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Der Pfarrer

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Nikarion trat mit seiner Hoffnung und seinen Zweifeln durch das hohe Kirchenportal. Das Gebäude war riesig und mächtig, die hohe Decke verlor sich über ihm in der Dunkelheit. Die Kirche war düster wie alle Kirchen, düster wie der Geist. In ihrer Bestimmung war sie aber ein Bau der Hoffnung und der Zuversicht, ein leuchtendes Fanal in der Düsternis der Welt; so wie auch die allumfassenden Bestrebungen des Geistes und des Verstandes ein Licht in die Dunkelheit des Unwissens werfen, zwar bloß wie eine Kerze in tiefster Nacht, doch das Licht wird weithin gesehen. Es wird gesehen und leuchtet denen, die sich in der Welt, der wahren sowie der des Geistes, zurecht finden müssen.

Inmitten dieser düsteren Kirche schritt nun eine Figur erhaben durch die Reihen der leeren Sitzbänke. Mit erhobenem Haupt, die lange, schwarze Priesterrobe berührte fast den Boden, schritt der Pfarrer aufrecht und unaufhaltsam durch seine Welt. Sein Herz war zwar ebenfalls von Zweifeln angenagt, doch gleichzeitig war er fest im Glauben verwurzelt. Er kämpfte unaufhaltsam für das Gute und das in seinen Augen Wahre. Dies war ein Mann, der an seine Stellung im Universum glaubte. Der Pfarrer bemerkte den Neuankömmling in seiner Kirche – der Zweifel war ihm unsichtbar – und kam auf Nikarion zu. Der Sucher konnte in den Augen des Pfarrers deutlich den guten Willen erkennen.

„Was führt dich in einer Nacht wie dieser zu mir?“, erkundigte sich der Pfarrer. Er war bereit, jeder hilfesuchenden Seele beizustehen, bei Tag und bei Nacht. Darum überraschte es ihn nicht, als Nikarion antwortete: „Erkenntnis suche ich.“ Denn auch dieses Begehren führte etliche in seine Kirche und zu ihm.

„Also suchst du nach Gott“, sagte der Pfarrer.

„Ich denke schon, ja“, antwortete Nikarion. „Wenn es ihn gibt, dann muss ich ihn finden. Es ist meine einzige Chance, den Halt in der Welt wieder zu erlangen. Könnte ich den Glauben an Gott zurückgewinnen, den ich einst als Kind besaß, so würde ich nicht weiter suchen wollen. Ich hätte meinen Halt in der Welt gefunden, nichts könnte mich mehr davon abbringen. Allein blind glauben kann ich nicht mehr. Mögen die heiligen Worte auch wahr sein und alles darum Wirkende. Ich will nicht mehr vertröstet werden, nicht mehr zum bloßen Glauben gezwungen sein. Meine Geduld ist überspannt, mein Glauben in sich zusammengefallen. Ich muss Sicherheit erlangen. Welcher Natur ist Gott, was bedeutet das alles, wo liegt der Sinn? Ich muss diese Dinge wissen, kann sie nicht länger glauben. Gewissheit, Wissen, Sicherheit. Das begehrt meine aufgekratzte Seele, nicht weniger.“

Der Pfarrer setzte sich in eine der Sitzbänke und machte eine einladende Geste, dass sich Nikarion doch zu ihm setzen solle. Der Sucher kam der Einladung nach und nahm neben dem Pfarrer Platz. Der Zweifel setzte sich neben seinen Schützling.

Der Pfarrer strich sich nachdenklich übers Kinn und sagte dann: „Ein hohes Begehr führt sie da, die aufgekratzte Seele. Sei aber versichert, auch gänzlich zerschundene Seelen, Abgrundseher und verdunkelte Geister, sie alle finden noch Trost beim Herrn. Der Glaube ist stark, manchmal noch stärker als Wissen. Diese Macht, die da über uns wacht, ist die Allmacht. Und sie liebt uns.“

Doch welcher Natur war diese Liebe? Man nannte den liebenden Gott „Herr“, als ob er willkürlich mit den Menschen umgehen könne; der Herr und seine Diener, seine Sklaven, sein Spielzeug. So begriff man ihn gemeinhin, den Herrn: als jemanden, der Macht und der dadurch denen, über die er Macht hat, Sicherheit gewähren muss. Doch auch konnte er, ohne sich vor seinen Untertanen verantworten zu müssen, aus einer Laune heraus jemanden ins Verderben stürzen.

Der Pfarrer schien Nikarions Bedenken zu bemerken. „Gott geht den Menschen als Führer voran, er hält keine Peitsche, um uns anzutreiben. In Händen hält er lediglich die Liebe und das Wissen darum, was wir tun sollen.“

„Doch was ist mit jene, die ihm nicht folgen?“, fragte Nikarion. „Lässt der Allmächtige seine Schöpfung dann in Unliebe und Sinnlosigkeit rennen? Belohnt er nur jene, die brav und ohne zu murren folgen? Diesen Gott will ich nicht haben, nein.“

Da verengten sich die gütigen Augen des Pfarrers und sahen den Besucher misstrauisch an. „Wie willst du ihn denn haben? Du kannst dir deinen Gott nicht selber machen.“

„Das ist vielleicht die schlimmste Sünde der Religion“, sagte Nikarion nachdenklich, „dass sie das Wesen Gottes vorschreibt.“

Da fuhr der Pfarrer auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „In Zuneigung und Freundschaft habe ich dich in meiner Kirche empfangen. Mit Frevel lasse ich es mir aber bestimmt nicht danken. Sag ein Wort der Entschuldigung, wenn es dich denn reut. Und dann hinaus mit dir!“

Nikarion erschrak über die harsche Reaktion des Pfarrers. Und doch verstand er sie. Er war nur blind gewesen für die Gefühle seines Gegenübers weil er nur an sich und sein Leid gedacht hatte. Dabei hatte er um nichts in der Welt einen anderen kränken wollen!

Nikarion beschloss, dass dieser Fehler ihm nicht noch einmal geschehen sollte. „Von Herzen tut es mir Leid, will ich doch niemanden kränken. Ich bin doch nur auf der Suche nach dem Wesen Gottes. Ich will einen Eindruck seiner viel gerühmten Herrlichkeit erhalten. Und ich will seine Sicherheit genießen. Mehr verlange ich doch nicht.“

Diese Worte ließen die Wut des Pfarrers wohl verrauchen, denn er setzte sich wieder neben Nikarion und sammelte sich. „Deine Seele ist mehr als nur aufgekratzt. Scheinbar habe ich mich in dir geirrt. Ich glaube dir, dass du mich und den Heiland nicht verletzen wolltest. Zum Glück haben mich deine Worte davor bewahrt, selbst einen Fehler zu begehen. Gewiss hätte ich dich in der ersten unkontrollierten Gefühlswallung vor die Tür gesetzt und es hernach bereut. Doch bin auch ich nur ein Mensch, der sich selbst nur in großem Abstand dem Weg des Heiligen nachschleppt.“

Nikarion sagte: „Es gebührt dir viel Respekt, dass du es wenigstens versuchst. Viele schleppen sich nicht einmal nach, sie stehen nur am Wegesrand und sehen zu, wie sich andere abmühen.“

„Und wenn dann einer strauchelt, beklagen sie seine schlechte Kondition. Glaube mir, mein von Gott Gesandter Wanderer, ich kenne diese Welt und die Menschen in ihr.“

„Ein großes Repertoire an Weisheit bietet das, möchte ich wetten“, meinte Nikarion.

„Durchaus, durchaus“, gestand der Pfarrer. „Allein, nie kam ein Heiliger zu mir, immer begegne ich nur Sündern wie mir – und noch Schlechteren. Meine Weisheit erschöpft sich also in Einseitigkeiten, denke ich.“

Nun mussten sie beide herzhaft lachen.

„So bin ich also im erbauten Haus Gottes, in Anwesenheit eines Vertreters der Heiligen Kirche, nicht viel näher an der Weisheit oder Heiligkeit dran, als manch anderer Mensch“, sagte Nikarion dann.“

Der Pfarrer nickte stumm. Diese Gedanken waren ihm nicht fremd. Was Gott wohl dazu bewogen hatte, die Welt gerade so zu erschaffen? Hätte er eine Antwort darauf, müsste er nicht glauben.

„Warum ist die Religion nur so stark in der Welt, wenn sie keine endgültigen Antworten bieten kann und bloß auf Glauben basiert?“, fragte Nikarion.

„Diese Frage ist leicht zu beantworten“, sagte der Pfarrer. „Denn bedenke nur, dass es Gründe für die religiösen Lehren geben muss. Grundlos und ohne Sinn sind sie nicht entstanden, das glaube mir nur ruhig. Es ist schon gut so, dass der Umgang miteinander geregelt ist. Die Gedanken, dass Sex erst in einer festen Bindung zu einer schönen Sache wird, oder dass man alles nur in Maßen genießen soll, ergeben schon Sinn. Die Religion vertritt Bräuche und setzt einen Verhaltenskodex fest, wie Menschen miteinander umgehen sollen. Es ist wunderbar zu sehen, dass sich die Menschen ihren Halt in der Welt selbst schaffen konnten und immer noch können.“

Nikarion sah überrascht auf. „Die Menschen sich selbst? Sagt ein Pfarrer da gerade, dass Gott keinen Einfluss auf die Religionen hatte?“

Da lachte der Pfarrer wieder und seine Augen blitzten. „Trotz allem Glauben ist manchen religiösen Worten mit einem kritischen Geist zu begegnen. Viel wurde aus den jeweiligen Umständen der Zeit geprägt und die heiligen Schriften gingen durch viele Hände. Unweigerlich wurde das eine oder das andere hinzugefügt, wenn es gerade passend war. Religionen waren eben seit jeher das Bindemittel, das eine Gemeinschaft zu einer solchen macht und sie auch zusammenhält. Innerhalb dieser Gemeinschaften funktionieren Religionen auch wunderbar. Erst, wenn sich viel Zeug darum herum bildet und an diesem so gehangen wird, dass man nicht mehr davon lassen möchte, gibt es Probleme. Und zwar besonders dann, wenn man auf andere trifft, die zwar andere Meinungen haben, die aber ebenso festgefahren sind wie die eigenen. Dann kommt man auf keinen grünen Zweig mehr und die Waffen fechten für eine Missgeburt von Frieden. In diesem gibt es dann einen Sieger und einen Besiegten, ein funktionierendes Gleichgewicht kommt dabei nur schwerlich auf. Ich meine, dass die Botschaft alleine zählt und die Umsetzung ebendieser nicht unumstößlich festgesetzt werden kann. Man darf sich nicht an Details aufhängen. Darum halte ich auch die Kirche für die beste religiöse Institution, die es gibt. Denn, trotz aller Schatten der Vergangenheit, sie ist bereit, sich zu ändern und eben nicht den Fehler zu begehen, in alten Mustern gefesselt zu bleiben. Sie öffnet sich und gibt den Glauben aus der Geiselhaft frei.“

„Was bedeutet das?“, fragte Nikarion.

„Das bedeutet“, sagte der Pfarrer, „ dass sie nicht länger so starr darauf beharrt, den einzigen Heilszugang zu haben. Sie verbreitet nicht länger den Irrtum, dass nur der, der brav der Kirche folgt, das Himmelsreich erlangen kann. Das ist ein weiser und durchaus nötiger Schritt gewesen. Dennoch hat die Kirche als Institution keinen allzu guten Ruf zur Zeit. Denn ganz so, wie ich es sage, ist es doch nicht. Zwar hat sich die Kirche geändert; ein Kunststück, das viel mehr Religionen bewerkstelligen sollten. Aber die Verantwortlichen sind zu einem Gutteil noch immer in ihrer Gedankenwelt verhaftet, während sich die richtige Welt noch mehr geändert hat. Aber bedenke: Die Kirche muss auch noch immer einen Halt in der Welt schaffen für diejenigen, denen sie damit helfen kann. Eine sich ständig ändernde und sich neu erfindende Sache unterliegt allzu bald dem Niedergang. Darum ist es oft gut, standhaft zu bleiben und das auch zu demonstrieren. Einen Anteil an den Weltgeschehnissen hat die Kirche als Institution doch ohnehin nicht mehr. Der Glaube, der sich so oft vom Verstand separiert, hat die Politik zum Glück verlassen. Und darum haben wir uns wieder auf das konzentrieren können, was wichtig ist: auf den Menschen und die Seelsorge. So kann man sagen, dass die Kirche doch sehr flexibel ist. Ihren Möglichkeiten entsprechend.“

Neben Nikarion räusperte sich der Zweifel lautstark und flüsterte, unhörbar für den Pfarrer: „Gäbe es eine aufstrebende, vor Waffen starrende Kirchenmacht, würde das wichtigste Ziel zweifellos lauten: das Reich Gottes aufzurichten und jeden Teufel mit Gewalt auszutilgen.“

Nikarion reichte die Worte des Zweifels an den Pfarrer weiter: „Sag, findet man es in der Kirche traurig, die alte Macht verloren zu haben?“

Der Pfarrer schnaubte. „Wer wünscht sich nicht mehr Macht oder erinnert sich gerne an längst vergangene, machtvolle Tage? Nur leider muss man auch nach schönen Träumen einmal aufwachen. Die Kirche war nie von sich aus mächtig, allein der Glaube kann die Gemüter bewegen. Als die Menschen noch an die Kirche glaubten und sie und den Glauben nicht voneinander trennen konnten, da war es den damaligen Kirchenoberen auch möglich, in die Gesellschaft einzugreifen und sie zu beeinflussen. Und da liegt die wahre Macht, denn die Religion hat nie das selbe Machtpotential, das eine Gesellschaft hat. Die Religion beeinflusst aber eine Gesellschaft in einem großen Ausmaß. Ist es eine friedliche Religion, so sind die Menschen gemeinhin friedlich. Ist es eine kriegerische Religion, wird sie den Weg aller Schwertmänner gehen. Wenn man also eine Religion beherrscht und es schafft, mit den möglichen Auslegungen eben dieser zu spielen, die zwangsläufig vorhanden sind, so hat man große Macht. Und wenn man es damit schafft, auch noch die Gesellschaft, also das weit größere Machtpotential, zu beherrschen, dann kommt man einem Gott sehr nahe. Religion ist ein Machtfaktor, das stimmt schon. Und es offenbart sich das alte Problem der Existenz: Alles ist nützlich; alles ist schädlich. Ob die Welt ohne Götter besser wäre, fragst du mich? Ganz bestimmt nicht. Denn auch ohne den Missbrauch der Götter kommt es zu Hybris. Irgendjemand verlangt zu viel und einem anderen gefällt das nicht. So kommt es zum Verfall der Schöpfung.“

Nikarion sah das Dilemma. Denn hätten auch alle Menschen die selbe Religion und die selbe Nationalität, es würde trotzdem Streit, Hass und Krieg geben. Es lag den Menschen im Blut, sie waren als Leidbringer und Leidtragende geschaffen. Das war das Vermächtnis der Evolution, des Weges also, der sie dahin gebracht hatte, wo sie heute standen. Keine Trauer sollte aber darin liegen, denn aus dieser Richtung kamen sie nun mal und sie würden diesem Weg auch weiterhin folgen.

Der Zweifel las seine Gedanken und fügte hinzu: „Und dadurch könnt ihr heute danach trachten, auch noch die letzten Makel, die letzten Schmutzreste eurer Erhebung aus dem Staub in den Kreis der mächtigen Wesen, loszuwerden. Keine Trauer sollte darin liegen, gelernt und erkannt zu haben. So schwer und brutal es auch gewesen sein mag.“

Das waren tröstende Worte, fand Nikarion.

Der Pfarrer seinerseits verfolgte seine eigenen Gedanken weiter. „Es muss ein guter Gott sein, der uns geschaffen hat. denn sonst hätte er es eben nicht getan. Ein Gott der Veränderung und des Fortschritts ist es, kein Gott des Stillstands. Viele hängen ja an den alten Tagen und sehnen sich nach vergangenen Zeiten. Ich sage aber: wären die alten Tage und Zeiten perfekt gewesen, hätte sich nichts geändert. Kein Mensch hätte es je für nötig befunden, seine Welt zu ändern. Und darin spiegelt sich die Macht des Schöpfers. Erhaben!“

„Ist es einem Pfarrer denn gestattet, Gott mit Menschen zu vergleichen?“, fragte Nikarion.

„Soll man Gott etwa nicht nach menschlichen Standard zu begreifen suchen?“, lachte der Pfarrer freundlich. „Mit welchen Standards denn sonst? Wenn er uns ein viel größeres Verständnis vorenthielte, uns also zu dumm gemacht hätte, um ihn zu begreifen, dann entspricht er nicht meinem Bild von Gott. Denn ich will nicht an eine Kraft glauben, die uns dumm erschaffen hat. Nein, so einem würde ich jede Dankbarkeit und jeden Dienst versagen.“

Nikarion war überrascht von der Offenheit des Mannes. „Solltest du nicht vorsichtig sein? Vielleicht ist ja alles ganz anders? Dann wärst du am Tag des Jüngsten Gerichts ziemlich angeschmiert. Und manche glauben ja, dass uns dieser Tag kurz bevor steht.“

Da machte der Pfarrer eine wegwerfende Handbewegung. „Die Menschen glaubten sich schon immer kurz vor der Apokalypse und kurz vor dem Weltende. Doch so bald wird es nicht eintreten, falls überhaupt.“

Dabei brauchte alles einen Abschluss, eine Grenze. Warum dann nicht auch die Welt? Aber vielleicht endete ja gar nichts je wirklich. Vielleicht änderte sich einfach alles. Ein alter Zustand endete und ein neuer begann.

„Warum nur kann man keine endgültigen Antworten auf die großen Fragen erhalten?“, fragte Nikarion seufzend.

„Schon wieder eine der großen Fragen“, antwortete der Pfarrer. „Vielleicht hilft es einfach, zu beten. Gebete helfen dabei, die Gedanken zu ordnen und sie auf ein Ziel zu richten. Dein Geist sammelt sich wieder und fügt sich stark zusammen. Leider ist nicht alles so einfach. Sehen wir es doch so, wie es tatsächlich ist: Die Kirche spiegelt nicht getreu das Himmelsreich, kann sie auch gar nicht; und das Verhalten der Angehörigen der Kirche kann auch nicht die Kirche an sich widerspiegeln. Das Schlechte hat also nichts mit der Kirche zu tun und mit dem, wofür sie eigentlich steht. Vielmehr zeigt es doch nur, dass wir noch weit davon entfernt sind, das Heil auf Erden zu finden und darum solche Institutionen brauchen.“

So ähnlich sah Nikarion das auch. „Und trotz allem, trotz aller gerechtfertigter und durchaus auch ungerechtfertigter Kritik, sehe ich die Kirche immer noch als etwas Reines an.“

„Diese Worte tun gut“, sagte der Pfarrer.

Beide wussten, dass eine Meinung nie für alle gelten konnte. Hat doch unweigerlich jeder, da er anders steht und daher eine andere Sicht auf die Dinge hat als sein Nebenmann, eine eigene, andere Meinung.

„Ich halte dich für einen Denker“, sagte der Pfarrer zu Nikarion. „Bei aller vorgegebenen Zerschundenheit deines Geistes, er erblickt mehr als so mancher vorgeblich vollkommen gesunder. Lass mich dir aber noch einen Rat geben: Wenn du dich auf ewig in den Schatten bewegst und darin deinen Geist nach Antworten suchen lässt, wird deine Seele nie geheilt werden können. Komm da raus und wandle wieder im Licht.“

„Eben das kann ich nicht“, seufzte Nikarion. „Es wäre eine totale Selbstaufgabe und der Verrat meiner ganzen Suche, würde ich ohne Antworten ins Licht der Welt zurückkehren und so weiter machen wie bisher. Ich habe damit angefangen, die Türen aufzustoßen und nach Antworten zu suchen. Ich kann damit einfach nicht mehr aufhören, es hat alles eine Eigendynamik entwickelt. Ich bin zwar noch blind, doch habe ich den Stier bereits bei den Hörnern gepackt, das schwöre ich. Wenn ich jetzt loslasse, habe ich verloren. Viel eher zeigt die Dunkelheit mir doch, dass ich mich bereits außerhalb der mir vertrauten Welt befinde und nun neue Pfade beschreite. Und so kann ich mich vielleicht von der anderen Seite her dem Licht nähern, um so seine wahre Natur zu erfahren. Um endlich zu erfahren, was Licht und Schatten eigentlich bedeuten.“

Von der Seite zischte der Zweifel: „Oder du entfernst dich immer mehr von allem und wirst irgendwann in Lichtlosigkeit erstarren. Oder, schlimmer, du suchst dir nach einer Zeit einfach das nächstbeste Wissen und hältst es selbsttrügerisch für die größte Weisheit. In beiden Fällen wäre deine Suche kläglich gescheitert, wie schon die Suche von so vielen anderen.“

„Sag“, wandte sich Nikarion wieder an den Pfarrer, „hältst du es für möglich, dass Menschen einen falschen Weg einschlagen können und sich dadurch immer weiter vom Heil entfernen? Bis sie so weit entfernt sind, dass eine Umkehr unmöglich ist?“

Eine Weile überlegte der Pfarrer, dann sagte er dieses: „Wenn du es für möglich hältst, dass andere Menschen ihr Leben falsch leben können, dann ist es ebenso möglich, dass nicht sie falsch leben sondern du. Nur wenn man jedes Leben als ein richtig geführtes ansieht, kann man auch selbst sicher sein, richtig zu leben.“

„So folgen also alle Leben einem Weg und niemand geht abseits.“

„So hoffe ich zumindest“, gestand der Mann Gottes, „denn Genauigkeiten und klare Antworten wirst du auf der Suche nach dem Göttlichen und den Dingen, die hinter der Welt walten, nicht finden.“

Und doch musste es möglich sein, dachte Nikarion. Laut sagte er: „Trotzdem hast du mir bereits gut geholfen und mir viel gezeigt. Dafür bin ich dir dankbar. Ich werde meine Suche nun fortsetzen.“

Sie erhoben sich und traten wieder hinaus auf den Gang zwischen den Kirchenbänken. Der Pfarrer hielt ihm zum Abschied die Hand hin, die Nikarion dankbar schüttelte.

„Möge Gott immer mit dir sein, Mensch“, wünschte ihm der Pfarrer.

Nikarion bedankte sich für die Weisheit des Pfarrers, durchschritt erneut den langen, in Schatten getauchten Mittelgang und verließ die Kirche durch die mächtige Pforte.

„Auf zum Nächsten“, sagte der Zweifel an seiner Seite und gemeinsam reisten sie noch in der selben Nacht an einen anderen Ort.

Der Zweifel

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