Читать книгу Ein Umweg über Honolulu - Leo Gold - Страница 3

Die Figuren und die Handlung sind erfunden.1

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Alles fing wie vieles harmlos an. An einem Sonntagnachmittag erhielt ich Melissas erste Nachricht. Den genauen Wortlaut habe ich vergessen. Sinngemäß schrieb Melissa, sie wundere sich, weshalb ich, ein Deutscher, auf einer US-amerikanischen Dating-Website angemeldet sei, und fügte hinzu, sie würde eventuell bald nach München ziehen, um dort als Assistenzärztin zu arbeiten. Ich fand ihre Nachricht ansprechend. Und weil es Sonntagnachmittag war, irgendwann Ende September, und ich Lust hatte, eine junge Frau kennen zu lernen, antwortete ich Melissa.

Ihre Frage, weshalb ich ein Profil auf einer Internetseite erstellt hatte, auf der ich hauptsächlich US-Amerikanerinnen kennen lernen konnte, war naheliegend. Ich hatte bei meiner Recherche auf Dating-Websites schnell festgestellt, dass die US-amerikanischen Portale hinsichtlich des Designs und der technischen Möglichkeiten ihren deutschen Pendants überlegen waren. Konzentrierte ich mich außerdem speziell auf die christlichen Kontaktbörsen im Internet, so hatten die US-amerikanischen- den Vorteil, dass ich auf ihnen mehr Mitglieder fand. Sah ich auf deutschen Dating-Websites etwa 50 vom Alter her für mich in Frage kommende junge Frauen, standen dem auf einer durchschnittlichen US-amerikanischen Seite etwa 500 gegenüber. Diese boten also ein breiteres Spektrum an und erhöhten die Chance, auf eine Frau zu treffen, die mich interessierte.

Ich versuchte, Melissas Frage zu beantworten. Wenig konkret schrieb ich ihr etwas über die größere Vielfalt US-amerikanischer Dating-Portale, ließ dabei jedoch vieles weg, was ich erwähnte, hätte ich eine detaillierte Antwort an jemanden gerichtet, der weder weiblich noch jung gewesen wäre.

Mein Freund Martin hatte mal erzählt, an der Häufigkeit der ersten Nachrichten von E-Mail-Bekanntschaften könne abgelesen werden, ob der Kontakt eine Zukunft habe. Ich erinnerte mich daran, als ich mit Melissa beinahe alle zwei Tage E-Mails wechselte. Am Inhalt ihrer Nachrichten konnte ich ihren Eifer erkennen. Zunächst fragte mich Melissa, was ich beruflich mache, was ich studiert habe, was ich gern in meiner Freizeit unternehme und (was wegen des christlichen Hintergrunds der Internetseite nicht überraschend war) welche Bedeutung Jesus für mich habe. Wenig später interessierte sie sich für meine Familie, die Eltern und Geschwister. Melissa gab das Tempo vor und ich versuchte, sie einzuholen.

Nachdem sie die Eckdaten meiner Person erfragt hatte und ich auch ungefähr wusste, wer sie war, kam sie wieder zu dem Thema, das für sie eine zentrale Bedeutung besaß: welche Rolle Jesus in meinem Leben spielt. Auf ihrer imaginären Liste, auf der die Kriterien standen, denen ihr zukünftiger Partner zu entsprechen hatte, konnte sie dieses Kriterium offensichtlich noch nicht wie die anderen- bedenkenlos abhaken. Es bereitete Melissa so viel Kopfzerbrechen, dass sich ihre Antworten verlangsamten. Sie schrieb mir, dass ihr neben den Prüfungsvorbereitungen für ihre Examina kaum noch Zeit für Privates bleibe. Außerdem lockerte sich unser Kontakt durch ihren anhaltenden Zweifel, ob sie, die Protestantin, mit mir, dem Katholiken, theoretisch eine feste Beziehung beginnen könnte. Und auch ein Brief eines Schulfreundes, der alte Zeiten beschwor und der die Chance nutzen wollte, vielleicht nun, eine zärtliche Beziehung mit Melissa einzugehen, die er sich schon lange gewünscht hatte, vervielfältigte wieder die Möglichkeiten, ob und in welche Richtung sich unsere Beziehung entwickelte.

Mitte Dezember schrieben wir uns erneut in schnellerem Tempo. Unsere Beziehung kam in Fahrt. Das Ursachenbündel, weshalb Melissa unser Kennenlernen beschleunigte, hatte aber wenig mit mir zu tun.

Das bevorstehende Jahresende und Melissas romantische Vorstellungen von Weihnachten stärkten ihren Wunsch, ihren Freundinnen bald sagen zu können, sie sei liiert. Vor diesem Hintergrund überzeugten Melissa die Avancen ihres Schulfreundes, mit dem sie täglich telefonierte. Sie entschloss sich, seinem Drängen nachzugeben. Während eines gemeinsamen Abends musste sie aber feststellen, dass sich nichts Wesentliches zwischen ihnen geändert hatte. Die Chemie stimmte einfach nicht. Melissa strengte sich zwar an, das Beste aus dem Treffen zu machen, wusste aber, dass es für die nächsten Jahre das letzte- mit ihm sein würde.

Außer der gewonnenen Zeit, die Melissa nicht mehr mit ihrem Schulfreund verbrachte, und der vorübergehenden Arbeitsentlastung durch die anbrechenden Weihnachtsferien kam ich Melissa noch aus einem anderen Grund gelegen. Sie plante nämlich, mit ihrem Vater und ihrer Schwester nach Hawaii zu reisen und dort mit einer befreundeten Familie die Hochzeit von deren Sohn zu feiern. Dies beflügelte ihren Wunsch, in nicht allzu langer Zeit ebenfalls vor den Traualtar zu treten. Nicht zuletzt deshalb, weil die Braut (sie hieß Isabel) so alt war wie Melissa. Ich war also der unbekannte Deutsche, von dem sie zwei Fotos gesehen, ein paar Eigenschaften gekannt und den sie sich um Weihnachten als festen Freund nach Hawaii gewünscht hatte.

Kurz vor dem 24. Dezember schrieb mir Melissa, dass ihr Vater und ihre Schwester eine Überraschungsparty für sie organisiert hätten. Der Grund dafür war ein Einschreiben, das ihr vor ihrer Abreise aus San Francisco zugesandt worden war. Sie hatte sich in einem Auswahlverfahren durchsetzen können und durfte nach Beendigung ihres Medizinstudiums ihre Residency (eine Ausbildungsphase nach Erlangung des Medical Doctors) am Diamond Krankenhaus in Honolulu absolvieren. Melissa sprühte vor Glück. Sie genoss es, auf der Party im Mittelpunkt zu stehen, und fragte, wo denn ihre zweite Überraschung sei. Und als ihr Vater und die anderen Gäste sie überrascht anschauten, sagte sie kess:

„Der Doktor aus Deutschland!“

Die Mitteilung, dass Melissa während ihrer Residency auf Hawaii leben durfte, machte ihren Plan B, Assistenzärztin in München zu werden, überflüssig. Deshalb fragte sie mich höflicherweise, ob ich dennoch weiter mit ihr in Kontakt bleiben wolle. Auch hier zeigte sich, wie planmäßig Melissa auf der Suche nach einem Partner war, ihre imaginäre Liste, welche Eigenschaften dieser besitzen sollte, stets vor Augen. Die Erfüllung ihres Planes A stellte ihre Bemühungen in Frage, mich weiter kennen zu lernen. Weshalb sich Melissa dann doch um Weihnachten anstrengte, dass wir uns besser verstanden, war einerseits einem Mangel an US-amerikanischen Alternativen und andererseits der Hochzeit von Isabel (die Braut der Hochzeit auf Hawaii) geschuldet, die schon erreicht hatte, worauf Melissa noch wartete und deshalb zu ihrer heimlichen Rivalin wurde.

Die Rivalität mit Isabel, die einseitig war, nährte sich aus einem Unglück, das Melissa zwei Jahre zuvor erleben musste. Sie hatte mit ihrem Voltigierlehrer Paul eine Hochzeit vorbereitet, die nicht stattgefunden hatte.

Wenige Wochen vor dem Abschlussball, der den Schlusspunkt von Melissas Highschool-Zeit setzte, lernte sie Paul kennen. Obwohl er nur ein Jahr älter war als sie, hing im Wohnzimmer seiner Eltern bereits eine eingerahmte Trainerlizenz, die seinen Namen trug. Auch mehrere Wettkämpfe hatte Paul bis dato auf nationaler Ebene gewinnen können, die ihm beinahe die Aufnahme in die Nationalmannschaft ermöglicht hatten. Besonders die Ambitionen seiner Mutter und seine überdurchschnittlich ausgeprägten Ohren trieben seinen Ehrgeiz an, das Beste aus sich zu machen. Seitdem sich Paul für Frauen interessierte, wurden ihm seine großen Ohren unangenehm bewusst. Sie hatten aber nicht nur Nachteile. Sie schafften es auch, den blühenden Mutterinstinkt einer seiner pubertierenden Klassenkameradinnen für sich zu gewinnen.

Pauls erste feste Freundin war weder außerordentlich hübsch, noch intelligent oder charmant. Wie er wartete sie jedoch auf ihre erste feste Beziehung und darum genügte ein Schulausflug, die beiden auf die Spur zu setzen, die darin mündete, wo es sich die beiden erhofften. Mehrere Verabredungen später folgte ein Kuss und die auf ihn folgenden leidenschaftlichen Beteuerungen standen dessen Süße in Nichts nach. Die feste Beziehung feierte Geburtstag.

Pauls Ehrgeiz wirkte sich nun nicht mehr allein im Sport und in der Schule, sondern auch bei seinem neu entdeckten Sexualleben aus. Es verging kaum ein Treffen, das ohne Sex endete. Die Angst von Pauls Freundin, ihn bald wieder zu verlieren, und somit aus dem Kreis ihrer Freundinnen, die alle fest gebunden waren, bei bestimmten Themen ausgeschlossen zu sein, war größer als ihre Unlust, mit Paul bei jeder Begegnung zu schlafen. Darum änderte sich an der Häufigkeit des Beischlafs nichts. Erst drei Jahre später geriet ihr Beziehungsgefüge ins Wanken.

Pauls Freundin begegnete einem jungen Mann in der Stadtbibliothek. Im Unterschied zu Paul musste er keinen Mangel ausgleichen und strahlte Gelassenheit aus. Pauls Freundin verglich ihre neue Bekanntschaft mit Paul. Diesem Vergleich hielt Paul nicht stand. Und weil seine Freundin jung und entscheidungsfreudig war, beendete sie ihre alte Beziehung, nachdem sie sich versichert hatte, dass es ihrer neuen Bekanntschaft ernst mit ihr war. Somit brauchte sie keine Angst mehr zu haben, bei den Gesprächen ihrer Freundinnen über deren Freunde außen vor zu bleiben. Sanft ging sie vor, sie wusste, dass sie auf diesem Weg am ehesten ihr Ziel erreichte. Sie hofierte Pauls Selbstbild, damit er von selbst der Beziehung keine Chance mehr einräumte und aufgab, kompromissbereit Angebote zu machen, die Beziehung wieder aufleben zu lassen. Sie ermöglichte ihm, zu sagen, er habe die Beziehung beendet. Er sollte sein Gesicht nicht verlieren.

Obgleich Paul nach außen hin seine Verletztheit verbergen konnte, tat sie ihm weh. Auf den Schmerz folgte Leere. Die Ablenkungsversuche, die er unternahm, blieben ergebnislos. Er vergrößerte die Leere, indem er sich gegen sie stemmte. Zwischen Weihnachten und Neujahr entfaltete sich die Leere weiter. Die Prüfungen für die Uni waren geschrieben, auch die theoretischen- für die Voltigierlehrerlizenz. Seinem Sport konnte er wegen einer Verletzung nur eingeschränkt nachgehen und das Einkaufen, das normalerweise dazu diente, seine Traurigkeit zu zerstreuen, hatte diese Wirkung verloren. Erschöpft saß Paul eines Tages schon am frühen Abend in seinem Zimmer und wusste nicht, was er mit sich anfangen sollte. Die Leere bedrückte ihn. Paul spürte, belanglos zu sein. Aber auch dieser Abend verging und Paul fasste wieder Mut.

Im Januar des neuen Jahres erhielt Paul einen Anruf der Geschäftsführerin des „Nashviller Horse Club“. Sie sagte ihm in feierlichem Ton, er habe sich gegenüber den anderen Bewerbern behauptet und könne sich freuen, der neue Voltigierlehrer zu sein. Am Telefon musste Paul seine Tränen zurückhalten. Erst als das Telefonat beendet war, weinte er vor Erleichterung.

Es war Zufall, dass Melissa seit ihrem siebten Lebensjahr bei Pauls zukünftigem Arbeitgeber Voltigierunterricht nahm. Damals unterschied sich Melissas Körpergewicht kaum von dem der anderen Mädchen. Aber mit den Jahren fielen ihr wegen ihres zunehmenden Übergewichts die Übungen auf den Pferden schwerer als den anderen, die, von Natur aus schlank, leichtgelenkig die Figuren präsentierten. Doch die Zuverlässigkeit der Pferde, die unbeeindruckt von ihrem Gewicht eine nach der anderen Bahn trabten, und ihre Begeisterung, sich zu bewegen, ließen Melissa zuverlässig an ihrem Lieblingssport festhalten, unabhängig von den erstaunten Blicken und den mokanten Bemerkungen, denen sie mitunter ausgesetzt war.

Melissa, die eine Schwäche für die Schwäche anderer besaß, fand Paul zunächst nicht anziehend. Dies änderte sich, als sie erfuhr, dass Paul momentan keine feste Freundin hatte.

Paul trainierte zunächst die Anfängergruppen der Voltigierschüler, so dass ihn Melissa aus der Ferne beobachten konnte. Als ihre gegenseitigen Blicke einander vertrauten, folgten die ersten Worte. Paul, der einnehmend liebenswürdig war, grüßte Melissa und sie grüßte zurück. Pauls auffällige Ohren taten das ihrige, dass sich Melissas Herz weitete. Und unausgesprochen, in der Intimsphäre ihrer Gedanken, freute sie sich, dass sich Paul, wie sie selbst, körperlich von den anderen unterschied. Diese Gemeinsamkeit erzeugte Loyalität. In Melissas Tagträumen durfte Paul immer öfter die Rolle des Liebhabers übernehmen. Dass er sie auch im wirklichen Leben spielen durfte, initiierte eine Turnierreise, auf der Paul Melissa begleitete. Paul hoffte darauf, dass Melissa ihm half, die Leere loszuwerden, die nach dem Schmerz über seine vergangene Beziehung übrig geblieben war. Den noch prüfenden und abwartenden Stunden während des gemeinsamen Wochenendes reihten sich solche zu Hause in Nashville an, die letztlich Melissa mit glühenden Wangen die Zustimmung zu ihrer ersten festen Beziehung entlockten.

Dank Pauls vorangegangener Beziehung verfügte er über einen Erfahrungsschatz, der ihm jetzt zu Gute kam. Er wusste auch seine Stellung als Voltigierlehrer zu nutzen. Viele seiner Schülerinnen bewunderten ihn. Auch verlieh ihm seine herzliche Art, die immer dann zum Vorschein kam, wenn sein Ehrgeiz in den Hintergrund trat, Aussicht auf Erfolg. Paul musste nicht lange darauf warten, dass seine Eltern Verwandte in New York City besuchten. Er traf Melissa in dem leeren Haus und bemühte sich, ehrgeizig, Melissas sexuelle Lust zu begrüßen, was ihm beim zweiten Mal schließlich gelang. Jetzt hatte Paul eine neue feste Freundin gefunden, mit der er in verlässlicher Regelmäßigkeit schlafen konnte.

Die Beziehung verlief in den ersten Wochen reibungslos. Der eintretende Alltag entblößte die Eigenheiten der beiden aber schneller als gewünscht. Schleichend distanzierten sie sich voneinander, blieben sich körperlich aber nah. Noch genügte der gemeinsame Besuch der Universität und die Leidenschaft für das Voltigieren, damit die Beziehung nach außen hin glücklich wirkte und für ihre Verwandten und Freunde Entwicklungspotenzial besaß. Selbst Paul und zweifellos Melissa sahen sich auf dem Weg, einmal zu heiraten.

Die Streitereien nahmen zu und wurden heftiger. Endeten sie zu Beginn noch in den Armen des anderen, gehörten sie bald als integraler Bestandteil zu ihrer Beziehung. Melissa trug hauptsächlich mit ihrer Eifersucht und ihrem Hass auf Frauen zur Verschärfung des Konfliktes bei. Angesichts dieser Voraussetzungen stand das Verhältnis zwischen Melissa und Pauls Mutter von vornherein unter keinem guten Stern. Dass das Verhältnis zwischen Paul und seiner Mutter zudem ein enges- war, erschwerte die Beziehung des Weiteren. Zur Eskalation geriet die Auseinandersetzung als Pauls Mutter einen Brief von Melissa im Zimmer ihres Sohnes fand. In ihm beklagte sich Melissa über Pauls Mutter. Leider waren sich beide nicht unähnlich, weshalb der Brief Pauls Mutter wütend machte. Sie wollte Melissa nicht mehr in ihrem Haus sehen. Die entstandene Zwietracht zwischen den zwei Frauen weitete sich bald darauf auf die Beziehung von Paul und Melissa aus, die bereits durch Melissas Eifersucht gegenüber anderen jungen Frauen im Voltigierverein und durch Pauls Eigenheiten abgekühlt war.

Beide schliefen täglich miteinander, auch dann noch, als ihnen ihre Liebe abhandengekommen war. Um nicht wieder Gefahr zu laufen, durch das Ende der Beziehung einsam zurückzubleiben, hatte Paul dieses Mal Vorkehrungen getroffen. Nur einen Tag nachdem er Melissa seine Entscheidung, sich von ihr zu trennen, mitgeteilt hatte, begann er die nächste Beziehung. Pikanterweise war seine neue Freundin eine Kommilitonin von Melissa, die sie gut kannte. Damit waren die Heiratspläne Makulatur.

Obwohl einige Monate seit dem Ende ihrer Beziehung mit Paul vergangen waren, stimmte Melissa die Einladung zur Hochzeit auf Hawaii traurig. Sie hätte selbst längst gern verheiratet sein wollen und beabsichtigte, dies bald nachzuholen, um sich mit Isabel auf Augenhöhe zu bewegen und vor allem den ersten Fehlversuch mit Paul vergessen zu machen.

Nach Melissas Rückkehr in San Francisco sprach sie in einer E-Mail zielbewusst das Thema Heiraten an. Sie fragte, ob ich einmal heiraten wolle und diskutierte mit mir, was das beste Alter dafür sei. Nachdem ich ihr antwortete, dass ich gern heiraten würde, es aber nicht eile, spürte ich, wie Melissa ihren Mut verlor, sich eingehender mit mir über das Thema auszutauschen. Sie schreckte vor ihrer eigenen Initiative zurück und versicherte in der darauf folgenden E-Mail, bis sie 27 Jahre alt sei, wolle sie gern Kinder haben, weil ab diesem Alter die Fruchtbarkeit bei Frauen nachlasse. Aber vorläufig denke sie nur an ihre Karriere und ihre Zeit als Ärztin auf Hawaii.

Angesichts von Melissas Wunsch, zu heiraten, und der für sie immer noch ungeklärten Frage, welche Rolle Jesus in meinem Leben spielte, sowie wegen ihrer Skepsis, ob sie mit einem Katholiken, der für sie kein Christ war, überhaupt theoretisch eine feste Beziehung eingehen könnte, verlangsamte sich nach den Weihnachtsferien unser E-Mail-Kontakt und die Zukunft unserer Bekanntschaft wurde wieder unbestimmter.

Dieses Mal störte mich Melissas Zurückhaltung weniger. Zu Beginn des neuen Jahres hatte ich meine neue Stelle im Architekturbüro Schulz & Adler in München angetreten. Nach dem Ende meines Architekturstudiums und der daran anschließenden Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität in München dauerte es knapp ein Jahr, bis ich die Stelle fand. Eigentlich fand die Stelle mich. Denn eines Tages erhielt ich einen Anruf von einem Headhunter, der mir anbot, mich beim Architekturbüro Schulz & Adler zu bewerben.

Herr Schulz und Herr Adler waren zwei Koryphäen für Museumsbauten. Da die Erfüllung ihrer Aufträge ihre Arbeitskraft überstieg, suchten sie einen neuen Architekten. Mein Vorteil war es, dass ich mich während meiner Promotion auf dem Feld der Museumsarchitektur bewegt, parallel dazu bei Museumsbauprojekten mitgearbeitet und für den Abschlussentwurf meines Diplomstudiums einen Preis verliehen bekommen hatte. Es kreuzten sich also zwei Bedürfnisse, meines, endlich eine Anstellung zu finden, und das von Herrn Schulz und Herrn Adler, einen verlässlichen Partner für ihr Büro zu gewinnen. Ich setzte mich gleich hin und formulierte mein Bewerbungsschreiben.

Zwei Tage nachdem ich meine Unterlagen an Herrn Schulz gesandt hatte, erhielt ich von Herrn Adler, ich stand gerade in einer Regionalbahn nach München, einen Anruf. Er stellte sich vor und fragte, ob ich am kommenden Montag zu einem Bewerbungsgespräch zu ihm und Herrn Schulz ins Büro kommen könne. Ich mochte seinen Elan und sagte zu. Kurz bevor unser Telefongespräch endete, beeilte er sich noch, mir das Angebot zu machen, ich könne auch von meinem derzeitigen Wohnort aus arbeiten und müsse nur einmal pro Woche nach München kommen. Ich traute mich nicht, mich zu sehr über den aktuellen Stand des Bewerbungsprozesses zu freuen.

Nach dem Vorstellungsgespräch passierte, worauf ich lange gehofft hatte: Ich hatte meinen ersten Arbeitsplatz. Vom Anruf des Headhunters bis zur Vertragsunterzeichnung verging lediglich eine Woche. Ich verabredete mit Herrn Schulz und Herrn Adler, mein Arbeitsverhältnis im Januar zu beginnen.

Der losere Kontakt zu Melissa kam mir also wegen meines neuen Arbeitsplatzes und den mit ihm verbundenen Verpflichtungen gelegen. Auch eine zweite Entwicklung ließ mich Melissas Reserviertheit gut ertragen. Kurz bevor ich Melissa kennengelernt hatte, begegnete ich Mon auf einer US-amerikanischen Dating-Website für Katholiken. Mon war eine Inderin, die in New Jersey wohnte und in New York City arbeitete. Aus unserer anfänglichen Sympathie war ein vorsichtiges Gespräch entstanden.

Mon erzählte, dass sie als Einzelkind aufgewachsen sei. Ihr Onkel, der seit 20 Jahren mit seiner Familie in New Jersey wohnte, hatte hartnäckig versucht, Mons Mutter (seine Schwester) davon zu überzeugen, mit ihrer Familie ebenfalls in die USA auszuwandern. Erst hatten sich Mons Eltern gescheut, dieses Wagnis einzugehen. Je länger sie aber über die Möglichkeit nachgedacht hatten, wie der Großteil ihrer engsten Familie, auch in den USA zu leben, hatten sie sich zögernd mit dem Gedanken an eine Emigration angefreundet. Die Nierenkrankheit von Mons Vater, die nicht besser werden wollte, und Mons Wunsch, in den USA zu studieren, hatten den letzten Anstoß gegeben, ihr Leben in Indien gegen eines in den USA einzutauschen. Sobald Mon ihren Highschool-Abschluss in Kerala absolviert hatte, wurden die Vorbereitungen für die Reise in die neue Heimat getroffen.

Es brauchte eine Weile, bis Mons Vater durch Kontakte seines Schwagers als Büroangestellter bei der Stadtverwaltung eine Anstellung gefunden hatte. Ihm war ein Stein vom Herzen gefallen, als er den Brief gelesen hatte, in dem ihm zugesagt wurde, am ersten Tag des Folgemonats mit der Arbeit anfangen zu können. Jetzt war die Familie krankenversichert und Mon konnte sich an der nahe gelegenen Universität für das Fach Computerwissenschaften einschreiben. Auch für Mons Mutter hatte sich eine Chance ergeben, die ihre inneren Widerstände gegenüber den neuen Lebensumständen verkleinert hatte. Eine Nachbarin hatte ihr eine Stelle als Aufsicht in einem Museum für Völkerkunde vermittelt. Mons Mutter verdiente dort nicht viel, aber genug, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken, auch wenn sie dies anfangs nicht zugeben wollte. Die Basis war gelegt, dass sich, wie für viele Einwandererfamilien in den USA, für Mons Familie der kleine US-amerikanische Traum, ein Auto, ein Einfamilienhaus und die Teilnahme am sozialen Leben, verwirklichen konnte.

Mon war es leicht gefallen, sich ihrer ungewohnten Umgebung anzupassen. Sie hatte ihr Studium ohne größere Schwierigkeiten abgeschlossen und hatte gute Aussichten, nicht lange warten zu müssen, bis auch sie ihr eigenes Einkommen verdiente. Mon hatte sich auf einen Arbeitsplatz beworben, mit dem ein lukratives Sozialpaket verbunden war. Zu ihrem Vorstellungsgespräch war sie mit dem Vorstadtzug nach New York City gefahren. In einem Wartezimmer der Versicherungsgesellschaft war sie aufgeregt gesessen und hatte versucht, ihre Selbstzweifel im Zaum zu halten. Wie sie ihre Mitbewerberinnen interessiert beobachtet und deren Hüften mit ihren verglichen hatte, schienen ihr ihre Hüften deutlicher den Verzehr von gezuckerten Donuts, Danishs, Sodas und Mashmallows zu zeigen als die ihrer Mitbewerberinnen. Sie hatte gezweifelt, ob ihre Hüften ein Nachteil beim Bewerbungsprozess sein könnten. Aber Mon hatte sich durchgesetzt und freute sich mit ihren Eltern über die Zusage. Wegen der Irritation, ihre Hüften wären rundlicher als die ihrer Mitbewerberinnen, die sie auch noch nach dem erfolgreichen Vorstellungsgespräch beunruhigt hatte, bat sie ihre Mutter, auch für sie das Mittagessen vorzukochen. Mit Hilfe der Umstellung auf ihre indischen Ernährungsgewohnheiten hatte Mons US-amerikanische Erscheinung bald wieder ihrer indischen- geähnelt. Ihre neue Linie und ihre erste Anstellung hatten sie ermutigt, sich auf die Suche nach einem Ehemann zu machen, dem nächsten Schritt in ihrer Biographie, wie er für indische Frauen vorgesehen war.

Nachdem mir Mon vertraut hatte, schrieb sie, dass sie bislang kaum Erfahrungen mit Männern gesammelt habe. Es war nicht schwer, sie gern anzuschauen. Sie kleidete sich auf dem Foto, das einzige-, das ich von ihr kannte, gemessen am Schnitt und den Farben ihrer Bluse, auffallend dezent. Deshalb überraschte es mich nicht, wie sie mir berichtete, einer ihrer Professoren habe sie in der Uni „Mauerblümchen“ genannt. Diese Charakterisierung passte zu ihrer Erscheinung ebenso wie ihre Überempfindlichkeit, von der ich gleich zu Beginn unseres Kennenlernens eine Kostprobe erhielt.

Mon hatte auf dem Datingportal, über das ich sie kontaktiert hatte, gesehen, dass ich dort noch aktiv war, auch nachdem wir miteinander regelmäßig E-Mails wechselten. Daraufhin hatte sie mir mit unterdrückter Wut geschrieben, ich sei ihr einziger Kontakt, dem sie schreibe! Ihre Eifersucht bestätigte meinen Eindruck von ihr. Doch diese erste Unstimmigkeit behinderte unsere weitere Bekanntschaft nicht lange.

Die Beziehung mit Mon konnte mit der Beziehung zu Melissa nicht verglichen werden. Ich hätte nicht sagen können, welche mir besser gefiel. Für mich war es eine Bereicherung, zwei Bekanntschaften zu haben. Aber ich wusste, dass, obwohl mich weder mit Mon noch mit Melissa eine feste Beziehung verband, es zu Verwicklungen führen würde, wenn ich der einen von der anderen erzählte. Ich versuchte, jeder auf ihre Weise gerecht zu werden. Und da Melissa am Anfang des Jahres mehr Abstand benötigte, widmete ich mich mehr Mon. Während sich Melissa emotional von mir zurückzog, wandte sich mir Mon in ihrer bedachten, undurchsichtigen Art weiter zu.

Es war diese stete Annäherung, die mich ermutigte, Mon einmal zur selben Zeit am selben Ort, nicht getrennt durch die Zeitverschiebung und den Atlantik, persönlich zu treffen. Ich wusste, dass ich mich dafür auf den Weg nach New York City machen musste. Damit eine Begegnung nicht mit zu viel Emotionen und vermeintlichen Verpflichtungen vorbelastet sein würde, schrieb ich Mon, ich müsse Ende März beruflich für eines unser Museumsbauprojekte nach New York City reisen, und bot ihr an, uns während dieser „Geschäftsreise“ zu sehen. So wollte ich vermeiden, dass wir uns nicht länger in der virtuellen Welt einlebten und sie irgendwann nicht mehr verlassen wollten. Die sieben Monate von unserem ersten E-Mail-Kontakt bis zu unserem ersten Treffen hielt ich für einen angemessenen Zeitraum. Ohne zu wissen, ob mir Herr Schulz vor Ablauf der Probezeit schon Urlaub geben würde, stellte ich Mon die Möglichkeit in Aussicht, einander persönlich kennen zu lernen. Erstaunt, dass Mon spontan bereit war, mich in New York City zu treffen, fragte ich Herrn Schulz, ob ich vier Tage frei nehmen dürfe. Er hatte nichts dagegen, womit ich ohne viel Mühe zwei Barrieren überwunden hatte, die mir höher erschienen waren.

Durch die Verabredung mit Mon wurden meine Beziehungen zu Mon und Melissa auf natürliche Weise hierarchisiert. Es schien mir nicht von ungefähr zu kommen, dass ich mich früher mit Mon als mit Melissa treffen sollte. Mon besaß ein sanftes Wesen. Sie war zurückhaltend, mehr als ich es von Frauen bisher kannte. Zwar ließ sie mich im Unklaren, wie sie zu mir stand. Aber sie hielt meine Erwartungshaltung gekonnt in einer Schwebe, die meine Geduld nicht strapazierte. Was darüber hinaus unsere Beziehung auf ein stabileres Fundament stellte, war Mons katholisches Bekenntnis.

Mitte Februar setzte Melissa, die neue Kraft gesammelt zu haben schien, an dem Punkt an, an dem wir Anfang Januar nicht weiterkamen: unser unterschiedliches christliches Bekenntnis. Melissas Überzeugung, die aus meiner Sicht rationalen Gründen entbehrte, hatte sich nicht geändert. Ich hatte die Lust verloren, darüber zu diskutieren. Beharrlich behauptete sie, Katholiken seien keine Christen, oder meinte, der katholische Glaube sei nicht alltagsrelevant, sondern ein bloßer Ritualismus, oder konstatierte, Katholiken kehrten schwierige Dinge unter den Teppich. Ich hielt ihre Ansichten für abwegig. Obwohl ich sie ablehnte, gefiel mir Melissas Unnachgiebigkeit, eine Lösung zu finden, wie diese offenen Fragen beantwortet werden könnten, damit sich unsere Beziehung weiter entwickelte.

Was sich hinter Melissas Abneigung gegen das Katholische versteckte, entdeckte ich, als wir zeitgleich über das Internet Nachrichten austauschten, die von ihrer weihnachtlichen Hawaii-Reise handelten. Melissa sandte mir eine Datei mit einer Auswahl ihrer Urlaubsbilder. Bislang hatte ich lediglich zwei Fotos von ihr gesehen. Melissas Offenherzigkeit im Lauf unserer Unterhaltung wiederholte sich in der Sammlung der Bilder. Anscheinend wurden ihre Heiratspläne durch ihre Erfahrungen auf der offiziellen Hochzeitsfeier von Isabel und dem Sohn der befreundeten Familie, die in einem Nashviller Hotel nachgeholt wurde, aufgefrischt. Ihrer tiefsitzenden Skepsis gegen das Katholische, das uns aus ihrer Sicht trennte, versuchte sie nun, durch einen Umweg auszuweichen.

Erst nach unserem elektronischen Gespräch konnte ich mir Melissas Bilder in Ruhe ansehen. Ich betrachtete Melissa im Bikini am Strand, in einer Gruppe Gleichaltriger an einem Pool, auf einem Hochzeitsfoto, allein in einem Wohnzimmer, unter Palmen auf einem Golfplatz zusammen mit ihrer älteren Schwester Laura und an der Seite von ihrem Vater Richard in einem Sportwagen. In ihren E-Mails schrieb Melissa meistens von Richard und Laura, während sie kaum Worte über ihre Mutter Kayla verlor. Deshalb war ich neugierig, ein Foto zu finden, auf dem auch Kayla abgebildet war. Auf dem Hochzeitsfoto stand eine Frau zwischen Melissa und Richard, die beide umarmte. Dem Alter nach hätte das Kayla sein können. Ich fragte Melissa in einer darauf folgenden E-Mail, ob es sich bei der Frau vor ihr um ihre Mutter handle. Daraufhin bekam ich von Melissa die lapidare Antwort:

„Nein, das war die Mutter des Bräutigams. Meine Mutter hasst Reisen.“

Das Verhältnis zu ihrer Mutter schien also nicht das Beste zu sein. Als ich über die wenigen Details nachdachte, die ich von Melissa über Kayla erfuhr, fiel mir ein, dass Melissa einmal geschrieben hatte, sie gehe in das Haus ihrer Mutter. Also lebten die Eltern wahrscheinlich getrennt voneinander. Offenbar bemerkte Melissa, dass ich bereits so viel über ihre Familie wusste, dass es weniger anstrengend war, mir die Wahrheit über die Ehe ihrer Eltern zu sagen, als sie zu verschweigen. Denn in einer späteren Internet-Unterhaltung schrieb mir Melissa, ohne dass ich das Gespräch in diese Richtung geführt hatte, dass ihre Eltern seit fünfzehn Jahren geschieden seien.

Ich bedankte mich für ihre Offenheit und stellte Melissa viele Fragen, um das Gespräch nicht abreißen zu lassen. Für sie trug ihre Mutter die Schuld an der Scheidung. Kayla kehre immer alles unter den Teppich wie ihre gesamte katholische Familie. Nun erkannte ich, dass ihre Mutter im Gegensatz zu ihr und ihrem Vater katholisch war und ihre Abneigung gegen das Katholische auf ihre Mutter zurückging. Und da Kayla, die sie nicht mochte und die sie zeitweise hasste, eben katholisch war, übertrug sie die Ablehnung gegenüber ihrer Mutter auf alles Katholische.

Formal war Melissa immer noch katholisch, obwohl sie mittlerweile zu einer protestantischen Gemeinschaft konvertiert war. Wie in Deutschland, wo viele Kinder in Ehen verschiedener christlicher Konfessionen, auf das Bekenntnis der Mutter getauft wurden, wurde Melissa wie schon ihre Schwester Laura Teil der römisch-katholischen Kirche. Dem folgte eine typische katholische Sozialisation mit Kirchenbesuchen und der Teilnahme an der Sonntagsschule, dem Vorbereitungskurs zur ersten heiligen Kommunion und zur Firmung sowie den Kinder- und Jugendfreizeiten. Für Religion interessierte sich Melissa ebenso wenig wie für Musik und Kunst. Vielmehr begeisterte sie sich für Sport und ab der Pubertät für die Jungs in ihrer Schule.

Melissas Zugehörigkeit zur katholischen Kirche wurde für sie erst virulent, nachdem sich im Anschluss an die Scheidung ihrer Eltern ihr Verhältnis zu ihrer Mutter weiter verschlechterte. Bei der Suche nach Gründen für das Verhalten ihrer Mutter, unter dem sie litt, stieß Melissa auf deren katholischen Glauben. Seit Generationen gehörte das katholische Bekenntnis zur Identität von Kaylas irisch-stämmiger Familie. Namentlich die Eigenschaft, alles, was nicht opportun war, unter den Teppich zu kehren, wurde für Melissa zum Synonym für das Katholische. Und da Richard, dessen Vorfahren als englische Puritaner im 17. Jahrhundert in die USA auswanderten, dem protestantischen Glauben anhing, wollte Melissa auch Protestantin sein. Dieses Bekenntnis bedeutete für sie das Gegenteil des Katholischen. Hier wurde nichts unter den Teppich gekehrt.

Melissa betrachtete ihren Vater als den moralischen Sieger in der Beziehung zu ihrer Mutter. Er trug keine Verantwortung für die Scheidung. Auf ihn projizierte sie ihre Liebe, auch die enttäuschte-, die früher Kayla gegolten hatte.

Bevor Melissa ihren Entschluss umsetzte, evangelisch zu werden, bedurfte es allerdings einer Person, die für sie ähnlich wichtig war wie ihre Eltern. Diese Person war Paul, Melissas Freund und Voltigierlehrer. Er gehörte zu einer baptistischen Glaubensgemeinschaft, die die Mission als eine ihrer elementaren Aufgaben verstand. Paul war überrascht, wie einfach es war, Melissa zu überzeugen, sich in seiner Gemeinde taufen zu lassen. Bei seiner ersten Freundin hatte er damit keinen Erfolg. Allerdings fußte Melissas Entscheidung weniger auf Pauls unbeholfenen Missionsbemühungen als auf der Vorgeschichte mit Kayla. Melissa deutete ihre Beziehung zu Paul, die ihre Aufnahme in die konfessionelle Gemeinschaft ihres Vaters besiegelte, als Bestandteil eines göttlichen Plans. Unterstützt wurde sie in dieser Annahme durch die anderen Gläubigen in ihrer neuen Gemeinde. Diese Gewissheit, Objekt des Handelns einer höheren Macht zu sein, erfüllte Melissa mit Genugtuung. Als ich diese religiösen Zusammenhänge, die Melissa prägten, kannte, begriff ich, weshalb sich Melissa an der Konfession störte, die mir vertraut war.

Sie glaubte, jetzt eine Lösung gefunden zu haben, das Hindernis, das ein Weiterkommen unserer Beziehung stoppte, dadurch aus der Welt zu schaffen, indem sie, wie Paul, einfach ihrer Christenpflicht nachkam und mich zu ihrer Konfession bekehren wollte.

Melissas Hawaii-Fotos zeigten mir nicht nur das Fehlen von Kayla, sondern auch Melissas Weiblichkeit. Während ihr Körper, von vorne betrachtet, männliche Begierde leicht steigerte, schien er, von hinten betrachtet (diese Perspektive gab die Auswahl der Bilder nicht preis), die Vorliebe für Rubensformen zu fordern. Melissas hellblondes schulterlanges Haar, das ihre weichen Gesichtszüge unterstrich, trug sie auf den Fotos durchgehend offen.

Melissa gefiel mir. Auch verfehlten ihre offenherzigen Hawaii-Bilder nicht ihre Wirkung auf mich. Doch es gelang ihnen nicht, dass ich lustvoll und kopflos bereit gewesen wäre, Zugeständnisse bei meiner Konfession zu machen. Melissa ging aufs Ganze und provozierte mich mit einer koketten Aussage in einer ihrer E-Mails Ende Februar:

„Nur weil eine Frau schön ist, solltest du nicht einfach auf dein katholisches Bekenntnis verzichten!“

Dadurch herausgefordert schrieb ich ihr zurück:

„Du hast Recht. Die Konfession wegen einer Frau zu wechseln, das ist Unsinn. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es besteht keine Gefahr“,

worauf Melissa antwortete:

„Du hast mich erwischt.“

Das Hindernis unserer unterschiedlichen Konfessionen konnte Melissa weder durch ihre missionarischen Bemühungen noch durch ihre zur Schau gestellten äußerlichen Reize umgehen. Meine Unverkrampftheit, nicht in der Not zu sein, einen Fortschritt der Beziehung zu Melissa erzwingen zu müssen, ging auf Mon zurück. Und weil Melissa kein anderer Mann mehr verehrte, weil sie die Schieflage in dem einseitigen Wettbewerb mit Isabel baldmöglichst begradigen wollte und weil, je mehr Zeit sie in die Beziehung mit mir investierte, ein Neuanfang mit einem anderen Mann erschwert wurde, schien ich für sie alternativlos zu sein.

Dem Konfessionsunterschied fügten Melissa und ich ein weiteres Problem hinzu. Sie ließ mich wissen, dass sie nichts von Sexualität vor der Ehe halte (diese Auffassung vertrat sie seit dem Ende ihrer Beziehung mit Paul) und schloss dieser Aussage die Frage an, wie ich zu diesem Thema stehe. Diese Überzeugung entsprach Melissas religiöser Prägung. Sie stammte ja aus Nashville, einer Hochburg des US-amerikanischen „Bible belts“, und bestätigte das europäische Vorurteil, viele US-Bürger seien prüde und besäßen ein unreflektiert naives Verhältnis zu ihrer Religion. Melissas Drang, in der Religion ihre Identität zu sichern, die sie von der Unberechenbarkeit ihrer Mutter befreite, und ihre Eigenschaft, heikle Situationen zuzuspitzen statt zu entschärfen, motivierten sie, ein neues Problem zu schaffen. Wenn Melissa mit einem Dilemma nicht zurande kam, kreierte sie ein neues-. Statt schrittweise Antworten auf offene Fragen zu erhalten, stürmte sie nach vorne, koste es, was es wolle, Hauptsache in Bewegung, ja nicht ins Nachdenken kommen, auf gar keinen Fall Dinge sein lassen, wie sie sind, und darauf warten, dass organisch ein Weiterkommen sich schon ereignen würde, immer weiter, immer schneller, und wenn Unüberbrückbares im Weg stand, einfach alle verfügbare Kraft bis zur Selbstaufgabe bündeln und es zu überwinden suchen, auch wenn die Gefahr existierte, zu versagen und am Ende wie ein abgekämpfter Gefangener vor einem noch größeren, noch souveräneren Wärter zu stehen, der einem die Unentrinnbarkeit deutlicher bewusst machte wie am Anfang. Ich antwortete ihr, ich hielte es für wichtig, bereits vor der Ehe den Geschlechtsverkehr in die Beziehung einzubeziehen, weil er vieles von der Person erkennen ließ, was auf andere Weise nur schwer erfahrbar wäre. Damit war die zweite Mauer errichtet, die im Verlauf der folgenden Wochen die erste Mauer überragte. Dies hätte ich als Hinweis verstehen können, mich besser von Melissa zu entfernen.

Ich schrieb ihr Argumente, die gegen die voreheliche Enthaltsamkeit sprachen. Eine ihrer Ausführungen zur vorehelichen Sexualität, je schneller man heirate, desto einfacher sei es, auf Sex vor der Ehe zu verzichten, spiegelte ihren Pragmatismus wider. Vielleicht hatte Melissa diesen Ratschlag von ihrem Pfarrer in einer Predigt gehört. Die darin verborgene Absicht, so schnell wie möglich ein Paar in die Ehe zu führen, war meinem Denken fremd. Wie ich später Melissas Familie, Freunde und Bekannte kennenlernte, verstand ich, wie stark Hochzeiten nach einer kurzen Beziehungsdauer mit deren sittlichen Ansichten verknüpft waren. Praktische und historische Gründe schienen Melissas Haltung, auf Sexualität vor der Ehe zu verzichten, zugrunde zu liegen. Besonders ein in einem anderen Zusammenhang von ihr geäußerter Satz bestätigte meine Einschätzung:

„Warum soll ich eine Kuh kaufen, wenn ich die Milch umsonst bekommen kann?“

Sexualität vor der Ehe hatte also unter anderem damit etwas zu tun, dass aus Melissas Sicht der Wert einer Frau dadurch gemindert wurde. Zwar respektierte ich ihre Sicht, für mich überwogen hingegen die Vorteile des Gegenteils, so dass ich versuchte, Melissa zu erklären, welche praktischen Folgen eine überstürzte Heirat haben könnte. Aber mein Einwand, eine Trennung sei schwieriger, erführen die Partner erst in der Ehe, sie passten nicht zueinander, als wenn sich beide vor der Ehe mehr Zeit ließen, diese Frage zu prüfen, stieß bei Melissa auf geschlossene Ohren.

Anfang März standen wir uns also nicht nur wegen des Konfessionsunterschieds, sondern auch wegen den unterschiedlichen Überzeugungen, ob Sexualität vor der Ehe religiös vertretbar sei und wie ein adäquater Umgang mit diesem Grundsatz aussähe, unversöhnlich gegenüber. Und da wir beide keine Anzeichen machten, nachgeben zu wollen, schrieb ich Melissa, ich hielte eine Auszeit für das Beste. Hiergegen hatte Melissa nichts einzuwenden. Und unsere Unterhaltung blieb stehen.

Nun richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder primär auf Mon. Nach dieser neuerlichen Auseinandersetzung mit Melissa betrachtete ich sie als Favoritin. In den vergangenen Wochen hatte sich Mon weniger zuverlässig gemeldet als zuvor. Erst als unser Treffen in New York City näher rückte, wurde die zurückhaltende Mon, die stets darauf bedacht war, nicht zu viel von sich preiszugeben und den Schleier, der sie umgab, nur langsam zu lüften, von einer Unruhe erfasst.

Auf ein heikles Verhältnis wie mit Mon und Melissa hatte ich mich das letzte Mal am Ende meines Diplomstudiums eingelassen. Ich traf Fjolla vor dem Büro eines Professors. Wir beide wollten dessen Sprechstunde besuchen. Vorher hatte ich sie noch nie gesehen. Fjolla stach aufgrund ihrer Kleidung und ihres Verhaltens aus der Mehrheit der anderen Studentinnen hervor. Dass sie aus Osteuropa stammte, verrieten mehrere Details. Fjolla war auffallend geschminkt, trug unter ihrem Top mit Leopardenmuster einen kurzen Rock und liebte High Heels mit roter Sohle.

Fjolla stand vor dem Büro des Professors. Sich auf den Boden zu setzen, wie es die anderen Studenten taten, kam für Fjolla nicht in Frage. Und es wäre auch praktisch schwierig geworden. Der kurze Rock erlaubte es nicht. Die High Heels halfen Fjolla, ihre geringe Körpergröße zu kaschieren. Ihr Leoparden-Top konterkarierte das Stilempfinden westeuropäischer Frauen. Und Fjollas rosa Lippenstift rückte sie schließlich ungewollt in Vorstellungswelten, die auch Halbweltdamen Heimat geben. Das ungefähr war Fjolla.

Wenige Wochen nach diesem ersten, wortlosen Aufeinandertreffen begegnete ich Fjolla in der Fachbereichsbibliothek und, da ich in Erinnerung an die Szene vor dem Büro des Professors lächelte, als sich unsere Blick kreuzten, sprach mich Fjolla an und fragte, ob wir uns kennen würden. Überrascht antwortete ich ihr und erzählte, wo ich sie bereits einmal gesehen habe. Wir kamen ins Gespräch, und bevor wir uns wieder verabschiedeten, wollte sie meine Telefonnummer wissen.

Mehrere Wochen später erhielt ich einen Anruf von Fjolla. Hierbei erzählte sie mir, dass mit dem Ende ihres Studiums ihre Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland ablaufe und sie hoffe, sie werde bis dahin einen deutschen Mann gefunden haben, der sie (natürlich gegen Bezahlung) heirate. Da für mich der Gedanke, Fjolla zu heiraten, außerhalb meiner Vorstellung lag, sah ich kein Risiko, dass sich unsere Beziehung kompliziert gestalten könnte, und wir begannen, uns zu treffen. Ich mochte sie, weil sie aus der Reihe fiel.

Als wir gemeinsam auf einer Parkbank im Englischen Garten saßen, durfte ich Fjollas rosa Lippen küssen. Und dieser Kuss erfüllte meine Idee, wie es ist, sie zu küssen. Je länger unser von der Aufenthaltsgenehmigung überschattetes Verhältnis dauerte, desto öfter forderte mich Fjolla auf, eher deutlich als subtil, verbindlicher zu werden, weil nun einmal mit unserer Beziehung langfristig ihre Aufenthaltsgenehmigung verbunden war. Und diese Komponente zerstörte zusehends unser Verhältnis, das sie beendete, als sie merkte, ich mochte sie gern, aber nicht um den Preis der Hochzeit. Das Ende unserer gemeinsamen Zeit tat mir leid. Ich beschloss, mich in den nächsten Jahren auf meine Dissertation zu konzentrieren. Was mir blieb, war die süße Erinnerung an die Küsse auf Fjollas rosa Lippen.

Mon war ein ganz anderer Typ Frau als Fjolla. Allerdings unterschied sie sich, wie Fjolla, auch von dem Großteil ihrer Altersgenossen in dem Land, in dem sie jetzt lebte. Mons Leben fand an zwei Orten statt: an ihrer Arbeitsstelle und in ihrer indischen Großfamilie. Als Einzelkind war sie eng mit ihren Eltern verbunden, was durch die Emigration noch zugenommen hatte. Mon glaubte um des Glaubens Willen und folgte den Prinzipien der katholischen Lehre nicht aus persönlichen, praktischen Überlegungen, was ihr die Vorgaben nützten und wo sie sie, weil sie ihrem Leben zuwiderliefen, kreativ umgehen könnte. Diese Haltung erforderte Verzicht, was mir imponierte.

Um die Unruhe vor unserer ersten Begegnung im Zaum zu halten, beschäftigten wir uns mit sachlichen Fragen und planten, wo und wann wir uns am besten in New York City treffen könnten. Den Flug hatte ich bereits gebucht, so dass der zeitliche Rahmen meines Aufenthalts feststand. Am Donnerstagabend sollte ich in Newark landen und am Montagnachmittag vom John-F.-Kennedy-Flughafen wieder nach Deutschland starten.

Da ich Mon nicht überfordern wollte, schlug ich vor, dass wir uns am Freitagnachmittag nach ihrem Büroschluss am Eingang der St. Patrick’s Cathedreal treffen könnten und ich sie anschließend zum Mittagessen einladen würde, bevor sie am frühen Abend mit dem Bus zurück nach New Jersey fahren musste. Wir hätten uns auch am Wochenende verabreden können, aber da ich nicht wusste, ob Mon ihren Eltern oder anderen von unserer Bekanntschaft und unserem geplanten Treffen erzählt hatte, wollte ich sie nicht in eine Bredouille bringen. Außerdem war es mir wichtig, dass unsere erste Begegnung nicht als offensichtliches Date erschien, sondern den Anschein erweckte, eine ungezwungene Verabredung von zwei Freunden zu sein, die miteinander bei einem späten Mittagessen plauderten und danach wieder ihre eigenen Wege gingen. Bis auf eine Ausnahme, die ich als Zeichen deutete, dass Mon meine Absicht einer zwanglosen Verabredung teilte, war sie mit meinem Vorschlag einverstanden. Statt gemeinsam Mittag zu essen, schlug sie vor, einen Kaffee trinken zu gehen. Wunderbar. Damit konnte ich leben.

Am Dienstag vor meiner Abreise fragte mich Mon nach der Flugnummer der Maschine, mit der ich in Newark landen sollte, einen Tag darauf sendete sie mir ihre Handynummer. Ich hatte nicht erwartet, dass Mon so alltagstauglich war, wie sie es in den Tagen vor meinem Abflug nach New York City unter Beweis gestellt hatte.

Als ich am Mittwochnachmittag einen Spaziergang durch den Englischen Garten machte und zufällig an der Parkbank vorbeikam, auf der ich Fjollas rosa Lippen küsste, dachte ich an Melissa. Einerseits fand ich unsere Diskussionen anstrengend. Andererseits war dadurch eine gute Bekanntschaft entstanden. Und so verfestigte sich während des Spaziergangs meine Überzeugung, es wäre schade, wenn ich bei dieser Reise in die USA nicht auch Melissa treffen würde. Zu Hause setzte ich mich an meinen Computer und schrieb Melissa, ich sei am nächsten Wochenende beinahe in derselben Zeitzone wie sie, da ich in New York City „geschäftlich“ zu tun habe und nebenbei ein paar Freunde besuche. Eine Stunde später erhielt ich ihre Antwort:

„Das ist großartig. Du wirst lachen. Wir sind am nächsten Wochenende sogar in der gleichen Zeitzone. Ich bin nächste Woche zu einem Kongress in Washington D.C. eingeladen.“

Melissa fuhr fort, sie könne es nicht versprechen, aber vielleicht könne sie früher kommen und einen Flug nach New York City buchen. Die Chancen, dass Melissa reagierte, wie sie reagierte, hielt ich im Vorhinein für groß, war im Nachhinein, als ich ihre Nachricht gelesen hatte, aber doch überrascht, wie schnell eine Begegnung Realität werden könnte. Da ich, auch wenn dies nicht sonderlich wahrscheinlich gewesen wäre, verhindern wollte, dass sich Mons, Melissas und mein Weg in einer Straße in New York City kreuzte, was in unserer Ménage-à-trois zu Verwicklungen hätte geführt haben können, überlegte ich, wie ich diese Sorge beruhigen könnte.

Mir musste geschwind etwas einfallen, damit Melissa ihre Planungen für einen Besuch in New York City nicht zu weit trieb. Warum sich nicht in Washington D.C. treffen? Ich antwortete Melissa, es sei für mich kein Problem, mit dem Zug von der Pennsylvania Station nach Washington zu fahren. Und wenn sie ihren Flug umbuchen könne, dass sie früher ankomme, könnten wir uns treffen. Wenig später erhielt ich ihre Zustimmung und im Anhang gleich die Bestätigung ihrer Flugumbuchung. Also war der Sonntag für Melissa reserviert. Freitags traf ich Mon und samstags feierte ich meinen 30. Geburtstag. Abgemacht. In der letzten E-Mail um 22:31 Uhr schickte mir Melissa dann noch ihre Handynummer, für den Notfall.

Ich freute mich auf das kommende Wochenende. Den Koffer für meine Reise hatte ich noch nicht gepackt. Zumindest meine Kleider, die ich mitnehmen wollte, waren gebügelt. Gegen Mitternacht, nachdem ich das restliche Geschirr gespült, die Pflanzen gegossen und mich rasiert und geduscht hatte, lag ich im Bett und versuchte zu begreifen, dass ich in zwei Tagen Mon und in vier Tagen Melissa begegnen würde.

Ein Umweg über Honolulu

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