Wie meinen Sie das, Frau von Gehldorn?«

»Nun, der Mann viel auf Geschäftsreisen, die Frau weiß nichts mit sich anzufangen. Wenn da noch Intrigen um sie gesponnen werden und so weiter – tja, dadurch ist schon manch eine Ehe in die Brüche gegangen. Und diese hier – entschuldigen Sie bitte – hängt wohl auch nur noch an einem seidenen Faden.«

»Leider«, seufzte Beate. »Ist es Ihnen bekannt, daß Elonie ein Vierteljahr in meiner Familie weilte?«

»Ja.«

»Auch – warum das geschah?«

»So mitteilsam war Herr Doktor Brendor nicht.«

»Dann werde ich es Ihnen näher erklären, damit Sie die richtige Einstellung bekommen.«

Kurz erzählte sie, was sich zugetragen hatte, und als sie mit dem Bericht zu Ende war, sagte Frau Irene betroffen:

»So arg habe ich es mir allerdings nicht vorgestellt. Wenn Sie nun nicht wegen der Erbschaftsangelegenheit das Haus Ihres Neffen hätten aufsuchen müssen, wäre da ein junges, verzweifeltes Menschenkind zugrunde gegangen. Also kann man wohl sagen, daß da wieder einmal eine höhere Macht noch gerade so zur Zeit eingegriffen hat. Armes Ding, was mag es ausgehalten haben.«

Weiter kam sie nicht, da Elonie eintrat. Zuerst stand sie da wie erstarrt, doch dann jubelte sie auf:

»Tante Beate, ist das mal eine freudige Überraschung! Du bleibst doch länger, nicht wahr?«

»Zuerst laß mal meinen Hals los«, wehrte sie sich lachend gegen die feste Umschlingung. »Wenn du mich würgst, bleibt mir die Antwort in der Kehle stecken.«

»Entschuldige, Tante Beate – aber ich freue mich doch so sehr. Jetzt bist du frei, nun beantworte meine Fragen, aber enttäusche mich nicht.«

»Über Mittag bleibe ich bestimmt hier. Onkel Fritz mußte nämlich in eurer Stadt zu einem medizinischen Kongreß und nahm mich mit. Die beste Gelegenheit, dir einen Gegenbesuch abzustatten, der eigentlich ein Vierteljahr dauern müßte«, fügte sie lachend hinzu. »Aber rechnen wir für jeden Monat eine Stunde, das genügt auch.«

»Bißchen wenig«, kam es von der Tür her, durch die der Hausherr soeben schritt, distinguiert und selbstbewußt, so der richtige Gebieter. »Guten Tag auch, Tante Beate. Wie nett, daß du dich hierher verirrst.«

»Werde nicht ironisch, mein Sohn.«

»Tante Beatchen, wie dürfte ich das wagen. Wo ist der liebe Onkel Fritz?«

»In diesem Städtchen bei einem Kongreß. Wenn der beendet ist, holt er mich hier ab.«

»Na wunderbar. Aha, da ist ja auch Niklas, um uns zur Futterkrippe zu holen. Sie ist für unseren Gast doch gut gefüllt, Frau von Gehldorn?«

»Er wird satt werden, Herr Doktor.«

Man ging ins Speisezimmer hinüber, wo man sich das vorzüglich zubereitete Mahl gut munden ließ. Den Mokka trank man in einem Stübchen, das eigentlich nur aus Teppichen nebst Polstern bestand, und unterhielt sich dabei mit der Friedfertigkeit des Gesättigten.

Bald darauf erschien auch Onkel Fritz und wurde mit freudigem Hallo begrüßt. Nachdem er Platz genommen hatte, sagte er mit einem Blick auf den Neffen zufrieden:

»Wenn du in diesem luxuriösen Gemach Pfeife rauchst, darf ich das auch.«

Sprach’s, stopfte seine geliebte »Braune«, steckte sie in Brand und brummte behaglich:

»Wenn ich jetzt noch einen Mokka kriegen könnte, wäre ich restlos zufriedengestellt.«

»Hast du überhaupt schon zu Mittag gegessen, Onkel Fritz?« erkundigte sich Elonie.

»Hab’ ich, mein Herzchen, wenn auch nur mäßig. Es geht doch nichts über Muttchens Kochkunst.«

*

»Birgit hat heute Geburtstag«, sagte Elonie einige Tage später an der Mittagstafel. »Ich fahre hin. Kommst du mit, Diederich?«

»Leider unmöglich, da ich Kundenbesuch erwarte. Besorg der Kleinen ein passendes Geschenk und gratuliere ihr in meinem Namen. Was hast du für sie?«

»Eine Armbanduhr, die sie sich sehnlichst wünscht. Natürlich keine kostbare, sondern eine, die für ihre elf Jahre passend ist. Du weißt ja, wie ängstlich Norbers bemüht sind, aus ihrer Tochter keine Modepuppe zu machen.«

»Das weiß ich und billige es. Worüber würde unsere Itt sich noch freuen?«

»Über eine Korallenkette, die ich ihr als zweites Geschenk besorgt habe. Falls du es möchtest, trete ich sie an dich ab.«

»Danke, das ist lieb von dir«, erwiderte er, schon nicht mehr recht bei der Sache. Schließlich hatte er ja an anderes zu denken als an den Geburtstag eines kleinen Mädchens.

Er konnte heute nicht einmal mehr den Mokka trinken, da er telefonisch abgerufen wurde. Denn der angekündigte Herr war früher eingetroffen als vereinbart und wartete im Hotel auf ihn.

»Der scheint es sehr eilig zu haben«, sagte er ärgerlich. »Aber warten lassen kann ich ihn nicht, dafür ist der Mann zu wichtig. Viel Spaß im Doktorhaus. Sie fahren doch mit, Frau von Gehldorn?«

»Ja, Herr Doktor.«

»Das beruhigt mich. Also dann am Abend auf Wiedersehen.«

Eine Stunde später fuhr man dem Doktorhaus zu. Es war ein herrlicher Wintertag, der bereits den Frühling ahnen ließ. Wohl lag der Schnee noch auf den Feldern, aber die Straßen waren geräumt und gestreut.

Im Doktorhaus wurde man mit Hallo empfangen. Hauptsächlich von dem Geburtstagskind. Uhr und Kette riefen jubelnde Freude hervor, aber auch über Frau von Gehldorns Gabe, ein dickes Märchenbuch, freute sich die kleine Leseratte sehr.

Stolz zeigte sie den Geburtstagstisch, der wohl gut belegt, aber nicht überladen war. Wohl hätten es sich die gutsituierten Eltern leisten können, ihre Tochter reicher zu beschenken, doch aus Gründen der Übersättigung unterließen sie es, was Frau Irene richtig fand. Wäre sie nicht von Kind auf so sehr verwöhnt worden, wäre ihr das spätere Leben voll Einschränkungen nicht so schwergefallen.

Pünktlich um vier Uhr trafen die kleinen Gäste ein, die das Geburtstagskind mit allerliebster Würde in Empfang nahm. Nachdem sie bei den Erwachsenen ihren Knicks gemacht hatten, wurden sie in das Nebenzimmer geführt, wo ein Tisch festlich gedeckt war. Man hörte das Lachen und Schwatzen gedämpft durch die Tür des Zimmers, in dem die beiden erwachsenen Gäste und die Hausherrin sich gleichfalls an Kaffee nebst Kuchen gütlich taten.

»Heute kann unsere kleine Plaudertasche mal hurtig das Zünglein regen«, sagte die Mutter. »Eigentlich müßte es doch schon ermattet sein, nachdem sie stundenlang es an mir wetzte.

Ah, da ist ja auch unser guter Onkel Fritz.« Sie zeigte lachend zur Tür, durch deren Spalt sich vorsichtig ein Kopf steckte. »Warum denn so zaghaft?«

»Weil ich Angst vor sechs kleinen Damen habe«, kam es schmunzelnd zurück. »Bin ich aus der Gefahrenzone?«

»Jawohl, die ist durch eine Tür gesichert.«

So trat er denn mutig näher, begrüßte die beiden Gäste und nahm dann in der Runde Platz. Augenzwinkernd heftete sich sein Blick an Elonie.

»Du wirst ja immer hübscher, Marjellchen. Sind die rosigen Wängelein echt?«

»Willst du mich ärgern, Onkel Fritz?«

»Bewahre. Möchtest du einen Hund?«

»Ziemlich sprunghaft deine Unterhaltung.« Sie schob ein Kuchenstückchen in den Mund. »Was hat denn ein Hund mit meinen Wangen zu tun?«

»Das möchte ich auch gern wissen«, meldete sich Frau Beate. »Wie kommst du denn auf den Hund?«

»Na, soweit ist es bei mir nun doch noch nicht«, zwinkerte er vergnügt den anderen zu, die erst jetzt verstanden hatten und hell herauslachten. »Der Hund, den ich meine, ist ein Sohn von unserem Adolar.«

»Tatsächlich, Onkel Fritz?«

»Tatsächlich. Die Mutter ist eine preisgekrönte Airedaleterrierhündin, die vier prächtige Junge warf. Ein Rüde davon ist ein besonderes Prachtexemplar.«

»Den muß ich haben, Onkel Fritz.«

»So ungefähr habe ich mir das gedacht. Die Nachfrage nach den Tierchen ist groß, also mußt du dich rasch entschließen.«

»Ich bin es schon.«

»Auch ohne Diederichs Erlaubnis?«

»Die ist nicht erforderlich.«

Eben wirbelte Birgit wieder herbei, Elonie stürmisch umhalsend.

»Komm doch bitte zu uns Elonie. Wir brauchen einen Schiedsrichter. Das kann aber nur ein Erwachsener sein, weil die Mädchen zu sehr mogeln würden. Mutti kann ja nicht Frau von Gehldorn allein sitzen lassen, aber du bist hier zu nichts nutze.«

»Herzlichen Dank«, lachte die junge Frau, gleich den anderen. »Du bist ja sehr aufrichtig. Also komm, damit ich mich auch nützlich machen kann.«

Kurz vor sieben Uhr brach die kleine Gesellschaft auf. Alle hatten sie rote Backen und blanke Augen, als sie ins Wohnzimmer kamen, um sich zu verabschieden. Freudestrahlend sagten sie ihren Dank, immer wieder beteuernd, wie schön es gewesen sei.

»Es war auch wirklich schön«, bekräftigte Birgit, nachdem die Mädchen gegangen waren. »Nicht ein einziges Mal haben wir gestritten.

Diederich!« jubelte sie so plötzlich auf, daß die anderen zusammenfuhren. Sie hatten den Eintretenden nicht bemerkt, dem die Kleine jetzt am Hals hing.

»Diederich, du hast uns gerade noch gefehlt!«

»Kann man so oder auch so nehmen«, sagte er lachend und machte sich von der würgenden Umschlingung frei. »Ich konnte nicht umhin, dir persönlich zu gratulieren. Schau mal nach, was da drin ist. Hoffentlich gefällt es dir.«

Damit drückte er dem überraschten Kind einen Karton in die Hand und begrüßte dann die anderen, zu denen sich inzwischen der Onkel Fritz auch wieder gesellt hatte. Man wollte gerade fragen, wo er denn so unerwartet herkäme, als Birgit aufschrie:

»Mutti, ach, Muttilein, schau dir das mal an! Ein Kleid aus blauem Samt. Das muß ich gleich mal anziehen.«

Flugs griff sie nach den Knöpfen, als der Vater Einhalt gebot:

»Stopp ab! Du kannst dich doch nicht vor zwei Männern einfach entblößen, du kleine Dame. Verzieh dich gefälligst ins stille Kämmerlein.«

Was eiligst geschah. Tante Beate wandte sich nun lachend dem Neffen zu:

»Ja, sag mal, Died, seit wann kaufst du denn Kleider? Und du scheinst Routine darin zu haben, wie ich flüchtig feststellen konnte. Schau einer mal das stille Wasser an.«

Er wird tatsächlich rot, dachte Frau von Gehldorn amüsiert. Man sollte das bei diesem Weltmann kaum für möglich halten.

Jetzt war Birgit wieder da, die sich in unwahrscheinlich kurzer Zeit umgezogen hatte. Gespreizt wie ein Mannequin drehte sie sich in dem neuen Gewand, das bis auf Kleinigkeiten sogar paßte. Leuchtend hob sich die rote Korallenkette von dem marineblauen Samt ab, die Zöpfe glänzten golden, das reizende Gesichtchen strahlte.

»Bin ich nicht schick?« fragte sie und warf sich in Positur. »Das ist bestimmt ein Modellkleid, weil es von dem reichen Brendor stammt.«

»So klein und schon so raffiniert!« Der Vater besah sich kopfschüttelnd sein bildhübsches Töchterlein. »Marjellchen, Marjellchen, du wächst ja gut aus.«

»Wird nicht so schlimm werden, Papichen«, tröstete sie, sich dabei zwischen die Knie des großen Vetters schiebend. Zärtlich drückten sich die weichen Lippen auf seine Wange.

»Danke schön, Diederich. Du hast einen guten Geschmack.«

»Ehrt mich, kleine Dame.«

»Ich finde es nur so komisch, daß du als Herr mir ein Kleid schenkst. Ist das nicht zu persönlich? – Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt«, schüttelte sie bei dem Heiterkeitsausbruch der anderen das Köpfchen. »Ein Kleid ist doch persönlich.«

»Einer Base gegenüber darf man sich das schon erlauben«, erklärte er todernst, während es um Mund und Augenwinkel so verdächtig zuckte. »Zumal dann, wenn es eine kleine Base ist.«

»Nun, du als Weltmann mußt es ja wissen«, tat sie nonchalant ab. »Da darfst du schon großzügig sein und bist es auch. Ich mag dich überhaupt so schrecklich gern.« Sie schmiegte ihre Wange an die seine, umgurrte ihn wie ein Täubchen, was ihn stutzig werden ließ. Er nahm sie bei den Öhrchen, sah sie forschend an.

»Na, du kleine, listige Eva, da möchte ich fast wetten, daß hinter dieser Süßholzraspelei etwas steckt. Was für ein Anliegen hast du denn an mich, hm?«

Jetzt überzog sich das Gesichtchen mit heißer Glut. Die Finger zupften an seiner Krawatte, schmollend verzog sich der Mund.

»Was du aber auch von mir denkst. Ich mag dich wirklich gern, auch wenn du mir meinen sehnlichsten Wunsch nicht erfüllen solltest.«

»Aha, jetzt kommen wir der Sache schon näher. Nun mal heraus mit der Sprache!«

»Das kann ich dir nur ins Ohr sagen.«

Schon tuschelte sie in das bereitgehaltene Ohr hinein und sah dann gespannt in die lachenden Männeraugen.

»Ja, Diederich, erlaubst du mir das?«

»Mit dem größten Vergnügen.«

Da ließ sie von ihm ab und wirbelte zur Tür, durch deren Spalt sie den Kopf steckte.

»Sag du es den Eltern. Wenn ich es tu, halten sie mich für unverschämt.«

Die Tür schloß sich, und herzliches Lachen kam auf.

»Frau, was haben wir bloß für eine Tochter. Und das mit elf Jahren. Da werden wir die Kandare wohl straffer ziehen müssen. Was wollte sie denn von dir, Diederich?«

»Die Osterferien bei uns verleben.«

»Also hat sie es trotz meines Verbotes gewagt, dich darum anzugehen«, sagte die Mutter ärgerlich.

»Zur Strafe wird sie zu Hause bleiben.«

»Aber Tante Beate, warum denn so streng?« beschwichtigte der Neffe lachend. »Sie hat doch zuerst einmal ganz höflich bei mir angefragt.«

Jetzt schob Birgit sich durch die Tür, den Blick auf das Gesicht der Mutter geheftet. Als sie merkte, daß diese nicht böse war, trat sie aufatmend näher.

»Gott sei Dank, daß du nicht böse bist, Mutzilein.«

»Warum sollte ich denn böse sein?«

»Weil ich doch – ich meine, weil ich Diederich… Und du meintest doch… Du weißt schon, wie es gemeint ist. Aber ich glaube, Muttichen, mein Zeugnis wird gut.«

Jetzt konnten sie alle das amüsierte Lachen nicht mehr zurückhalten. Sie war aber auch zu reizend, die Kleine, wie sie so zerknirscht tat und es faustdick hinter den Öhrchen hatte. Wenn bei dem Anblick das Mutterherz durchging, war es gewiß kein Wunder.

»Nicht wahr, Mutti, ich darf?« ging das Mädchen jetzt zum direkten Angriff über. »Diederich hat es erlaubt.«

»Und Elonie?«

»Die brauche ich erst gar nicht zu fragen. Aber wenn du es für erforderlich hältst…«

»Erforderlich ist vor allen Dingen ein gutes Zeugnis«, blieb die Mutter ungerührt. »Davon hängt es ab, ob du die Ferien im Brendorhaus verleben darfst oder nicht.«

Da schlich die Kleine betrübt von dannen, und Elonie fiel gewissermaßen aus allen Wolken.

»Tante Beate, steht Birgit denn in der Schule so schlecht, daß die Versetzung in Frage gestellt ist?«

»Das gerade nicht. Sie wird in die nächste Klasse kommen, wie mir die Lehrerin sagte. Aber sie fängt an zu schludern, und das dürfen wir erst gar nicht einreißen lassen.«

»Sie ist doch begabt.«

»Aber faul. Ich verlange gewiß keine Musterschülerin, aber eine durchschnittliche. Eine einzige Vier im Zeugnis, und sie bleibt während der Ferien zu Hause.«

Es war so fest gesagt, daß niemand ein gutes Wort für den kleinen Faulpelz einzulegen wagte.

Zu dem Mahl wurde ein vorzüglicher Wein gereicht, von dem Elonie nur ein halbes Glas leerte, weil sie sich ans Steuer setzen mußte. Der Gatte jedoch durfte als Beifahrer ungestraft sündigen.

Birgit benahm sich an der Tafel musterhaft artig, was allen ein verstecktes Schmunzeln entlockte. Es war wirklich schwer, dem reizenden Dinglein zu widerstehen. Daß die Mutter es tat, war ihr hoch anzurechnen. Brendor hob es lobend hervor, als er später an der Seite der Gattin nach Hause fuhr.

*

Ostern fiel in diesem Jahr auf Ende März; und die Natur hatte sich zu dem Empfang des Frühlingsfestes herrlich geschmückt. Die Birken umwallten zartgrüne Schleier, Leberblümchen und Buschwindröschen blühten, Krokusse leuchteten auf den gepflegten Rasenflächen, auf den Beeten prangten die ersten Gartenblumen.

Man saß an einem Tag kurz vor dem Fest gerade beim Mittagessen, als ein Anruf für Elonie kam. Es war Birgit, deren Stimme sich vor Aufregung fast überschlug. Wohl war es wirr und kraus, was da hervorgebracht wurde, aber immerhin so verständlich, daß das Zeugnis der Kleinen keine Vier aufwies und sie daher die Osterferien im Brendorhaus verleben durfte. Die Feiertage über mußte sie noch zu Hause bleiben, und für den zweiten Feiertag wären Frau von Gehldorn, Elonie und Diederich herzlich eingeladen. Auf der Radfahrt käme sie dann mit, sie müßte allerdings noch Diederich fragen.

Da gab Elonie den Hörer an ihn ab, und er bekam dasselbe zu hören. Nur noch eine lange Frage dazu, die er mit »Ja« beantwortete. Dann wurde er verabschiedet und legte lachend den Hörer auf.

»Das Firlefänzchen ist vielleicht aufgeregt. Da wird ihre arme Mutti in den nächsten Tagen nichts zu lachen haben.«

»So arg war es nicht«, erklärte sie, als am Zweitfeiertag die Gäste sie danach fragten. »Sie hatte ein Spielzeug, das sie wohltuend von mir ablenkte.«

»Und es ist süß, das Spielzeug«, sagte die Kleine strahlend. »Doch jetzt ist es abgemeldet, jetzt habe ich euch.«

»Das ist doch ein ganz gräßliches Gör«, seufzte die Mutter, nachdem das Töchterlein verschwunden war. »Altklug und naseweis bis dorthinaus. Bei Knuts Erziehung hatte ich es bedeutend leichter.«

»Muttichen, hast du aber ein kurzes Gedächtnis«, blinzelte er ihr verschmitzt zu. »Es ist noch gar nicht so lange her, daß du mich einen gräßlichen Bengel nanntest.«

Es wurde ein so gemütlicher Nachmittag, wie man ihn im Doktorhaus erwarten durfte. Brendor genoß diese Gemütlichkeit mit Behagen. Er amüsierte sich stillvergnügt über die trockene Art des Onkels, über die resolute Tante, über den schlagfertigen Knut und über die jetzt so brave Itt. Die mußte wohl ihre Mutter kennen, die es fertigbekommen würde, bei einer Unart ihrer Tochter auch jetzt noch gewissermaßen vor Toresschluß den Ferienaufenthalt im Brendorhaus zu verbieten.

Unschuldig wie ein Engel saß sie da in ihrer lichten Blondheit. Die Blicke der großen Blauaugen flitzten umher, die rosigen Öhrchen waren gespitzt, damit ihnen nur ja nichts entging, was getan und gesprochen wurde.

Ein aufgewecktes Dinglein, an dem man seine Freude haben konnte. Die kleinen Unarten fielen kaum ins Gewicht, selbst sie konnte man mit liebenswert bezeichnen. Daß sie nicht zuviel wurden, dafür sorgte schon die Mutter.

»Darf ich jetzt etwas sagen?« hob sich das Fingerlein wie in der Schule. »Ich möchte Elo bitten, mit nach oben zu kommen und den gepackten Koffer zu revidieren. Dafür wird es jetzt so langsam Zeit.«

Elonie tat ihr den Gefallen, und kaum daß die beiden außer Hörweite waren, brach das Gelächter los, das sie nur mit Mühe zurückgehalten hatten.

»Na, Muttchen, unseren Firlefanz hast du ganz gut kleingekriegt«, sagte der Gatte schmunzelnd. »So viel Artigkeit ist direkt beängstigend. Gefällt es dir?«

»Das wird nicht lange vorhalten, Alterchen. Unsere Itt kommt jetzt nämlich in die sogenannten Flegeljahre. Da muß man gleich mit der Schere stutzen, was wild hervorschießen will. Wenn sie ungezogen werden sollte, schick sie nach Hause, Diederich.«

»Das verlangst du doch nicht im Ernst von mir, Tante Beate? Wie sollte ich es wohl übers Herz bringen, einem so reizenden Mägdlein weh zu tun.«

»Die Ritterlichkeit im Manne«, blähte Knut sich auf. »Ich bekäme das auch nicht fertig. Ich ziehe höchstens an den Zöpfen, wenn so ein Gör patzig wird.«

»Das kann unter Umständen auch ganz nett weh tun«, lachte Frau von Gehldorn herzlich. »Ich finde die Kleine allerliebst, lange nicht so unartig wie die meisten Kinder.«

Weiter konnte sie nicht sprechen, da Elonie und Birgit eintraten.

»Mutti, es ist nicht zuviel, was ich einpackte«, berichtete die Kleine eifrig. »Elo sagt, das muß ich haben. Zwei Wochen sind ja auch eine lange Zeit.«

»Sollst mal sehen, wie rasch sie vergehen«, dämpfte der Bruder ab. »Eh du dich recht versiehst, sind sie um.«

»Wenn sie bloß erst da wären«, seufzte die Kleine. »Darf ich jetzt schon, Muttichen, damit die Zeit schneller vergeht?«

»Erst wenn ihr abfahrt, Birgit. So war es vereinbart, und so wird es geschehen.«

Also galt es, sich weiter in Geduld zu fassen. Als es dann endlich soweit war, flitzte das Kind ab, und als es wiederkam, trug es einen kleinen Hund, den es Elonie strahlend überreichte.

»Nimm ihn schon«, drängte sie, als die junge Frau wie erstarrt stand. »Diederich erlaubt, daß ich ihn dir schenke. Ist er nicht ein goldiger Kerl? Echter Airedaleterrier, ein Sohn von unserem Adolar. Er ist jetzt sechs Wochen alt und bereits stubenrein. Ist das nicht eine Leistung?«

»Allerdings.« Elonie wurde langsam munter. »Und das Prachtexemplar soll ich haben?«

»Aber ja doch, ich sage es schon immerzu. Von meinen Ersparnissen habe ich ihn gekauft, um dir eine Freude zu machen.«

Da griff Elonie endlich zu. Sie strahlte jetzt ebenso wie Itt.

Und ein strahlender Blick verirrte sich zu dem Gatten hin.

»Died, du erlaubst es wirklich, daß ich den Hund behalte?«

»Gern sogar. An dem Kerlchen werden wir bestimmt noch unsere Freude haben.«

»Ich hätte ihn ja am liebsten behalten«, gestand Birgit. »Mutter meint, daß zwei Hunde für uns zuviel sind. Und dann wollen wir auch Adolar nicht so kränken, der sehr eifersüchtig auf seinen Sohn ist. Auch Rosamunde mag ihn nicht, leider. Als ich einmal mit ihm spielte, hat sie ihn geohrfeigt, und Adolar verkriecht sich, wenn der Kleine nur sichtbar wird. ›Hurtig‹ habe ich ihn getauft, weil er doch so flink ist wie ein Wiesel. Im Stammbaum führt er allerdings den Namen ›Prinz‹. Nenne ihn also, wie du magst.«

»Ich bleibe bei ›Hurtig‹, Ittilein.«

»Das ist lieb, da freu’ ich mich.«

Ja, und dann war der Augenblick da, den Birgit so ungeduldig herbeigesehnt hatte. Aber beim Abschied wurde ihr doch das Herzchen schwer. War es doch das erste Mal, daß sie sich von den Eltern trennen sollte, an denen sie mit ganzer Kindesliebe hing.

Den Hund fest an sich gedrückt, kletterte sie in den Wagen, die anderen folgten. Und Nesthäkchen verließ zum erstenmal das warme Nest ohne liebevollen Schutz seiner Betreuer.

*

Zuerst blieb das Plappermäulchen stumm. Es konnte sich erst wieder in Bewegung setzen, als der Kloß im Hals runtergeschluckt war. Dann wurde das Herzchen freier, und die Freude brach durch den Abschiedsschmerz. Sie kommandierte in so drolliger Art mit dem Hund herum, daß man über sie lachen mußte.

Im Brendorhaus gab es für den kleinen Gast erst einmal viel Interessantes zu sehen. Die Augen wurden immer größer vor Staunen. Nein, so schön hatte sich die Itt das Brendorhaus doch nicht vorgestellt. Und als sie erst ihr reizendes Zimmerchen betrat, brach sie in Entzücken aus. Wurde dann jedoch kleinlaut und ließ das Köpfchen hängen.

»Was hast du denn?« fragte Elonie, die neben der Hausdame stand und sich gleich dieser über den kleinen Firlefanz amüsierte. »Ich glaube, dein Zimmer gefällt dir doch nicht so recht.«

»Aber Elo, wie kannst du bloß so etwas sagen. Schön ist es, viel zu schön für mich. Aber nachts so ganz allein im fremden Haus, werde ich mich wohl fürchten.«

»Das haben wir uns so ungefähr gedacht, mein Herzchen. Daher hat Frau von Gehldorn dich neben ihrem Schlafzimmer einquartiert und wird die Verbindungstür offen lassen.«

»Danke ich Ihnen aber sehr, Sie liebe, gute… Ach, darf ich nicht Tante Irene sagen, bitte? Dann sind Sie mir gar nicht mehr fremd.«

»Das darfst du, kleine Itt.«

»Danke, das ist lieb. Und wo wird der Hund schlafen? Wenn er allein bleibt, macht er Dummheiten. Wo ist er überhaupt geblieben?«

»Sie amüsieren sich mit ihm in der Dienerstube«, gab Irene lächelnd Antwort. »Schlafen wird er im Zimmer der Köchin, die ein Hundenarr ist. Sie hat ein Kissen in einen Waschkorb gelegt, aus dem er nicht herauskommen und somit keine Dummheiten machen kann.«

»Aber tagsüber wird er doch um uns sein?«

»Das sowieso.«

»Danke, dann bin ich zufrieden, und müde bin ich auch. Darf ich zu Bett gehen?«

»Dann husch, husch ins Körbchen. Tante Irene wird so lieb sein, dich dahin zu verfrachten. Ich muß nach unten, wo Diederich allein sitzt. Schlaf gut, Ittelein, träum ganz was Schönes.«

Sie küßte das Kind herzlich und ging dann zum Gatten, der beim gedämpften Licht der Stehlampe saß und geruhsam sein Pfeifchen rauchte.

»Was macht denn unser kleiner Gast? Immer noch so quicklebendig?« erkundigte er sich.

»Nein, sie wollte von selbst zu Bett«, gab Elonie Antwort, während sie Platz nahm. »Ein Zeichen, daß sie sehr müde ist.«

»Wie gefällt ihr das Zimmer?«

»Sie ist davon entzückt. Um so mehr, da das Schlafzimmer Frau von Gehldorns danebenliegt. Jedenfalls ist sie über alles hier hell begeistert.«

»Das macht der Reiz der Neuheit«, entgegnete er gelassen. »Wenn der vorüber ist, wird sie Heimweh kriegen. Wie sehr sie an zu Hause hängt, hat man ja gesehen, als sie Abschied nahm.«

»Selbst Knut hat sie ermahnt, den Eltern keinen Kummer zu machen«, lachte Elonie. »Sie selbst macht ihnen natürlich keinen – bewahre.«

»Nun, ich meine, die können mit ihren Kindern wohl zufrieden sein. Sorgen haben sie ihnen bisher noch keine gemacht. Wenn das so bleibt, sind sie glücklich zu preisen.«

Damit war der Gesprächsstoff erschöpft. Sie schwiegen beide – und hätten sich doch viel zu sagen gehabt. Zwischen ihnen gab es so manches zu klären, aber keiner wollte das erste Wort sprechen. Nun ja, verletzen ist leicht, heilen schwer.

So begrüßten sie es beide, als Frau von Gehldorn eintrat. Sie erzählte, daß Birgit, so müde sie auch war, Eltern und Bruder gute Nacht gewünscht hätte am Telefon. Auch Huschchen mußte an den Apparat. Dann erst war sie zufrieden und schlief mit einem schon schlaftrunkenen »Dankeschön« ein. Sie wäre doch ein gar zu herziges Dinglein.

Das war sie. Also kein Wunder, daß sie alle Herzen im Hause gewann, in das sie Leben und Frohsinn brachte. Die weiten Räume hallten wider von dem fröhlichen Lachen, vermischt mit dem Bellen des Hundes, der sich als drolliges Kerlchen entpuppte. Zu Dummheiten war er stets aufgelegt. So mußten denn sämtliche Bewohner auf ihn achtgeben, was sie gern taten. Er und das kleine Mädchen beherrschten das ganze Haus.

Obwohl Itt ein abwechslungsreiches Leben führte, vergaß sie nie, am Abend zu Hause anzurufen und den Eltern von all den Erlebnissen zu berichten. Von Autofahrten, Kino, Konditorei und anderen Freuden mehr. Wie war das doch alles so aufregend und interessant.

An einem Nachmittag erschien Brendor unerwartet im Wohnzimmer, wo Elonie und Birgit auf dem Teppich saßen und sich mit Hurtig vergnügten. Sie warfen einen Ball, dem er nachtapste und sich bemühte, ihn zwischen die Pfoten zu klemmen. Aber immer wieder rollte das runde Ding ab, was ihn unwillig knurren ließ. Darüber wollten die beiden sich totlachen, und auch Frau Irene, die im Sessel saß, sah dem munteren Treiben vergnügt zu. Wie auch der Hausherr, der unbemerkt in der Tür stand. Erst als er amüsiert auflachte, fuhren die Köpfe zu ihm herum.

»Du bist hier?« Elonie sprang überrascht auf. »So außer der Zeit?«

»Ich habe es mir erlaubt«, entgegnete er spöttisch. »Oder darf ich das nicht?«

»Rede doch keinen Unsinn«, winkte sie unwillig ab, und auch Birgit, die auf ihn zutrat, sagte vorwurfsvoll:

»Aber wirklich, Died, wie kannst du bloß? Wir freuen uns doch immer, wenn du kommst.«

Sie reckte sich hoch, umhalste ihn und drückte einen Kuß auf seine Wange, was er sich schmunzelnd gefallen ließ. Dann kniff er ein Auge zu und fragte neckend:

»Nun, mein Kätzchen, was willst du dir mit dem Küßchen denn erschmeicheln, hm?«

»Pfui, Diederich, das war häßlich!« entrüstete sich die Kleine. »Muß man denn immer gleich von einem Menschen etwas haben wollen, wenn man lieb zu ihm ist?«

»Wenn ich aber nun mal die Erfahrung gemacht habe?« tat er zerknirscht, während seine Augen lachten.

»Ach was, ich bin dir böse.«

»Wie schade. Dann wirst du wohl auch ausschlagen, mit mir auf den Rummel zu gehen, wie?«

»Rummel?« Ihre Augen wurden groß und rund.

»Gibt’s den denn hier?«

»Und wie! Mit allen Schikanen.«

»Ach, Diederich, ich glaube, daß ich dir doch nicht so recht böse sein kann.«

Jetzt platzten die anderen mit dem Lachen heraus, das sie nur mühsam zurückgehalten hatten.

»Wenn du keine rechte Eva bist, kleines Bäschen. Also auf zum Bummel über den Rummel! Die Damen halten doch mit?«

Dazu waren sie gerne bereit, und so zog man denn frohgemut von dannen.

*

Unmittelbar an dem großen Platz war keine Parkstelle. So brachte denn Brendor den Wagen in einer naheliegenden Garage unter, und man ging die letzte Strecke zu Fuß.

Sie waren bestimmt nicht die einzigen, die dem Platz zustrebten, denn ein Jahrmarkt ist immerhin ein Ereignis. Zumal dann, wenn er so viele Vergnügungen bietet, wie dieser es tat.

Lachende Menschen wogten durch die Gänge, so daß man aufpassen mußte, sich in der Masse nicht zu verlieren.

»Laß meine Hand nicht los, damit du nicht von uns abgedrängt wirst«, ermahnte der große Vetter das Bäschen, das mit strahlenden Augen in den Tumult schaute. »Frau von Gehldorn hält deine andere Hand, und du, Elonie, hak dich bei mir ein, damit wir alle hübsch zusammenbleiben.«

So traut vereint zog man denn ab, bereit, all den netten Unsinn mitzumachen. Bei der blutjungen Frau und dem Kind war es gewiß kein Wunder, aber bei der seriösen Dame und dem herrischen Mann erstaunte es.

Jedenfalls hatte Elonie den Gatten noch nie in einer so ausgelassenen Stimmung gesehen. Selbst während der Flitterwochen war er nicht so aus sich herausgegangen wie heute. Bei allem, was Birgit vorschlug, machte er eifrig mit. Wenn einer der Untergebenen den strengen Chef so hätte sehen können, wäre er wohl baß erstaunt gewesen.

Das Kleingeld, das in den Hosentaschen des vergnügten Mannes klimperte, schien unerschöpflich zu sein. Und nicht nur das Kinderpatschchen wurde immer wieder damit gefüllt, sondern auch die schlanken Hände der beiden Damen.

Zuerst besorgte man sich lustig bunte Bastkörbchen, worin man den erwürfelten, erlosten oder am Glücksrad gewonnenen Segen bergen konnte. Er bestand zumeist aus staniolumhüllten Leckereien und niedlichen Kleinigkeiten, die kunterbunt im Körbchen schillerten, woran nicht nur das Kind, sondern auch die Erwachsenen ihre Freude hatten. Man wollte sich totlachen, als ausgerechnet der distinguierte Mann bei den Losen einen Haupttreffer zog und dafür einen großen weißen Eimer erhielt, der mit einer Flasche Wein – gewiß nicht vom besten –, Speck, Wurst und Konserven gefüllt war. Stolz hing der Gewinner seinen Schatz über den Arm, was bei seiner stolzen Erscheinung so komisch wirkte, daß alle Umstehenden herzlich lachen mußten.

»Died, willst du etwa so losziehen?« fragte Elonie, und erstaunt sah er sie an.

»Na, was denn sonst? Der Staatseimer ist ehrlich erworben. Schieb du deinen Arm unter seinen Bügel, Birgit faßt in den Bügel des Körbchens, und bleiben wir weiter treulich vereint.«

An einer Bude, wo Würstchen geröstet wurden, machte er halt und fragte augenzwinkernd:

»Wollen wir?«

Und wie man wollte! Vergnügt verzehrte man die zwischen einem Brötchen steckenden knusprigen Würste, was bei Diederich etwas schwierig war, da auf einem Arm der Eimer, auf dem anderen der Bastkorb hing. Doch er nahm lieber die Unbequemlichkeit mit in Kauf, als daß er sich von seinen Schätzen trennte, was Birgit aber auch gar nicht gefiel.

»Diederich, ich möchte doch so gern Karussell fahren«, bettelte sie. »Aber dazu mußt du die Arme frei haben, um mich festzuhalten. Wenn wir überall gewesen sind, wohin ich doch so schrecklich gern möchte, kannst du deinen Gewinn wieder stolz tragen. Bitte, bitte, lieber Died!«

»Na schön«, gab er nach, sich mit seinem charmanten Lächeln an die schmucke Maid am Röster wendend. »Mein liebes Fräulein, würden Sie die Güte haben, unsere Schätze für eine Weile aufzubewahren? Ja? Das ist aber mal nett.«

Jetzt konnte man ungehindert weiter seinem Vergnügen nachgehen. Es zog Birgit mächtig nach dem einen Karussell, das da so glitzernd auf und nieder sauste. Aber noch mußte sie ihre Ungeduld zügeln, weil der große Vetter an einer Bude stehenblieb, wo man Pfefferkuchenherzen am langen Seidenband erwürfeln konnte. Er tat es so lange, bis er seinen Begleiterinnen je ein Herz um den Hals hängen konnte. An seinem baumelten sogar zwei. Schmunzelnd las er, was auf dem aufgeklebten Buntpapier geschrieben stand:

»Alle Tage ist kein Sonntag – sehr richtig. Und was steht hier: Küssen ist keine Sünd. Ist es auch nicht. Und was rät dir dein Herzchen?«

»Jung gefreit, hat niemand gereut.«

»Richte dich danach, kleine Itt. Warum freuen Sie sich denn so, Frau von Gehldorn?«

»Weil ich mir das Geschriebene zu Herzen nehmen werde, nämlich: Such dir einen Schatz.«

»So was kann nie schaden. Und dein Herz, Elonie, was sagt das?«

»Die Ehe ist ein Übel.«

»Eine altbekannte Weisheit. Nur hätte die Fortsetzung dazu stehen müssen: Sie ist wie eine Zwiebel, man weint dabei und ißt sie doch.«

»Abscheulich!« lachte Elonie, während er sie mit sich zog, dorthin, wo man Jägerhütchen und Papierblumen erschießen konnte. Der gute Schütze tat es, alle wurden versorgt, und so, herrlich geschmückt, erreichte man das Karussell. Kaum daß es stand, kletterte Birgit hinein, Frau von Gehldorn mit sich ziehend und sie in einen buntglitzernden Wagen drängend. Die jungen Gatten nahmen dahinter Platz, und der Wirbel begann.

Birgit hielt Frau Irene umklammert, die sich wiederum an dem Griff festhielt. Gleichfalls tat es Elonie mit ängstlichem Gesicht. Sie hatte gar nichts dagegen, daß der Gatte sie dicht zu sich heranzog. Sie schmiegte sich fest in seinen Arm mit dem Gefühl, daß ihr jetzt nichts mehr passieren könnte.

Man blieb in dem Wirbel solange, bis selbst die unersättliche Itt genug hatte und Frau von Gehldorn auszusteigen bat. Als man wieder festen Boden unter den Füßen spürte, atmete man wie befreit auf.

In einer Schaubude bewunderte man den dicksten Mann der Welt, machte in der Teufelsmühle den Ulk mit, besah sich die Figuren im Panoptikum und wollte sich im Irrgarten über die verzerrten Spiegelbilder kaputtlachen, wie auch alle anderen Besucher. Aus allen Ecken hörte man schallendes Gelächter.

»Sind wir ein schönes Paar?« Diederich zeigte auf einen Spiegel, der ihn und Elonie Arm in Arm zurückwarf. Klein und kugelrund, die Vollmondsgesichter zu breitem Grinsen verzogen. »So sehen wir entschieden schöner aus. Also wollen wir uns zu dieser Fülle aufmästen.«

»Wird gemacht«, nickte sie. »Gut genährt heißt gut gelaunt.«

Mittlerweile war die Dämmerung hereingebrochen, doch auf dem Rummelplatz war es strahlend hell. Die vielen Lampen verströmten ihr Licht in allen Farben. Da auf einem Rummel erst abends der Hochbetrieb einsetzt, füllten sich die Gänge immer mehr. Es wogte nur so von Menschen, unter denen sich bestimmt auch üble Elemente befanden, die hauptsächlich die Weiblichkeit in unflätiger Weise anrempelten. Dem wollte Brendor die Seinen nicht aussetzen und mahnte daher zum Aufbruch, mit dem selbst Birgit einverstanden war. Mühsam schlängelte man sich durch die Menschenmasse, bis man endlich die Bude erreichte, wo die Maid hinter dem Röster ihnen vertraulich entgegenlächelte.

Obwohl Hochbetrieb war, fertigte sie den Mann, der ihr doch so gut gefiel, sofort ab. Eifrig reichte sie ihm die Körbchen nebst dem Eimer hin und erhielt als Dank außer einer Packung Pralinen eines der Pfefferkuchenherzen, das er von seinem Hals löste und über den hübschen Mädchenkopf streifte.

Er reichte den Seinen die ihnen zukommenden Schätze, schob Eimer nebst Korb über die Arme und ging unter dem Gelächter der Umstehenden stolz erhobenen Hauptes davon zur Garage, wo man sich müde in die Polster sinken ließ.

Und mit dem Moment wurde aus dem übermütigen, jungenhaften Diederich wieder der seriöse Industrielle Brendor, der Gebieter über ein großes Werk.

*

Schade, daß die Hemmungen, die sich während der frohen Stunden zwischen den Gatten so erfreulich gelockert hatten, nun wieder da waren. Nun ja, alle Tage ist kein Sonntag. Die Sonntagslaune verflog, und die Alltagssorgen und -nöte machten sich geltend.

Die hätte es zwischen diesen Eheleuten nun wahrlich nicht zu geben brauchen. Sie hatten viel Geld, ein luxuriöses Heim, Gesundheit, körperliche Schönheit, aber sie hatten törichte Herzen.

Allein bei Birgit hielten diese frohen Stunden noch an.

Glückselig saß die Kleine auf dem Teppich und sortierte eifrig. Rechts kamen die Süßigkeiten, links die reizenden Sächelchen wie kleine Püppchen, Teddys und anderes mehr. Und als später der abendliche Bericht an die Eltern kam, überschlug sich das Stimmchen vor freudiger Erregung. Wie alles, was alles, wie schön und so weiter. Der Gutenachtkuß für die Anwesenden fiel heute ganz besonders herzlich aus. Diederich bekam sogar zwei, weil er doch derjenige war, dem sie den schönen Nachmittag und die schönen Sachen zu verdanken hatte.

Lange saß man an diesem Abend nicht mehr zusammen, da man von dem Wirbel ermüdet war. Als Elonie sich beim Gutenachtsagen bei dem Gatten für den netten Nachmittag bedankte, fühlte sie selbst, daß dieser Dank hätte weniger kühl ausfallen dürfen Aber es ging etwas so Unnahbares von ihm aus, daß sie fürchtete, ihn mit Herzlichkeit zu belästigen. Er war eben fertig mit ihr. Ließ die Ehe wohl nur bestehen, weil eine Scheidung in der Gesellschaft Staub aufwirbeln würde. Und er haßte nichts mehr, als im Blickfeld des Klatsches zu stehen.

Hastig wandte sie sich ab und betrat ihr Schlafzimmer, wo ihr vom Tisch das buntbemalte Papier des Pfefferkuchenherzens entgegenleuchtete. Die schwarzen Buchstaben hoben sich kraß von der lustigen Buntheit ab, als wollten sie jeden Leser warnen.

Elonie horchte auf, als nebenbei eine Melodie gepfiffen wurde, deren Text sie unwillkürlich mitsprach:

»Du, du liegst mir am Herzen,

du, du liegst mir im Sinn.

Du, du machst mir viel

Schmerzen, weißt nicht,

wie gut ich dir bin.«

Kommt ganz darauf an, wen du damit meinst, dachte Elonie erbittert. Bestimmt nicht mich!

Ach, es hatte ja keinen Zweck, alles wieder in Herz und Hirn aufzuwühlen, was überwunden werden mußte. Es bestanden ja so viele Ehen, in denen der Mann eine Liebschaft hatte. Wenn die alle geschieden werden sollten, dann würde wohl nur ein kläglicher Rest übrigbleiben.

As Elonie am nächsten Morgen erwachte, war der Himmel grau verhangen, und es regnete unentwegt.

Aprilwetter!

Nun, dagegen ließ sich nichts machen. Da mußte man eben warten, bis der unfreundliche Gesell vom Götterknaben Mai vertrieben werden würde. Mißmutig warf sie sich auf die andere Seite und schlief weiter. Das beste, was sie bei dem trostlosen Wetter tun konnte – und tun durfte. Denn daß in dem Hause alles in bester Ordnung war, dafür sorgte die Hausdame. Dem Hausherrn ging nichts ab, er wurde glänzend versorgt.

So schlief sie denn, bis Birgit erschien und sie kurzerhand und schnell aus dem Bett holte.

»Heraus aus den Federn, du Faulpelz! Wie kann man bloß bis in den Mittag hinein schlafen.«

»Es ist längst noch nicht Mittag, mein Herzchen.« Die junge Frau streckte sich gähnend. »Hättest auch ruhig länger im Bett bleiben sollen. Der Tag wird dir ohnehin lang genug werden, da wir bei dem scheußlichen Wetter nichts unternehmen können.«

»Man muß ja nicht immer etwas unternehmen«, wurde sie von der Kleinen belehrt. »Man kann sich auch zu Hause die Zeit vertreiben.«

»Mach schon, daß du hinauskommst, du Gouvernante!« Elonie warf lachend ein Pantöffelchen nach ihr, das sie jedoch nicht traf, sondern den Kopf der Zofe, die sich durch den Türspalt schob, um zu erspähen, ob die Herrin noch immer nicht wach wäre. Das gab ein fröhliches Gelächter, von dem die Hausdame, die sich in ihrem Zimmer aufhielt, angelockt wurde.

»Na, hier geht es ja fidel zu!« Auch sie steckte den Kopf durch den Türspalt.

»Vorsicht, hier wird scharf geschossen!« rief Birgit ihr übermütig zu.

»Nanu, wer ist denn so angriffslustig?«

»Elo natürlich. Wer anders dürfte sich das schon erlauben, als die vergötterte Herrin des Hauses.«

Geschickt wich sie dem nächsten Geschoß aus und entschwand gleich der Tante Irene lachend.

Eine halbe Stunde später erschien Elonie zum verspäteten Frühstück, wo der Diener meldete, Herr Doktor hätte telefonisch durchgesagt, daß er dem Mitttagsmahl fernbleiben müßte, was Elonie gleichmütig hinnahm, denn es war ja nichts Neues.

Da es unentwegt weiterregnete, mußte man auch am Nachmittag zu Hause bleiben. Aber das machte Birgit gar nichts aus, sie vertrieb sich schon die Zeit. Erschien in der Küche, wo die Köchin stets einen besonderen Leckerbissen für sie bereithielt, heftete sich der jungen Nanny an die Fersen, die doch so nett mit ihr herumalbern konnte, und beehrte selbst den würdigen Diener mit ihrer Anwesenheit, um ihm die Seele aus dem Leib zu fragen.

Am Spätnachmittag setzte sie sich an den Flügel, um das zum besten zu geben, was sie in der Klavierstunde gelernt hatte. Als ihr Repertoire erschöpft war, wandte sie sich Elo zu, die nebst Frau Irene in der Sesselecke saß und an einer kniffligen Handarbeit stichelte.

»Elo, kannst du das Lied spielen: Alle Tage ist kein Sonntag?«

»Ich glaube schon.«

»Dann tu’s doch bitte. Ich möchte es so gern lernen.«

»Das kannst du nur nach Noten. Such mal in dem Liederband nach, da findest du es bestimmt.«

»Ich kann euch doch hier unmöglich etwas vorklimpern. Du spielst doch so gut. Bitte, Elo!«

»Es sei, du Quälgeist.« Sie erhob sich seufzend und trat an den Flügel, der schwarzglänzend und vornehm im Wohngemach seinen Platz behauptete. Frau von Gehldorn hatte ihre junge Herrin noch nicht spielen hören und war nun auf ihren Vortrag gespannt. Doch schon bei den ersten Anschlägen ließ sie ihre Handarbeit sinken und lauschte mit Genuß dem Spiel, das keineswegs meisterhaft, aber ungemein reizvoll war.

Das fand auch der Mann, der zuerst in der Tür verharrte und dann vorsichtig nähertrat, unhörbar auf dem dicken Teppich, so daß Elonie und auch Birgit ihn nicht bemerkten. Frau von Gehldorn, die es tat, sah den Finger auf seinen Lippen. Behutsam ließ er sich in den Sessel gleiten und hörte zu. Jetzt setzte auch die Stimme ein:

»Alle Tage ist kein Sonntag,

alle Tage gibt’s keinenWein,

aber du sollst alle Tage

recht lieb zu mir sein.«

Weich und süß klang die junge Stimme durch das Gemach, in dem die Scheite im Kamin knisterten. Rotleuchtend huschte der Schein im Zimmer umher, ließ das Haar der Sängerin aufsprühen wie pures Gold. Strahlte auch das feine Antlitz an, die grazile Gestalt, so daß der lauschende Mann den Blick nicht von ihr wenden konnte, so sehr nahm ihn das alles gefangen.

Wie ein fremdes Wesen mutete sie an, die doch seine Frau war, mit der er sechs Wochen lang ein ungetrübtes Glück genossen hatte. Die ihm wahrscheinlich ganz entglitten wäre, hätten nicht andere Menschen sich ihrer erbarmt und sie dem Leben zurückgegeben, das sie systematisch zerstören wollte, weil sie es nicht mehr lebenswert fand – es nicht mehr finden wollte.

»Und wenn ich einmal tot bin,

sollst du denken an mich,

am Abend, eh’ du ein schläfst –

aber weinen darfst du nicht.«

So klang es wehmütig zu ihm hin. Sie sang weiter bis zum Schluß:

»Wir warten, wir zwei,

und wir glauben alle Tage,

die Mainacht herbei.«

Die Stimme verklang, die Hände glitten von den Tasten, und die Zuhörer applaudierten.

»Bravo«, lobte der Mann. »Das war ein wirklicher Genuß, Elonie.«

»Du bist hier, Diederich?« Sie sprang erschrocken auf und trat langsam und sehr verlegen auf ihn zu. »Wenn ich das gewußt hätte, so hätte ich nicht...«

»... gesungen und gespielt«, sprach er weiter, als sie unter seinem merkwürdigen Blick verwirrt schwieg. »Und warum hättest du es nicht?«

»Weil du in bezug auf Musik sehr anspruchsvoll bist.«

»Nun, ich meine, du kannst dich schon hören lassen, auch auf der Geige. Willst du sie nicht holen?«

»Und wer begleitet mich?«

»Vielleicht ich«, lächelte Frau Irene ihr ermunternd zu. »Ich habe allerdings lange nicht mehr gespielt und muß daher um Nachsicht bitten.«

»Zugebilligt«, griff der Mann das Angebot rasch auf. So blieb Elonie nichts anderes übrig, als die Geige zu holen. Und bald war ein Konzert im Gange, das über Dilettantismus weit hinausging. Allerdings waren es keine schwierigen Sachen, die gespielt wurden, aber solche, die sich ins Ohr schmeichelten. Wenn die Spieler aufhören wollten, baten die Zuhörer um Zugaben, bis Elonie streikte.

»Endgültig Schluß«, erklärte sie kategorisch. »Ich habe bereits Blasen auf den Fingerspitzen.«

»Ich für mein Teil bin froh, das Debüt überstanden zu haben. Es wäre sicher kläglich ausgefallen, wenn die Geige nicht so süß geklungen hätte.«

»Die rechte Bezeichnung«, nickte Brendor. »Ich danke den Spielerinnen für den Ohrenschmaus, den ich öfter haben möchte. Ist das zuviel verlangt, Elonie, weil du eine so saure Miene machst?«

»Durchaus nicht«, entgegnete sie achselzuckend. »Wenn dir an meinem Gefiedel etwas gelegen ist, will ich es dir gewiß nicht vorenthalten.«

*

Am Sonntag hieß es für Birgit Abschied nehmen, weil am Dienstag die Schule begann. Der Vater hatte versprochen, sie abzuholen. Nach dem Mittagessen wollte er abfahren, und so war die Kleine gerüstet und wartete, bis die Eltern endlich um die Kaffeezeit kamen.

»Papi, wie konntest du mich bloß solange warten lassen«, empfing sie ihn aufgeregt. »Ich hatte mir fest vorgenommen, dir Vorwürfe zu machen. Aber jetzt kann ich es nicht, jetzt freue ich mich.«

»Na also!« Er löste schmunzelnd die Kinderarme von seinem Hals, um so der Erwürgung zu entgehen. »Vorsicht, Frauchen, jetzt kommst du an die Reihe.«

Nachdem auch sie die Prozedur überstanden hatte, konnte man Platz nehmen und sich fürs erste aufs Zuhören beschränken, denn das Plappermäulchen stand nicht still. Was gab es aber auch alles zu erzählen. Was hatte man aber auch alles erlebt. Und die Geschenke mußten sofort vorgeführt und von den Eltern bewundert werden, da erst kam die gnädige Erlaubnis:

»So, jetzt könnt ihr reden.«

»Zu gütig«, lachte die Mutter. »Aber ich glaube kaum, daß wir so redebegabt sind wie du.«

Es kam nun noch ein gemeinsames genüßliches Kaffeestündchen, dann ging es ans Abschiednehmen, was sich von seiten Birgits stürmisch, von der ihrer Eltern herzlich dankend gestaltete. Das Auto fuhr ab, und die Zurückbleibenden sahen ihm bedauernd nach.

»Schade«, sagte Brendor, als man ins Wohnzimmer zurückkehrte. »Sie wird uns sehr fehlen, die kleine Plaudertasche.«

»Das wird sie«, bestätigte Frau von Gehldorn. »Kinder bringen immer viel Fröhlichkeit ins Haus, wenn sie so sind wie die kleine Itt.«

Kaum zwei Stunden später meldete der Diener den Besuch einer Frau Isbeck, die gleich hinter ihm sichtbar wurde, ein neunjähriges Kind an der Hand.

»Ja, Diederich, da staunst du.« Sie schob den Diener zur Seite und ging auf den Hausherrn zu, der ihr befremdet entgegensah. »Bin auf der Durchreise und wollte mal nachschauen, wie es dir geht. Man hört ja gar nichts mehr von dir. Ach, das da ist wohl deine Frau? Und die andere?«

»Die Dame ist Frau von Gehldorn, eine liebe Hausgenossin«, stellte er frostig vor. »Nimm Platz und dann berichte, wo du so plötzlich herkommst.«

»Ich sagte es dir doch schon.« Sie ließ sich posiert in den Sessel sinken und zog ihr Töchterlein mit betont liebevoller Geste an sich. »Ich befinde mich auf der Durchreise. Habe nämlich meinen Wohnsitz gewechselt und will nun dahin fahren. Bis wir jedoch ankämen, wäre es Mitternacht, und wir sind ohnehin schon lange genug unterwegs. Müssen unbedingt eine Rast einlegen.

Ja, mein Liebling, du bekommst sofort etwas zu trinken«, beschwichtigte sie die Kleine, die ihr etwas ins Ohr flüsterte. »Bitte den lieben Onkel darum.«

»Du, Onkel, ich will etwas zu trinken und auch zu essen«, maulte das Kind. »Aber etwas Gutes, alles eß ich nicht.«

In dem Moment erschien der Diener mit der Meldung, daß angerichtet sei.

»Legen Sie zwei Gedecke mehr auf, Niklas«, gebot der Hausherr, was ihm einen seelenvollen Augenaufschlag der Besucherin eintrug.

»Es ist lieb von dir, Diederich, uns behalten zu wollen«, flötete sie süß. »Können wir uns hier ein wenig frischmachen?«

»Niklas wird dir den Waschraum anweisen.«

»Hab tausendfach Dank. Komm, mein Herzblatt.«

Damit rauschte sie ab, und der Mann zuckte bedauernd die Achseln.

»Tut mir leid, Elonie, aber wir müssen diesen Besuch in Kauf nehmen. Frau Isbeck ist eine entfernte Verwandte von mir.«

»Ich bitte dich«, unterbrach sie ihn hastig. »Du kannst in deinem Haus doch aufnehmen, wen du willst.«

»Meinst du? Na schön. Gehen wir essen.«

Sie mußten auf den Gast warten, ohne den man sich ja nicht gut zu Tisch setzen konnte. Und als sie dann endlich erschien, riß sie ihre Augen auf wie ein erschrockenes Kind.

»Oh, ihr habt auf uns gewartet? Das tut mir aber leid. Wo sollen wir uns setzen? Ach da, tausend Dank. Komm, mein herziges Kindlein, nimm hier Platz und sei hübsch brav.«

»Nein, ich bin nicht brav, ich will was zu trinken!«

»Aber ja doch, mein Engelchen. Hören Sie mal, mein Lieber, bringen Sie dem Kind ein Glas Fruchtsaft«, wandte sie sich herablassend an den Diener, doch schon schrie die Kleine dagegen:

»Ich will nicht Fruchtsaft, ich will Limonade.«

»Du wirst das trinken, was deine Mutter für richtig hält«, sagte der Hausherr gelassen. Man merkte ihm jedoch an, daß er sich nur mühsam beherrschte. Und schon plärrte das widerlich verzogene Kind los, das an einen so energischen Ton nicht gewöhnt war.

»Scht, mein Herzblatt, sei hübsch lieb und still«, beschwichtigte die Mutter. »Du bist übermüdet, das weiß ich. Da bekommst du auch deinen Fruchtsaft. Trink erst mal einen Schluck, dann wirst du sehen, wie gut er schmeckt.«

Endlich ließ der Abgott sich herbei, den schmeichelnden Worten der Mutter zu folgen. Das Gör trank so gierig, daß im Nu das Glas geleert war. Beim Essen mäkelte es herum, bis der Hausherr dem Diener befahl:

»Halten Sie sich nicht so lange mit dem Kind auf, Niklas. Wer nichts essen will, läßt es bleiben.«

Nun, um zu streiken, dazu war die Kleine doch zu hungrig und aß das, was die Mutter ihr auf den Teller legte. Sie maulte zwar dabei, unterließ jedoch jede laute Aufsässigkeit.

Es war kein Wunder, daß bei der gespannten Stimmung kein zwangloses Gespräch aufkommen konnte. Frau Irene und Elonie sprachen überhaupt nicht, und Diederich gab auf die Fragen Livia Isbecks nur kurze Antworten.

Das schien diese jedoch nicht zu stören. Sie redete ununterbrochen auf ihn ein, wobei man den Eindruck hatte, daß jedes Wort abgezirkelt war. Wie ihr Benehmen überhaupt. Wahrscheinlich wollte sie bezaubern, erreichte jedoch mit ihrem verschrobenen Gebaren das Gegenteil.

Dabei war die Frau hübsch. Hätte also gar kein solches Theater nötig, um beachtet zu werden. Ihre Gestalt war zwar zu üppig, aber sonst von gutem Wuchs. Das volle Gesicht hatte einen makellosen Teint. Die Haare waren zwar blondiert, wirkten aber gar nicht echt. Die langen dunklen Wimpern, die zwei mandelförmige schwarzbraune Augen umsäumten, schienen sogar echt zu sein.

Auch das kleine Mädchen war hübsch mit seinem zarten Figürchen, den dunkelblonden Locken und den blaugrauen Augen. Aber auch das hübscheste Kind kann einem zuwider sein. Bei kleinen Kindern nimmt man manches schon in Kauf, aber die kleine Viola zählte neun Jahre, war also nur zwei Jahre jünger als Birgit Norber.

Nach dem Essen nahm man an, daß die ungebetenen Gäste sich verabschieden würden, aber Livia ging den Hausherrn ganz ungeniert um ein Nachtquartier an.

»Nur bis morgen, Diederich«, schlug sie bittend die Hände zusammen, was bei einem kleinen Kind wohl niedlich wirkt, bei einer Frau über Dreißig jedoch höchst lächerlich. »Ich kann mit dem übermüdeten Kind unmöglich durch die Stadt ziehen und in den überfüllten Hotels nach Unterkunft suchen.«

Wenn Diederich Brendor nicht der vornehme, ritterliche Mann gewesen wäre, dann hätte er die unverfrorene Person einfach an die frische Luft gesetzt. Aber das bekam er nun mal nicht fertig, zumal Viola sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte. Also gab er den Auftrag, ein

Fremdenzimmer herzurichten. Und die raffinierte Frau hatte erreicht, was sie erreichen wollte.

Solche Elemente pflegen wie Parasiten zu sein. Wenn sie sich erst einmal festgesetzt haben, lassen sie sich nicht wieder abschütteln. Das wußte die lebenserfahrene Frau Irene und rechnete erst gar nicht damit, daß man diesen Parasiten am nächsten Tag loswerden würde.

Und sie sollte recht behalten. Denn Livia erwachte mit Schnupfen und leichtem Fieber, was ihr sehr gelegen kam. Glück muß der Mensch haben.

Als Brendor am Frühstückstisch von dem Malheur erfuhr, meinte er achselzuckend:

»Unter diesen Umständen kann Frau Isbeck ihre Reise natürlich nicht fortsetzen. Wenn sie sich dabei eine ernstliche Erkrankung zuziehen sollte, müßte ich mir Vorwürfe machen. Also muß ich Ihnen zu meinem Bedauern die Erkrankte und deren ungezogene Tochter aufbürden, Frau von Gehldorn. Du aber hältst dich von ihr fern, Elonie.«

Ich weiß auch warum, dachte sie und sah ihm erbittert nach, als er nach kurzem Gruß das Zimmer verließ, um seiner Arbeit nachzugehen. Du fürchtest, daß diese Livia etwas ausplaudern könnte, was ich nicht wissen soll. Denn der Brief, den mir die Bose zuspielte, war mit Li unterschrieben. Außerdem war da von einer kleinen Tochter die Rede, die sie nun endlich aus der Pflegestelle holen könnte, da deine Großzügigkeit es ihr ermöglichte, sich eine süße kleine Wohnung einzurichten.

Jedenfalls war Elonie fest davon überzeugt, daß diese Li mit der Livia identisch sei. Peinlich für Diederich, daß sie nun sogar in sein Haus kam. Nun, er konnte beruhigt sein. Dieser »Dame« würde sie bestimmt aus dem Weg gehen.

Auch Frau von Gehldorn sollte es möglichst tun. Es war eine Zumutung von Diederich, von dieser feinen, vornehmen Frau zu verlangen, daß sie ein so minderwertiges Subjekt betreuen sollte.

Unfreundlich sah sie Viola entgegen, die dem Hund nachlief und ihn zu fangen versuchte. Der verschüchterte kleine Kerl sprang an Elonie hoch, die ihn rasch auf den Schoß hob. Sie konnte gerade noch die kleine Kinderfaust fassen, die auf des Tierchens Kopf niedersausen wollte.

»Das laß gefälligst bleiben!« schob die Empörte das Mädchen ab.

»Er hat mich gebissen, dafür muß er Schläge haben. Ich konnte nur keinen Stock finden.«

»Wage es, du gräßliches Gör!« drohte Elonie. »Dann kriegst du von mir mit dem Stock, worauf du dich verlassen kannst.«

»Pöh, vor dir habe ich keine Angst!« Das herzige Kindlein streckte die Zunge weit heraus. »Meine Mami sagt, du hast hier gar nichts zu melden.«

Schon hatte Frau Irene sie beim Nacken gepackt und schob die wild um sich Schlagende aus dem Zimmer. Das Geplärre klang ferner und verlor sich dann ganz. Wahrscheinlich hatte die Hausdame den kleinen Teufel nach dem Zimmer der Mutter gebracht. Als Irene zurückkam, wies ihre zarte Hand einen feuerroten Fleck auf.

»Was haben Sie denn da, Frau von Gehldorn?« fragte Elonie. »Hat das Gör Sie etwa gebissen?«

»Ganz recht, und zwar in Gegenwart der Mutter, die das ganz in Ordnung fand. Sie meinte, wir sollten mit dem Hund nicht so ein Theater machen und ihn über ein Kind stellen. Falls ich es einmal wagen sollte, ihr herziges Kindlein anzufassen, dann würde sie dafür sorgen, daß ich von dem Hausherrn in die Schranken der Domestiken zurückgewiesen werde.«

»Na, so eine bodenlose Unverschämtheit!« fuhr Elonie auf. »Wenn mein Mann nicht dafür sorgt, daß diese Kreatur aus dem Hause kommt, dann geh’ ich und nehme Sie mit, Frau von Gehldorn.«

»Rasch fertig ist die Jugend mit dem Wort, das schwer sich handhabt wie des Messers Schneide – sagt Schiller«, lächelte die welt- und menschenkundige Frau nachsichtig. »Sie wissen doch, wie sehr Ihr Gatte Zwistigkeiten im Hause haßt. Daher möchte ich raten, daß wir uns zusammentun und alles allein mit den ungebetenen Gästen ausfechten.«

»So wollen Sie sich denn von dieser – na ja – immer weiter beleidigen lassen?«

»Diese – na ja – kann mich gar nicht beleidigen«, kam es lachend zurück. »Ich werde mich auch nur soviel um sie kümmern, wie unbedingt nötig ist. Betreuen kann sie unsere Köchin Ottilie, mit deren Mundwerk selbst diese – na ja – nicht mitkommen dürfte. Das kleine Teufelchen zähmen wir schon, unterstützt von der gesamten Dienerschaft, die bereits Front gegen den kleinen Satan macht. Sind wir uns einig, Frau Elonie?«

»Ja, Frau von Gehldorn. Was sind Sie doch für ein prächtiger Mensch! Wie froh bin ich, Sie im Hause zu haben.«

»Das war ein gutes Wort«, entgegnete die Dame leise. »Ein so gutes, daß ich nun gegen alle niederträchtigen Worte gefeit bin. Und jetzt werde ich ›Hurtig‹ in die Küche bringen und dort Anweisung geben, daß man ihn während der Invasion in den Wirtschaftsräumen behält. Dort ist er vor den Quälereien des herzigen Kindleins sicher. Denn sofern das reizende Wesen da auftauchen sollte, macht man grimmig von seinem Hausrecht Gebrauch.«

Sie nahm den Hund, brachte ihn hinaus, und als sie wieder erschien, lachte sie über das ganze Gesicht.

»Das Hausrecht ist bereits in Kraft getreten. Ich war gerade in der Küche, als das herzige Kindlein aufkreuzte.

Zur Begrüßung streckte es erst mal allen die Zunge raus, worauf Ottilie mit Vehemenz den Kochlöffel schwang. Ihr ›Rrraus!‹ klang so laut und drohend wie Kanonendonner. Dem hielt selbst die Frechheit der kleinen Kreatur nicht stand. Feige flüchtete sie und wird nun wohl der lieben Mami die Ohren vollplärren.«

»Wie recht hatten Sie doch, Frau von Gehldorn, als Sie gestern sagten, daß Kinder wie die Itte Fröhlichkeit ins Haus bringen. Es gibt aber auch welche, die ständigen Ärger verursachen. Zu ihnen gehört Viola. Ein schlechtes Kind.«

»Vielleicht ist sie gar nicht mal so schlecht«, meinte Irene. »Bei solch einer Erziehung kann selbst ein gutgeartetes Kind verdorben werden. Und später muß es dann auslöffeln, was die ›liebevolle‹ Mutter ihm einbrockte. Wenn Frau Norber das mit ansehen könnte, würde sie vor Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.«

»Das glaube ich auch«, lachte Elonie. »Seht, da naht schon das Verderben!«

Das galt Viola, die eben nahte, einen Stock in der Hand, den sie drohend schwang.

»Ist der Hund da?« fragte sie in ihrer frechen Art.

»Nein«, gab Elonie Antwort. »Willst du ihn etwa schlagen?«

»Natürlich. Meine Mami sagt, ich darf das.«

»Hast du aber eine herzige Mami, du liebes Kindlein. Geh rasch wieder zu ihr, damit sich gleich zu gleich gesellt.«

»Sie hat mich runtergeschickt. Sie sagt, ich fall’ ihr auf die Nerven, die durch ihre Krankheit angegriffen sind. Dabei hat sie bloß ein bißchen Schnupfen und könnte ruhig aufstehen. Sie stellt sich nämlich bloß krank an.«

»Liebevolle Tochter«, bemerkte Frau Irene. »Wir wären dir sehr verbunden, wenn du uns von deiner holden Gegenwart befreien würdest.«

»Na, Sie haben hier doch gar nichts zu sagen. Sie sind doch bloß…«

»Jetzt aber raus!« unterbrach Elonie sie so drohend, daß die Angst über die Frechheit siegte. Schleunigst zog das unglaubliche Gör ab und ließ sich nicht mehr blicken. Erst an der Mittagstafel tauchte sie auf, wo sie dem Hausherrn klagte, wie häßlich man zu ihr wäre. Doch zu ihrer Enttäuschung fand sie auch hier keinen Beistand.

»Du wirst dich danach betragen haben«, war die Antwort auf ihre Klage. »Willst du etwa mit uns essen?«

»Natürlich.«

»Na du, so natürlich ist das nicht. Denn wie ich gestern beobachtet habe, verstehst du dich nicht zu benehmen. Und ich möchte bei Tisch meine Ruhe haben.«

Diese Ruhe wurde ihm jedoch nicht zuteil. Es war Viola eben unmöglich, manierlich zu sein. Und als sie dem Diener gar ein Glas Milch aus der Hand schlug, ging dem Hausherrn sozusagen der Hut hoch. Ein Zustand, der sich bei ihm nicht wie bei den meisten Menschen geräuschvoll bemerkbar machte, sondern durch eiskalte Gelassenheit, die im Werk gefürchtet war. Was Wunder, wenn einem Kind dabei angst und bange werden mußte, und wenn es da noch so frech und dreist war. Ehe man sich so recht versah, war Viola verschwunden und man konnte ohne unliebsame Zwischenfälle die Mahlzeit beenden.

Als man dann wie gewöhnlich nach Essen in dem lauschigen Stübchen den Mokka einnahm, fragte Frau Brendor die Hausdame nach dem Ergehen Frau Isbecks.

»Obwohl ihr Zustand durchaus nicht besorgniserregend scheint, wäre es gut, einen Arzt zu konsultieren«, sagte sie vorsichtig. »Dann kann man wenigstens beruhigt sein, nichts versäumt zu haben.«

»Da haben Sie recht, Frau von Gehldorn. Also werde ich morgen unseren guten Onkel Doktor herbitten.«

Dieser erschien dann auch am Vormittag und wurde von der Hausdame zu der Erkrankten geführt, die nichts von seinem Kommen wußte. Frau Irene hatte sie absichtlich nicht davon unterrichtet, weil sie ahnte, daß die gerissene Livia sich gegen den Besuch eines Arztes sträuben würde, weil ihr nichts fehlte. Also mußte sie vor die vollendete Tatsache gestellt werden.

Als man vor der Tür stand, flüsterte Irene dem Arzt mit unterdrücktem Lachen zu:

»Auf in den Kampf! Wenn meine Kräfte erschlaffen sollten, kommen Sie mir bitte zu Hilfe, Doktorchen.«

»Ich glaube im Bilde zu sein«, sagte der schmunzelnd. »Keine Sorge, mein Fell ist dick, und meine Geduld ist lang.«

Frau von Gehldorn klopfte, trat ein und ließ einen Spalt die Tür offen, damit der Arzt hindurchlugen konnte. Und was er da sah, ließ ihn noch mehr schmunzeln. Wohlig rekelte sich die »Kranke« im Bett, aus einer großen Packung genüßlich Pralinen naschend. Abwechselnd verschwand so eine Köstlichkeit in ihrem Mund und in dem des herzigen Kindleins, das auf dem Bettrand saß.

»Was erlauben Sie sich, so ohne weiteres hier hereinzuplatzen!« wurde die Eintretende angefahren. »Können Sie nicht klopfen?«

»Ich habe geklopft.«

»Glaube ich nicht. Na, ist ja egal. Was wollen Sie?«

»Melden, daß der Arzt hier ist, um Sie zu untersuchen.«

»Was?« Die Leidende schnellte wie ein Gummiball hoch. »Ein Arzt? Sind Sie verrückt geworden?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Frech wollen Sie auch noch werden? Wer gibt Ihnen das Recht, mir einen Arzt aufzudrängen, Sie – Sie Angestellte!«

»Das hat der Hausherr getan, nicht ich als Angestellte. Er hat eben den Arzt gerufen und hergebeten.«

»Was?« Nun wurde das wutverzerrte Gesicht lang. »Das ist denn etwas anderes.«

»Es ist immer etwas anderes, wenn zwei dasselbe tun«, sagte der Arzt und trat gemütlich ein. »Guten Tag, Gnädigste. Verarzte hier alles, was zwei Beine hat. Wo fehlt’s denn, hm?«

Und schon hub ein Klagen an, das der Mann sich mit stoischer Ruhe anhörte. Als die Stimme ermattet schwieg, sagte der gute Arzt und Menschenkenner:

»Also durch und durch krank. Da kann nur noch das Krankenhaus helfen – vielleicht.«

»Herr Doktor, machen Sie mich nicht unglücklich! Ich habe ein Kind!«

»Aber Gnädigste, dafür kann ich doch nichts«, verteidigte er sich entrüstet, dabei Frau Irene einen verschmitzten Blick zuwerfend, der sie fast um ihre Beherrschung brachte. Schleunigst enteilte sie und trat lachend in das Wohnzimmer, um Elonie Bericht zu erstatten. Und dann lachten sie ein fröhliches Duett, das den eintretenden Arzt schmunzeln ließ.

»Recht so, meine Damen, lachen ist gesund. Nur ich hatte da oben nichts zu lachen. Mußte mich höllisch gegen das Netz wehren, in das mich die verführerische Schöne verstricken wollte. Doch ich ging als Sieger hervor, jawohl!«

»Das muß belohnt werden.« Elonie erhob sich und rollte die Bar herbei. Ermunterte den Mann, sich zu bedienen, was er mit Vergnügen tat.

»Sie ist gar nicht so, die Gnädige«, erklärte er nach einem langen Zug aus dem Glase. »Ließ ganz gut mit sich handeln. Krankheit für Krankheit handelte ich ihr ab, so daß nur noch ein harmloser Schnupfen übrigblieb. Sie will morgen sogar aufstehen.«

»Und welche Druckmittel haben Sie da angewandt?« fragte Irene lachend.

»Ich habe nur gesagt, daß ich ihr ein Abführmittel eingeben müßte, weil sie doch beim Liegen – na ja – und so weiter.«

Vergnügt fiel er in das Lachen der beiden Damen ein, wurde jedoch ernst, als er sich Elonie zuwandte.

»Lassen Sie den Parasiten sich erst gar nicht hier einnisten, gnädige Frau«, warnte er. »Sie werden ihn dann nicht mehr los. Wenn Sie Hilfe brauchen, ich bin immer ein grober Keil auf einen groben Klotz. Und nun entschuldigen mich die Damen, die Pflicht ruft.«

Der vielbeschäftigte Mann enteilte.

An der Tür wäre er fast über Viola gestolpert, die ihm in den Weg lief.

»Hoppla, das war man gerade knapp«, lachte er. »Geh wieder nach oben, hier unten dürftest du doch nur Unheil stiften, du echte Tochter deiner Mutter.«

Weg war er, und das Kind trat näher. Rekelte sich in einen Sessel und maulte:

»Mir ist langweilig. Ich möchte gern fort, denn es gefällt mir hier gar nicht. Aber meine Mami sagt, wir müßten noch solange bleiben, bis sie wieder Geld kriegt. Sie hat nämlich keins mehr.«

Die beiden Damen sahen sich vielsagend an, und Frau von Gehldorn fragte mit gespielter Harmlosigkeit:

»Woher bekommt deine Mami denn Geld?«

»Pension von meinem Papi«, antwortete sie verdrießlich. »Er ist gestorben, weil er schon so schrecklich alt war, sechzig Jahre oder so. Doch wir kommen mit dem Geld nie aus. Und dann fährt die Mami mit mir zu Bekannten oder Verwandten. Aber die wollen uns nicht haben, wir müssen immer bald abfahren. Ach, ich geh’ jetzt. Bei euch ist ja auch nichts los.«

Als sie fort war, sagte Frau Irene:

»So scheint Herr Isbeck einer von den alternden Narren gewesen zu sein, die sich von den verführerischen Künsten einer bedeutend jüngeren Schönen hat einfangen lassen. Eigentlich kann das Kind einem leid tun, daß ihm der Vater wegsterben mußte. An ihm hätte es ganz sicher mehr Halt gehabt als an der minderwertigen Mutter.«

Sie konnte nicht aussprechen, da der Hausherr eintrat.

»War der Arzt da?« fragte er kurz.

»Ja, Herr Doktor.«

»Was sagt er?«

»Daß Frau Isbeck einen leichten Schnupfen hat. Morgen wird sie bereits aufstehen.«

»Das ist ja erfreulich.«

Damit schien die Angelegenheit für ihn erledigt zu sein, denn er kam nicht mehr darauf zu sprechen. Allerdings sah man ihn an dem Tage nicht mehr, da er eine kurze Geschäftsreise antreten mußte, von der er abends nicht zurückkehrte.

Der Tag verlief ohne weitere Zwischenfälle. Livia lag im Bett, betreut von Ottilie, der selbst diese impertinente Dame nicht gewachsen war. Gleich bei der ersten Unverschämtheit hatte sie eine Abfuhr erhalten, die sie sprachlos machte. Und mehr wollte die biedere Ottilie ja nicht. Was unbedingt zu reden war, na schön, doch alles andere war von Übel.

Eben brachte sie für Mutter und Tochter das Abendessen. Gut und reichlich. Denn hungern sollte hier keiner. Das durfte sie als Köchin nicht zulassen.

»Setz dich an das Tischchen«, gebot sie Viola, die widerspruchslos gehorchte, denn der drohende Kochlöffel saß ihr sozusagen im Nacken. Sie bekam ihre Mahlzeit, Livia gleichfalls, und als diese mit ungewohnter Höflichkeit fragte, ob Ottilie später die Kleine nicht zu Bett bringen wollte, wurde ihr kurz und bündig erklärt:

»Nein, das kann ich nicht, weil ich keine Zeit habe, und das will ich nicht, weil ein so großes Mädchen sich allein ausziehen kann. Das Geschirr werde ich holen.«

Das war Ottilie – und sie war Goldes wert.

*

Es war am nächsten Vormittag. Die Hausdame befand sich gerade in der Küche, um mit der Köchin den Tagesplan zu besprechen, als Nanny hereingestürmt kam, schreckensbleich.

»Viola schlägt den Hund!« keuchte sie atemlos vom schnellen Lauf. »Mit dem Stock – oh, das arme Tier!«

Schon war Ottilie an ihr vorüber. Frau von Gehldorn folgte, hinterher die Zofe und der Diener. So stark vereint, kam man dem Liebling des Hauses zur Hilfe, der sich unter den Stockschlägen des brutalen Kindes jämmerlich schreiend wand.

Und die Frau Mama? Ja, die saß im Sessel und freute sich über die Heldentat ihres herzigen Kindchens.

Allein, die anderen waren zutiefst empört, und Ottilie sah rot. Sie riß Viola den Stock aus der Hand und schlug auf die Übeltäterin ein, die wie am Spieß brüllte. Der Hund, der jetzt auf Nannys Arm saß, winselte herzzerreißend. Und Livia kreischte.

In den Tumult hinein sprach eine gebieterische Männerstimme:

»Was geht hier vor?«

Die Köpfe fuhren herum, und sechs Augenpaare starrten den Mann an, der wie ein drohendes Unheil in der Tür stand.

»Das üble Subjekt hat mein Kind geschlagen!« kreischte die Mutter hysterisch.

»Ruhe!« gebot die herrische Männerstimme. »Frau von Gehldorn, ich bitte um Ihren Bericht.«

Er bekam ihn, und erläuternd setzte die Dame hinzu:

»Um das Tierchen nicht weiter quälen zu lassen, haben wir es in den Wirtschaftsräumen behalten, wo es trotz allen Aufpassens entschlüpft ist. Die Gelegenheit nahm Viola wahr, um sich zu rächen.«

»Danke, das genügt mir. Wo befindet sich meine Frau?«

»Im Tattersal, wie gewöhnlich um diese Zeit. Sie muß jeden Augenblick zurückkommen.«

»Danke. Sie können alle gehen.«

Was sie nur zu gern taten. Sie hörten noch, wie die hysterische Frau kreischte:

»So ungestraft entläßt du dieses Pack?« Da schloß Niklas als letzter die Tür, und so hörte man die Antwort des Gebieters nicht mehr.

»Das ist kein Pack«, entgegnete er drohend. »Das sind anständige Menschen, denen du nicht das Wasser reichen kannst. Nimm deinen rüden Rüpel und verschwinde so schnell wie möglich, damit ich mich nicht doch einmal an ihm vergreife. Wage es nicht noch einmal, hier Unheil zu stiften.«

Er bemerkte die Gestalt im Reitdreß nicht, die soeben sichtbar wurde, weil er der Tür den Rücken kehrte.

Aber Livia sah sie. Und schon setzte sie eine Niedertracht in Szene, worin sie ja groß war. Laut aufschluchzend fiel sie dem Mann um den Hals und bettelte.

»Aber Liebster, sei doch nicht so böse. Hast du denn alles vergessen?«

»Oh«, wechselte sie verschämt die Szene, ehe der überrumpelte Mann noch antworten konnte. »Da ist ja deine Frau. Verzeihung, das ahnte ich natürlich nicht. Komm, mein herziges Kindlein.«

Es mit sich ziehend, verschwand sie schleunigst, und Diederich, der nun auch seine Frau bemerkte, trat auf sie zu, die da erstarrt zwischen Tür und Angel verharrte, blaß bis in die Lippen.

»Ich hoffe, daß du dieser üblen Szene keine Bedeutung beimißt«, sagte er kurz. »Es ist nichts Wahres daran, das schwöre ich dir.«

»Schwör lieber nicht«, winkte sie müde ab. »Ich kann dir das ja doch nicht glauben. Daß du Amouren hast, das weiß ich. Aber daß eine davon sogar in dein Haus kommt, diese Li, die dir so einen schwülen Liebesbrief schickte...«

Ihre Stimme brach, und überrascht blitzte es in seinen Augen auf.

»So hältst du Livia für diese Li?«

»Na, für wen denn sonst?«

»Wunderbar«, lachte er hart auf. »Mein liebes Kind, wenn ich auch kein Heiliger bin – oder es wenigstens vor meiner Ehe nicht war –, so tief bin ich denn doch noch nicht gesunken, um mir meine Techtelmechtel ins Haus kommen zu lassen. Das habe ich von jeher rein gehalten. Ich habe mir eine weiße Lilie erwählt als Hüterin meines Heimes und Herdes«, setzte er ironisch hinzu und merkte, wie sie zusammenzuckte.

»Livia Isbeck ist eine entfernte Verwandte von mir, mit der ich nie etwas zu tun hatte«, sprach er gelassen weiter. »Ich ignorierte sogar ihre Bettelbriefe. Wahrscheinlich befand sie sich wieder einmal in Geldnöten, ein chronischer Zustand bei ihr. Dann pflegt sie sich bis zur neuen Zufuhr bei Bekannten oder Verwandten einzunisten, was sie auch hier versuchte. Wenn sie nicht unpäßlich geworden wäre, hätte sie bereits am nächsten Tag mein Haus verlassen müssen. Das ist alles, was ich dir zu sagen habe, Elonie.«

Seine Blicke hingen an der grazilen Gestalt im eleganten Reitdreß, die doch bestimmt einen erfreulichen Anblick bot. Und doch verfinsterte sich der Blick des Mannes immer mehr, bis er sich brüsk abwandte.

»Ich sehe, daß ich wieder einmal tauben Ohren gepredigt habe«, sagte er erbittert. »Du steckst voller Mißtrauen bis zur Halskrause. Dieses Mißtrauen ist es, das unsere Ehe langsam, aber sicher völlig zerstören wird. Denn sich verdächtigen lassen, immer wieder grundlos verdächtigen lassen, das hält kein Mensch auf die Dauer aus.«

Er wandte sich ab und ging davon, und Elonie hatte das Gefühl, als habe er ihr mit brutaler Hand das Herz aus der Brust gerissen.

»Nicht weinen, nur nicht weinen«, sprach sie sich selber zu, als sie das Zimmer verließ, die Halle durchquerte und die Treppe emporstieg, ganz langsam, als trüge sie Blei an den Füßen. In ihrem Wohnzimmer ließ sie sich in den nächsten Sessel sinken und drückte aufstöhnend das Gesicht in die Hände.

Dieses Mißtrauen ist es, das unsere Ehe langsam, aber sicher zerstören wird.

Er hatte ja so recht. Aber das Mißtrauen war doch nun einmal da. Fraß sich in ihrem Herzen weiter wie ätzendes Gift.

Sie schrak zusammen, als es klopfte und Nanny eintrat, um ihrer Herrin beim Umkleiden zu helfen. Mühsam riß Elonie sich zusammen, durfte sich um alles in der Welt nicht gehenlassen. Die Kleine achtete ohnehin schon ängstlich auf ihre Stimmung, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab.

Doch heute war sie unaufmerksamer als sonst. Und als Elonie sie lächelnd ermunterte, doch ja nur ihr Herz zu erleichtern, da sprudelte es nur so über die Lippen der niedlichen Maid.

Überrascht horchte Elonie auf. Sie war ja nicht dabei gewesen, als der Entrüstungssturm sich gelegt hatte. Fand ja nur den Gatten vor, an dessen Hals die bettelnde Livia hing.

»Gnädige Frau hätten nur sehen sollen, wie brutal das vermaledeite Gör unsern süßen Hund schlug!« Die Stimme schwankte bedenklich. »Und die Mutter saß im Sessel und sah lachend zu. Mein Gott, das sind ja gar keine Menschen!

Nur gut, daß unser Herr dazukam«, fuhr sie triumphierend fort. »Sonst wäre diese Furie – Verzeihung, aber sie benahm sich so – Ottilie womöglich noch an den Kopf gegangen. Denn solche Wei… Verzeihung – Damen – kriegen das nämlich fertig, wenn sie in Rage sind. Aber jetzt ist sie fort, Gott sei Dank. Und mit ihr ist das Veilchen verduftet. Denn Viola heißt doch Veilchen, nicht wahr, gnädige Frau?«

»Richtig«, lachte Elonie, so wenig ihr auch danach zumute war. »Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Wenn ein Mensch seinen Namen zu Unrecht trägt, dann diese Viola. Denn die ist alles andere, nur kein bescheidenes Veilchen.«

»Ob unser Herr diese – hinausgeworfen hat?« fragte das Zöfchen freudig und erwartungsvoll.

»Wahrscheinlich, Nanny. Der fackelt nicht lange, wenn er auf Gemeinheiten stößt.«

»Uijeh, das weiß ich. Aber er ist ein guter Herr, ein gerechter Herr. Vornehm bis in die Fingerspitzen.«

»Nanny, wo haben Sie diese Bezeichnung denn aufgeschnappt?« lachte Elonie hell heraus, und fröhlich fiel die Kleine ein:

»Frau von Gehldorn sagte es einmal. Und die muß es ja wissen. Sie ist eine so feine, gebildete Dame.«

»Das ist sie«, bekräftigte ihre Herrin. »Aber nun wollen wir machen, daß wir fertig werden, damit ich nicht an der Tafel zu spät erscheine.«

Sie kam auch nur geradeso zurecht. Denn als sie das Speisezimmer betrat, fand sie Frau von Gehldorn und den Gatten bereits darin vor. Scheu tastete sich ihr Blick zu seinem Gesicht hin, doch es war verschlossen wie immer. Nichts in seinem Benehmen ließ darauf schließen, daß er der Gattin irgendwie gram war. Auf den Besuch kam er nicht mehr zu sprechen. Die kurze, stürmische Episode war wohl für ihn abgetan.

Beim Mokka sagte er in seiner gelassenen Art:

»Ich habe bei der Auflösung eines Gestüts einige Reitpferde übernehmen müssen. Die beiden schönsten möchte ich für uns behalten. Nachdem mein altes, treues Pferd an Altersschwäche einging, habe ich mir kein anderes angeschafft, da ich während der Neueinrichtungen im Werk ständig unterwegs war. Das ist nun vorbei. Ich habe jetzt Zeit für private Dinge, zumal ich über einen vorzüglichen Mitarbeiterstab verfüge. Der tägliche Ritt bot mir von jeher einen gesunden Ausgleich für meine Arbeit. Du kannst dir nachher das Pferd einmal ansehen, Elonie. Wenn es dir gefällt, darfst du es behalten.«

Entzückt hatte sie seiner sonoren Stimme gelauscht, die ihr heute mehr denn je wie Musik klang. Scheu sah sie ihn an und sagte leise:

»Danke, Diederich. Ein eigenes Pferd zu haben, ist schon lange mein Wunsch.«

»Dann kannst du ihn dir jetzt erfüllen.«

Er reichte ihr die Mokkatasse, die sie unter die Maschine hielt. Ihre Hand zitterte dabei.

Es muß etwas zwischen ihnen gegeben haben, dachte Frau Irene bekümmert. Wahrscheinlich eine Auseinandersetzung wegen dieser Livia. Sein Gesicht ist heute ganz besonders hart, und ihre Augen brennen von ungeweinten Tränen. Anstatt ihren Herzen freien Lauf zu lassen, legen sie ihnen Fesseln an, damit sie nur nicht wieder zueinanderstreben können. Aber einmal muß der Mann doch wieder dem Zauber dieses betörenden Menschenkindes erliegen, wie er ihm schon erlag. Und auch sie kann doch unmöglich einem so wunderbaren Mann auf die Dauer widerstehen. Wie sagte Beate Norber:

»Da möchte man am liebsten die beiden Dickköpfe nehmen und sie so lange aneinanderschlagen, bis sie weich geworden sind. Einer will nicht nachgeben, der andere auch nicht. Einer spielt dem anderen Theater vor. Anstatt den Riß mit Liebe zu kitten, den Mißverständnis in ihre Ehe schnitt, zerren sie ihn immer weiter auseinander durch ihr törichtes Verhalten.«

O ja, die kluge Beate Norber hatte recht. Es waren törichte Herzen.

*

Eine halbe Stunde später schritten die jungen Gatten durch den Park, der an diesem herrlichen Sonnentag, den der launenhafte April den Menschen heute gnädig gewährte, wie verzaubert anmutete in seinem frischen Grün, den samtenen Rasenflächen und dem bunten Blumenflor. Langsam ging das Paar dahin, beide im Reitdreß, der ihre prachtvollen Gestalten so richtig zur Geltung brachte. Eine hohe Mauer, oben mit einzementierten Glasscherben und Stacheldraht versehen, trennte den Park vom Fabrikgelände. Brendor schloß die in die Mauer eingelassene Bohlentür auf, schloß sie hinter Elonie wieder sorgsam zu. Vor ihnen lag ein Riesenkomplex mit hohen Gebäuden, langen Hallen, Speichern und Schuppen. Das war das Reich eines Mannes, der Elonie Brendor laut Gesetz gehörte, was sie zum erstenmal mit Stolz erfüllte, ihr ein Gefühl der Bevorzugung gab.

Vor einem kleinen Gebäude aus roten Backsteinen machte er halt und winkte dem Mann freundlich zu, der unter der breiten Tür stand und über das ganze wie aus Leder gegerbte Gesicht lachte. Es war ein Werkveteran, der schon immer die Reitpferde der Herrschaft betreut hatte und nun auch die beiden betreute, die seit gestern in dem sauberen Stall standen.

»Das sind schon zwei Racker«, berichtete er strahlend. »Rasse und Klasse. Hoffentlich gibt es bei der gnädigen Frau keine Karambolage.«

»Sie scheinen mir ja wenig zuzutrauen«, lachte sie den biederen Alten so lieblich an, daß es ihm warm unter der Joppe wurde. Schmunzelnd wandte er sich ab und führte die beiden gesattelten Pferde vor, einen Schimmel und einen Braunen, beide edles Blut. Elonie trat auf den weißen Prachtkerl zu, beäugte ihn eingehend und strahlte dann den Gatten an.

»Danke, Diederich. Den gebe ich nicht wieder her.«

Schon saß sie im Sattel und meisterte das Pferd mühelos, das natürlich erst mal versuchte, seine Kapriolen zu machen. Doch bald gab es auf, die kleine Faust schien aus Eisen zu sein.

Diederich sah seine Frau zum erstenmal im Sattel; denn nach dem Tode ihrer Eltern hatte sie das Reiten eingestellt. Hatte erst damit wieder begonnen, nachdem sie aus dem Norberhaus zurückgekehrt war. Und da sie im Tattersall ritt, hatte er keine Gelegenheit gehabt, sie dabei zu beobachten.

Tadellose Schule, dachte er jetzt. Da kann ich ganz zufrieden sein.

Jetzt saß auch er auf, und die Pferde tänzelten ab. Über das Werksgelände, durch das Tor, den Feldrain entlang in den Wald hinein, dessen schmale Kiesstraße wenig Verkehr hatte. Wenn ihnen ein Gefährt entgegenkam, war es ein Bauernwagen oder ein Fahrrad. Autofahrer benutzten diese abgelegene Straße selten.

Lächelnd schaute der Reiter auf seine Begleiterin, an der alles leuchtete. Die Augen, das einzig schöne, wunderbar gepflegte Haar, selbst der lichtblaue Pullover, der den Oberkörper warm umschloß. Sie war schön, sinnverwirrend schön.

Und doch ließ sich der Mann nicht davon betören, wie er es schon einmal tat. Wie sagt Rückert: Wahres und Gutes wird sich versöhnen, wenn sich beide vereinen im Schönen. Und darauf wollte er warten.

»Wie ist es, Diederich, wollen wir zu Norbers reiten?« fragte sie erwartungsvoll, doch er schüttelte abwehrend den Kopf.

»Nein, Elonie, das ist fürs erste zu weit, auch wenn wir uns über Nebenstraßen den Weg erheblich abkürzen würden. Da mußt du noch trainieren, sonst hältst du nicht durch.«

»Schade«, sagte sie enttäuscht, und forschend sah er in ihr gesenktes Gesicht, auf den trotzigen Mund.

»Meine liebe Elonie«, sprach er langsam und betont. »Dein Eigenwille ist mir nur zu gut bekannt – und dein Ungehorsam. Laß es dir ja nicht einfallen, dir eigenmächtig den Wunsch zu erfüllen, den ich dir aus Vernunftsgründen versagen muß. Obwohl du erstaunlich gut im Sattel sitzt, bist du immer noch nicht fit, um ohne Begleitung zu reiten. Außerdem ist es auf diesem abgelegenen Weg nicht ungefährlich, es treiben sich genug Wegelagerer herum. Du hast mich doch verstanden?«

»Ja, Diederich.« Sie sah ihn freimütig an. »Auch ohne deine Warnung wäre ich nicht ohne dich geritten. Dafür bin ich zu ängstlich.«

»Danke, das genügt mir. Ich werde es so einrichten, daß ich täglich mit dir ausreiten kann.«

»Du sprachst doch heute von den Morgenritten, die dir von jeher gutgetan hätten. Wirst du die wieder aufnehmen?«

»Weil ich dir ein so frühes Aufstehen nicht zumute. Ich reite nämlich schon vor dem Frühstück, und zwar bei Wind und Wetter.«

»Das macht mir gar nichts aus«, versicherte sie eifrig. »Versuch es doch mit mir.«

»Meinetwegen«, gab er lächelnd nach. »Du wirst schon von selbst damit aufhören.«

Doch da sollte er sich getäuscht haben. Pünktlich war sie immer zur Stelle, stets frohgemut und guter Dinge. Es war doch auch wunderbar, mit dem Gatten Seite an Seite zu reiten durch die Natur, die sich immer prächtiger schmückte zum Empfang des Götterknaben Mai, der immer näher rückte.

Und wie schön war es doch, der sonoren Stimme zu lauschen, die so weich sein konnte, aber auch hart mit metallischem Klang. In die Augen zu sehen, die so hart und finster blicken, aber auch lachend aufblitzen konnten. Sein stillvergnügtes Schmunzeln zu sehen und das humorvolle Zucken um Mund und Augenwinkel.

Langsam begann sich ihr Mißtrauen zu verflüchten, Vertrauen keimte auf. Ein Mann mit so hohen Ehrbegriffen, einer so ernsten Lebensauffassung konnte doch eigentlich nicht lügen und betrügen. Der mußte doch klar und lauter sein wie Gold. Sie mußte jetzt viel an den Spruch denken:

Wo Glaub’ und Vertrauen fehlen im Haus, da fliegt die Liebe zum Fenster hinaus.

Und so war es geschehen. Denn geliebt hatte Diederich sie, als er um sie freite. Davon war sie überzeugt, wenn sie an die erste Zeit ihrer Ehe zurückdachte, da er sie in Liebe und Zärtlichkeit eingehüllt hatte wie in einem warmen, weichen Mantel. Aber dann, als er sich nicht mehr ausschließlich um sie kümmern konnte, weil er seiner Arbeit nachgehen mußte, da hatte sie ihn mit ihren Launen und Szenen gepeinigt, bis er aus dem Haus geflohen war – und mit ihm die Liebe.

Wohl hatte Tante Beate, die kluge und lebenserfahrene Frau, ihr das mehr als einmal vorgehalten, aber sie war ja viel zu verblendet gewesen, um das einzusehen. Und nun ihr die Erkenntnis kam, war es zu spät. Denn er liebte sie nicht mehr. Konnte sie ja auch nicht mehr lieben nach dem allen, was sie ihm geboten hatte. So richtig das, was ein so ungewöhnlicher Mann beanspruchen durfte, war sie ihm nie gewesen, auch in ihrer besten Zeit nicht. Wie hatte er einmal gesagt, als sie sich noch nahe waren:

»Deine Liebe ist wie die eines tändelnden, verspielten Kätzchens. Mal zeigt es Samtpfötchen, dann wieder Krallchen.«

Leider stimmte das. Sie hatte sich zu sicher in seiner Liebe gefühlt. Hatte nichts dazu getan, um sich diese zu erhalten. Hatte sie im Gegenteil langsam, aber sicher abgestoßen durch ihr widerliches Gebaren. Da nutzte jetzt alle Reue nichts.

Oder vielleicht doch? Platen war doch ein weiser Mann, und der hat gesagt: Deine Reue sei lebendiger Wille, fester Vorsatz. Klage und Trauer über begangene Fehler sind zu nichts nutze.

Daran wollte sie sich halten in Hoffnung und Zuversicht.

*

Der Mai war gekommen, sieghaft und strahlend schön, ein Liebling der Götter. Im Brendorhaus befand man sich auf der Terrasse beim Frühstück. Es war heute später als sonst. Denn an Sonn- und Feiertagen – und der 1. Mai ist ja ein Feiertag – schlief selbst der Gebieter über Haus und Werk länger, wenn er nicht auch dann geschäftlich auf dem Posten sein mußte. Also war es jetzt zehn Uhr, und der tägliche Morgenritt stand noch aus.

»Tante Beate rief an«, verkündete Diederich soeben. »Sie lud uns herzlich ein, schon zum Mittagessen. Ich habe zugesagt, recht so?«

»Aber natürlich«, entgegnete Elonie. »Ich freue mich sehr.«

»Hm. Wie wäre es, wenn wir beide hoch zu Roß dort erscheinen würden?«

»Da fragst du auch noch? Es wäre fast zu schön, um wahr zu sein.«

»So lassen wir es wahr werden. Wir reiten, und Frau von Gehldorn fährt der Chauffeur hin.«

Eine halbe Stunde später brach man auf. Frau Irene im Auto, die jungen Gatten hoch zu Roß. Sie benutzten nicht die belebte Verkehrsstraße, sondern ritten durch Wald und Au, durch Flur und Hain. Die Sonne schien, die Vöglein sangen, und ein Flüßchen wies den Reitern den Weg. Wenn sie den entlangritten, konnten sie ihr Ziel nicht verfehlen. Denn das Wasser floß munter dem kleinen See zu, der vor den Toren der Stadt lag und ein beliebter Ausflugsort war.

Elonie war es heute so leicht ums Herz, so froh und unbeschwert.

»Heut’ macht die Welt Sonntag für mich«, sang sie verhalten vor sich hin, und vergnügt pfiff der Reiter dazu. Lustig schnaubten die Rosse, das Sattelzeug knirschte – es war einfach traumhaft schön. Elonie tat es direkt leid, als die Stadt erreicht war. Sie hätte noch stundenlang dahinreiten mögen durch die lachende Natur.

Vor dem Doktorhaus wurden sie mit Hallo empfangen. Alle standen sie da, das Elternpaar, Frau von Gehldorn, Birgit, Huschchen, selbst Knut, der sich wieder einmal im Elternhaus eingefunden hatte.

»Na, dann komm schon her, du kühne Amazone!« Mit diesen Worten hob er Elonie aus dem Sattel. »So viel Schick und Schneid hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

Die Itt interessierte sich sehr für die Pferde, auf die soeben ein Mann zutrat und nach den Zügeln griff.

»Geben Sie ja gut auf die Tiere acht«, schärfte der Arzt ihm ein. »Futter kann ruhig feiertagsmäßig ausfallen.«

»Das wird es sowieso«, griente der Alte und trollte mit seinen Schützlingen ab.

»Er ist ein Pfleger der Pferde des Reitervereins«, wandte Norbert sich jetzt seinem Neffen zu. »Er beherbergt auch Gastpferde, die vorbildlich betreut werden. Also kannst du ganz beruhigt sein.«

»Nett, daß du an die Unterkunft gedacht hast, Onkel Fritz.«

»Das ist doch selbstverständlich. Doch nun kommt endlich weiter, die Menschen werden bei der Ansammlung bereits stutzig. Sie nehmen am Ende noch an, daß ein Streik ausgebrochen ist.«

So traten sie denn näher. Als sie im Wohnzimmer angelangt waren, sagte Elonie:

»Entschuldigt bitte meinen Anzug, in dem ich auch bei Tisch erscheinen muß.«

»Aber Herzchen, du bist doch nicht nackt.« Knut besah sich die bezaubernde Reiterin. »Dann allerdings würdest du öffentliches Ärgernis erregen – oder auch nicht.«

»Sei bloß still, du Bengel«, verwies die Mutter ihn, gleich den anderen lachend. »Du bist ja gar nicht gefragt worden.«

»Aber Mutzichen, ich rede doch so gern.«

»Merkt man. Wie ist es, trinken wir vor dem Essen einen Aperitif?«

Damit waren alle einverstanden, ließen sich von Vater und Sohn versorgen. Birgit, die an Elonie gelehnt stand, bekam einen Schluck aus ihrem Glas, wofür das Kind sich bedankte. Unwillkürlich mußte die junge Frau an Viola denken. Diederich schien dieselben Gedanken zu haben, denn nach einem prüfenden Blick auf Birgit sagte er anerkennend:

»Was bist du doch für ein wohlerzogenes Mädchen, kleine Itt. Daß es auch andere gibt, davon haben wir uns überzeugen können. Besinnst du dich noch auf Livia Isbeck, Tante Beate?«

»Na, die sorgt schon dafür, daß sie bei mir nicht in Vergessenheit gerät«, kam es trocken zurück. »Denn von Zeit zu Zeit versucht sie mich brieflich anzupumpen. Vor einiger Zeit tauchte sie sogar persönlich hier auf, um sich mit ihrem unmöglichen Gör einzunisten. Sie faselte etwas von einem Wohnungswechsel, daß sie sich bis dahin auf der Durchreise befände. Natürlich glaubte ich ihr kein Wort. Die lügt schon, bevor sie den Mund aufmacht. Ich drückte ihr zwanzig Mark in die Hand und gab ihr zu verstehen, daß ich lieber ihren Rücken als ihre Fußspitzen sehe, worauf sie verschwand.«

»Wann war das, Tante Beate?«

»Ja, wann war das? Aha, ich hab’s. Es war am Sonnabend. Sonntag holten wir Birgit von euch ab: Ist sie etwa auch bei euch gewesen?«

»O ja, am Sonntag. Ihr wart kaum zwei Stunden fort, da erschien sie. Erzählte uns dasselbe Märchen wie dir.«

»Ach du großer Gott! Ihr habt diesen Parasiten doch womöglich nicht behalten?«

»Nicht lange.«

»Junge, erzähl ausführlich, das interessiert mich dann auch.«

Während er sprach, saß Elonie wie auf Nadeln. Doch was sie befürchtete, blieb gottlob aus. Er verschwieg taktvoll die widerliche Schlußszene.

»Und wieviel Geld bekam sie von dir?« fragte die Tante gespannt.

»Keinen Pfennig, Beatchen.«

»Das soll ich dir noblem Kerl glauben?«

»Tu es nur, es ist Tatsache. Sie hat von mir überhaupt kein Geld bekommen, trotz der vielen Bettelbriefe. Wenn sie in wirklicher Not wäre, warum nicht. Aber sie erhält eine gute Pension, von der sie mit dem Kind sorgenfrei leben könnte. Doch sie verschleudert das Geld mit vollen Händchen. So einen Leichtsinn noch zu unterstützen, wäre Frevel.«

Birgit hatte mit atemloser Spannung zugehört, nun sagte sie empört:

»Den Hund hat sie gehauen, dieses gräßliche Mädchen? Hat Ottilie da wenigstens ordentlich dreingeschlagen?«

»So etliche Striemen dürfte es gegeben haben.«

»Das ist gut, das ist sehr gut. Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz. Nun hat sie den auch zu spüren bekommen, und das freut mich.«

Lächelnd sahen sie auf das Kind, das gewiß kein Engel war. Aber gut von Herz und Gemüt und von den Eltern wohlerzogen. Birgit würde es bestimmt nicht so schwer im Leben haben wie Viola. Eine würde überall gern gesehen, die andere verabscheut, genauso wie ihre Mutter es war.

»Eigentlich kann das Kind einem leid tun«, meinte Beate. »Denn bei der Erziehung wird nichts aus ihr. Dabei ist es ein so hübsches Dinglein – schade.«

»Sag mal, Frauchen, warum hast du mir von dem Besuch nichts erzählt?« fragte der Gatte, und freimütig sah sie ihn an.

»Weil ich es vergaß. Du weißt doch ganz genau, daß ich keine Geheimnisse vor dir habe.«

»Das wäre auch noch schöner. Wenn es erst Geheimnisse zwischen Eheleuten gibt, dann türmen sich die Mißverstännisse zu Wirrnissen, aus denen man schließlich nicht mehr herausfindet.«

»Uijeh!« seufzte Knut kläglich. »Dann werde ich wohl Junggeselle bleiben müssen. Denn einer Frau alles sagen, das geht nicht, wo käme man dahin.«

»Du hast’s nötig«, schmunzelte der Vater, wohlgefällig seinen Sprößling betrachtend, der so ganz Art war von seiner Art. Hoffentlich bekam der Junge einmal so eine Ehepartnerin, wie er sie hatte, dann war ihm um sein Eheglück nicht bange.

»Sollte ich dennoch in die Ehe gehen, muß ich fromm werden«, sprach der Schalk weiter, sich an den verständnislosen Mienen der anderen weidend. »Denn es heißt doch in einem russischen Sprichwort: Gehst du in den Krieg, so bete einmal, gehst du zur See, zweimal, in die Ehe – dreimal.«

Vergnügt lachte er mit den anderen, und da soeben der Gong anschlug, folgte er

ihm begeistert zu Mutters Fleischtöpfen.

*

Nach dem Essen ging man zur Terrasse, wo Gartensessel, Liegestühle und ein Tisch standen. Große Schirme warfen Schatten, also konnte man es sich hier schon gutsein lassen.

»Macht es euch bequem«, ermunterte die Hausherrin. »Immer wie jedem schön ist.«

Während die anderen am Tisch Platz nahmen, streckte Elonie sich in einen Liegestuhl, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schaute zum Himmel auf, der sich wie eine blauseidene Kuppel über das blühende Land spannte. Sie beteiligte sich zwar nicht am Gespräch der anderen, dafür war sie zu faul.

Eben sprach Diederich zu Onkel Fritz über den Werksarzt, der sich zur Ruhe setzen wollte, die er sich mit seinen siebzig Jahren auch redlich verdient hatte. Nun fragte der Neffe den Onkel, ob dieser Ersatz für den Scheidenden wüßte, ob er ihm jemand empfehlen könnte.

»Nimm mich«, schlug Knut großartig vor. »Um geschnittene Finger zu verbinden, soviel habe ich schon in den vier Semestern gelernt.«

»Es gibt mehr als geschnittene Finger, mein Junge«, erwiderte der Vater bedächtig. »Bis du so einen Posten ausfüllen kannst, dürften wohl noch gute zehn Jährchen vergehen.«

»Na, einige Jahre ließen sich schon abhandeln«, meinte der junge Mann pomadig. »Aber wenn du mich nicht haben willst, Diederich, so weiß ich einen, der ganz nach deiner anspruchsvollen Nase wäre.«

»Interessant. Laß hören.«

»Ich sag nur: Doktor Rendlin. Aha. Jetzt tagt es in deinem Denkvermögen, geliebter Papa.«

»Tatsächlich, Junge. Diederich, das wäre dein Mann. Ein feiner Mann, der viel von seiner Zunft versteht. Da er zu arm ist, eine eigene Praxis zu erwerben, drückt er sich in Krankenhäusern herum bei kargem Lohn. Davon hat er eine Frau und zwei Kinder zu ernähren, die gewiß nicht im Überfluß schwelgen dürften. Der Mann könnte sich freuen, wenn du ihn einstellen würdest. Denn wie gut es deine Untergebenen haben, ist allgemein bekannt. Auch daß du ein guter, großzügiger Mensch bist.«

Das scheinen viele zu wissen, dachte Elonie beschämt. Nur ich weiß es nicht. Für mich ist alles Selbstverständlichkeit, was ich durch ihn bin und habe. Zum Dank dafür habe ich ihm das Leben schwergemacht mit meiner Unzufriedenheit, meinen mißtrauischen Verdächtigungen, meinem Eigensinn und meinem zänkischen Betragen.

Wenn sie doch hingehen und ihn um Verzeihung bitten dürfte. Aber mit reuigen Worten ist noch längst nicht ungeschehen gemacht, was sie ihm antat. Die würden vielleicht sein lächelndes Verständnis treffen, aber nicht sein Herz.

Was war sie denn so Besonderes, daß sie eine Extrawurst verlangte, wie man so sagt. Aber leider war sie von den vernarrten Eltern von Kind auf darin bestärkt worden. Für sie war nichts gut genug, und der Mann, den sie beanspruchen durfte, mußte schon ein höheres Wesen sein. Und als die Eltern sie dann allein zurückließen, dazu noch bettelarm, war es für sie eben selbstverständlich, daß der reiche und dazu noch blendend aussehende Diederich Brendor sie mit der Konkursmasse übernahm und es ihr so ermöglichte, das Luxusleben fortzusetzen.

Natürlich verlangte sie auch von ihm die gewohnte Vergötterung. Er hatte nur für sie dazusein, mußte sich widerstandslos ihren Launen fügen. Und als er es nicht tat, versuchte sie, ihn durch widerliche Szenen zu zwingen.

Ganz erbärmlich schämte Elonie sich, wenn sie daran dachte. Vor ihm, vor den prächtigen Norbers, vor Frau von Gehldorn, die gewiß um alles wußte.

Sie sprang auf, trat zu Beate, umarmte sie und drückte einen Kuß auf deren Wange.

»Ach, Tante Beate, was bist du doch nur für ein lieber Mensch.«

»Nanu.« Die Tante war perplex. »Was ist denn plötzlich in dich gefahren? Willst du mich etwa mit dem Zugeständnis umgarnen, damit ich dir aus der Klemme helfen soll?«

»Pfui, Tante Beate, wie kannst du nur so von mir denken? Ich mag dich gern. Darf ich dir das nicht zeigen?«

»Man immerzu«, lachte sie. »Doch bei dir weiß man nie so recht, woran man ist. Tränen? Aber Elo, komm, kriegst auch von mir einen Kuß. So, jetzt sind wir uns wieder einig, nicht wahr?«

»Mutti, wie kannst du bloß Elo so kränken«, sagte Birgit vorwurfsvoll, die junge Frau dabei umfassend.

»Mach dir nichts daraus, Elolein, mit mir verfährt sie genauso. Immer wenn ich zu ihr zärtlich bin, denkt sie gleich, ich will was von ihr haben.«

Es klang so gottergeben, daß es Heiterkeit auslöste. Auch Elonie lachte mit, obgleich ihr die Tränen noch an den Wimpern hingen. Forschend ging des Gatten Blick zu ihr hin. Er glaubte zu wissen, was sie bedrängte, aber damit mußte sie allein fertig werden. Für ihn gab es nur noch ein Entweder – Oder.

*

Um sechs Uhr mahnte Diederich zum Aufbruch. Zwar wollte man ihn umstimmen, bis nach dem Abendessen zu bleiben, doch er winkte entschieden ab.

»Nein, das geht nicht, so gern ich auch bleiben möchte. Aber wir müssen vor Dunkelwerden zu Hause sein, damit wir nicht den Weg verfehlen.«

Das sah man ein, und Onkel Fritz sorgte dafür, daß eine halbe Stunde später die Pferde zur Stelle waren. Erfreut trollte sich der Pfleger mit einem noblen Trinkgeld, ein herzliches Abschiednehmen, dann fuhr das Auto ab, und hinterher setzten sich die ausgeruhten Tiere in Trab.

»Wenn die man nicht der Hafer sticht, den sie in der Gaststätte bestimmt sehr reichlich bekamen«, meinte der Arzt, der gleich den anderen dem eleganten Reiterpaar nachsah. »Elonie wird es nicht leicht mit ihrem weißen Roß haben, das nicht so unschuldig ist, wie es in seiner Weißheit aussieht.«

»Sie wird es schon zügeln«, bemerkte Knut zuversichtlich. »Außerdem ist Diederich dabei, der mit kleinen Kanaillen umzugehen versteht, mit vierbeinigen wie mit zweibeinigen.«

Man ging zur Terrasse zurück, streckte sich in die Liegestühle und faulenzte so recht nach Herzenslust.

Indes strebten die Pferde dem heimatlichen Stall zu. Es war für Elonie zuerst nicht einfach gewesen, den übermütigen Schimmel zu zügeln, doch sie schaffte es, ohne daß Diederich einzugreifen brauchte. Wohlbehalten langten sie zu Hause an, wo Frau von Gehldorn, die schon früher eingetroffen war, sie mit der Meldung überraschte:

»Vor etwa fünf Minuten hat ein Herr Frank Brendor angerufen.«

»Frank Brendor?« fragte Diederich gedehnt. »Woher kam denn der Anruf?«

»Das weiß ich nicht, Herr Doktor. Als ich dem Herrn sagte, daß die Herrschaften nicht zu Hause wären, jedoch bald eintreffen müßten, versprach er, noch einmal anzurufen und legte dann auf.«

»Dann ist der Junge bestimmt im Lande«, lachte Diederich. »Na, auf dessen Besuch können wir uns freuen. Der wirbelt alles durcheinander, daß es man so braust. Gehen wir ins Wohnzimmer, dort werde ich erklären, wer der Anrufer ist.«

Als man saß, sahen die beiden Damen ihn erwartungsvoll an, und schmunzelnd folgte die Erklärung:

»Franks Vater ist der Bruder des meinen, der nach Kanada übersiedelte. Aber bitte nicht an ein schwarzes Schaf denken, das ist er bestimmt nicht. Er heiratete eine Kanadierin, deren Vater, ein ausgewanderter Deutscher, dort große Ländereien besitzt. Seine Frau ist gleichfalls eine Deutsche. Ich bin schon einige Male dagewesen und hab’ mich in der Familie äußerst wohl gefühlt. Es sind durchweg prächtige Menschen, Eltern wie Kinder. Die Tochter ist bereits verheiratet, hat eine Bombenpartie gemacht. Frank ist zweiundzwanzigjährig, ein prächtiger Bursche. Als ich vor etwa einem halben Jahr das letzte Mal da war, versprach er, mich zu besuchen, sofern er sein Studium hinter sich hätte, was jetzt der Fall zu sein scheint.«

In dem Moment schlug der Fernsprecher an, nach dessen Hörer Diederich griff. Gleich darauf hörte man ihn lachend sagen:

»Jawohl, hier hängt er. Grüß Gott, du Schlingel. Ob du mich besuchen darfst? Du stellst vielleicht Fragen! Wo bist du überhaupt? Im Hotel Krone? Dann mal raus aus dem feudalen Kasten! Obwohl es nur ein Katzensprung ist, werde ich dir den Wagen schicken. Denn soweit ich dich kenne, wirst du ja nicht mit dem Rucksack gekommen sein. Beeile dich, damit wir nicht eine halbe Ewigkeit mit dem Abendessen auf dich zu warten brauchen.«

Er legte auf und sagte schmunzelnd:

»Der Bengel scheint ja gut in Form zu sein. Sollte er dir gleich eine Liebeserklärung machen, Elonie, nimm’s nicht weiter tragisch. Sein Herz, das ist ein Bienenhaus, da fliegen die Mädchen ein und aus. Bitte mich zu entschuldigen, damit ich dem Chauffeur Bescheid sagen kann.«

Als er zurückkam, fragte die Hausdame, welches Zimmer sie für den Gast herrichten lassen sollte.

»Das größte Fremdenzimmer, Frau von Gehldorn. Der Junge braucht viel Platz. Schon allein für die Sachen, die er mitschleppen wird.«

Aber er erschien nur mit zwei mäßig großen Koffern, da er nicht länger als drei Wochen zu bleiben gedachte, wie man später erfuhr. Er durfte sich mit Erlaubnis des Vaters eine Universität aussuchen, an der er Volkswirtschaft studieren konnte. Vetter Diederich sollte ihm ratend zur Seite stehen.

So langte er denn an, erwartungsvoll und kreuzfidel. Kaum hatte er das Haus betreten, als er auch schon von allem, was darin lebte und webte, Besitz ergriff.

»Menschenskind, Diederich, das ist ja ein fürstlicher Kasten«, sagte er begeistert in tadellosem Deutsch, mit einem leichten fremden Klang. »Du hast es nötig, so bescheiden zu tun, wie du bei uns tatest –. Ja, wer ist denn das?« Sein Blick blieb jetzt mit unverhohlener Bewunderung an Elonie hängen. »Etwa mein Kusinchen? Und diese bezaubernde Schönheit hast du uns so lange vorenthalten? Schäm dich!«

»Na, nun mal langsam«, verteidigte der Vetter sich lachend. »Ich bin ja erst ein Jahr verheiratet.«

»Da hättest du gefälligst die Hochzeitsreise zu uns machen müssen. Aber das holst du nach, verlaß dich drauf. Komm, Prinzeßchen, gib mir deinen Arm und führe mich in dein trautes Heim.«

Lachend kam sie seinem Wunsche nach. Dieser neue Vetter gefiel ihr ausnehmend gut. Als er im Wohngemach mit Frau von Gehldorn bekannt gemacht wurde, kratzte er sich bedenklich den Kopf.

»Uijeh, gnädige Frau, bei Ihnen muß man wohl immer sehr artig sein, nicht wahr.«

»Wenn Ihre Ungezogenheiten charmant sind, will ich sie mir ganz gern gefallen lassen«, versprach sie lächelnd, worauf er sie anstrahlte wie ein beschenkter kleiner Junge. Groß und blond mit blauen Augen, hatte er Ähnlichkeit mit seinem Vetter Diederich. Nur war sein Gesicht runder und weicher, die Kopfform weniger rassig und der Mund nicht so hart geschnitten. Außerdem fehlte ihm die vornehme Gelassenheit, überhaupt das Herrische des Gebieters. Er war vielmehr ein bildhübscher Junge, ein strahlender Schwerenöter, der sich mühelos die Herzen der Menschen gewann.

Wenn er sich auch zwanglos gab, so merkte man ihm sofort die gute Kinderstube an. Er konnte wohl übermütig, aber niemals flegelhaft sein, wußte immer, wie weit er zu gehen hatte, auch Elonie gegenüber, in die er sich spontan verliebte. Er würde stets die Frau des anderen in ihr achten, was der Vetter wußte und ihm daher vertraute, wie er auch Elonie vertraute. Sie war wohl eigenwillig und kapriziös, aber sündigen, nein, das konnte sie nicht. Dafür war sie zu klar und sauber. Sie würde nie vergessen, was sie ihrer Frauenehre schuldig war. Also mochte sie sich ruhig dem Gast widmen, er hatte leider keine Zeit dazu.

Wenn sie etwas unternahmen, war stets Frau von Gehldorn dabei. Man mußte ja auf die Mitmenschen Rücksicht nehmen, unter denen es solche gibt und leider in der Mehrzahl –, die immer gleich Unrat wittern.

Schon deshalb allein war Frau Irene auf Posten. Wenn sie auch manchmal keine Lust dazu hatte; so begleitete sie denn doch die beiden jungen Menschen überallhin.

Und man nahm sie gern mit. Elonie liebte diese feine Frau ohnehin wie eine Mutter, und Frank verehrte sie sehr. Er schätzte ihre vornehme Art, ihre Ausgeglichenheit, ihr gütiges Verständnis und ihr warmes Lachen, mit dem sie seinen Übermut quittierte. Sie gehörte eben als Dritte zum Bunde, ohne sie war alles halb so schön.

Daß Diederich nicht mit von der Partie sein konnte, betrübte Frank zuerst; denn er mochte den Vetter sehr gern. Aber er war vernünftig genug, um sich zu sagen, daß ein Mann, der soviel zu leisten hatte wie er, in erster Linie mal seiner Arbeit und seinen Pflichten als Gebieter nachkommen mußte. Also zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen. So hatte es auch von jeher sein Vater gehalten und seinen Sohn in dem Sinne erzogen.

»Wie ist es, Frank, willst du dir mal meinen Betrieb ansehen?« fragte Diederich, als man an einem Abend zusammensaß, und schon war ersterer Feuer und Flamme.

»Aber mit dem größten Vergnügen! Ich wollte dich schon längst darum bitten, wagte jedoch nicht, deine kostbare Zeit in Anspruch zu nehmen.

Übrigens muß ich jetzt so langsam anfangen, mich für die Universitäten zu interessieren. Dazu hat mein guter Dad mich ja hierher geschickt, mir drei Wochen dafür bewilligt. Zwei davon sind schon um, in denen ich bisher nur Ausflüge machte, Tennis spielte, mit meiner Fechtkunst der süßen Elo heillosen Schrecken einjagte, und manche vergnüglichen Dinge mehr. Nun mußt du mich beraten, geliebter Vetter, wo ich am günstigsten studieren kann.«

»Da wird dich Knut Norber besser beraten können als ich.«

»Knut Norber? Wer ist denn das?«

»Mein Vetter mütterlicherseits. Sein Vater ist Arzt in dem Städtchen, das eine halbe Autostunde von hier entfernt liegt. Vielleicht kannst du an derselben Universität studieren und hättest dann gleich an dem Jungen einen Anschluß.«

»Ist der Knut gut zu leiden?«

»Kann man wohl sagen. Zwar ist er nicht so quecksilbrig wie du, dafür ähnelt er zu sehr seinem bedächtigen Vater, aber ein famoser Junge, verläßlich und treu.«

»Dann ist er mein Mann. Wo kann ich seiner habhaft werden?«

»In seinem Elternhaus Ich sage dort Bescheid, daß Knut übers Wochenende hinkommen soll. Wir treffen da zusammen, und du kannst ihm die Seele aus dem Leib fragen.«

»Was studiert er denn?«

»Medizin. Als Nachfolger seines Vaters.«

»Meine Fakultät wäre mir ja lieber, aber man muß auch so zufrieden sein. Darf ich übrigens so ganz ohne weiteres im Doktorhaus aufkreuzen?«

»Als unser Gast ohne Frage. Du wirst dich dort so wohl fühlen, daß du gar nicht mehr zu uns zurückkehren willst.«

»Na, das wäre! Ich werde doch nicht meine Süße verlassen, die ohne mich überhaupt nicht mehr leben kann.«

»Eingebildet bist du gar nicht«, fuhr Elonie ihm lachend in den Schopf. »Ich würde froh sein, mich von deiner Turbulenz erholen zu können.«

»Das mir, das mir!« Er verdrehte anklagend die Augen. »Aber warte nur, ich räche mich. Steche dich in der nächsten Fechtstunde einfach mit dem Florett tot.«

»Hu, wie grausig! Und wenn Diederich dir dann den Hals umdreht?«

»Tut er nicht. Er wäre froh, dich auf eine so einfache Art loszuwerden.«

Bei der Bemerkung stutzte man zuerst. Als man jedoch in das spitzbübische Gesicht sah, da wußte man, daß der übermütige Schlingel sein Späßchen trieb.

Und so war es auch. Denn erstens hielt er die beiden für ein harmonisches Ehepaar und hätte in einem anderen Fall die Bemerkung gar nicht gemacht, weil sie im höchsten Grad taktlos gewesen wäre. Und das war Frank nicht, dafür hatten seine Eltern ihn zu gut erzogen.

Am nächsten Morgen nahm Diederich den Vetter mit ins Werk. Und je länger die Besichtigung dauerte, um so größer wurde seine Bewunderung für den Gebieter, der diesen Riesenbetrieb so fest in Händen hielt. Es schüchterte ihn direkt ein, als er so sicher und unbeirrt durch sein Reich schritt – ein König der Arbeit. Überall wußte er so gut Bescheid wie in seiner Hosentasche. Dem konnte man wahrlich kein X für ein U vormachen. Seine Erklärungen waren kurz und knapp, aber so anschaulich, daß Frank sie verstand. Begeistert kehrte er Stunden später ins Brendorhaus zurück, wo er sich vor Elonie hin pflanzte und loslegte:

»Na, du hast vielleicht einen Mann! Vor dem muß man den Hut bis zur Erde ziehen. Ein Gebieter, wie er im Buche steht. Hast du denn keine Angst vor ihm?«

»Hast du sie denn?« fragte sie lachend dagegen.

»Angst nicht, aber Bewunderung. Denn bewundernswert ist es doch wahrlich, die unzähligen Fäden so straff in der Hand zu halten und keinen davon zu verlieren. Ein kluger Kopf, ein genialer Kopf. Ich bin stolz, diesen Mann Vetter nennen zu dürfen.«

Und ich habe mich erdreistet, diesen Mann wie einen dummen Jungen zu behandeln, dachte Elonie gequält. Die ich doch ein Nichts gegen ihn bin. Ich bin schön, das hat er mir selbst gesagt. Aber diese Schönheit ist auch alles, was ich in die Waage zu werfen habe – gegen Klugheit, Vornehmheit, Reichtum und Macht.

*

Am Sonntag fuhr man zum Doktorhaus, wo man Frank herzlich willkommen hieß. Mit Knut fand er sofort Kontakt, und nachdem er sich über alles genau erkundigt hatte, stand es bei ihm fest, an derselben Universität zu studieren wie der Arztsohn.

»Da hab’ ich gleich einen Kameraden und kann mich öfter mal im Brendorhaus einfinden, um mich da auszufuttern«, gestand er in schönster Offenheit. »Ansonsten wird wohl Schmalhans Küchenmeister sein.«

»Trotz deines noblen väterlichen Wechsels?« fragte Diederich.

»Na du, so nobel wird der Wechsel gar nicht sein. Zwar ist mein guter Dad für leben und leben lassen, hält jedoch Verschwendung für ein Laster.«

»Genau wie meiner«, seufzte Knut. »Die alten Herren haben aber auch gar kein Verständnis für die Bedürfnisse ihrer Söhne.«

»Und die Töchter müssen hinter ihnen zurückstehen«, bemerkte Birgit altklug. »Ist es bei Ihnen auch so, Herr Frank?«

»Nein, Fräulein Birgit«, gab er ernsthaft Antwort, während der Schalk in seinen Augen blitzte. »Da hat die Mitgift der Tochter so viel Geld verschlungen, daß für den Sohn kaum etwas übrigbleibt. Glaubst du das?«

»Nein.«

»So nimmst du an, daß ich lüge?«

»Lügen nicht, aber Unsinn reden.«

»Birgit!« verwies die Mutter sie, doch Frank winkte lachend ab.

»Die ist richtig, die gefällt mir. Schade, daß du noch in den Kinderschuhen steckst, sonst würde ich dich vom Fleck weg heiraten.«

»Was Sie sich wohl einbilden! Ich heirate nur einen Mann.«

»Und was bin ich?«

»Ein Junge.«

»Ist doch bloß gut, daß du nicht noch ›dummer‹ voransetztest.«

»Oh, ich weiß schon die Grenze zu halten.«

»Wie beruhigend. Aber einen Jungen pflegt man nicht mit Herr anzusprechen.«

»Wenn er das Alter hat, muß man das schon.«

»Hm. Was meinst du, wollen wir Duzbrüderschaft schließen?«

»Da muß man erst einen Scheffel Salz miteinander verzehrt haben, sagt mein Papi.«

»Nun, in diesem Fall können wir mal eine Ausnahme machen«, schmunzelte der Vater. »Da Frank ja sowieso um sieben Ecken herum mit uns verwandt ist. Nehmen wir ihn feierlich in die Sippe auf.«

Das fand allgemeinen Beifall. Und da bei so einer Gelegenheit nicht nur ein Schnaps, sondern auch ein Kuß fällig zu sein pflegt, so machte Frank ungeniert davon Gebrauch. Selbst Frau von Gehldorn bekam einen, wogegen sie sich allerdings zu sträuben versuchte.

»Aber ich bin doch da nicht einbegriffen. Ich gehöre doch nicht zur Sippe!«

»Ja!« kam es lachend von allen Seiten. »Mitgefangen, mitgehangen!«

So wurde sie denn Tante Irene für das Jungvolk, in das allerdings auch der dreißigjährige Diederich mit eingeschlossen war, und Irene für das Arztehepaar. Man war fortan eine Gemeinschaft, die miteinander lachte und weinte.

Die letzten Tage des Urlaubs vergingen besonders schnell, übermorgen hieß es für Frank, Abschied zu nehmen. Das Flugzeug flog zwar erst in fünf Tagen ab, aber er wollte noch bei Knut vorsprechen, um alles Erforderliche in die Wege zu leiten, wobei der Student ihn beraten sollte.

»Hör mal, Elo, du wolltest mir doch das idyllische Schlößchen zeigen, das dein Entzücken erregt«, versuchte Frank die Base aufzumuntern, die auf der Terrasse im Liegestuhl faulenzte.

»Zu heiß«, winkte sie gelassen ab. »Außerdem ist Tante Irene beim Zahnarzt und kommt spät wieder.«

»Na wenn schon! Wir können auch einmal ohne sie fahren. Los, Elo, sei kein Frosch. Tu mir doch den Gefallen. Übermorgen muß ich schon fort von hier. Ich interessiere mich doch nun mal für Schlösser.«

»Wieso, willst du etwa eins kaufen?«

»Man muß nicht immer alles gleich kaufen wollen, wofür man Interesse hat. Mach mich nicht rasend mit deiner Pomadigkeit. Hier herumzusitzen halt’ ich einfach nicht aus, mir kribbelt das Reisefieber im Blut. Kannst du das verstehen?«

»Nein.«

»Elo, bitte!«

»Na schön«, gab sie nach, während sie sich seufzend erhob. »Mach meinen Wagen flott, indes zieh’ ich mich um. Aber zum Abendessen müssen wir unbedingt zu Hause sein, sonst brummt mein Herr Gemahl.«

Eine Viertelstunde später wurde sie am Portal sichtbar. Wunderschön sah sie aus in ihrem leichten Kleid, das einem eleganten Modesalon entstammte. Ebenso der helle Mantel, den sie über dem Arm trug. Lang und schlank waren die feingefesselten Beine, die kleinen Füße steckten in hellfarbenen Sandaletten. Dann die leuchtenden Augen und das herrliche Haar. Wahrlich, kein Wunder, daß es dem guten Frank ganz heiß unter der seidenen Hemdbrust wurde, der vor dem Auto stand und den Schlag für die Base offenhielt. Sie nahm Platz und rief dem eben erscheinenden Diener zu:

»Wenn die gnädige Frau zurück ist, bestellen Sie ihr, daß wir zum Schlößchen gefahren sind.«

Das letzte klang nur noch verweht zu dem Mann hin, weil Frank bereits den Wagen in Bewegung gesetzt hatte.

»Du kannst wohl nichts dafür«, sagte sie ärgerlich. »Wenn Niklas mich nun nicht verstanden hat?«

»Süße, du hast ja laut genug geschrien, und der Mann ist nicht taub. Mach bloß nicht so ein böses Gesicht, sonst krieg’ ich Angst.«

»Könnte dir gar nichts schaden, du unruhiger Geist. Ich möchte gern wissen, ob du auch zu Hause ständig herumwirbeln mußt.«

»Da falle ich nicht weiter auf, da wirbelt alles«, lachte er, daß seine prachtvollen Zähne nur so blitzten. »Selbst meine Mami, die im Laufe der Jahre ganz nett behäbig geworden ist. Geruhsamkeit ist bei uns verpönt, da heißt es immer Tempo, Tempo!«

»Das merkt man an deinem Rasen«, sagte sie trocken. »Fahr gefälligst langsamer, damit ich auf den Weg achten kann. Wir müssen nämlich bald rechts abbiegen. Ich glaube, da ist es schon. Fahr rechts rein, aber nimm bei der Kurve nicht den Baum mit. Am liebsten möchte ich mich ans Steuer setzen.«

»Nein, dann werde ich zappelig.«

»Das ist, was ich befürchte. Jetzt biege ab. Gott sei Dank, der Baum steht!«

»Aber dafür gibt es zu beiden Seiten um so mehr Bäume. Und der Weg ist auch nicht besonders.«

»Dafür ist es auch eine Nebenstraße. Schlösser pflegen nämlich nicht an der Chaussee zu liegen.«

»Aha. Nun, ich will versuchen, deine Mordskutsche durch das Labyrinth zu schlängeln, einmal müssen wir doch auf dem richtigen Weg sein. Ist wenigstens genug Benzin im Tank?«

»Er ist heute aufgefüllt worden.«

»Wenigstens ein Trost.«

So fuhren sie denn eine halbe Stunde langsam dahin.

Und plötzlich wurde es dunkel. Der junge Mann konnte gerade noch das Verdeck hochklappen und Elonie in den Mantel helfen, da brach auch schon ein Sturm los, der nicht von schlechten Eltern war, wie man so sagt. Ein schweres Gewitter war im Gange.

»Mein Gott!« stöhnte Elonie. »Ich habe ohnehin schon Angst vor Gewitter, und nun hier, wie von aller Welt abgeschnitten…«

»Nun, nun, es wird nicht so arg werden«, tröstete er. »Komm, zieh’ die Decke über den Kopf. Da siehst du die Blitze nicht so.«

Und so saßen sie da, den tobenden Elementen schutzlos ausgeliefert. Frank hatte die Scheinwerfer abgestellt, damit die Batterie nicht leer wurde. Das Standlicht nur gab einen trüben Schein.

Es war tatsächlich, als wären alle Teufel losgelassen. Es donnerte fast unausgesetzt, was sich im Wald besonders schauerlich anhörte. Die Blitze zuckten, der Sturm ließ Bäume zusammenstürzen. Es wäre kein Wunder gewesen, wenn ein fallender Baum das Auto getroffen hätte.

Allein, davon sollten die beiden Menschen verschont bleiben. Sie hatten auch ohnehin schon genug Angst auszustehen, zum mindesten Elonie. Denn Frank machte das rasende Gewitter weniger aus. Aber um die Base ängstigte er sich. Wenn ihr etwas passierte, durfte er ja gar nicht wagen, Diederich unter die Augen zu treten.

»Hätte ich dich doch nicht zu der Fahrt überredet«, sagte er gepreßt. »Ich mache mir die heftigsten Vorwürfe.«

»Das ist doch Unsinn, Frank. Wir stecken doch nur in dieser Klemme, weil ich dir den falschen Weg wies. Also bin ich schuld, nicht du.«

»Nun, wir wollen jetzt nicht unsere Schuld aneinander messen, sondern tapfer durchhalten. Du mußt nur nicht weinen, Elo, das kann ich nicht ertragen.«

»Ich weine nicht, Frank.«

»Das ist lieb. Nimm fest die Decke um. Du bist zu leicht angezogen, trotz des Mäntelchens.«

»Aber auch du bist zu leicht gekleidet, was bei der vorangegangenen Hitze kein Wunder ist. Komm mit unter die Decke, sie reicht für beide.«

»Lieber nicht«, brummte er. »Meine Jacke allein wärmt mehr als dein flittriger Kram zusammen. Jetzt einen Kognak, der täte uns beiden gut.«

»Im Handschuhfach wirst du ein kleines Fläschchen finden, das ich immer für alle Fälle mitführe. Auch eine Taschenlampe nebst Reservebatterie liegt im Kasten.«

»Na wunderbar. Die Sachen sind direkt ein Geschenk des Himmels.«

Elonie durfte sich zuerst laben, und es war gut, daß sie die Flasche gleich an Frank weitergab. Sonst hätte sie diese vor Schreck fallen lassen, und das kostbare Naß wäre versickert. Denn ein Donner krachte, der durch Mark und Bein ging. Gleichzeitig erhellte ein besonders greller Blitz das Innere des Wagens. Ganz in der Nähe ein Krachen und Splittern – und dann eine unheimliche Stille.

»Verflixt, das muß dicht bei uns eingeschlagen haben«, murmelte Frank, vor Schreck erblaßt. »Und zwar in den krachenden Baum. Ein Glück, daß er nicht den Wagen traf. Du siehst also, Elonie, daß wir einen Schutzengel haben, der uns auch weiterhin behüten wird. Hast du dich sehr erschreckt?«

»Ja, Frank. Mir zittern die Glieder wie Espenlaub.«

»Du Armes. Aber laß gut sein. Nach so einem furchtbaren Schlag pflegt sich das Gewitter ausgetobt zu haben und zieht ab.«

So war es auch. Der Donner grollte immer ferner, die Blitze zuckten immer seltener, und der Regen ließ langsam nach. Frank schaltete die Scheinwerfer ein, öffnete die Tür und streckte den Kopf hinaus.

»Es regnet nur noch ganz wenig. Ergo werde ich aussteigen und die Lage peilen.«

»Ich komme mit.«

»Das wirst du schön bleiben lassen. Der Boden ist vom Regen aufgeweicht, und deine Schuhe sind nicht wetterfest. Sei lieb, Elo, ja? Du brauchst keine Angst zu haben.«

Er schlug den Kragen seines Jacketts hoch, griff nach der Taschenlampe, die Autotür knallte zu – und Elonie war allein.

*

Elonie saß zusammengekauert da, ein Häuflein Unglück. Sie flatterte vor Angst. Weniger deshalb, daß sie hier so allein saß in dieser grausigen Finsternis, sondern sie fürchtete sich vor der Abrechnung mit Diederich. Er würde ihr nicht glauben, wie sie ihm nicht geglaubt hatte, würde ihr mißtrauen, wie sie ihm mißtraut hatte.

Wie hatte Tante Beate einmal zu ihr gesagt: Oft trügt der Schein. Damals hatte sie es nicht geglaubt, doch heute wurde es ihr grausam klar.

Sie hätte selbst nicht zu sagen gewußt, wie lange sie so gesessen hatte, von jagenden Gedanken gepeinigt und gequält. Sie schrak zusammen, als Frank die Tür aufriß.

»Da haben wir einen unglaublichen Dusel gehabt, Elonie«, sagte er so ernst, wie man ihn selten sah. »Nur einige Meter vom Wagen entfernt liegt ein Baum. Sieh ihn dir an!«

Er richtete den hellen Schein der Taschenlampe seitwärts, wo eine große Tanne lag.

»Großer Gott!« flüsterte sie entsetzt. »Wenn die auf den Wagen gefallen wäre…«

»Sie ist es aber nicht, Elo. Reg dich bloß nicht noch hinterher auf. Das hast du vorher schon genug tun müssen. Wir sind bei dem Inferno heil geblieben, das ist mal erst die Hauptsache, alles andere kriegen wir schon hin. Es ist abscheulich von dem Gewitter, daß es nicht noch fünf Minuten gewartet hat. Dann hätten wir den Weg erreicht, auf dem wir, wenn auch nicht gerade glatt, so doch ganz gut vorangekommen wären. Irgendwohin muß der doch führen, also sei getrost.«

Der Fahrweg war wohl da, aber den zu erreichen, kostete unendliche Mühe. Ein anderer als der kühle Frank hätte es gewiß nicht geschafft. Stellenweise mahlten die Räder in dem aufgeweichten Waldboden, ohne voranzukommen. Der Motor wurde aufs äußerste beansprucht. Frank biß die Zähne zusammen, sein Körper war schweißbedeckt. Aber er ließ nicht nach, und wenn da gleich der ganze Wagen zum Teufel gehen sollte.

Und endlich wurde seine Verbissenheit belohnt, der Weg war erreicht.

»So, jetzt halten wir erst mal eine Weile, damit unser braver Motor verschnaufen kann.« Damit hielt Frank den Wagen an. »Teilen wir uns den Kognak. Hier, nimm, Süße, hast dich tapfer gehalten. Andere Weibsen an deiner Stelle hätten gezetert und lamentiert. So eine Frau möchte ich auch einmal haben. Schade, daß du schon in festen Händen bist.«

»Kannst die Hände ja lockern«, ging sie auf seinen munteren Ton ein, den er, wie sie wußte, nur ihretwegen anschlug. Denn wohl war ihm nicht zumute, das merkte sie ihm wohl an. »Oder meinst du, daß sie sich nicht lockern lassen?«

»Nein, du«, kam es voll Überzeugung zurück. »Solche Hände nicht, die halten fest, was sie besitzen. Hast du getrunken, ja? Dann gib die Flasche her.«

»Er setzt sie an und trank sie aus, o Trank voll süßer Labe«, neckte sie, als er die leere Flasche absetzte. »Trunkenheit am Steuer wird bestraft, mein lieber Frank.«

»Von dem bißchen bin ich noch lange nicht bedudelt. Hast du eine Zigarette?«

»Ich glaube schon.« Sie öffnete die Handtasche und zog ein Etui heraus, das im Licht des Scheinwerfers aufblitzte wie pures Gold, das es auch war. Frank nahm es ihr aus der Hand, drehte es nach allen Seiten und sagte anerkennend:

»Nobel. Wohl ein Geschenk des Herrlichsten von allen?«

»Na, von wem denn sonst?«

»Hast recht, dumme Frage.«

Er versorgte aus dem gefüllten Etui erst Elonie, dann sich, tat einen langen Zug und sagte:

»Diederich ist der bedeutendste Mann, den ich bisher kennenlernte. Daß er Besitzer eines großen Werkes ist und eine Menge Geld hat, beeindruckt mich weniger. Doch wie er dieses Werk leitet, das imponiert mir mächtig. Dazu seine Klugheit, seine vornehme Gelassenheit, sein blendendes Aussehen – ja, das ist ein Mann, wie er nicht dutzendweise auf unserer lieben Erde herumläuft. Und du, du paßt zu ihm Elonie. Mit deiner Schönheit, deinem Charme.«

»Stopp ab!« Sie zwang sich zu einem Lachen. »Du fängst ja direkt an zu schwärmen…«

»Was bei mir wahrlich nicht oft geschieht. Außerdem ist es keine Schwärmerei, sondern die reine Wahrheit.«

»Danke, ehrt mich.«

»Kaltschnäuzige Person. Aber gut sonst…«

Was, das erstarb in einem Seufzer. Ein Strecken der Gestalt, ein Zurückwerfen des Kopfes, und er war wieder der alte fidele Frank.

»So, nun können wir weitertrudeln. Hörst du was?«

»Nein.«

»Aber ich. Nämlich den Flügelschlag des Schutzengels, der zwischen uns ist. Und er wird uns auch zur glücklichen Heimkehr führen.«

Doch bis dahin sollte noch eine gute Weile vergehen. Denn zuerst hieß es langsam und vorsichtig den Weg zu fahren, der auch nicht so ohne war. Aber er führte auf eine Kiesstraße und schräg gegenüber stand ein Haus. Durch zwei Fenster schimmerte Licht, schien die müden Wanderer tröstlich zu grüßen.

Es war ein Försterhaus, vor dem der Wagen gleich darauf hielt. Bellen wurde hörbar, die Haustür öffnete sich, und wie zwei Pfeile schossen die Hunde auf Frank zu, der soeben das Auto verließ.

»Na, na, man nicht so angriffslustig«, sprach er ihnen gütlich zu. »Freßt mich bloß nicht, ich bin ein hartgesottener Happen.«

Dann wandte er sich dem Mann zu, der abwartend in der Tür verharrte, schmuck aussehend in der Jägerkleidung.

»Guten Abend, Herr Förster. Zwei Verirrte bitten um Ihren Rat.«

»Denn man immer rein in die gute Stube«, kam es vergnügt zurück. Eine Verbeugung zu Elonie hin, die langsam näherkam.

»Grüß Gott, liebe gnädige Frau.«

»Grüß Gott, Herr Förster. Kennen Sie mich etwa?«

»Werde ich die Gattin des großen Brendor nicht kennen, den Stolz unserer Stadt und Umgebung«, schmunzelte der sympathische Mann. »Ich weiß sogar, wer der Herr ist – ein Vetter aus Kanada. Tja, so was spricht sich schnell herum über Menschen, die so im Blickfeld stehen wie die aus dem Brendorhaus.«

»Da haben wir’s, Elo«, bemerkte Frank trocken. »Bekannt wie bunte Hunde.«

Jetzt tauchte auch die Frau des Försters auf und bat die wegemüden Verirrten ins Haus. Zuerst nahm sie eine nett eingerichtete Diele auf und dann das Wohngemach, in dem es urgemütlich war. So eine richtige Försterstube mit allem Drum und Dran.

Die Sessel waren bequem, die Stube warm, traulich erhellt vom Schein der Stehlampe. Da ließ es sich gut reden. Als Frank mit dem Bericht zu Ende war, sagte der Förster ernst:

»Da können Sie aber wirklich Gott danken, daß Sie heil der Hölle entronnen sind. Frauchen, brau einen steifen Kaffee, der ist hier angebracht. Doch vorher gibt es einen Jägerschnaps.«

Der auch bald zur Stelle war. Wie Feuer rann das würzige Getränk in die Kehle, doch mit Todesverachtung trank Elonie ihn hinunter.

»So ist es recht, gnädige Frau. Noch einen?«

»Danke, vielleicht später. Frank, wir müssen denen zu Hause Bescheid geben.«

Aber die Telefonleitung war gestört.

»Kein Wunder bei dem schweren Gewitter«, meinte der Förster aufhorchend. »Verflixt, es scheint zurückzukommen. Es kann nicht aus dem Tal heraus. Doch keine Bange, gnädige Frau. Das Haus hat einen vorzüglichen Blitzableiter. Hier sind Sie sicher.«

»Das schon. Nur die zu Hause werden sich ängstigen. Ob wir nicht trotzdem fahren sollen, Frank?«

»Nein, Elonie. So eine große Verantwortung übernehme ich nicht zum zweiten Mal. Mir sitzt noch immer der Schreck in den Knochen. Wir sind nur mit knapper Not der Gefahr entronnen, in eine zweite begebe ich mich nicht mehr.«

»Da muß ich Ihnen beipflichten, Herr Brendor. Nicht das Köpfchen hängen lassen, gnädige Frau. Ah, da kommt ja schon der Kaffee. Hast ein paar Bohnen mehr genommen, geliebtes Weib meines Herzens?«

»Will ich meinen!« Die junge Frau zeigte ihre allerliebsten Grübchen. Flink deckte sie den Tisch zwischen den Sesseln, stellte einen Teller mit belegten Schnitten in die Mitte, goß den Kaffee in die Tassen und bat, tüchtig zuzulangen.

Der Kaffee war gut, die Brote nicht minder. Obwohl Elonie annahm, nicht einen Bissen essen zu können, tat sie es dennoch. Es hätte ihr sogar schmecken können, wenn nur nicht die Angst gewesen wäre, die würgende Angst. Sie fürchtete sich unsagbar vor Diederichs Härte, seiner Eiseskälte. Beneidete direkt die anderen, die sich so angeregt unterhalten konnten. Aber denen stand ja auch nicht bevor, was ihr bevorstand.

Nach Mitternacht war dann endlich das Gewitter vorüber, und man konnte unbesorgt abfahren. Der Förster beschrieb ihnen den Weg, der leicht zu finden war. Man schied mit herzlichem Dank von dem freundlichen Försterehepaar, dann brauste der Wagen ab.

*

Und wie sah es zu Hause aus? Wahrlich nicht rosig. Als der Hausherr vor dem Abendessen dort eintraf, nahm er die Nachricht, daß Elonie und Frank fortgefahren wären, unwillig auf.

»Und dann sind sie noch nicht zurück? Wohin sind sie denn überhaupt gefahren?«

»Nach Össen.«

»Von dem Ort habe ich noch nie gehört. Wärest du doch nur mitgefahren, Tante Irene. Du weißt doch, wie unbekümmert Elonie und Frank sind.«

»Das weiß ich. Aber ich konnte nicht mitfahren, da ich ahnungslos beim Zahnarzt saß. Als ich nach Hause kam, hörte ich durch Niklas von der Fahrt. Elonie rief ihm den Namen des Ortes zu, als der Wagen abfuhr. Es ist also leicht möglich, daß er sich verhört hat.«

Die Speisen blieben fast unberührt. Und dann saßen die beiden Menschen im Wohnzimmer und warteten. Fern grollte der Donner, am Horizont wetterleuchtete es.

»Wenn die beiden da nur nicht in das schwere Gewitter hineingekommen sind«, sprach Irene in das düstere Schweigen hinein. »Es scheint mir fast so, als tobe es sich in der Gegend aus, wo Norbers wohnen. Vielleicht sitzen sie dort und können uns wegen des Gewitters keinen telefonischen Bescheid geben. Wenn man nur wüßte, wo dieses Össen liegt.«

»Wahrscheinlich auf dem Mond.« Er lachte kurz, und forschend sah sie ihm in das harte blasse Gesicht. Dann sagte sie langsam:

»Diederich, du nimmst doch nicht etwa an...«

»Gar nichts nehme ich an«, winkte er kurz ab. Und dann schwiegen sie wieder. Der Zeiger der großen Standuhr rückte weiter, unentwegt. Dieses Warten war entsetzlich, zermürbte Herz und Nerven. Regungslos saß der Mann im Sessel, die erkaltete Pfeife in der Hand. Irene hätte ihm gern tröstende Worte gesagt, aber da sie wußte, daß diese abprallen würden wie an einem Fels, schwieg sie. Sie hatte Angst, bebende Angst vor dem, was da kommen mußte. Und diesmal würde es gehen auf Biegen oder Brechen.

Die Standuhr schlug die zwölfte Stunde, und immer noch warteten die beiden Menschen. Der Donner grollte nicht mehr, das Wetterleuchten hatte aufgehört. Irene schrak zusammen, als Diederich aufstand und nach ihrer Hand griff, die er gegen die Augen drückte.

»Du Liebe, Gute«, sagte er leise. »Was dir hier alles zugemutet wird, das geht schon über das Maß des Erträglichen hinaus.«

Brüsk wandte er sich ab, ging davon, und gleich darauf hörte sie die Tür des Arbeitszimmers hinter ihm zuschlagen. Aber sie hörte auch noch eine Tür zuschlagen, und zwar draußen. Sollte es am Ende das Auto sein?

Sie hatte sich nicht getäuscht, es war das Auto. Denn gleich darauf stürmte Frank herein.

»Wo ist Diederich?«

»In seinem Arbeitszimmer.«

»Ich gehe zu ihm. Und du zu Elonie, die in einer erbärmlichen Verfassung draußen vor der Tür steht. Ich werde leicht mit ihr fertig.«

Fort war er, und auch Irene hastete davon. In der Halle wäre sie fast über den Hund gefallen, der durch ihre Beine flitzte und die Freitreppe hinunterkugelte. Sekunden später hörte sie ihn vor Freude jaulen.

Und dort fand sie auch Elonie, dastehend wie eine Bettlerin. Weiter drüben, in dem feudalen Hotel Krone, fiel Licht aus den Fenstern, Musik klang gedämpft zu ihnen hin.

»Mein Gott, Kind, warum kommst du nicht weiter?« fragte Irene erregt – und müde hob sich das feine Gesichtchen. Die zitternde Hand zeigte zum Brendorhaus, wo nur einige Fenster erhellt waren.

»Da, Tante Irene – da ist das Paradies, das ich mir mit eigener Hand verschloß.«

»Redest du etwa irre?«

»Nein, ich rede wahr. Ich darf ja da nicht wieder eintreten – er würde mich hinausweisen mit all seiner Härte und Erbarmungslosigkeit.«

»Du törichtes Kind! Es ist doch unglaublich, was für Hirngespinste sich in deinem verbohrten Köpfchen festgesetzt haben. Warum sollte Diederich dich denn hinausweisen?«

»Weil ich nachts unterwegs war – mit einem Mann?«

»Hast du dir etwas zuschulden kommen lassen?«

»Nein, Tante Irene, nein!«

»Na siehst du. Komm endlich weiter, damit ich mich nicht in der kühlen Luft erkälte, so leicht angezogen, wie ich bin.«

Das half. Widerstandslos folgte Elonie ihr, die sie energisch mit sich zog. Im Wohnzimmer machte sie sich frei und ließ sich aufatmend in den Sessel sinken.

»Gott sei Dank, er ist nicht da!«

»Na hör mal, das ist für eine liebende Ehefrau nun wirklich nicht die richtige Einstellung«, schlug Irene absichtlich einen leichten Ton an. Sie nahm Elonie den Mantel ab, strich tröstend über das wirre Haar, über die verzweifelt blickenden Augen und nahm dann Platz.

»Nun erzähle«, sagte sie leise.

Und was sie dann zu hören bekam, ließ ihr fast den Herzschlag stocken vor Entsetzen, was einige Zimmer weiter bei Diederich auch der Fall war. Denn dort sprach Frank. Er war jetzt nicht der fidele Junge, sondern ein tiefernster Mann, der sich anklagte.

»Glaube mir, Diederich«, fuhr er in seinem Bericht fort, »ich habe eine heillose Angst um Elonie ausgestanden. Natürlich durfte ich sie ihr nicht zeigen, sie sollte doch an mir einen Halt haben. Und sie war so tapfer, ich habe sie bewundert.

Diederich, sie hat eine erschütternde Angst. Du wirst ja wissen, warum. Glaube mir, eine Frau wie sie läßt sich nichts zuschulden kommen. Hörst du, Died, niemals könnte sie das!«

Er sah dem Vetter dabei in die Augen. Zwei Männerhände fanden sich im festen, warmen Druck.

»Wo ist sie jetzt?« fragte Diederich.

»Als ich sie verließ, stand sie vor dem Gartentor – wie eine Bettlerin. Sie wagte sich nicht herein. Es war so erschütternd, daß mir die Augen feucht wurden, was mir wahrhaftig nicht oft passiert. In meiner Ratlosigkeit schickte ich Tante Irene zu ihr. Und dieser prächtigen Frau wird es schon gelungen sein, das zerquälte, verschüchterte Seelchen ins Haus zu bringen. Soll ich es dir herschicken?«

»Ja.«

So erschien denn Frank im Wohnzimmer, wo Elonie ihm bang entgegensah. Da nahm er sie einfach bei der Hand, zog sie rasch mit sich, daß sie stolperte, und blieb erst vor der Herrenzimmertür stehen.

»Du, das sag ich dir, mach jetzt keine Sperenzchen«, flüsterte er ihr zu. »Du brauchst nichts zu sagen, das habe ich bereits für dich erledigt. Doch, etwas darfst du sagen. Vier Worte nur: Ich hab’ dich lieb. Das stimmt doch?«

»Ja.«

»Also! Nimm unseren Schutzengel mit, ich brauche ihn nicht mehr.«

Damit schob er sie kurzerhand über die Schwelle, schloß die Tür auf – und atmete tief auf, ganz tief. Dann trollte er zu der lieben, guten Tante Irene, um sich von ihr verhätscheln zu lassen.

Und Elonie stand da. Den Rücken gegen die Tür gelehnt, den Kopf gesenkt. Dicke Tränen liefen über das blasse Gesichtchen.

So stand sie da und wartete, bis eine Männerstimme sprach, so zärtlich, so weich, so aus herzzitternder Tiefe heraus: »Nun komm schon her, du törichtes Kind. Wie kann man nur vor dem Mann Angst haben, den man liebt. Oder täusche ich mich da?«

Da hob sich der flimmernde Kopf, und langsam strahlten die Augen auf, an deren Wimpern Tränen hingen. Die Füße setzten sich Schritt um Schritt, und dann war sie erst mal für eine Weile in seinen Armen verschwunden. Zwei Lippenpaare fanden sich wieder und immer wieder, zwei heiße Herzen klopften zusammen in beseligendem Schlag. Das alte und immer wieder neue Lied der Liebe sang in ihren Herzen.

Als der Mann das bezaubernde Geschöpf endlich aus seinen Armen ließ, senkte sich sein Blick in die strahlenden Augen hinein.

»Na, du Närrchen, war es denn wirklich so furchtbar schwer, deinem Mann zu zeigen, daß du ihn liebst.«

»Ach, Died, du warst so kalt und unnahbar.«

»Nun hör mal zu, Elo«, sagte er tiefernst, sich dabei setzend und sie auf seine Knie ziehend. »Ich habe dich aus Liebe geheiratet – aber es wäre dir gelungen, diese Liebe in meinem Herzen zu töten, wenn du so geblieben wärest, als Tante Beate dich mit sich nahm. Du verstehst doch, was ich meine?«

»Ja, Died«, nickte sie, das glühende Gesicht gegen seinen Hals pressend. »Died, bitte, verzeih mir doch.«

»Elo, nicht wieder weinen«, sagte er zärtlich, hob das Gesichtchen zu sich auf und küßte zart die purzelnden Tränen fort. »Es ist alles gut zwischen uns – viel besser, als es jemals war. Als ich dich heiratete, warst du ein entzückendes Spielzeug, jetzt aber bist du eine Frau von bezaubernder Süße. Du mußt so bleiben, dann bin ich unaussprechlich glücklich.«

»Ja, Died, ich bleib’ so«, versicherte sie eifrig. »Ich kann ja gar nicht mehr anders sein, seitdem ich aus meinem Irrsinn erwachte. Und dazu haben mir die guten Norbers verholfen und später Tante Irene. Sie haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Du wirst dich nie mehr über mich zu beklagen haben, Died. Willst du mir das glauben?«

»Ja, Elo.«

»Ich danke dir. Died, du hast mich ja heute sehr beschämt. Wenn du nachts mit einer Frau unterwegs gewesen wärest... Ach, mein Gott, Died, ich verdiene deine Liebe ja gar nicht. Du mißtrautest nicht, du fragtest nicht, du nahmst mich einfach in die Arme. Ich bin ja so glücklich!«

Die Augen strahlten, der Mund lachte, und überwältigt von ihrem Zauber drückte der Mann das betörende Menschenkind fest an das hart schlagende Herz!

*

»Sag mal, Tante Irene, dauert das immer so lange, bis zwei törichte Herzen vernünftig werden?« brummte der ungeduldige Frank, und sie lachte.

»Was meinst du wohl, was die sich alles zu sagen haben.«

»Aber so viel Liebesworte gibt es doch gar nicht.«

»Es werden ja nicht alles nur Liebesworte sein.«

»Na, dann macht doch der ganze Kram keinen Spaß. Ah, da sind sie ja endlich. Süße, du strahlst ja wie ein ganzer Weihnachtsbaum, da ist wohl jeder Kommentar überflüssig. Bekomm’ ich auch einen Kuß ab von all dem verschwenderischen Überfluß?«

»Wofür denn?«

»Daß ich dich so gut beschützt und dem Herrn Gemahl in die Arme gelegt habe.«

Man lachte herzlich über den Schalk, dem der Übermut nur so aus den Augen sprühte. Er war es auch, der auf den Gedanken kam, einen guten Tropfen zu trinken. Als die Gläser guten Klang gaben, sagte Irene lachend:

»Einen tiefen Schluck auf euren Glauben an die Mainacht. Denn es ist Mai, und heute ist sogar Sonntag. Laßt es in euern Herzen fortan immer Sonntag sein«, setzte sie ernst hinzu. »Laßt sie nie mehr töricht werden.«

Nein, das wurden sie nicht mehr, sie blieben in tiefer Liebe verbunden, die ihre Krönung erhielt, als sich im Februar ein kleiner Knabe ins Leben schrie. Die Taufe wurde ein glänzendes Fest, an dem selbst die Eltern Franks nicht fehlten. Er selbst war noch der alte fidele Junge, der mit seinem unwiderstehlichen Charme die Mädchen rebellisch machte. Doch sein Herz war immer noch ein Bienenhaus.

Jetzt stand die Sippe treu vereint um den Täufling, der im Kinderzimmer auf dem Tisch lag und sie alle zutraulich anlachte. Es war natürlich das schönste und klügste Kind der Welt – wie könnte es auch anders sein. Selbst der gute Onkel Fritz mit seinen kritischen Arztaugen mußte das zugeben.

»Ist schon ein Prachtkerlchen«, sagte er überzeugt und besah sich schmunzelnd das kleine Menschenwunder. »Ein ganzer Brendor.«

»Möchte ich mir auch ausgebeten haben«, warf sich der Onkel aus Kanada stolz in die Brust, ein blonder Hüne, dem die Gemütlichkeit sozusagen aus allen Nähten lugte. Genauso wie seiner rundlichen Gattin, die doch so gern lachte. »Wir Brendors sind eben Rasse und Klasse.«

»Aber Elo ähnelt er auch«, sagte Birgit, das kleine Halbonkelchen verliebt betrachtend. »Denn so strahlen können nur ihre Augen.«

»Laß mal sehen!« Frank trat hinzu, das Bürschchen so unbeholfen hochhebend, daß die liebe »Omi« Irene dagegen protestierte.

»Schlingel, halt ein!« rief sie lachend. »Unser Butzi ist doch nicht ein junger Hund!«

Ein Stichwort für »Hurtig«, sich bemerkbar zu machen, der sich zu einem Prachtexemplar ausgewachsen hatte. Mit einem Satz war er auf dem Tisch, von dem Beate ihn schleunigst herunterholte.

»Jetzt aber Feierabend!« rief sie in ihrer resoluten Art. »Ab mit euch, ihr übermütige Bande! Das Kerlchen muß zu Bett gebracht werden.«

Damit schob sie alle hinaus und schloß hinter sich die Tür.

Jetzt waren die jungen Eltern allein, die mit strahlenden Augen auf ihren Sprößling schauten. Sie war so bezaubernd, die kleine Mama, daß der Gatte sie beseligt ans Herz zog.

»Glücklich?« fragte er in die leuchtenden Augen hinein.

»Unaussprechlich. Wie sollte es auch anders sein mit so einem Mann und so einem Sohn.«

Da jauchzte das Kerlchen auf – und lachend sahen die Eltern sich an. Die einst so törichten Herzen knüpfte jetzt ein unzerreißbares, festes Band.

Leni Behrendt Staffel 2 – Liebesroman

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