Читать книгу Zikaden singen nicht - Leo Frank-Maier - Страница 6

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221030 B

Rabov an zentrale

Geraet radmet eingetroffen. – leiter tech befuerchtet nebenerscheinungen bei erprobung. – radmet beeinflusst eventuell lokale insekten. – sendet umgehend letzte erkenntnisse ueber singzikaden. – cicada plebeja scop. – insbesondere verhaltensaenderung bei magnetron einfluss. –

Ende. –

233015 B

Zentrale an rabov

Hier keine erkenntnisse ueber verhaltensaenderung von zikaden bei einfluss magnetron. – erprobung aufschieben bis eintreffen spezieller genehmigung. –

Ende. –

Major Robert D. Parker von den »Princess Patricias Royal Husars« sah auf seinen Terminkalender und seufzte. Ob er es wollte oder nicht, es war bereits der 3. Dezember, und spätestens am 23. hatte er sein Kommando im Verteidigungsministerium zu übergeben. Und bis dorthin mußten die Akten aufgearbeitet sein. Der Papierkrieg war ihm schon immer ein Greuel gewesen, aber so schlimm hatte er es sich doch nicht vorgestellt, damals vor drei Jahren, als er in die Abteilung kam. Er war gerade zum Major befördert worden, und die Einberufung ins Ministerium war sehr ehrenvoll für ihn. Als Truppenoffizier war für ihn die Einberufung in den Stab ein Lebensziel gewesen, aber nun, ehrlich gesagt, war er froh, daß er sich wieder davonmachen konnte.

Seine erste Enttäuschung damals war gewesen, daß er in eine Abteilung der Mitteleuropäischen Sektion versetzt wurde, obwohl er in seinem Gesuch seine arabischen und türkischen Sprachkenntnisse sehr wohl einzufügen gewußt hatte. Er entstammte einer alten britischen Offiziersfamilie und war in den ehemaligen Garnisonen von Kairo und Limassol groß geworden. Als er im 2. Weltkrieg zu den P. P. Royal Husars kam, diente er als Leutnant in Nordafrika, und auch nach dem Krieg bis 1947 war sein Regiment in Palästina stationiert. Der Mittlere Osten war ihm also wohlvertraut, fast eine zweite Heimat, konnte man sagen. Welcher Idiot ihn dann also in die Sektion Mitteleuropa gesteckt hatte, war für ihn unergründlich. Ebenso die Motive hierfür. Wenn es überhaupt Motive dafür gegeben hatte! Vielleicht besetzte irgendein vertrottelter Oberst in der Personalabteilung die Posten nach den Anfangsbuchstaben der Namen oder nach der Schuhgröße oder Kragenweite, Details, die ja auch alle im Personalakt vermerkt waren. Etwas anderes konnte sich Major Parker nicht vorstellen. Aber nach so vielen Dienstjahren in der Armee hatte man sich das Wundern längst abgewöhnt.

Robert »Bob« Parker stapelte die Akten auf seinem Schreibtisch sorgfältig aufeinander, es wurde ein ansehnlicher Aktenstoß daraus. Dann lehnte er sich zurück und betrachtete den Papierberg verächtlich. Bis zum 23. mußte er das Zeug los sein, und man konnte es schließlich nicht fressen. Harte Tage standen ihm also noch bevor.

Es klopfte an der Tür. Eine Ordonanz kam herein, Sergeant Smith, er brachte in einer Kuriermappe neues Papier, neue Akten, aber nichts Schlimmes, wie Major Parker mit einem Blick feststellen konnte. Er bestätigte die Übernahme auf einem Protokoll. Es waren nur interne Mitteilungen und Zirkulare, der übliche Bürokram, das man »nach Kenntnisnahme und Fertigung« wieder weiterleiten konnte. Dicke Schwarten über politische und militärische Vorgänge, Studien, technische Mitteilungen und solches Zeug mehr.

Er würde es nicht mehr lesen! Ganz sicher würde er diesen Mist nicht mehr lesen, nur unterschreiben und weiterleiten. Schließlich interessierten ihn die Vorgänge in Mitteleuropa nicht mehr sonderlich, sein Job hier war ja schon so gut wie beendet.

Während Sergeant Smith absalutierte, erhellte sich das Gesicht des Majors. Aha, einmal etwas Erfreuliches in der Dienstpost. Seine Versetzungs- und Marschpapiere. Er studierte sie sorfgältig: Dienstantritt am 3. Januar 1968 in den Head Quarters der 24. Light Infantry Batallions, Standort »Camp Kitchener« bei Limassol, Zypern. Weitere Verwendung nach Verfügung des Commanders Britcon. Da stand noch etwas in Klammern: Der Neuzugeteilte hat mit einer Verwendung als Ops Info im UN HQ Nicosia zu rechnen. Aha, das war wichtig. Ops Info, das war der Informationsoffizier im Stab des Hauptquartiers der Vereinten Nationen. Traditionsgemäß seit 1964 immer ein Britischer Offizier. Und ein Dienstposten für einen Oberstleutnant. Eine gute Nachricht also.

Bob Parker wußte um seine bevorstehende Versetzung seit Wochen, aber hier hatte er es nun schriftlich. Na, Gott sei Dank, das war also geschafft. Er las noch die Transportbestimmungen. Ein Scheck war dabei, über 142 Pfund Sterling. Die Art der Reise war ihm überlassen. Das war gut, er konnte also fliegen oder mit einem Schiff fahren. Eine Schiffsreise war billiger, er könnte ein paar Pfund sparen. Er würde gleich ein Reisebüro aufsuchen, hoffentlich ging ein geeignetes Schiff. Mit der Zeit müßte es klappen. Großartig, er würde über die Weihnachtsfeiertage und Neujahr an Bord eines Schiffes sein. Das löste viele Probleme. Großartig war das. Wenn er mit seinen Akten früher fertig werden könnte, war eine Abreise vielleicht schon am 20. möglich. Nicht vielleicht, sicher war das möglich.

Der Aktenstoß schien ihm auf einmal gar nicht mehr so unfreundlich. Ein paar Nächte durcharbeiten, und er würde es schaffen. Major Parker konnte flott arbeiten, wenn es sein mußte.

Bob Parker war Junggeselle. Er hatte einen Horror vor jeder Art von häuslichem Herd, vor Familie und Kindern. Trotz seiner dreiundvierzig Jahre hatte er noch nie das Gefühl gehabt, einen Hausstand gründen zu müssen. Manchmal war er zwar nahe daran gewesen, aber wenn dann nichts daraus wurde, empfand er immer ein glückhaftes Gefühl der Erleichterung. Dieses Gefühl der Erleichterung überkam ihn auch jetzt wieder. Betty würde einsehen müssen, daß gegen einen Versetzungsbefehl der Armee nichts zu machen war. Er würde London verlassen, für ein oder zwei Jahre. Betty war Lehrerin, sie würde ihren Beruf nicht aufgeben wollen. Sie würde also in London bleiben, klar.

Wenn er schon am 20. abdampfte, ersparte er sich dieses lächerliche Getue an den Weihnachtsfeiertagen und am Silvesterabend. Einfach großartig war das. Manchmal hatte die Armee wirklich ein Einsehen mit ihren Kindern.

Er würde noch vor zwölf Uhr ein Reisebüro aufsuchen und gleich fix buchen. Und wenn ein geeignetes Schiff schon am 18. oder 19. ging, auch recht, mit dem Aktenkram würde er schon fertig werden. Am besten, er fing gleich an damit, nur keine Zeit vertrödeln.

Er nahm einen dicken Aktenband mit der Aufschrift: »Uranus«. Er hatte ihn gestern schon studiert. »Uranus« war das Kodewort für Kim Philby. Er suchte den Unterband mit der Aufschrift: »Persönliche Beziehungen in Mitteleuropa«. Dann nahm er den Band »Vienna« heraus und begann zu lesen.

Nach einer Viertelstunde ertönte von draußen ein diskreter Summton, es war Zeit für die Teepause. Mj. Parker würde heute keinen Tee trinken. Der Akteninhalt befriedigte ihn, der Akt war im kurzen Wege zu erledigen. Er nahm einen Erledigungsbogen und schrieb darauf folgenden Vermerk:

1. Kriminaldirektor Dr. Antevic ist nach überprüften Meldungen am 28. November 1967 in Wien nach einem Herzinfarkt gestorben.

2. Kriminalmajor Heller hat weder vor noch nach seiner Versetzung auf unsere Hinweise reagiert. Nach letzten Informationen trinkt er und scheint an staatspolizeilichen Vorgängen völlig desinteressiert.

3. Durch das Ableben des Dr. Antevic erscheint jede weitere hiesige operative Maßnahme gegenstandslos. Daher nichts weiter veranlassen, gegenständlichen Basisakt nach Kenntnis und Zustimmung des Ops. Leiters II einlegen.

Major Parker unterfertigte den Erledigungsbogen, nahm einen Rotstift und schrieb auf den Aktenumschlag in ein vorgezeichnetes Feld »Ops II«. Dann ordnete er den Gesamtakt, legte ein Gummiband darum und warf das Papierbündel in einen Aktenkorb mit der Aufschrift »erledigt«.

Er wollte gerade sein Büro verlassen, als die Sprechanlage surrte und er gebeten wurde, sich sofort beim Leiter der Sektion »Mittlerer Osten« zu melden. Das war außergewöhnlich. Sicher hing es mit seiner Versetzung nach Zypern zusammen. Bob Parker war nicht sehr erfreut darüber. Hoffentlich gab es keine Schwierigkeiten im letzten Moment. Er kannte die Leute von der Middle East Section gar nicht, hatte ja nie mit ihnen zu tun gehabt. Er informierte sich kurz an Hand der Stabsliste. Brigadier Henny war also der Mann, der ihn sehen wollte. Siebenter Stock, Zimmer 101. Bob erinnerte sich. Brigadier Henny war der kleine rundliche Schnauzbart, der bei Parties immer dieselben Witze erzählte.

Bob nahm den Aufzug.

Der Brigadier erwartete ihn schon. Er war sehr freundlich.

»Sie sind also unser neuer Mann in Nicosia, Major Parker.«

Bob war erleichtert. Es war nichts dazwischen gekommen. Der Brigadier erkundigte sich, wann Bob abzureisen gedenke.

»So bald wie möglich, Sir, noch vor den Feiertagen.« Der Brigadier schien erfreut. Er wollte, daß Bob eine kurze Information lesen sollte, gleich hier im Büro, der Brigadier würde ihm nachträglich dazu etwas erklären. Bob studierte ziemlich verständnislos zwei ganz kurze Nachrichten, offenbar Funknachrichten, er las von einem Rabov und einer Zentrale, von einem Projekt Radmet und Magnetron-Einflüssen. Und von Singzikaden, was die ganze Sache für ihn noch unverständlicher machte. Er las die wenigen Zeilen zweimal durch und sah dann den Brigadier ratlos an.

»Verstehe kein Wort, Sir.«

Der Brigadier paffte eine Zigarre.

»Tja, Major«, sagte er dann. »Es handelt sich hier um eine Meldung von unseren russischen Freunden aus Nicosia. Nach Moskau. Und die Antwort darauf. Unsere Boys konnten die Funknachricht vorige Woche dechiffrieren.« Der Brigadier lächelte anerkennend. »Tüchtige Burschen, unsere Signals. Leider ist auch der Klartext für uns ziemlich unverständlich. Jedenfalls erproben die Roten irgend etwas in Zypern. Irgendein technisches Projekt.« Der Brigadier schien unwillig, Technik war offenbar nicht seine starke Seite. Er kaute an seiner Zigarre herum.

»Ich möchte«, sagte er dann, »daß Sie sich den Text genau einprägen.«

Bob nickte.

»Es wird eine ihrer Aufgaben sein, hier Klarheit zu schaffen, Major.«

»Yes, Sir«, sagte Bob.

Eine Pause entstand. Der Brigadier paffte und starrte in eine Ecke. Bob wußte nicht, ob er etwas sagen sollte. »Ich werde mein Bestes versuchen«, meinte er schließlich ein wenig schüchtern.

Der Brigadier nickte gedankenverloren.

»Scheint ziemlich wichtig zu sein«, sagte er dann und erhob sich. Bob stand erleichtert auf.

Der Brigadier schüttelte ihm die Hand. Bob war entlassen.

»Einzelheiten über Rabov erfahren sie in Nicosia. Cleverer Bursche, Oberst im KGB, jetzt zweiter Sekretär an der Botschaft. War früher in Berlin, der alte Gauner.« Der Brigadier schien befriedigt. »Und vergessen Sie nicht die Zikaden, studieren Sie alles über Zikaden«, sagte er noch.

»Yes, Sir.« Bob hatte es eilig hinauszukommen.

Bob war lange genug im Intelligence Service und daran gewöhnt, komische Aufträge zu bekommen. Dieser war so ziemlich einer der dümmsten, soweit er sich erinnern konnte. Zikaden. Was gingen ihn die blöden Viecher an? Er wußte praktisch nichts über Zikaden, außer daß sie im Sommer einen Höllenlärm machen konnten mit ihrem schrillen Gezirpe. Er würde sich ein Buch über Zikaden besorgen, man konnte nie wissen.

Robert D. Parker war ein gutaussehender Mann, dem man den Berufsoffizier eigentlich nicht ansah, dazu trug er das Haar zu lang. Als Junggeselle konnte er es sich leisten, stets nach der Mode gekleidet zu sein, was ihm abfällige Bemerkungen bei seinen Kollegen, aber Bewunderung bei der Damenwelt eintrug. Ihm war letzteres wichtiger. Er war etwa einsfünfundachtzig groß und beneidenswert schlank. Sein Haar hatte einen Schimmer ins Rötliche, wahrscheinlich ein Erbe seiner irischen Großmutter. Bemerkenswert war sein prachtvolles Gebiß, das seinem Gesicht einen anziehenden Ausdruck verlieh, sobald er lächelte oder lachte. Bob wußte das und lächelte ziemlich häufig. Das brachte ihm den Ruf eines freundlichen Menschen ein, und tatsächlich mochten ihn die meisten Menschen gut leiden, abgesehen von ein paar Kollegen, denen es nicht paßte, daß ihre Frauen von ihm schwärmten. Aber auch das hatte sich in den letzten Jahren sehr gemildert. Bob erschien fast überall in Begleitung Betty Walkers und schien sohin als Frauenliebling weitgehend entschärft. Er war ein guter Hockey- und Cricketspieler und konnte die ordinärsten Witze erzählen, ohne daß ihm jemand böse war.

Als er das Reisebüro verließ, lächelte er. Alles schien in Ordnung. Er hatte für den 18. Dezember gebucht und würde eine angenehme Reise haben, erster Klasse auf Sms brigant mit Zwischenlandungen in Gibraltar, Malta und Athen. Er suchte eine Fachbuchandlung auf und fragte nach einem Buch über Zikaden. So etwas gab es tatsächlich, und die Verkäuferin war weniger erstaunt, als Bob angenommen hatte. Bob wunderte sich darüber, wie billig so ein Buch war. Er würde es dem Ministerium gar nicht in Rechnung stellen, schließlich war er kein schäbiger Kleinkrämer.

Alles lief also bestens. Blieb noch die Sache mit Betty. Sein Lächeln erstarb, und er war ein wenig bekümmert. Er überlegte, wie sie es wohl aufnehmen würde. Am besten, er bereitete sie telefonisch vor. In solchen Dingen war Bob feige wie die meisten Männer. Er haßte Tränen und Szenen und ging ihnen am liebsten aus dem Weg.

Nun, auch das würde er hinkriegen. Er dachte an die Reise, und das stimmte ihn wieder fröhlich.

Die Lehrerin Betty Walker von der Kensington-Elementary-School lächelte ihr freundliches Lehrerinnenlächeln und beobachtete die lieben Kleinen, wie sie trödelnd das Klassenzimmer verließen.

»Good bye, Miss Walker.«

»Good bye, Tommy.«

»Good bye, Miss Walker.«

»Good bye, Evelyne.«

Betty Walker lächelte und nickte freundlich. Gerne hätte sie die kleinen Fratzen in ihre kleinen Ärsche getreten, sie war nervös und wollte endlich allein sein. Schließlich war der letzte Schüler draußen, das freundliche Lächeln auf Betty Walkers Gesicht verschwand schlagartig. Sie ließ sich in ihren Sessel fallen und zündete sich eine Zigarette an. Ein doppelter Whisky wäre jetzt eine feine Sache, dachte sie.

Betty Walker, 26 Jahre alt, war eine ausnehmend hübsche Blondine aus Yorkshire mit vollen weiblichen Kurven. Der geschlechtsbetonte Typ, nach dem sich die Männer aller Altersklassen auf der Straße umdrehen. Makelloser heller Teint, dunkelblaue Augen, ein regelmäßiges, selbstbewußtes Gesicht. Von ihrem linken Ohrläppchen zum linken Mundwinkel lief eine haardünne Narbe, die aber nur bei genauer Betrachtung zu sehen war und sie bestimmt nicht verunstaltete. Eine Narbe, die von einem Rasiermesserschnitt stammen konnte, von einem Schnitt, mit dem Zuhälter in Paris oder Amsterdam ihre unfolgsamen Straßenmädchen zu bestrafen pflegen. Nun, alle Bekannten Bettys wußten, daß die Narbe von einem Unfall stammte. Aus der Zeit, als Betty als Studentin in Frankreich und Deutschland gewesen war. Oder sie glaubten wenigstens, es zu wissen. Zumindest hatte es Betty so erzählt.

Seit drei Jahren war Bettina Walker Lehrerin an der Kensington Schule und hatte einen ausgezeichneten Ruf. Sie war so gut wie verlobt mit Major Parker vom Verteidigungsministerium. Für ihre Kollegen und Kolleginnen war die bevorstehende Heirat nur eine Frage der Zeit. Und jetzt dieser Telefonanruf von Bob Parker! Mit der Neuigkeit, daß Bob nach Zypern versetzt wurde. Und noch vor den Weihnachtsfeiertagen müßte er London verlassen. Der arme Bob. Er war ganz traurig am Telefon gewesen.

Betty Walker war ganz und gar nicht traurig, wenn sie sich auch diesen Anschein gab und von den Kolleginnen bedauert wurde. Sie war nicht traurig, nur ein wenig irritiert. Niemand von ihren vielen Freunden wußte, daß sie sich aus Männern eigentlich überhaupt nichts machte. Und Bob war schließlich auch ein Mann. Aber das war ihr streng gehütetes Geheimnis, und niemand wußte davon, auch der arme Bob selbst nicht. Natürlich hätte sie ihn geheiratet, schließlich war sie im richtigen Alter dazu. Was jetzt werden würde, konnte niemand voraussagen. Betty hatte wenig Lust, nach Zypern zu gehen, sie hatte wenig Lust, London zu verlassen. Denn in London war Katja, ihre Freundin, die sonst niemand kannte, auch Bob nicht. Katja, deren Existenz sie geheimhielt. Sie hatte allen Grund dazu. Diese geheime Freundschaft bestand nun immerhin schon sieben Jahre.

Betty blickte auf die Uhr. In einer halben Stunde würde sie Katja anrufen und sie dann besuchen, ihr Bobs Neuigkeit mitteilen. Ihr Verlangen nach einem Whisky wurde größer, aber sie mußte sich gedulden. Einfach in eine Bar gehen und einen Whisky bestellen, das ging nicht, schließlich mußte sie auf ihren Ruf achten, und man lebte in Kensington, nicht in Paris oder Amsterdam. Oder Hamburg. Katja würde wie immer eine Flasche im Eisschrank haben. Betty freute sich auf Katja und die Flasche. Die ehrenwerte Lehrerin Bettina Walker war schon seit drei Wochen nicht mehr bei Katja gewesen und wie immer, wenn sie Katja längere Zeit nicht sah, bekam sie dieses eigenartige Ziehen in ihren Schenkeln und Unterleib, dieses schmerz- und lustvolle Gefühl, welches sie erstmalig vor 7 Jahren verspürte, damals in Hamburg, als ihr Katja zum ersten Mal begegnete. Damals, als sie betrunken und mit einer blutenden Wunde auf der linken Wange in ein Spital eingeliefert wurde und die Sekretärin der Sowjetischen Handelsmission, Katharina Jelusowa, plötzlich auftauchte, ihre Schulden bezahlte und für eine tadellose Operations sorgte.

Dieses Gefühl war in all den Jahren eher stärker geworden. Und Männer bedeuteten für Betty eigentlich gar nichts mehr.

Bettina Walker vefließ die Schule und ging zu einer Telefonzelle. Sie sah wieder auf ihre Uhr, es waren noch fünf Minuten zur verabredeten Zeit. Sie würde also noch fünf Minuten warten. Denn Katja liebte Pünktlichkeit und konnte leicht böse werden.

Betty und Bob hatten beschlossen, ihren letzten Tag gemeinsam zu verbringen. Bob hatte schon gepackt, und seine Koffer standen im Vorzimmer von Bettys kleiner Wohnung. Er würde die letzte Nacht in London bei Betty schlafen und morgen früh zeitig mit dem Taxi zum Hafen fahren. Alles war geregelt.

Es hatte den ganzen Tag über geregnet. Sie hatten die meiste Zeit im Bett verbracht, wie schon so viele Sonntage zuvor in den letzten drei Jahren. Nun war es spät am Nachmittag, und sie waren beide leicht betrunken. In ein oder zwei Stunden würden sie sich etwas anziehen und in ihre Stammkneipe gehen, um ein paar Bissen zu essen. Das war alles, was sie heute noch vorhatten.

Es war warm in der Wohnung, überheizt. Betty lag auf ihrem Bett, mit einem Handtuch zugedeckt, und war eingeschlafen, zumindest hatte sie die Augen geschlossen. Bob lag auf der Couch und trank ab und zu einen Schluck aus der Whiskyflasche. Kleine Schlucke, denn der Whisky war warm, und er war zu faul, um aus der Küche frisches Eis zu holen. Er blätterte gelangweilt in seinem Fachbuch über Zikaden, sah sich verständnislos die Abbildungen an und kam sich ziemlich dumm vor dabei. Was es alles gab in seinem Beruf! Einer alten Gewohnheit folgend unterstrich er mit einem Bleistift die wichtigen Stellen und hakte die Seiten ab. »Bei der cicada plebeja scheint die Begattung hauptsächlich in den Morgenstunden zu erfolgen«, las er. Und weiter: »Über die Annäherung der Geschlechter ist nichts Näheres bekannt. Die Kopulation, kommt auf die Weise zustande, daß das Männchen sich dem Weibchen von der Seite her nähert und seine Hinterleibsspitze unter die des Weibchens schiebt. Das Kopulationsglied dringt dann von unten her in die Basis des weiblichen Legeapparates ein und erreicht die Mündung des Samenbehälters. Siehe Abbildung 27.«

Bob Parker betrachtete die Abbildung 27 und dann Betty. Sie war anscheinend wirklich eingeschlafen. Braves Mädel, mußte er denken. Keine Vorwürfe, keine Sentimentalitäten, als er ihr von seiner Versetzung erzählt hatte. Natürlich hatte er ihr gesagt, daß er nicht lange bleiben würde und sie in den Ferien zu Besuch kommen müsse. Er hatte Tränen befürchtet und Gefühlsausbrüche. Aber nichts dergleichen. Betty war ok., keine Frage.

Bob legte das dumme Zikadenbuch weg und zündete sich eine Zigarette an. Er dachte nach über Betty und daran, daß er sie vermissen würde. Eigentlich war sie genau der Typ Frau, mit der er sich ein gemeinsames Leben vorstellen konnte. Sie war gescheit und doch unerhört sexy. Oh ja, Bob würde sie vermissen.

Er betrachtete ihre Schenkel und bemerkte wieder einen dieser dunkelroten Flecken, die eigentlich verdächtig nach Spuren sexueller Exzesse aussahen. Nun, von ihm stammten diese Flecken bestimmt nicht. Und er hatte sie immer wieder bemerkt, in den vergangenen drei Jahren, aber nie gefragt. Ob da ein anderer Mann war? Unvorstellbar. Er kannte Betty und ihr Leben, und es war einfach ausgeschlossen, daß sie noch einen Liebhaber hatte. Einfach ausgeschlossen!

Er sah, wie sie sich im Halbschlaf streckte und dabei ihre Schenkel etwas öffnete. Es erregte ihn. Er sagte leise:

»Darling?«

Betty hatte ihren Bob aus halbgeschlossenen Augen beobachtet, wie er in seinem Buch blätterte und dabei mit einem Bleistift die Buchseiten abhakte und verschiedene Stellen unterstrich. Sie dachte dabei an Katja und daran, wie wohl alles weitergehen würde. Wie üblich hatte Katja alles ganz genau wissen wollen, was Bob betraf, auch alles über seine Versetzung nach Zypern. Und wie üblich hatte Betty so genau wie möglich berichtet, und Katja hatte sich Notizen gemacht. Betty hatte sich seit Jahren abgewöhnt, daran zu denken, daß sie etwas Verbotenes tat. Die Überlegung, daß ihre Verbindung zu Katja und ihre Berichterstattung über alles, was sie aus Bobs beruflichem Leben erfahren konnte, einmal entdeckt werden und ihr schaden könnte, war ihr natürlich früher oft gekommen. Aber sie hatte nie auch nur eine Sekunde erwogen, ihre Verbindung mit Katja abzubrechen. Im Gegenteil, sie konnte sich ein Leben ohne Katja nicht mehr vorstellen.

Und eigentlich war es ja auch harmlos, eher lächerlich.

Katja hatte ihr gestern aufgetragen, alles über dieses Zikadenbuch zu berichten und herauszufinden, was Bob damit vorhatte. Nun, das war wohl keine große Angelegenheit und bestimmt kein Staatsgeheimnis.

Betty streckte sich und beschloß so zu tun, als würde sie gerade aufwachen. Sie hörte Bob sagen:

»Darling?«

»Ja, mein Lieber?«

»Tust du alles für mich auf der Welt?«

»Alles, mein Gebieter!«

»Holst du mir auch Eis aus der Küche?«

»Auch das, mein Gebieter.«

Betty ging in die Küche, das Handtuch um ihre Hüften gewickelt. Sie bewegte sich dabei so, wie Bob es gerne hatte. Sie kannte ihren Bob. Sie kam mit zwei frischen Gläsern und viel Eis.

»Wie steht’s mit dir«, sagte sie, »wirst auch du immer alles für mich tun?«

»Alles«, sagte Bob und hob die Hand, »ich schwöre.«

»Dann hol’ mir ein Bier«, sagte Betty, »ich muß jetzt ein Bier haben, ich könnte sterben für ein Bier.«

Major Bob Parker schaute ein wenig hilflos.

»Es ist keins mehr da«, erklärte sie, »du mußt in die Kneipe gehen und welches holen. Das Leben ist hart.«

Bob murrte und schlüpfte in einen Pullover.

»Vorschlag«, sagte Betty. »Bring ein paar Sandwiches mit, und wir gehen heute nicht mehr raus. Ich mag mich nicht mehr anziehen.«

»Great!« jubelte Bob.

Er nahm eine Einkaufstasche und trollte sich. Sie war einfach großartig, seine Betty.

Die großartige Betty horchte eine Weile, bis seine Schritte verklungen waren. Dann nahm sie aus ihrer Handtasche ein Stück Papier und notierte Herausgeber, Verlag und Autor des Zikadenbuches. Sie notierte auch die Seiten und Absätze, die Bob unterstrichen hatte. Den Zettel steckte sie in ihre Puderdose. Dann warf sie sich aufs Bett und zündete sich eine Zigarette an. Morgen würde Bob weg sein. Morgen würde sie Katja anrufen.

Der 3. Dezember 1967 war ein Tag wie jeder andere im Polizeikommissariat Wien 12. Vielleicht noch ein wenig trüber und eintöniger als sonst, denn es regnete seit Tagen, und die tiefhängenden Wolken über der Stadt ließen keine andere Farbe aufkommen als jenes deprimierende Vorstadtgrau, daß die Menschen traurig und böse macht. Niemand kann es beweisen, aber wohl auch niemand bestreiten, daß dies speziell für beamtete Menschen in düsteren Amtsräumen zutrifft. In der Kriminalbeamten-Abteilung des Kommissariats brannten um acht Uhr noch die altmodischen Deckenbeleuchtungen, 15 Watt-Birnen, sie verbreiteten ein abscheuliches Licht, aber keine Helligkeit.

Das kleine Zimmer des leitenden Kriminalbeamten war womöglich noch düsterer als die anderen. Das geschlossene Fenster zu einem finsteren Lichthof war von Tauben verdreckt, und es stank nach Kohlengas. Der amtliche Kohlenofen aus den Tagen Josefs II. rauchte mehr als er brannte. Das war schon immer so gewesen.

Der leitende Kriminalbeamte saß an seinem Schreibtisch und füllte das Dienstbuch aus: »Inspektor Horeschovsky auf Urlaub, Inspektor Wachal krank, Meier und Grüner zur Zentralstreife abkommandiert. Dorotheumsüberwachung Inspektor Tillic, Hauptdienst Gruppe 2.«

Der leitende Kriminalbeamte hörte das Knarren des hölzernen Fußbodens auf dem Gang, das gedämpfte Murmeln der Kriminalbeamten, die sich im Dienstzimmer zum Frührapport versammelten. Er wußte, es war punkt acht, Zeit für den Rapport.

Der zweiundvierzigjährige Kriminalmajor Josef Heller war seit zweiundzwanzig Jahren Kriminalbeamter, aber erst seit zehn Monaten auf diesem Kommissariat. Er haßte es, wie er seit zehn Monaten sein ganzes Leben haßte. Und dieses Gefühl des Hasses war eigentlich das einzige, zu dem er überhaupt noch fähig war. Dabei hatte er dieses Gefühl bis vor zehn Monaten überhaupt nicht gekannt. Im Gegenteil, er war immer ein eher fröhlicher Mensch gewesen, oberflächlich, ein wenig leichtsinnig. Den Annehmlichkeiten des Lebens sehr zugetan. Und vielleicht war es gerade das, was ihn in seinem Beruf so erfolgreich werden ließ. Neunzehn Jahre lang war er der Sonny-Boy der Staatspolizei in der Nachrichtenabteilung gewesen. Liebkind seiner Vorgesetzten. Sicherlich auch sehr tüchtig. Wann immer ein kniffliges Problem zu lösen war, Joschi Heller schaffte es. Oh ja, er war sehr erfolgreich in seinem Beruf gewesen. Zu erfolgreich, wie er heute wußte.

»Gestern zwei Festnahmen wegen Geheimprostitution am Gaudenzdorfer Platz von der Gruppenstreife«, las der diensthabende Gruppeninspektor. Dann sah er den Major an. Eine Pause entstand.

»Was ist?« fragte der Major.

»Chef«, sagte der Gruppenleiter, »wenn wir nicht aufhören mit den Prostitutionsstreifen, werden wir Schwierigkeiten mit dem Koat 15 haben. Die Huren weichen aus in den 15. Bezirk, und die Kollegen dort sind schon sauer.«

Die Prostitutionsstreifen waren Anordnung des Stadthauptmannes, jeder wußte das. Ein sehr ambitionierter Mann, der Herr Stadthauptmann. Es ging über die Kompetenz des Majors, die Streifen zu stoppen. Auch das wußten alle. Der alte Gruppeninspektor hatte aber natürlich recht. Die Huren wurden von den ständigen Streifen aufgescheucht und gingen zwei Straßen weiter in den Nachbarbezirk. Die Streifen waren keine Lösung. Und die Prostitution in Wien war so alt wie die Stadt selber, hatte ihre Tradition.

Alle sahen ihn an. Er mußte irgendeine Entscheidung treffen. Teufel, was gingen ihn die blöden Huren an! Er müßte sagen: Die Streifen werden fortgesetzt, Anordnung des Stadthauptmannes.

»Die Streifen werden fortgesetzt«, sagte er. Die Kriminalbeamten sahen ihn an. Sie hielten ihn nun für einen Duckmäuser, er wußte es. »Die nächsten Streifen sind negativ, klar?« sagte er. Nun murmelten die Kriminalbeamten zustimmend.

»Eine Woche lang täglich Hurenstreifen ohne Festnahmen«, fügte er hinzu. »Ich hoffe, ich bin verstanden worden.« Alle brummten und nickten zustimmend. Zweiundvierzig Kriminalbeamte und eine weibliche Kriminalbeamtin. Eine Woche lang würde der Major die Prostitutionsstreifen im Dienstbuch austragen, eine Woche lang würden die eingeteilten Kriminalbeamten statt auf diese Streife anderswo hingehen, in ein Kaffeehaus, ins Dampfbad, oder einfach nach Hause zu ihren Familien. Der Major würde täglich dem Stadthauptmann berichten, daß alles in Ordnung sei. Die Strichmädchen würden wieder zu ihren Stammplätzen zurückkehren, die gewohnte Ordnung im Gaudenzdorfer Viertel wieder hergestellt werden. Alles würde wieder so sein, wie es immer gewesen war.

Der Gruppeninspektor fuhr mit seinem Bericht fort: Automateneinbrüche in der Schönbrunnerstraße, Auslageneinbrüche am Matzleinsdorferplatz. Der Major hörte nicht hin. Er sah in die gelangweilten, ausdruckslosen Gesichter seiner Beamten.

Ausdruckslose Gesichter.

Jüngere Männer, ältere Männer, schäbige Anzüge, gelangweilte Atmosphäre. Regen klatschte ans Fenster.

Die 15 Watt-Birne brannte traurig und flackerte ein wenig. Es roch nach nassen Kleidern, Zigarettenrauch, nach Dreck und Vorstadt.

Was für ein Scheiß-Beruf, dachte der Kriminalmajor. Was für ein elender, trauriger, hoffnungsloser Beruf. Er dachte das oft in den letzten Monaten, wenn er überhaupt etwas dachte. Er zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte zu viel in letzter Zeit.

»Wieder Diebstähle im Theresienbad, Damensauna«, las der Gruppenleiter. Er machte eine Pause. Der Kriminalmajor sah seine weibliche Kriminalbeamtin an: Vierzig Jahre, fett, häßlich, eine tüchtige Kriminalbeamtin. Derselbe Gesichtsausdruck wie ihre männlichen Kollegen: gelangweilt, enttäuscht. Zwanzig Dienstjahre, seit zwanzig Jahren mit dem Häßlichen des Lebens konfrontiert. Der Major schaute sie an. Eine Sauna würde ihr gut tun, dachte er.

»Negativ«, sagte die Kriminalbeamtin. Sie zuckte leicht die Schultern. »Es muß eine von den jungen Fratzen sein, ich kann schließlich nicht jeder auf die Finger schauen.« Sie war schon dreimal diese Woche in der Sauna gewesen, sie hatte keine Lust mehr.

Der Major nickte kaum merklich, der Gruppenleiter fuhr fort:

»Abhängig seit drei Tagen: Rosemarie Swoboda, fünfzehn Jahre alt, Schülerin, 165 cm groß, dunkelblond, war bekleidet mit blauem Mantel, hellbraunem Pullover …«

Sie wird mit irgendeinem Kerl herumziehen, dachte der Major. Mit irgendeinem Strolch. Irgendwann wird sie irgendwo wieder auftauchen. Vielleicht gescheiter, vielleicht wissend, daß das Leben anders ist als in den Schundheftchen, in den Kinos. Vielleicht schwanger, vielleicht geschlechtskrank. Irgendwann wird sie wieder auftauchen. Was wollte sie wohl? Davonlaufen? Flüchten aus ihrer Umgebung? Es gelingt keine Flucht. Wer in der Vorstadt geboren ist, bleibt in der Vorstadt. Der Major war froh, daß er keine Kinder hatte. Gottseidank, das fehlte ihm gerade noch.

Der Gruppenleiter war fertig. Eine leichte Bewegung entstand, ein Sessel wurde gerückt, Zigaretten ausgedrückt. Der Major sah auf seinen Notizblock.

»Kinodienst entfällt heute«, sagte er. »Judotraining fällt morgen ebenfalls aus.« Ein paar murmelten erfreut. »Grüner und Krizek um zehn Uhr im Inspektorat. Weiß auch nicht, warum, irgendeine Personalsache.« Er war nicht neugierig. »Um neun Uhr kommt ein Scheich vom Sicherheitsbüro wegen der gefundenen Damenkleider im Theresienpark. Wer hat den Akt?«

»Ich«, sagte einer, Inspektor Baier.

»Erkennungsdienst?« fragte der Major.

»Negativ«, sagte Inspektor Baier.

»OK. Noch eine Frage?« Der Major erhob sich.

»Chef«, – es war Inspektor Tillic, der Personalvertreter –, »Chef, wir haben gehört, Sie kommen weg vom Koat. Sie kommen zur UNO nach Zypern. Wissen Sie schon, wann? Und wer Sie ablösen wird im Koat? Schließlich geht uns das ja auch was an.«

Alles blickte auf den Major. Heller war überrascht. Er hatte ein Gesuch für eine Zuteilung zur UNO-Friedenstruppe nach Zypern gemacht, schon vor vielen Monaten, noch bevor er zum Koat mußte. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, das Gesuch schon fast vergessen.

»Ich weiß nichts davon«, sagte er. »Nichts Konkretes. Daß ich von hier weg will, wenn’s geht, weiß ja jeder. Woher kommt denn das Gerücht, Tillic?«

»Der Zentralvorstand der Personalvertretung wurde informiert«, sagte Tillic. »Und der Holzer vom Inspektorat soll sie ablösen.« Ein paar brummten unwillig. Kriminalhauptmann Holzer war als junger und sehr ehrgeiziger Mann bekannt.

»So, so«, sagte der Major. »Der Holzer.« Er hatte Mühe, seine Freude, seine Hoffnung zu unterdrücken. Die Leute von der Personalvertretung wußten immer alles zuerst. Vielleicht war was dran. »Ich sage euch Bescheid, wenn ich was weiß.«

Er ging auf sein Zimmer. In zehn Minuten war Rapport beim Stadthauptmann. Die Kriminalbeamten gingen in ihre Büros, Der Arbeitstag im Koat begann. Es war acht Uhr zwanzig. Der Tag begann im Koat 12 wie in allen Polizeikommissariaten der Stadt Wien. Und es regnete und war kalt und unfreundlich an diesem 3. Dezember 1967.

Es war ein paar Tage später. Joschi Heller saß auf einem Hocker in seiner Mansardenwohnung. Es war ein heilloses Durcheinander in dem kleinen Raum. Wäsche lag herum, frisch gebügelte und schmutzige Anzüge, Mäntel hingen über den Sesseln, ein offener Schrank war schon halb ausgeräumt. Zwei Koffer lagen am Boden.

Josef Heller saß in der Mitte des Zimmers, eine halbvolle Flasche Rotwein am Boden neben sich, aus der er von Zeit zu Zeit einen Schluck nahm. Er war vergnügt, trotz des Durcheinanders um ihn herum. Er war fröhlich, zum ersten Mal seit zehn Monaten. Er würde Österreich verlassen, morgen würde er nach Zypern fliegen, zur UNO Polizeitruppe. Alles war in Ordnung. Tillic hatte recht gehabt. Die Gewerkschaftsleute wissen eben alles zuerst. Zwei Jahre würde er wegbleiben. Vielleicht länger. Wer konnte schon wissen, was in zwei Jahren war. Auf zwei Jahre lautete jedenfalls der Vertrag. Der konnte verlängert werden. Zwei Jahre waren eine lange Zeit. Joschi Heller wußte nicht, was für ein Leben ihn in Zypern erwartete, aber er war vergnügt. Nur weg von dieser Stadt, von diesem Land, von diesen Menschen!

Er hatte ein eigentümliches System, sich Überblick zu verschaffen in dieser Unordnung um ihn herum. Alle Dinge, die für ihn jetzt überflüssig waren, die er verschenken, wegwerfen wollte, schmiß er in eine Ecke. Es häuften sich dort Bücher, Briefe, Schuhe, Kleider, ein Berg von Krawatten, – unglaublich, was sich in so einem Haushalt anhäuft, mußte er denken. Haushalt, – nun freilich, man konnte es so nennen. Eine Junggesellenbude eben, seit seiner Scheidung vor zwei Jahren. Die Bude eines alternden Junggesellen. In den letzten zehn Monaten hatte er sich ziemlich gehen lassen, die Wohnung war in einem verwahrlosten Zustand. Überall lagen leere und halbleere Flaschen herum, gefüllte Aschenbecher, Stöße von alten Zeitungen.

Erstaunlich, was zehn Monate aus einem 42jährigen Mann machen können, wenn er sich gehen läßt. Von dem ehemaligen feschen, sportlichen Burschen war nicht mehr viel übriggeblieben. Er hatte Fett angesetzt. Sein Gesicht war aufgedunsen vom Alkohol, die Augen gerötet. Die Haut fast grau, wie eben von Menschen, die selten an die frische Luft kommen. Dem Joschi Heller war das alles gleichgültig. Er wußte es natürlich. Schließlich sah er sein Gesicht jeden Tag beim Rasieren. Und seine Maßanzüge aus besseren Zeiten wurden immer enger. Aber es war ihm eben alles ziemlich wurscht. Er betrachtete eine silberne Zigarettendose, ein ziemlich großes und schweres Ding. Es war ein Geschenk von Barbara, seiner geschiedenen Frau. Er hatte sie nie benützt, er verabscheute solchen Schnick-Schnack. Er warf die Dose in die Ecke zu dem übrigen Kram.

»Mitzi«, sagte er dann, schon zum zweiten Mal, »verscheuer das Zeug oder mach damit, was du willst. Morgen kannst du hier einziehen, die Miete für drei Monate ist vorausbezahlt. Mit dem Besitzer habe ich gesprochen, alles o.k. In drei Monaten mußt du dir selber helfen.«

In einer Ecke auf einer Couch lag eine junge Frau und betrachtete ihn aufmerksam.

»O.k.«, sagte sie und verzog ein wenig das Gesicht. Sie haßte es, mit Mitzi angesprochen zu werden. Sie hieß Maria oder Mary, aber mit dem Joschi Heller war über solche Dinge ja nicht zu reden. »Ich muß dann bald gehen«, sagte sie noch, »mein Dienst fängt um fünf an.« Sie war Kellnerin in einem Lokal gleich um die Ecke.

Es war ihm recht. Er hatte heute noch etwas vor, was für ihn wichtig war. Er trank wieder einen Schluck und schlichtete ein paar Hemden in einen Koffer. Eigentlich überflüssiges Zeug, dachte er. In Zypern durfte er nur Uniform tragen, hatte man ihm gesagt. Die Uniform hing an einem Ständer, taufrisch vom Schneider, die Majorabzeichen glänzten golden. Von Zeit zu Zeit warf er einen besorgten Blick auf diese Uniform. Er haßte Uniformen, seit zwanzig Jahren hatte er keine mehr getragen. Nun, es hatte eben alles seinen Preis.

Sein Tenniszeug. Er hatte lange nicht gespielt, zehn Monate. Ein sündteures Racket. Er warf es in die Ecke. Es tat ihm leid darum, aber was sollte er damit, er konnte schließlich nicht alles mitschleppen. Wer weiß, ob er in Zypern Gelegenheit haben würde, Tennis zu spielen. Er wußte so gut wie nichts von seinem künftigen Job. Außer, daß er gut bezahlt wurde.

Er überflog die alten Zeitungsausschnitte, die er vor zehn Monaten gesammelt hatte, zerknüllte sie und warf sie in die Ecke. Das war vorbei. Er kannte die Schlagzeilen auswendig:

»Spionageskandal im Ministerium. Spionjäger Heller selbst ein Spion? Unerlaubte Methoden des Kriminalmajors.«

Er wurde wieder wütend. Unerlaubte Methoden! Das war es, was hängen blieb. Der Grund, warum man ihn vor zehn Monaten in dieses Kommissariat versetzt hatte. Unerlaubte Methoden. Was war schon unerlaubt im Nachrichtendienst?

Er hatte schließlich niemanden umgebracht. Er hatte schließlich alles nicht für sich getan, sondern für seinen Dienst. Er kickte die leere Weinflasche von sich, sie rollte auf den Boden. Sie war noch nicht ganz leer. Die rote Flüssigkeit tropfte auf den Teppich. Ein häßlicher Fleck entstand.

»Ich geh’ jetzt«, sagte Mitzi. Sie zog ihren Schlüpfer an und darüber warme Unterhosen. »Holst Du mich ab? Heut ist Freitag, wir haben um eins Sperrstund’.«

»Ich weiß«, sagte Joschi, »ja, ich hol dich ab.«

Unerlaubte Methoden. Er warf den ganzen Stoß Zeitungsausschnitte in die Ecke. Er war ein toter Mann im Nachrichtendienst. Nachdem die Zeitungen über ihn hergefallen waren, war er erledigt. Wer hatte die Presse informiert? Warum hatte man ihn abgeschossen? Der Kriminaldirektor Dr. Antevic hatte bedauernd gelächelt, als man den Kriminalmajor wieder in den Dienst gestellt hatte. Völlig rehabilitiert. »Natürlich, Herr Kriminalmajor, Sie werden verstehen – im Nachrichtendienst ist im Augenblick für Sie keine Verwendung.

Sehr bedauerlich, aber Sie werden verstehen. Tut uns allen leid, wir verlieren einen guten Mann. Vielleicht später, wenn Gras über die Sache … Sie werden verstehen. Die Presse. Der Herr Minister meinte auch … Sie werden verstehen.«

Joschi Heller verstand. Ein Kommissariat war gerade das Richtige für ihn. Scheiße! Aber das war schließlich vorbei. Morgen flieg’ ich nach Zypern. Ein neues Leben.

Unerlaubte Methoden. Seit der Antevic damals sein Chef geworden war, ging überhaupt alles schief. Joschi hätte gerne gewußt, was mit dem Antevic eigentlich los war. Im Krieg war er in der Emigration gewesen, arbeitete in London mit den Engländern. Er mußte den Kim Philby gekannt haben, der war doch damals schon ein hohes Tier im Britischen Intelligence Service gewesen. Warum machte er ein Geheimnis daraus? Nun, jetzt war es auch egal. Den Antevic hatte der Teufel geholt. Herzschlag, vor sechs Wochen. Joschi war nicht traurig darüber.

Er war mit dem Sortieren fast fertig. Ein paar Briefe warf er noch weg. Bei einem zögerte er. Es war ein anonymer Brief, den er kurz nach seinem Dienstantritt am Kommissariat bekommen hatte. An das Kommissariat 12 adressiert. Es war eigentlich gar kein Brief. Ein Umschlag mit einem Foto. Er betrachtete das Foto. Es schien sehr alt, vielleicht zwanzig Jahre. Oder älter, nach der Kleidung zu schließen, die die beiden Männer darauf trugen.

Es war nicht zu alt. Er konnte als einen der beiden Männer seinen ehemaligen Chef erkennen, den Antevic. Er saß an einem Tisch und unterhielt sich mit einem anderen Mann. Viel mehr war auf dem Foto nicht zu erkennen. Wer, zum Teufel, hatte ihm dieses alte Foto geschickt? Warum nur? Was sollte er damit? Der Antevic war darauf schlanker und hatte mehr Haare, trug aber schon seine Brille. Was sollte Joschi Heller mit diesem blöden Foto? Er hatte sich damals den Kopf zerbrochen, das Foto oft betrachtet. Den anderen Mann kannte er nicht. Er zerriß das Foto und warf es in die Ecke. Der Antevic war tot. Joschi Heller fuhr nach Zypern. Es war doch jetzt alles wurscht.

Nein, alles war ihm nicht wurscht, dem Joschi Heller. Er hatte heute noch eine Verabredung. Mit Ted. Ted war nun ein hohes Tier im Amerikanischen Dienst. Joschi kannte ihn von früher. Er hatte ihn kennengelernt als CIC Offizier während der Besatzungszeit, vor fünfzehn Jahren. Sie waren damals beide noch jung und hatten ihren Spaß an dem Geschäft und nahmen den ganzen »Kalten Krieg« nicht sehr ernst. Und es gab da ein Ding, für das Ted seinem Freund Joschi eigentlich ewig hätte dankbar sein müssen. Nun, Joschi hatte seit zehn Monaten nicht angerufen. Er hatte überhaupt keinen seiner »Freunde« mehr gesehen seit zehn Monaten. Er wollte niemanden sehen. Wenn jemand im Kommissariat anrief, ließ er sich verleugnen. Aber heute hatte er Ted angerufen. Und Ted hatte sofort Zeit für ihn.

Joschi zog sich aus und ging unter die Dusche. Es war Zeit, er wollte noch zum Friseur vorher. Schließlich zog er morgen Uniform an und sollte einen ordentlichen Haarschnitt haben. Seine langen, grauen Zotteln waren nichts für einen UNO-Offizier. Joschi mußte grinsen. Ein sonderbares Leben! Wenn ihm das jemand vor einem Jahr prophezeit hätte! Eine sonderbare Welt.

Das »Shanghai« im Wiener I. Bezirk ist ein piekfeines chinesisches Restaurant. Auf den kleinen Tischen standen farbige Lampions und verbreiteten ein stimmungsvolles Licht. Ted saß schon in einer Ecke.

»Servus Jo«, sagte er, als sich Joschi setzte. »Du bist unpünktlich wie immer.«

»Das ist schließlich kein Agententreff«, meinte Joschi, und sie lachten beide. Sie aßen scharfe chinesische Gerichte und tranken österreichischen Wein dazu. Joschi hatte auf Wein bestanden, er mochte keine harten Drinks.

Sie sprachen über allgemeine Dinge. »Du hast Dich lange nicht sehen lassen«, und »du siehst nicht gerade taufrisch aus«, hatte Ted versucht, dem Gespräch eine persönliche Wendung zu geben. Joschi hatte nur ziemlich wortkarg geantwortet. »Ja, ja«, und »ich weiß, ich weiß, Alter.« Schließlich sagte er: »Morgen hau’ ich ab.«

»Ja, zur UNO nach Zypern, auf zwei Jahre«, sagte Ted. Natürlich wußte er Bescheid. »Freut mich, daß du dich noch ansehen läßt, vorher.«

Eine Pause entstand. Beide zündeten sich Zigarren an.

»Nett, daß du dich noch verabschiedest«, sagte Ted wieder. Joschi blies den Zigarrenrauch vor sich hin.

»Hör auf mit dem Theater«, sagte er dann, »ich will was von dir.«

»Brauchst du Geld?« fragte Ted.

Joschi war mit einem Mal zornig, man konnte es ihm ansehen. »Du Trottel«, fluchte er, »du blöder Hund, hab’ ich je Geld von deiner blöden Firma genommen? Ihr Hurensöhne, sag, hab ich je Geld von euch genommen?«

Ted war betreten.

»Ich meinte nur«, lenkte er ein. »Ich weiß, es ging dir nicht gut in letzter Zeit. Du hast Schulden gemacht und gesoffen wie ein Schwein. Und auf einem Kommissariat verdient man ja nichts. Sei nicht gleich auf hundert. Ich hab’ es ja gut gemeint. Wir sind doch alte Freunde, oder?«

»Ich habe keine Schulden«, sagte Jo. »Ich habe meinen Wagen verkauft. Es ist alles bezahlt. Und ich brauch kein Geld. Du weißt, morgen hau’ ich ab. Ich brauch’ kein Geld.«

Es entstand wieder eine längere Pause. Die beiden sahen sich an und rauchten. Der Kellner schenkte die Gläser voll. Eine neue Flasche? Ja, die beiden nickten nur.

»Du sagst, wir sind alte Freunde«, begann Jo. »Alles, was ich will, ist eine klare Antwort auf eine klare Frage, O.k.?«

»Ich kenne dein Problem«, sagte Ted. »Übrigens, hast du Kim Philbys letztes Buch gelesen? In Moskau erschienen, illustriert, hochinteressant.«

»Ich scheiß’ auf Philbys Buch«, sagte Jo ziemlich gereizt. »Und auf alle Geheimdienstbücher. Ich will eine klare Antwort von einem alten Freund. Ist das zu viel verlangt?«

»So frag schon«, sagte Ted. Er lehnte sich zurück.

Jo nickte leicht. Er nahm die Zigarre aus dem Mund. »Wer«, sagte er dann, »hat mich abgeschossen. Und warum?«

»Das sind zwei Fragen«, sagte Ted.

»Dann gib mir zwei Antworten.«

Ted dachte eine Weile nach. »Warum ist das jetzt noch wichtig für dich?« fragte er dann. »Morgen fährst du weg. Ich kenne dich ein halbes Leben lang. Das paßt nicht zu dir. Was hast du vor? Hast du etwas vor? Das mußt du mir sagen, bevor ich dir eine Antwort gebe. Wenn ich dir eine gebe. Wenn ich dir überhaupt eine Antwort geben kann. Du mußt es mir sagen, wenn du etwas vorhast.«

Jo schien ein wenig fassungslos. »Na, hör einmal«, sagte er nach einer Weile. »Was soll ich denn vorhaben? Ich möchte einfach wissen, wem ich diese ganze Scheiße verdanke. Und warum man mich erledigt hat. Ist das so ungewöhnlich? Wir kennen uns ein halbes Leben. Du mußt mich doch verstehen.«

»Persönliche Gefühle also«, meinte Ted leise und ungläubig.

»Wenn schon«, sagte Jo, »nenn’ es, wie du willst. Ich möchte es wissen. Ich habe keine besonderen Absichten, nur wissen möchte ich es. Es bringt mich um, wenn ich es nicht weiß, verstehst du das nicht?«

Ted betrachtete sein Gegenüber lange. Die beiden drückten die Zigarren aus.

»Es waren deine eigenen Leute«, sagte Ted schließlich, »das weißt du doch.«

»So gescheit bin ich auch. Aber wer und warum?«

»Du solltest nicht so viel trinken«, sagte Ted.

Jo fühlte sich plötzlich sehr müde. Er kramte einen Geldschein aus der Tasche und warf ihn auf den Tisch. »Machs gut, Alter«, sagte er. Er erhob sich langsam.

Ted blieb sitzen. »Du auch«, sagte er, und »viel Glück.« Und dann leise: »Du verstehst mich, Alter?«

»Natürlich, Ted.« Beim Weggehen klopfte Jo ihm leicht auf die Schulter. An der Garderobe, schon im Mantel, drehte er sich noch einmal um. Es gelang ihm, zu lächeln, und er hob die Hand. »Servus.«

Im Norden der Mittelmeerinsel Zypern verläuft ein schmaler Gebirgszug parallel zur Küste. Sein Ausmaß ist ungefähr 259 Quadratkilometer, und er besteht hauptsächlich aus Kalkstein, Dolomit und Marmor. Die durchschnittliche Höhe dieser Bergkette beträgt über 600 Meter. Der höchste Gipfel ist der »Berg der Zypressen« mit 1085 Meter, südwestlich der kleinen Hafenstadt Kyrenia.

Karg ist das Leben der Menschen an den Südhängen der Kyrenia-Berge. Rauh und steinig ist die Landschaft. Nur sehr anspruchslose Schaf- und Ziegenrassen finden hier ihr spärliches Futter. Die Menschen sind genügsam wie diese Tiere. Die kleinen Herden und sorgfältig gehütete Olivenbäume bilden ihren ganzen Besitz. Aghirda nennen sie das kleine Dorf an dem steilen Berghang. Aghirda, das klingt wie ein Akkord einer Orgel. Es bedeutet »die Strahlende« oder »die Glänzende«. Tatsächlich schimmert das Dörfchen grellweiß inmitten der braungrauen, trostlosen Umgebung, wenn das helle Licht der Mittagssonne von den weißen Steinhütten reflektiert wird. Stolz gemahnt ein Minarett an die Allmacht Gottes. Die heulende Stimme des Muezzin ist bis weit in das schweigende Tal zu hören, Allah il Allah, Gott ist groß und allmächtig.

Es sind Türken, die hier wohnen, seit Generationen, seit Jahrhunderten. Sie wissen nicht, wann ihre Vorfahren hierherkamen, auch nicht warum. Es gibt keine Schule in dem Dorf, die Kinder lernen von den Eltern. Sie lernen nicht lesen oder schreiben, wozu auch. Sie lernen, wie man die Ziegen und Schafe weidet, die Olivenbäume bewässert und die Oliven erntet, wie man aus Milch Käse bereitet, wie man Getreidekörner in Handmühlen zermahlt und dann Brotfladen daraus backt. Und sie lernen, nach den Geboten Allahs zu leben. Die Männer tragen Gewehre vom sechzehnten bis zum sechzigsten Lebensjahr, denn der Feind ist nahe. Als vor Jahren türkische Familien aus der Hauptstadt kamen, blutig und mit wilden Gesichtern und ihre Toten mit sich tragend, da weinten sie gemeinsam. Sie begruben ihre Toten, und dann waren plötzlich moderne Gewehre da und Munition und fremde Männer, Brüder von »drüben«, vom Mutterland, das sie nur aus Erzählungen kannten. Die Männer von Aghirda lernten, mit den Gewehren umzugehen. Und dann kamen die fremden Soldaten mit den blauen Mützen, und der Mukhtar verkündete, es wären Freunde, und die Not habe ein Ende.

Das war vor vielen Jahren. Die Soldaten mit den blauen Mützen bezogen Stellungen in den Bergen, und manchmal kam eine Patrouille ins Dorf. Die Kinder freuten sich, denn sie bekamen fremdartige Süßigkeiten, und der Mukhtar sprach mit den Soldaten. Es hieß, die Griechen würden nicht kommen, die fremden Soldaten würden das Dorf schützen. Aber die Flüchtlinge aus der Hauptstadt waren unzufrieden. Eines Tages würden sie zurück in ihre Häuser gehen, sie wieder aufbauen und dort leben wie ihre Vorfahren. Und das Blut ihrer Toten schrie nach Rache. Griechisches Blut mußte fließen, das war das Gebot Allahs. Doch das konnten die fremden Soldaten nicht verstehen.

Niemand wußte, wie alt der Hirte Ibrahim Mechmed war, auch er selbst wußte es nicht. Solange sich die Leute von Aghirda zu erinnern vermochten, weidete Ibrahim Mechmed seine Herde weit nördlich des Dorfes, knapp unterhalb des Gebirgskammes, wo die Hänge am steilsten waren, aber das Futter am besten. Die meisten Hirten mieden diese Gegend, die Tiere verliefen sich sehr leicht oder stürzten in die Felsspalten, und der Verlust eines Tieres ist schmerzlich. Nur Ibrahim Mechmed konnte dort seine Herde weiden, denn ihm gehorchten die Tiere auf eine wundersame Weise, und niemand konnte sich daran erinnern, daß er je ein Tier verloren hätte.

Als die Flüchtlinge kamen, war auch der Sohn seines Bruders mit seiner Familie dabei, und Ibrahim Mechmed räumte seine Hütte, um für seine Verwandten Platz zu machen. Er lebte ja lange schon allein, seine Frau war tot und seine Kinder erwachsen und aus dem Dorf fortgezogen. Ein alter Mann wie Ibrahim Mechmed brauchte keine Hütte, er lebte mit seiner Herde. Drei Tage und drei Nächte blutete der Sohn seines Bruders in Ibrahims Haus aus vielen kleinen Wunden nach einem Schuß aus einem Schrotgewehr. Ibrahim wachte neben ihm. Als der Sohn seines Bruders schließlich starb, wußte der alte Ibrahim, daß der Grieche Costas Costakis den Schuß abgefeuert hatte. Costas Costakis war der Nachbar der Mechmeds in Nicosia gewesen, und die Costakis hatten immer schon versucht, das Haus und die Felder der Ibrahims zu kaufen. Nun war eine Schrotpatrone der Preis gewesen. Der alte Ibrahim Mechmed wußte jetzt, daß er noch so lange leben mußte, bis die Blutrache an Costas Costakis, den er nie zuvor gesehen hatte, vollzogen war. Er rief den damals zwölfjährigen Ali, den einzigen Sohn des Toten, in seine Hütte und hieß ihn die rechte Hand auf die zerfetzte Brust des Leichnams zu legen. Der Bub gehorchte und weinte. Der Zwölfjährige wußte, daß er, wenn er erwachsen sein würde, nicht heiraten durfte, bevor der Nachbar seines Vaters getötet war. Und er selbst mußte es tun, denn Onkel Ibrahim war zu alt. Es war der Wille Allahs.

Seit also der Sohn seines Bruders in seinen Armen verblutet war, lebte der alte Ibrahim in den Bergen mit seinen Tieren. Er trug noch die Wraka, das Gewand seiner Ahnen, das ihn im Sommer vor Hitze und im Winter vor Regen und Kälte schützte. Er spürte das Alter in seinen Knochen. Er wartete. Darauf, daß der Sohn seines Bruders Sohnes kräftig und mutig genug sein werde, einen Dolch in die Brust eines Mannes zu stoßen. Und darauf, daß er dann in Frieden sterben könne, daß ihn Allah zu sich rufen werde.

Schon seit vielen Jahren waren sein Haupt- und Barthaar schlohweiß. Seine Haut glich gegerbtem Ziegenleder, war runzelig und faltig. Der alte Ibrahim Mechmed sah so aus, wie er schon vor zwanzig Jahren ausgesehen hatte oder vor noch längerer Zeit. Nur seine hellblauen Augen könnten noch heller geworden sein in diesen letzten Jahren seines Lebens.

Schon lange konnte der alte Ibrahim einem entlaufenen Tier nicht mehr folgen, nicht mehr über Felsen klettern, um das Tier zu bergen. Aber selten verirrte sich eines seiner Tiere. Wenn es doch einmal geschehen war, richtete sich der alte Ibrahim auf und blickte suchend umher, er spürte, wenn ein Tier seiner Herde in Not war. Und nicht durch laute Zurufe, wie die anderen Hirten, versuchte er das Tier zu locken. Er sah starr in die Richtung, und seine Augen wurden noch heller, sein Mund bewegte sich lautlos. Und das Tier kam zurück wie von Geisterhand geführt, laut meckernd oder blökend, wenn es wieder bei der Herde war.

Der Hirte Ibrahim sprach zu seinen Tieren, ohne seine Stimme zu verwenden. Er dirigierte sie zu den Wasserplätzen, zu den wenigen Stellen, wo es auch im Sommer Futter gab. Er schützte sie vor den Gefahren der Berge, und er rief sie zu sich, wenn es Zeit war zu schlafen. Ibrahim Mechmed hätte diese seltsame Kraft, die er besaß, niemandem erklären können. Sie war in ihm im selben Maße gewachsen, wie ihn seine körperlichen Kräfte verlassen hatten.

Es gab einen bestimmten Platz an einem Felsenvorsprung, von dem man weit in die Mesaoria, in die fruchtbare Ebene hineinsehen konnte. Nachts waren von dort die Lichter der Hauptstadt Nicosia zu erkennen. In bestimmten Nächten saß dort der alte Hirte Ibrahim Mechmed und sah starr in die Richtung der Stadt. Er saß dort oft Stunden und regungslos, als wäre er selbst zu Stein geworden. Und dann geschah manchmal etwas Seltsames. Dann sträubten sich plötzlich die Haare des alten Hirten, und er sah einen Mann, der sich unruhig in seinem Bett wälzte und schließlich erwachte. Und er sah auch, wie dieser Mann aufstand und sein Haus verließ, seinen Garten durchquerte und in einen Nachbargarten ging, geradewegs auf einen Zedernbaum zu. Wenn der Mann die Zeder erreichte, begann der alte Hirte zu keuchen und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Und um ihn brach schlagartig ein Höllenlärm aus, hundert Zikaden begannen gleichzeitig zu zirpen.

Und das war in der Tat seltsam, denn Zikaden zirpen sonst nur bei Sonnenschein. Der alte Ibrahim wußte das.

Der kleine Nicos Costakia war der Liebling seiner Eltern und seiner Lehrer. Für seine zehn Jahre überdurchschnittlich begabt, gab er zu berechtigten Hoffnungen Anlaß, einmal ein ebenso tüchtiger und angesehener Geschäftsmann zu werden wie sein Vater. Er saß im gepflegten Wohnzimmer seines Elternhauses und schrieb an einem Aufsatz. »Mein Vaterland« war das Thema, und der kleine Nicos war sich nicht ganz im klaren darüber, ob nun seine Heimat Zypern oder das allmächtige Griechenland damit gemeint war.

»Die Legende erzählt«, schrieb er, »daß Aphrodite, die Göttin der Liebe, aus dem Schaum des Meeres geboren wurde, der eine Felsengruppe der Küste Zyperns umspült. Das ist der Grund, warum Zypern die Liebesinsel genannt wird. Ihr Zauber wurde in vielen Märchen und Geschichten besungen. Zypern, mein Vaterland, ist in der ganzen Welt bekannt.«

Er überlegte eine Weile, ob er nicht doch lieber seinen Vater wegen der kniffligen Frage des Mutterlandes Griechenland fragen sollte. Es hieß immer: Mutterland Griechenland. Aber schließlich lautete das Thema: Mein Vaterland. Er fuhr fort:

»Wir Zyprioten sind Griechen. Wir Griechen sind die tapfersten und edelsten Menschen der Welt, und die Welt verdankt dem Hellenentum ihre Kultur. Im Befreiungskrieg haben wir die Engländer besiegt. Die Engländer haben im Weltkrieg die Deutschen besiegt. Darum sind wir die Tapfersten.«

Das hörte sein Lehrer immer gern, Nicos wußte das. Sein Lehrer war auch Eoka Kämpfer, und an Feiertagen trug er bunte Bänder mit Orden an seiner Brust, damit jeder sehen konnte, wie tapfer er war. Ob er etwas über die Türken schreiben sollte? Besser nicht. Schließlich gehörten sie nicht zum Vaterland. Und außerdem waren sie alle primitiv und barbarisch und sollten in die Türkei gehen, wo sie hingehörten. Das war auch die Meinung seines Vaters.

Nicos hörte gedämpfte Stimmen aus dem Nebenzimmer. Besuch war da, Onkel Theodor und Tante Maria und Dr. Marangos, der Hausarzt, mit seiner Frau. Nicos beschloß, hinüberzugehen. Den Aufsatz konnte er leicht morgen früh fertig schreiben.

Er gab den Gästen artig die Hand und verbeugte sich vor den Damen. Er durfte sich mit an den Tisch setzen und am Meze mitessen. Niemand bereitete das Meze so reichhaltig wie seine Mutter. Der große Tisch war überladen mit den kleinen Schüsselchen der verschiedenen Speisen. Die Erwachsenen setzten ihr Gespräch fort. »Es sind die Nerven, nichts anderes, Nicos«, hörte er Dr. Marangos sagen. »Du bist einfach überarbeitet. Komm morgen in meine Ordination, ich verschreibe dir etwas dagegen.«

Die Mutter stimmte sofort zu, aber der Vater wollte nicht recht: »Pillen werden mir nicht helfen«, meinte er.

Sein Vater war ein großer, eleganter Mann mit schwarzem Haar und Schnauzbart. In den letzten Jahren war er ziemlich fett geworden, unausbleibliche Folge gepflegter Eßgewohnheiten. Ein Abendessen bei den Costakis, noch dazu mit Gästen, dauerte Stunden. Seine Gesichtsfarbe war vornehm blaß, er dachte nicht daran, seine Haut der Sonne auszusetzen.

Ob er sonst irgendwelche Beschwerden habe, wollte Dr. Marangos wissen.

»Nicht die geringsten«, sagte sein Vater. »Es ist nur immer dasselbe, ich wache nachts plötzlich auf, und irgend etwas veranlaßt mich, in den Garten zu gehen. Ich gehe jedesmal auf einen Baum zu, eine Zeder, weil ich glaube, es steht jemand dort.«

»Na hör mal«, sagte Onkel Theodor, »du wirst ganz einfach träumen, schlafwandeln. Das ist doch nichts Außergewöhnliches.«

»Trotzdem solltest du einmal in meine Ordination kommen«, sagte Dr. Marangos.

»Vielleicht komme ich wirklich«, sagte Vater, »ich bin nachher immer ganz zerschlagen und kann stundenlang nicht einschlafen. Ein Schlafmittel wird mir gut tun, schließlich muß ich morgens zeitig ins Büro.«

»Wie oft kommt das vor?« wollte Dr. Marangos wissen.

»Ein oder zweimal im Monat, in letzter Zeit öfter«, sagte Vater.

»Jedesmal bei Vollmond«, witzelte Onkel Theodor. Aber der Doktor war ganz ernst. »Und wirklich jedesmal der selbe Traum?« fragte er.

»Derselbe«, sagte Vater. »Und wenn ich bei der Zeder bin, fangen die Zikaden an zu zirpen.«

Nun lachten alle, außer Mutter und Dr. Marangos.

»Das ist der Beweis, daß du träumst«, rief Onkel Theodor, »jedes Kind weiß doch, daß Zikaden nur bei Sonnenschein zirpen.«

Vater wurde nun ärgerlich. »Sie zirpen aber, die verdammten Biester«, schrie er, »ich bin doch kein Idiot, heilige Maria!«

Der wohlerzogene Nicos wußte, daß es Zeit war zu gehen. Seine Mutter warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. Wenn, die Erwachsenen stritten, hatte er zu verschwinden. Er sagte leise »Gute Nacht«, küßte seine Mutter und schlüpfte ins Schlafzimmer. Lange sah er aus dem offenen Fenster in den Garten. Er hätte gerne gewußt, ob Zikaden wirklich auch manchmal des Nachts zirpen.

Es war der siebzehnte Geburtstag des türkisch-zypriotischen Fighters Mechmed Ali, und er hatte aus diesem Anlaß von seinem Offizier dienstfrei bekommen, das war Tradition in der Kompanie »Schwarzer Wolf«. So war er schon vor Morgengrauen mit seinem Rad aufgebrochen und die Hauptstraße von Nicosia nach Norden gefahren. Die Straße führt nach Kyrenia, der alten Hafenstadt an der Nordküste Zyperns. Aber so weit würde Mechmed Ali nicht fahren. Nicht, weil er die Entfernung mit seinem Fahrrad nicht bewältigen könnte. Die Insel ist klein, und von den nördlichen Vororten der, Hauptstadt Nicosia bis zur Nordküste sind es keine dreißig km. Aber am Kamm der Kyrenia-Berge, die die Küste von der fruchtbaren Ebene trennen und die Ebene zugleich schützen, beginnt eine feindliche Welt für den türkischen Zyprioten Ali Mechmed, liegen die Stellungen der griechischen Nationalgarde. Mechmed Ali wird nur bis zu den Berghängen fahren, bis Aghirda. Dort beginnt die alte Straße schmäler zu werden, sich zu winden und sich bergauf zu quälen bis hinauf zum Paß, wo die letzten türkischen Posten stehen, die letzten Menschen leben, die Mechmed Alis Uniform tragen und seine Sprache sprechen. An klaren Tagen sieht man von diesen Höhen über das Meer den Küstenstreifen des türkischen Festlandes, die Gipfel des Taurus-Gebirges, um diese Jahreszeit meist schneebedeckt. Die Posten starren an solchen Tagen stundenlang über das Meer, und wenn sie sich ablösen, sagen sie immer dasselbe, seit Jahren: »So nah und doch so fern«, sagen sie. Es ist wie ein Gebet geworden, ein Gebet der Hoffnung und der Resignation: So nah und doch so fern. Viel und wenig sind jene 65 km, die die Nordküste Zyperns von dem Kleinasiatischen Festland trennen. Zu viel, um die Ausstrahlung der Türkei im Norden Zyperns unmittelbar spürbar zu machen. Zu wenig für die in Zypern lebenden Türken, um ihr Mutterland, ihre Herkunft vergessen zu können. Die Türkei zu vergessen und Zyprioten zu werden, das war nicht möglich. Immer schon waren sie Türken gewesen. Und sie wollten, mußten es bleiben.

Mechmed Ali sieht so aus wie fast alle Burschen der türkischen Minderheit Zyperns, mittelgroß, schlank, ekkig. dunkel. Man muß lange auf der Insel leben, um sie unterscheiden zu können. Die Burschen auf der anderen Seite, der griechischen, sehen ihnen zum Verwechseln ähnlich. Aber doch wieder nur für Fremde. Für die UNO-Soldaten zum Beispiel, die keinen Unterschied feststellen können. Man muß eine Weile auf der Insel gelebt haben, um den Unterschied zu sehen, die Augen, die Gehirne müssen sich erst an die Insel gewöhnen.

Ali Mechmed wird bis ins Flüchtlingslager nach Aghirda fahren und dort seine Mutter und seine vier jüngeren Schwestern besuchen. Am Nachmittag wird er seinen Uronkel Ibrahim suchen, der seine Schafe an den Südhängen der Berge weidet. Und er wird seinem Uronkel neuerlich geloben, den Griechen Costas Costakis zu töten, zu erdolchen, das ist er an seinem siebzehnten Geburtstag seinem Uronkel Ibrahim schuldig.

Ali Mechmed sah die Herde seines Onkels von weitem. Als er näher kam, sah er den alten Ibrahim auf einem Felsvorsprung sitzen, unbeweglich, nach Süden in die Ebene starrend. Er mußte den bergaufsteigenden Ali schon lange beobachtet haben, aber er saß wie erstarrt. Erst als Ali neben ihm stand, mit den Fingerspitzen die Stirn berührte und sich leicht verneigte, nickte er mit dem Kopf. Ali hockte sich neben den Alten. Er wartete, bis sein Onkel das erste Wort sagen würde.

Er mußte lange warten. Schließlich hörte er die flüsternde Stimme seines Onkels:

»Allah ist groß und allmächtig. Es ist Gottes Gebot, daß man nun richten solle. Leben für Leben und Aug’ um Auge, Nase um Nase und Ohr für Ohr, Zahn um Zahn und Wunde um Wunde.«

Ali kannte die fünfte Sure aus dem Koran. Er wußte nun, daß die Zeit gekommen war, seinen Vater Zu rächen. Er hatte Angst und sagte nichts. Da hörte er seinen Oheim krächzen: »Fürchte dich nicht mein Sohn, Gott ist mit dir.«

Er schämte sich. Er streckte die rechte Hand aus, legte sie auf das Knie des alten Ibrahim. Und er fühlte das kalte Eisen des Hirtenmessers, als es ihm sein Oheim in die Hand gab, die Spitze ins Tal, zur Stadt zeigend.

Der Prophet hat gesagt: Töte jeder Gläubige einen Feind. Töte jeder einen Feind, es ist Allahs Wille. Töte jeder einen Feind, und die Welt wird euch gehören. Die Welt wird den Gläubigen gehören, den Söhnen Allahs. So steht es im Koran, und so sagte Onkel Ibrahim.

Die Nacht war warm und ruhig. Das Fahrrad rollte fast geräuschlos auf der trockenen Sandstraße. Mehmed Ali hatte es geölt. Das Fahrrad rollte ruhig, und niemand war zu sehen. Die Häuser waren leer, ausgebrannt, Ruinen. Es waren die Häuser der Türken, die vertrieben worden waren, als Ali noch ein Kind war. Er kannte die Gegend, er war hier aufgewachsen. Die Türken würden eines Tages zurückkehren, die Häuser wieder aufbauen. Es war ihr Land. Es war Omorphita, ein Teil der Hauptstadt Nicosia. Immer hatten hier Türken gewohnt. Und sie würden zurückkehren. Ali wußte es. Jeder töte einen Feind. Es ist der Wille Allahs. Gott ist groß und allmächtig.

Er kam zu einem Olivenhain, er kannte jeden einzelnen Baum. Es waren die Bäume seines Vaters. Die reichen Castakis ernteten jetzt die Oliven. Die Bäume waren uralt. Die Bäume standen schon immer hier, sie würden noch da sein, wenn die Mechmeds wieder zurückkehrten.

Bald nachdem Allah aus den Bären Menschen gemacht hatte, wurden diese Bäume gepflanzt. Von den Menschen, mutig und stark wie Bären. Onkel Ibrahim hatte es ihm erzählt, als Ali ein kleiner Junge war und sich vor Bären noch fürchtete.

Er legte das Fahrrad ins Gras.

Das Gras stand hoch und war feucht. In einigen Wochen, im Sommer, würde es austrocknen. Aber im nächsten Jahr würde es wiederkommen. Es war fruchtbare Erde, gutes Land. Seines Vaters Land. Nein, sein Vater war tot. Es ist mein Land, dachte Ali. Sonderbar, er dachte es zum ersten Mal. Es ist mein Land, es gehört mir. Meine Schwestern werden hier leben. Wir werden wieder hier leben, wie Vater und Onkel Ibrahim.

Jeder töte einen Feind.

Er nahm Onkel Ibrahims Messer aus seiner Brusttasche und steckte es in den linken Ärmel.

Er stieg über einen verfallenen Zaun. Er konnte jetzt die Zeder sehen. Das ist mein Baum, dachte er. Er schritt auf die Zeder zu. Niemand war zu sehen, es war alles ruhig.

Der Stamm der Zeder war dunkel. Ali lehnte sich an den Baum, verschmolz mit dieser Dunkelheit. Er wartete, er hatte Zeit. Costas Costakis würde kommen. Onkel Ibrahim hatte es gesagt.

Mechmed Ali dachte daran, ob er wirklich eines Tages hier wieder leben würde, wie sein Vater, sein Großvater. Vielleicht. Zuvor würde er aber in die Welt gehen, in die große Welt, nach Ankara. Ali wollte ein moderner Mensch werden. Er hatte so viel gelesen. Und sein Freund Jussuf studierte an der Universität in Ankara, schon seit drei Jahren. Jedes Jahr kam Jussuf in den Ferien heim und erzählte von Ankara und der Welt. Und vom Sozialismus und davon, daß die Weltordnung geändert werden müsse. Ali glaubte daran, denn die Welt war schlecht. Und er las alle Bücher, die ihm Jussuf gab. Bücher und Hefte über den Sozialismus. Er las sie heimlich, denn davon durfte niemandwissen. Sein Kommandant in der Kompanie kam aus Ankara, er haßte alle Sozialisten und nannte sie Verräter. Nun, Ali würde nach Ankara gehen und studieren. Er wollte kein blöder Bauer bleiben wie seine Freunde. Und er hatte mit Jussuf ein Geheimnis. Es war großartig, er konnte etwas für die Revolution tun. Und es war gut für seine Brüder, sein Land, Jussuf hatte es ihm versichert. Er glaubte an Jussuf, aber er durfte es niemandem sagen. Weil sie alle blöde Bauern waren und nichts verstanden.

Im Sommer würde Jussuf wiederkommen. Ali würde ihm erzählen, daß er Costas Costakis getötet hatte. Jussuf würde mit ihm streiten und ihn einen blöden Bauern schelten, denn so eine Tat diene nicht der Revolution. Aber er würde nicht ernstlich böse sein. Schließlich war das auch eine Familiensache, Costas Costakis war der Mörder seines Vaters. Jussuf würde ihn verstehen. Er sah einen großen, hellen Fleck auf sich zukommen.

Er hielt jetzt das Messer in der Hand.

Er hörte das Keuchen des Näherkommenden. Es war Costakis. Noch vier Schritte, noch drei.

Er stieß das Messer in den hellen Fleck, von unten und mit aller Kraft. Es gab ein häßliches Geräusch.

Costas Costakis war ein großer, schwerer Mann. Ali mußte zu ihm aufschauen. Er zog das Messer zurück, ein dunkler Fleck auf der hellen Brust des Mannes wurde rasch größer. Ali trat einen Schritt zurück und starrte fassungslos auf den großen, hellen Körper, der nun leicht schwankte.

Da überkam es den jungen Ali Mechmed, er schrie laut und wie von Sinnen, und in diesem Schrei stürzte er sich auf den Mann, biß ihn in die Kehle und stieß das Messer immer wieder in sein Fleisch.

Sie lagen am Boden. Ali schrie nicht mehr. Er hörte wieder dieses knirschende Geräusch seines Messers, und nun liebte er es. Und dann hörte er nur mehr sein eigenes Keuchen. Er lag auf diesem großen Körper und hörte sein Keuchen. Plötzlich brach ein Höllenlärm los. Hunderte von Zikaden begannen mit einem Schlag zu zirpen. Die Luft vibrierte von dem schrillen Gesang. Ali schnellte hoch, sprang über den Zaun, fand sein Fahrrad und trat in die Pedale. Sein Herz klopfte rasend, und in seinem Kopf dröhnte es: Töte jeder einen Feind.

Zikaden singen nicht

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