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Zweifel und Hoffnung

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Nikarion Phoros, der Gelehrte, war auf einer Suche. Umgeben von den Ruinen eines alten Tempels stand er unter dem klaren Nachthimmel und ließ seinen Geist zwischen den Sternen den Tanz der Verzweiflung tanzen.

Der Tempel galt einst als Stätte des Wissens und der Orakel, an diesen Ort waren die Verzweifelten und die Sinnsucher gekommen, um Antworten und Anleitung zu finden. Allein, eines Tages waren die Menschen mit den Antworten und Ratschlägen, mit den Orakelsprüchen und den vermeintlichen Weisheiten, nicht mehr zufrieden. Sie durchschauten, dass die Verbindung zwischen den Tempelpriestern und den Göttern, zwischen dieser als unvollkommen empfundenen Welt und einer als vollkommen erhofften Welt, nicht so stark war, wie von manchen gepredigt wurde.

Nach Jahrhunderten und Generationen von gegebenen Antworten, die doch nicht ein Leben lang oder gar für die Ewigkeit den Geist zu befriedigen vermochten, wandten sich die Menschen von diesem Tempel ab. Doch ihre Suche hatte nicht geendet. Sie hatten sich bloß in die Arme eines anderen Kultes geworfen, der Antworten versprach und doch keinen dauerhaften Seelenfrieden zu stiften vermochte.

Nikarions nach oben gerichteter Blick reichte bis in die Unendlichkeit. Er wusste, dass hinter den Grenzen, bis zu denen seine Augen zu sehen vermochten, die Welt noch nicht zu Ende war. Und doch fand er nichts zwischen den Sternen. Das Universum war kalt und leer, trotz der vielen Masse und Materie war kein Weltgeist zu entdecken, war keine höhere Form von Existenz zu finden. Wohin Nikarion auch seinen Blick wendete, nirgends fand er einen Weg zum dauerhaften Seelenfrieden. Nach jeder neuen Erkenntnis, nach jedem als Weg zur Wahrheit verkündeten Geheimnis, den er gegangen war, war die Freude und die innere Ruhe nach einer Zeit wieder abgeklungen und hatte dem Verlangen nach mehr Wissen Platz gemacht.

Sein Herz fand keine Ruhe, und der alte Ruf verstummte nicht: „Das, was du für die Wahrheit hältst, ist nicht die Wahrheit. Du hast Zweifel. Suche weiter!“

Nikarion blickte zwischen die Sterne und fand nichts. Er hatte die Wissenschaften dieser Welt studiert und die Leidenschaften dieser Welt gekostet, doch nirgends war das Licht zu finden gewesen, das sein Leben und das Leben aller anderen erhellt hätte. Der Glauben hatte ihm keine Zuflucht geboten, in der Liebe hatte er keinen endgültigen Trost und im Hass keinen ewigen Antrieb gefunden.

Die Dunkelheit und die Tiefe seines Herzens waren unergründlich geblieben. Die Welt war ihm unverständlich. Er wollte wissen, was jenseits des Schleiers des Ungewissen liegen mochte, was in den Herzen der Menschen wohnte und was der Urgrund allen Seins war. Wer hatte sie hinausgeschleudert in diese Welt? Was war es, das den Menschen durch die Jahrzehnte eines Lebens antrieb und schon den ersten ihrer Spezies zur Tat gedrängt hatte? Er wollte wissen, woher sie alle kamen und welchen Weg sie in die Zukunft nehmen sollten.

Finster war es in Wahrheit um den Menschengeist. Wie Blinde tasteten sie sich durch eine im Grunde fremde Welt. Das Licht der Erkenntnis fehlte, und kein Prometheus war in Sicht, der es ihnen bringen konnte. Und die, die sich selbst auf die Suche nach Weisheit begaben, setzten ihren Fuß auf einen gefährlichen Weg. An jeder Ecke lauerten die Sirenen in Form von Trugschlüssen, die einen zum Bleiben und zum Stillstehen verführen wollten.

Die Grenzen zwischen Weisheit und Wahnsinn waren oft unscharf. Hoffnung und Zweifel reißen den Menschen entzwei. Damit musste doch endlich Schluss sein!

Nikarion, für seinen Teil, wollte nicht mehr Diener zweier Mächte sein. Hoffnung und Zweifel sollten ihn nicht länger an ihrem Gängelband führen. Sein Innerstes rief ins Universum. Nach Äonen der Stille verlangte Nikarions Herz nach einer Antwort, weshalb das Sein mit Unkenntnis über das Sein einherging.

Da erschien vor ihm eine Gestalt im schwarzen Mantel. Die dunkle Kapuze hatte die Gestalt zurückgeworfen, sodass Nikarion ihr Gesicht sehen konnte.

Obwohl er zwischen all den Ruinen und verfallener Größe stand, inmitten der Finsternis der Nacht, erschrak Nikarion beim plötzlichen Auftauchen der Gestalt nicht.

„Du rufst, ich bin da“, sagte die Gestalt. „Ich bin eine Macht im Universum und bin gleichzeitig aus dir geboren. Du kennst mich, Mensch. Du hast mich gerufen. Ich bin der Zweifel und ich bin die Hoffnung. Beide bin ich, denn Zweifel und Hoffnung sind eins. Ich bin die Hoffnung auf bessere Antworten auf deine Fragen. Und ich bin der Zweifel, ob gefundene Antworten denn nun die bestmöglichen sind.“

Die Gestalt hatte recht, dachte Nikarion im Innersten. Denn ist die Hoffnung nicht auch bloß ein Zweifel an der Welt? Und ist der Zweifel nicht auch bloß eine Hoffnung auf eine bessere Realität?

Auf die Frage, woher er komme, antwortete die Gestalt: „Aus dem Weltganzen bin ich geboren, aber auch aus dir. Ich war immer bei dir. Solange man lebt, hofft und zweifelt man. Wichtig ist nur, sich davon nicht aufhalten zu lassen. Hoffnung ist trostspendend und zugleich trügerisch. Zweifel ist warnend und zugleich zerstörerisch. Wer hofft, der hat auch Zweifel. Wer zweifelt, der hofft. Wer das Eine ohne das Andere tut, der ist dumm. Der Zweifel ist gut, muss ihn annehmen und darauf achten, wo er einen hinführen kann. Nun sage mir, Mensch, warum du mich gerufen hast. Denn du wolltest bestimmt mehr wissen als das.“

Und der Mensch sprach seinen Wunsch aus. „Ich fordere dich dazu auf, die letzten Geheimnisse des Universums preiszugeben.“

Da lachte der Zweifel laut auf. „Lächerlich. Das werde ich niemals tun. Du denkst, du hast mich in deiner Gewalt. Du denkst, nur weil du mich gerufen hast, hast du Macht über mich. Sieh dich um, Mensch! Ich plagte schon die Erbauer dieser alten Stätte des Wissens, die sich vor dem Abgrund des Todes fürchteten und gab ihnen Hoffnung, dass ihr Werk etwas bedeuten könnte. Ich war bei denen, die diesen Tempel aus Unzufriedenheit zerstörten, denn sie hatten Zweifel an seiner Macht und setzten ihre Hoffnungen in einen anderen Glauben. Du willst mir also befehlen? Du spielst mit höheren Mächten, als du auch nur ahnst, Mensch.“

Da wurde Nikarion mutig. Was hatte er denn zu verlieren? Ohne Wissen war ihm sein Leben ohnehin nichts wert. Der Gedanke an den alles auslöschenden Tod packte sein Herz mit Furcht. Das Wissen um die Zeit des Universums, die langsam aber sicher abläuft, ließ ihn einen nie geahnten Terror verspüren. Er musste wissen, ob die Existenz einen Sinn hatte. Ob etwas blieb von alledem. Darum verlangte er ohne Scheu von dieser Urmacht, diesem steten Begleiter des Menschen und seines Denkens: „Ich muss wissen, ob das Leben eine lohnende Sache ist und nicht bloß ein grausamer Scherz.“

Der Zweifel musterte Nikarion und schien für eine Weile dessen Herz zu wiegen. Nikarions Herz schlug wild. Hier war er, in Gegenwart des leibhaftigen Zweifels. Zwar war es auch die leibhaftige Hoffnung, doch er konnte nicht anders, als in dieser finsteren Gestalt bloß den Zweifel zu sehen.

Schließlich nickte der Zweifel.

„Ich bewundere deine Hartnäckigkeit“, sagte er. „Sieh her, ich bin, was ich bin. Ich bin ganz von meinem Sein durchdrungen, darum kann ich nicht anders, als selbst Hoffnung und Zweifel zu empfinden. Ich säe sie nicht nur, ich verspüre sie selbst. Und du weckst Hoffnung in mir, Mensch. Hoffnung auf etwas Größeres, auf etwas Besseres. Du möchtest zu einem Prometheus für das Menschenvolk werden? Ich will dir helfen.“

Zwar war die Antwort positiv ausgefallen, doch Nikarion musste einfach fragen: „Warum willst du mir freiwillig helfen? War es bisher nicht deine Aufgabe, die Wahrheit zu verschleiern und alle Geheimnisse zu bewahren?“

„Überhaupt nicht!“ Der Zweifel schüttelte wild den Kopf. „Warum sollte ich das wollen? Ich leite an und führe, gehen muss man aber selbst. Wenn man mich missversteht und sich von den Sirenen an Felsklippen locken lässt, welche Schuld trifft mich dann?“

Das verstand Nikarion. Noch einmal sah er sich um, sah die verfallenen Ruinen und spürte die Hoffnung und den Zweifel aller Menschen, die einst an diesen Ort getrieben worden waren. Es waren auch seine Hoffnungen und seine Zweifel. Aus welchem Grund gab es diese Empfindungen? Aus welchem Grund gab es die Sterne, das Leben, das Denken, die Hoffnung und den Zweifel? Aus welchem Grund war alles ein großes Geheimnis?

„Ich will den Sinn kennen!“, verlangte Nikarion. „Den Sinn von alldem. Ich will das geheime Wissen entdecken und der Welt endlich offenbaren. Verrate mir alles! Erleuchte mich. Verhilf mir zu Erkenntnis, auf dass ich sie mit allen Menschen teilen kann.“

„Ich kann dir nicht geben, wonach du verlangst“, sagte der Zweifel. „Ich will dir zwar helfen, doch auf dem Silbertablett kann ich dir die Antworten nicht präsentieren. Ich kann dich aber auf auf eine Reise schicken, die vielleicht das Verlangen in deinem Herzen stillen kann. Versteh doch: Ich kann dich nur begleiten, dir aber nichts verraten. Ich kann dir bloß die Welt zeigen, dir aber nichts über sie sagen. Denn die Wahrheit liegt jenseits von Zweifel und Hoffnung.“

Der Zweifel trat auf Nikarion zu und sah ihm tief in die Augen. Nikarion konnte den Blick nicht von diesen tiefen Augen abwenden, in denen Wissen und Trauer, Weisheit und Güte standen. Der Zweifel würde ihn nicht anlügen, das wusste Nikarion instinktiv. Dies waren ehrliche und wache Augen.

„Bei dir, Mensch, beginnt die Reise zur Wahrheit. Selbsterkenntnis heißt das Zauberwort. Anfangs ein schmerzhafter Prozess, zugegeben, doch nach und nach wirst du Kraft daraus gewinnen. Doch erkenne dich nicht nur selbst, erkenne dich selbst auch in den Anderen! Du bist genau wie sie und sie sind genau wie du. Sie alle suchen. Und sie alle finden etwas.“

„Ich will nicht irgendetwas finden!“, begehrte Nikarion auf. „Ich will das Absolute finden.“

Er war bereit, bis an den Rand von Allem vorstoßen. Er wollte die Grenzen des Universums sehen, er wollte Weisheit. Er wollte wissen, was für ein Sinn hinter der Welt steckte.

„Gut“, sagte der Zweifel. „Schwöre mir, dass du dich nicht verlieren wirst in Fehlschlüssen. Schwöre mir, dass du dich nicht auf die erstbeste Wahrheit stürzt und danach das Suchen aufgibst. Schwöre mir, dass dein Geist offen bleibt für Antworten – und für Zweifel.“ Nikarion schwor es. „Gut. Solltest du diesen Schwur je brechen, werde ich dich verlassen. Denn dann ist dein Unternehmen gescheitert. Rufe dir den alten delphischen Spruch an Apolls Tempel in Erinnerung: Erkenne dich selbst. Dieser Spruch wird zweifach gedeutet. Er gemahnt dich einerseits an deine Grenzen und kann dir Demut beibringen. Andererseits fordert er dich auf, dir deiner Göttlichkeit bewusst zu werden; dein Geist ist unsterblich, Mensch, und dein Körper ein bloßes Werkzeug. Für welche Deutung entscheidest du dich?“

„Wir werden sehen“, sagte Nikarion.

„Vertrau mir nur und lass mich dich führen. Jeder Zweifel ist angebracht, keine Kritik ist ohne Sinn. Vergiss das nie. Ich kann die Menschheit vielleicht nicht ans Ziel bringen, doch ich kann sie eine Stufe auf der Treppe, die zur Weisheit führt, weiter hinaufführen. Alles, was ich für meine Dienste verlange, ist dies, Mensch: Dass du die Wahrheit annimmst und dass du den Sinn erkennst. Man sollte immer auf die leiseste Stimme hören, denn die Wahrheit braucht nicht laut zu sein. Die lauten Stimmen versuchen bloß durch ihr Geschrei die Lüge zu verkaufen. Es gibt so viele Menschen, die sich in den Wirren des Geistes verlaufen. Sie finden keine Antwort und meinen, es gibt keine Antwort. Als dann, Mensch. Verlasse nun deine Welt und komm mit mir. Lass mich dich führen durch eine Welt, an der du verzweifeln magst und die dir doch Hoffnung bietet. Wollen wir sehen, ob die Weisen dieser Welt dir die Antworten bieten können, nach denen du verlangst. Lass uns bei den Religionen beginnen. Die Menschen beantworten die letzte aller Fragen stets mit Gott. Er ist verantwortlich, also kann Er Antwort geben.“

Zu ihm hatte Gott noch nicht gesprochen, überlegte Nikarion. Er kannte auch keinen, der das von sich behaupten könnte. Und dennoch sprachen die Menschen von ihm. In seinem Herzen regte sich eine alte Hoffnung. Er wollte die Sicherheit, zu wissen, dass es einen Gott gab. Er wollte sicher sein, dass da eine Macht war, die auf sie alle Acht gab und die ihrer Existenz einen Sinn und einen Rahmen gab. Oder er wollte sich der harten Erkenntnis stellen, dass alles nur Lug und Trug war und er sich ruhig von solchen Gedanken lösen konnte.

„Sei nur offen für jede Art von Antworten“, sagte der Zweifel. „Komm, wir besuchen einen Mann des Glaubens.“

Der Zweifel

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