Читать книгу Ein Umweg über Honolulu - Leo Gold - Страница 4
2
ОглавлениеSo angenehm das Flugzeug von der Startbahn in München abhob, so angenehm verlief der restliche Flug. Zwischen den Mahlzeiten versuchte ich mir vorzustellen, wie die Verabredungen mit Mon und Melissa verlaufen würden.
Diese Stippvisite in die USA unterschied sich von meinen vorherigen USA-Besuchen, die ich ausnahmslos zu meinem Onkel Walter nach Dallas unternahm. Bislang ging es immer nur darum, einen schönen Urlaub zu verbringen, die Unterschiede zwischen den USA und Deutschland, zwischen dem alternativen Lebensstil von Walter und dem bürgerlichen- von meinen Eltern zu vergleichen. Ich liebte Alternativen und da mir die USA während meiner Urlaubsreisen eine Alternative bot, mochte ich die USA. Der gesellschaftlichen Logik entsprechend folgte auf das Studium und den Eintritt ins Berufsleben die Ausschau nach einer Partnerin fürs Leben. Ich orientierte mich daran, ohne zu prüfen, ob mir diese Logik entsprach. Wage stellte ich mir vor, wie es sein könnte, mit einer Frau für lange Zeit zusammen zu sein, mit ihr eine Familie zu gründen, Vater zu werden. Ich ließ mich von den idealen Vorstellungen mitreißen und hatte eine Reise angetreten, deren bewegter Vorabend einen Vorgeschmack parat hielt, was mich in Zukunft erwartete. So sehr sich meine bisherigen Reisen in die USA von dieser unterschieden, in einem Punkt stimmten sie überein. Wieder ergab sich eine Alternative: die zwischen Mon und Melissa.
In Detroit zwischengelandet kam ich bei Dunkelheit abends am Newark-International-Airport an. Dass Newark bei indischen Einwanderern beliebt war, zeigte sich in der Ankunftshalle, in der ich auf den Fahrer meines vorgebuchten Sammeltaxis wartete und in der gleichzeitig unzählige Inder, meistens in Pulks von Verwandten und Freunden, ihre ankommenden Gäste begrüßten. Ich überlegte, ob eventuell Mon, sie kannte ja meine Flugnummer, mich irgendwo aus der Ferne beobachtete, um für unser morgiges Treffen besser vorbereitet zu sein. Gesehen hatte ich sie aber nicht und da ich eine gute halbe Stunde auf mein Sammeltaxi warten musste und nichts anderes zu tun hatte, schaute ich zum Eingang und ließ mich überraschen, wie lange es dauerte, dass ich Leute ohne indische Herkunft entdeckte. Doch solange ich auf das Sammeltaxi wartete, solange glaubte ich, in Indien zu sein. Erst der Fahrer meines Sammeltaxis durchbrach die indische Szenerie. Seine Vorfahren stammten vermutlich aus dem arabischen Raum. Er war wortkarg und froh, als er uns sieben Reisende, mit dem Gepäck in seinem Bus untergebracht hatte und abfahren konnte.
Ich war der letzte Fahrgast, der aus dem Sammeltaxi wieder ausstieg. Mein Hotel wirkte von außen wenig einladend. Ich hätte, als ich das Hotel im Internet gebucht hatte, misstrauisch werden müssen, dass die Bilder und der Preis des Hotelzimmers nicht zusammen passten. Schon am Abend bevor ich einschlief, versicherte ich mich jedoch, dass meine Entscheidung, Geld bei der Übernachtung zu sparen, richtig gewesen war.
Am nächsten Morgen orientierte ich mich mit meinem faltbaren Stadtplan, in welche Richtung ich laufen musste, um zur Westseite des Central Parks zu gelangen. Auf geschwungenen Wegen, den Lärm der Straße hinter mir lassend, durchquerte ich die grüne Oase New York Citys. Ich begegnete Joggern, Radfahrern, Yoga-Schülern mit ihren Lehrern, Hundebesitzern samt Vierbeinern, Rentnern, die vielleicht in der Nacht schlecht schlafen konnten, und zahlreichen Angestellten, die auf den Parkbänken saßen, schluckweise Kaffee tranken, ein belegtes Brot oder ein Stück Kuchen aßen und die letzten ruhigen Minuten vor ihrem Arbeitsbeginn auszukosten schienen.
Als ich am südlichen Ende des Parks, am Columbus Circle, angekommen war, trat ein Herr mit Anzug, Krawatte und einem Kaffee in der Hand aus einem Frühstücksrestaurant und hielt mir mit fragendem Blick die Tür auf. Ich nahm seine Einladung an und bedankte mich für das Angebot. Anschließend setzte ich mich an einen Tisch direkt am Fenster, um dem städtischen Treiben weiter zuzuschauen. Ich bestellte Eier, Speck, Weißbrot und Blaubeerkuchen und dazu einen Kaffee, denselben wie der elegante Herr.
Beim Frühstücken dachte ich darüber nach, was ich am Vormittag noch erledigen musste. Eigentlich wollte ich mich nur vergewissern, ob mir Mon seit meinem Abflug in München eine Nachricht geschickt hatte. Da ich meinen Laptop in Deutschland vergessen hatte, konnte ich mich nicht einfach in das unverschlüsselte W-Lan des Restaurants einloggen. Ich plante also, mich nach dem Frühstück auf die Suche nach einem Internetcafé zu machen.
Wie Mon wohl in Realität aussah? Sie hatte mir geschrieben, dass sie einmal Übergewicht gehabt habe. Was hieß Übergewicht? Vielleicht war Mon immer noch übergewichtig? Ich hatte in einem Zeitungsartikel gelesen, dass bei der ersten persönlichen Verabredung von Leuten, die sich im Internet kennen lernten, die Enttäuschung häufig groß wäre, weil der beträchtliche Abstand zwischen der Selbstbeschreibung und der Wirklichkeit abrupt zu Gunsten der Wirklichkeit geschlossen würde. Durch unsere E-Mail-Bekanntschaft war eine emotionale Bindung entstanden. Deshalb würde ich Mon, besäße sie eine unvorteilhafte Erscheinung, anders begegnen als einer Frau mit einem ähnlichen Äußeren, die ich, ohne sie vorher zu kennen, zum ersten Mal auf der Straße, einem Café oder einem anderen Ort treffen würde.
Ich verdrängte den Gedanken an eine vollschlanke Mon. Vielmehr hoffte ich, dass sie dieses Vorurteil, das Internetbekanntschaften oft entgegengebracht wurde, nicht bestätigte. Da ich nicht länger darüber grübeln und an etwas anderes denken wollte, entschloss ich mich, das Museum-of- the-City-of-New-York in der Fifth Avenue zu besuchen, was ich bei meinem letzten New York City-Besuch auf den nächsten-, also diesen-, verschoben hatte. Ich fand es ansprechend, wie die Kuratoren des Museums die Geschichte von New York City darstellten. Mein Problem, meine E-Mails abzurufen, konnte ich jedoch auch im Museum nicht lösen. Ich hatte gehofft, dass ich vielleicht im Museumscafé online gehen könnte. Aber erst nachdem ich den Central Park in Richtung meines Hotels wieder durchquert hatte, wobei ich nun hauptsächlich junge Mütter mit Kinderwagen traf, fand ich endlich eines der wenigen Internetcafés.
Mon hatte mir vor zwei Stunden eine E-Mail geschrieben. Sie fragte mich, ob ich gut angekommen sei und ob wir uns, wie geplant, an der St. Patrick’s Cathedreal treffen würden. Mir wurde bewusst, dass Mon gerade nur einige Straßenzüge entfernt in ihrem Büro saß. Mit pochendem Herz antwortete ich ihr, ich sei gesund angekommen und es würde alles, wie wir vereinbart hatten, bleiben. Auch Melissa hatte mir eine E-Mail geschrieben und fragte dasselbe wie Mon. Auch sie ließ ich wissen, dass die Reise bislang gut verlaufen sei. Außerdem versprach ich ihr, mich morgen um das Zugticket nach Washington D.C. zu kümmern und ihr dann die genauen Daten meiner Ankunft am Bahnhof zu schreiben. Eilig verließ ich das Internetcafé, kaufte mir ein belegtes Brötchen und ruhte mich im Hotel auf meinem Bett aus, ehe ich zu meiner Verabredung mit Mon während meiner „Geschäftsreise“ aufbrach.
Ich schaute auf die Uhr. Ich musste losgehen. Wenige Blocks von meinem Hotel entfernt stieg ich in die Untergrundbahn, verließ sie am Times Square und lief von dort zur St. Patrick’s Cathedreal. Vielerlei Gedanken leuchteten wie ein Feuerwerk in meinem Kopf. Außer dieses Aufblitzens von Einfällen spürte ich aus Nervosität den unangenehmen Drang, auf die Toilette gehen zu müssen. Doch dafür war es zu spät. Ich wollte so rasch wie möglich Mon sehen in der Hoffnung, dass meine nervösen Symptome wieder nachließen. Oder sollte ich, anstatt zur St. Patrick’s Cathedreal zu gehen, mich lieber allein in ein Café setzen? Was sollte schon passieren? Wir kannten uns nur aus dem Internet und wir könnten ab jetzt einfach aufhören, uns zu schreiben. Ich bog in die Fifth Avenue ein und stand vor der St. Patrick’s Cathedreal. Auf den Stufen vor dem Haupteingang befanden sich so viele Menschen, dass ich Mon von der gegenüberliegenden Straßenseite aus nicht sehen konnte. Ich wartete auf das Aufleuchten des grünen Ampelzeichens, stieg von der linken Seite die ersten Stufen hoch und entdeckte die schwarzen, langen Haare sowie den Rücken einer zierlichen Inderin, über deren linker Schulter eine schicke, schwarze Ledertasche hing. Ich hoffte, dass es Mon war. Dann würden sich meine Sorgen wegen ihres möglichen Übergewichts in Luft auflösen. Ich stellte folgende Frage auf Englisch:
„Bist du Mon?“
Die zierliche Inderin drehte sich um. Glücklicherweise blickte ich in das Gesicht, das ich von ihrem Foto kannte. Ich war erleichtert.
„Wie hast du mich von hinten erkannt?”
Ich zögerte, bevor ich Mon antwortete, weil von nun an zwei Gedankenströme meine Aufmerksamkeit forderten. Einerseits war ich damit beschäftigt, mich mit Mon zu unterhalten. Andererseits führte ich ein Selbstgespräch über die neuen Eindrücke, die ich mit meinen bisherigen Vorstellungen von Mon verglich und, widersprachen sie diesen, ihnen anpasste. Da ich mir über Mon schon mehrere Monate zuvor Gedanken gemacht hatte, war das Selbstgespräch im Unterschied zu solchen, die begannen, wenn ich jemanden neu kennenlernte, von dem ich nur wenig oder gar nichts wusste, aufwändiger.
„Ich hab’ eine junge Frau mit langen, schwarzen Haaren gesehen und gehofft, dass du es bist. Darum hab’ ich dich einfach gefragt. Aber ich war mir nicht ganz sicher. Ich hätte auch falsch liegen können.”
Mon lachte.
„Offensichtlich bist du talentiert, Leute auch ohne deren Gesicht zu erkennen.”
„Ja, scheint so. Es ist wunderbar, dass wir uns endlich persönlich treffen.”
Den letzten Satz hatte ich mir vor unserem Gespräch überlegt, weshalb ich ihn nun auch aussprechen wollte. Mon antwortete:
„Ja, unglaublich. Ich bin froh, dass du nach New York City gekommen bist und wir uns treffen können.”
Wir unterhielten uns weiter darüber, wie schön es sei, dass wir uns nach den ausgetauschten E-Mails nun live begegnen könnten. Da Mon mit ihren Eltern schon einmal eine Führung in der St. Patrick’s Cathedreal mitgemacht hatte, erzählte sie mir, nachdem wir durch das Hauptportal gegangen waren, alles, an das sie sich von dem Vortrag noch erinnerte. Erfreulicherweise hatte Mon ein gutes Gedächtnis. So konnte ich im Verlauf ihrer Ausführungen mein lautloses Selbstgespräch fortsetzen.
Das erste, was mich erleichterte, war Mons Figur. Sie bestätigte nicht das bekannte Vorurteil gegenüber Internetbekanntschaften. Auch eine andere meiner Befürchtungen stellte sich als unbegründet heraus. Mon kleidete sich nicht wie ein Mauerblümchen. Sie erschien in einem schwarzen Hosenanzug, schwarzen Schuhen mit etwas Absatz und einem rosafarbenen T-Shirt. Eine dünne goldene Kette, an der ein Kreuz befestigt war, schmückte ihren Hals. Die Haare fielen offen herab und (wie gesagt) über ihrer linken Schulter hing eine schicke, schwarze Ledertasche. Offensichtlich hatte sich Mon an den Kleidungsstil, der an ihrem Arbeitsplatz und unter den Geschäftsleuten in New York City üblich war, angepasst. Sie sah reizend aus und ich wunderte mich, dass sie bislang noch keinen Freund oder Ehemann hatte. Mon war schon 26 Jahre alt.
Als sich Mons Wissen über den Innenraum der Kathedrale erschöpft hatte, fragte ich sie, ob wir nicht auf einer der Kirchenbänke Platz nehmen sollten. Dies hatte den Vorteil, dass ich mich besser auf unser Gespräch konzentrieren konnte, und nicht darauf achtgeben musste, beim Hindurchlavieren zwischen den Touristen in Hörweite zu Mons Ausführungen zu bleiben. Da es in der Kathedrale gemessen an der Lautstärke zuging wie in einem vollbesetzten Café, konnten wir uns problemlos unterhalten, ohne jemanden beim Beten zu stören. Wir saßen nah beieinander, als mich eine innere Bewegung überkam, die ich nicht verhindern konnte. Ich wurde rot. In diesem Augenblick versagte ich, meinen Teil dazu beizutragen, den Eindruck aufrecht zu erhalten, es handelte sich nur um eine Verabredung von zwei Bekannten. Aus Verlegenheit schaute ich auf den Boden und erst wieder auf und zu Mon, als der sichtbare Ausdruck meiner Freude, Mon so nah zu sein, nachgelassen hatte.
Wir unterhielten uns über Mons Beruf und ihre Arbeitskollegen. Ihren aktuellen Job hatte sie erst vor wenigen Monaten begonnen, so dass sie sich freute, die erste Zeit gut überstanden zu haben, und sagen konnte, sie arbeite gern mit ihren neuen Kollegen zusammen. Ich mochte es, mit Mon zu sprechen. Nicht wegen der Themen unseres ersten Gesprächs, sondern weil Mon wie viele andere Inder ganz entspannt, unaufgeregt und bescheiden wirkte. Ihre Ausgeglichenheit übertrug sich auf mich. Es schien, als wollte Mon unser ganzes Treffen über in der St. Patrick’s Cathedreal verbringen. Auf Dauer war mir dieser Schauplatz aber zu eintönig. Außerdem wollte ich gern einen Kaffee trinken.
Wir verließen die Kathedrale und ich fragte Mon, wann sie den Bus nach Hause nehmen müsse und ob sie in der Nähe ein Café kenne. Sie antwortete, dass in zwei Stunden ihr Bus vom Port- Authority-Bus-Terminal abfahre und dass sie mit einer Cousine mal ein Café beim Rockefeller Center besucht habe. Also machten wir uns auf den Weg zum Rockefeller Center. Hierbei musste ich die Führung übernehmen, weil sich Mon nicht gut auskannte. Sie kenne eigentlich nur den Weg vom Busbahnhof zu ihrem Büro und wenn sie sonst mit ihrer Familie in New York City sei, laufe sie den anderen immer hinterher. So ging es auch mir, wenn ich als Beifahrer im Auto saß. Ich kümmerte mich nicht darum, wie der Weg zum Ziel verlief, und kam deshalb oft in Schwierigkeiten, wenn ich später selbst mit dem Auto dieselbe Strecke fahren musste. Da ich in New York City aber auf mich allein gestellt war, hatte ich die wichtigsten Örtlichkeiten auf meinem faltbaren Stadtplan studiert, und wusste, in welche Richtung wir laufen mussten, um zum Rockefeller Center zu kommen.
Die Gehwege wurden von Passanten überfüllt. Öfters mussten wir den entgegenkommenden Leuten oder denen, die von hinten heraneilten und schneller unterwegs waren als wir, Platz machen, was unser Gespräch mehrmals unterbrach. Nur noch eine Ampel und wir hatten das Rockefeller Center erreicht. Wie vor dem Hauptsitz der Vereinten Nationen wehten Fahnen verschiedenster Staaten vor dem Gebäude, die es gemeinsam mit einer goldschimmernden Prometheus-Statue schafften, die beabsichtigte Monumentalität des Gebäudes zu unterstreichen. Außer Mon und mir wuselten Touristen und New Yorker auf dem zweigeschossigen Vorplatz des Rockefeller Centers, so dass wir wegen der vielen Sinneseindrücke für einige Augenblicke wie betäubt dastanden.
Eine junge Frau tippte Mon auf die Schulter und fragte, ob sie bereit sei, von ihr und ihrem Verlobten ein Bild aufzunehmen. Ich stellte mich auf die Seite, die beiden Verlobten in die Pose eines Liebespaares und Mon knipste, auf Wunsch, mehrere Fotos. Als die beiden mit ihrer Kamera wieder in der Menschenmenge um uns herum verschwunden waren, musste Mon rasch ihr Taschentuch zücken, weil sie ein Schnupfen plagte. Der kalte Wind, der an diesem Tag in den Straßen von New York City wehte, tat sein Übriges, um Mons Erkältung nicht abklingen zu lassen.
Wo das Café gelegen war, das Mon und ihre Cousine einmal besucht hatten, erinnerte Mon wieder. In dem Café war es angenehm warm. Ich sagte ihr, gleich als wir uns in die Schlange reihten, um uns etwas zu bestellen, dass ich sie einlade. Ich fragte mich, weshalb Mon nur eine kleine Tasse Grünen Tee bestellte. Lag es an ihrer Bescheidenheit (ich hatte einmal gelesen, viele indische Frauen seien bemüht, in Restaurants sehr wenig und nur die günstigsten Speisen zu bestellen, um damit zu demonstrieren, dass sie eine gute, weil anspruchslose Partie seien)? Lag es daran, dass Mon durch diese Einladung ein entstehendes finanzielles Ungleichgewicht bei unserem ersten Treffen vermeiden wollte? Oder lag es an etwas anderem? Zumindest ließ sich Mon zu einer Tasse Tee einladen und weil mein Hunger groß war, bestellte ich für mich außer einem Kaffee noch einen Bagel und einen Donut. Wir mussten warten, bis wir zwei freie Plätze fanden. Da es draußen vor der Tür so hektisch zuging und das Wetter ungemütlich war, fühlte ich mich in meinem Sessel besonders behaglich. Auch Mon schien sich über die Wärme zu freuen und hatte wieder in ihr Taschentuch geschnäuzt, bevor sie den ersten Schluck Tee trank. Sie lächelte. Von sich aus stellte Mon wenige Fragen. Ich hingegen stellte aufgrund meiner schlechten Angewohnheit, Pausen in Gesprächen schlecht ertragen zu können, schnell eine neue Frage:
„Wie lange bist du denn morgens unterwegs, wenn du von Newark nach New York City mit dem Bus fährst?“
An Mons Antwort kann ich mich nicht mehr erinnern, aber unser Gespräch geriet wieder in Fluss. Mon erzählte, dass es mit ihren Nachbarn häufig Probleme gäbe. Viele Afrikaner lebten in ihrem Viertel und es sei oft schwer, friedlich mit ihnen auszukommen. Mon konnte sich richtig über die Afrikaner in ihrer Nachbarschaft echauffieren. Das war interessant. Bislang kannte ich nur Mons sanfte Seite. Zu ihr mochte die chauvinistische Haltung gegenüber den Afrikanern, die sich jetzt offenbarte, nicht passen. Mon merkte selbst, dass sie dieses Thema zu sehr aufregte, um weiter darüber sprechen zu wollen. Dafür war die Zeit unseres Treffens zu kurz.
„Morgen hast du ja Geburtstag. Und am Montag fliegst du schon wieder zurück nach Deutschland. Was möchtest du dir denn noch in New York City anschauen?“
Daraufhin erzählte ich Mon von meinem Besuch im Museum-of-the-City-of-New-York und dass ich morgen eine Bootsfahrt auf dem Hudson River machen wolle. Vielleicht, fügte ich hinzu, sei am Montagmorgen neben meinem „geschäftlichen“ Termin noch Zeit, um das Guggenheim Museum oder das Jüdische Holocaust Museum am Battery Park zu besichtigen. Wie ich ihr von meinen Plänen erzählte (Gott sei Dank fragte sie mich nicht speziell, was ich am Sonntag vorhatte), öffnete Mon ihre Tasche, und als ich aufhörte, zu sprechen, überreichte sie mir ein Geschenk:
„Ich hab’ dir ein kleines Geschenk für deinen Geburtstag mitgebracht. Hoffentlich gefällt es dir?“
Bevor ich es öffnete, hatte ich aus meiner Tasche das Mitbringsel für Mon herausgeholt.
„Ich hab’ dir auch ein kleines Geschenk aus München mitgebracht.“
Nun hatten wir beide etwas zum Öffnen. Das Geschenk, das mir Mon gab, war geistreicher ausgewählt. Während ich ihr, wenn auch aus einem alteingesessenen Schokoladengeschäft in der Nähe der Münchener Frauenkirche, eine Schachtel Pralinen gekauft hatte, dessen Oberseite eine Photographie des Stadtpanoramas von München zierte, schenkte mir Mon einen drei Tage gültigen New York-Pass, dessen Gutscheine den Eintritt in New Yorker Museen und zu anderen Attraktionen vergünstigten oder kostenlos erstatteten. In einem beiliegenden Buch konnte ich detailliert nachlesen, welche Vorteile der Pass mit sich brachte. Da es viele US-Amerikaner liebten, gewöhnliche Gegenstände zu personalisieren, bot auch dieses Buch Platz dafür. Und Mon nutzte den Freiraum, indem sie folgende Widmung hineinschrieb:
„Für eine besondere Person zum 30. Geburtstag.“
Ich bedankte mich und sagte:
„Das ist wirklich ein prima Geschenk. Ich habe mir sogar überlegt, ob ich mir einen Pass kaufen soll. Gott sei Dank war ich zu sparsam. Als ich das letzte Mal in New York City war, hatte ich auch einen New York-Pass und war begeistert, was ich alles damit machen konnte.“
Mon freute sich.
„Prima, dass dir mein Geschenk gefällt. Hab’ auch Dank für die Schokolade – eine meiner Schwächen. Ich liebe Süßigkeiten, besonders wenn ich abends mit dem Bus nach Hause fahre. Und die Photographie von München wird mich an dich erinnern.“
Bei ihrem letzten Satz hatte Mon ihre zurückhaltende Art verloren.
„Das war meine Absicht“,
antwortete ich. Meine vorlaute Reaktion errötete Mon. Sie blickte nach unten und um den Ausdruck der Nähe zu kaschieren, blickte sie auf ihre Uhr:
„Wir haben ja schon fünf Uhr. Ich muss leider schon aufbrechen.“
Hier machte sie eine Pause. Ich hatte den Eindruck, Mon wollte mir die Möglichkeit geben, einzuhaken, sie zu bitten, länger zu bleiben, oder ein Wiedersehen in den nächsten Tagen vorzuschlagen. Ich ließ die Gelegenheit verstreichen. Und Mon fuhr fort:
„Vielleicht kommst du ja wieder mal nach New York City!?“
„Bestimmt. Und dann können wir uns wieder an der St. Patrick’s Cathedreal treffen.“
Ich war traurig und froh zugleich, dass unser Date zu Ende ging. Traurig, weil ich die angenehme- und unaufgeregte Atmosphäre unserer Verabredung mochte. Froh, weil ich mich gern ganz meinem Selbstgespräch widmen wollte, um über meine erste Begegnung mit Mon nachzudenken.
Mons Bus stand am Port-Authority-Bus-Terminal schon abfahrbereit. Ein Pulk von Menschen drängte sich davor und wollte hineingelassen werden. Gerade am Freitagabend war der Sogeffekt aus der Stadt heraus enorm. Die Leute aus den Vororten wollten zügig nach Hause, damit für sie endgültig das Wochenende beginnen konnte. Der Busfahrer öffnete die Tür und bald darauf standen nur noch wir beide allein vor dem Bus. Wir schauten uns an und ich küsste Mons linke- und rechte Wange, bevor ich zu ihr sagte:
„Danke für das Treffen.“
Darauf antwortete Mon:
„Hoffentlich kommst du bald wieder.“
Mon stieg in den Bus ein. Ich wartete noch, bis sie einen Sitzplatz gefunden hatte. Dann winkte ich ihr, als der Bus losfuhr.
Ich war immer noch hungrig. Auf dem Weg zum Financial District kam ich an verschiedenen Restaurants vorbei, aber es zog sich hin, bis eines von außen und durch das Fenster so aussah, dass ich hineinging. Als ich das Restaurant wieder verließ, war ich satt und zufrieden. Ich überlegte, ob ich nach dieser guten Erfahrung mit Mon, mich überhaupt noch mit Melissa treffen sollte. Denn mir war klar, Mon war die Nummer eins. Wann könnte ich das nächste Mal nach New York City fliegen? Was würden wir dann unternehmen? Beim wievielten Treffen würde mich Mon nach Hause zu ihren Eltern einladen? Würde sie vielleicht mal zu mir nach München kommen? Eventuell könnten wir uns bei einer Zwischenlandung von Mon auf dem Weg nach Indien am Münchener Flughafen treffen?
Es war inzwischen dunkel geworden. Ich spazierte durch den Financial District, bevor ich mich mit der Untergrundbahn zu meinem Hotel aufmachte. Ich beobachtete die Leute, die in den Straßen und Restaurants den Freitagabend zusammen verbrachten, schaute Geschäftsinhabern von Lebensmittelgeschäften dabei zu, wie sie die auf hölzernen Tischen angebotenen Waren in das Ladeninnere trugen, und begegnete einem Paar, das sich zur Begrüßung küsste und im Dunkel einer kleinen Gasse verschwand. Die Menschen, Geräusche und Lichter der Stadt hoben sich in einer undifferenzierbaren Einheit auf.
Mein 30. Geburtstag begann mit einem Spaziergang auf der Fifth Avenue. Die Sonne stieg vor einem klaren, blauen Himmel auf. Schöner konnte ich mir meinen Geburtstag nicht vorstellen. Allein in einer Metropole, bei meiner bevorzugten Wetterlage, sonnig und kühl, ohne nennenswerte Probleme. In den vergangenen 30 Jahren hatte ich wenig Pech gehabt. Nichts passierte mir, das mich traumatisiert hätte oder längere Zeit an der Welt hätte zweifeln lassen. Mit diesem unbeschwerten Gefühl lief ich zu dem Restaurant, in dem ich schon tags zuvor gefrühstückt hatte. Noch wusste ich nicht, wie ich meinen Geburtstag verbringen sollte. Unbedingt musste ich die Fahrkarten für die Zugfahrt nach Washington D.C. sowie ein Geschenk für Melissa kaufen und ihr meine Ankunftszeit mitteilen. Ansonsten schränkten mich keine Bedingungen ein, so wie ich es mochte. Jeglicher Zwang ärgerte mich. Ich versuchte öfters herauszufinden, was die Ursache dafür war, dass es zu meinen Charaktereigenschaften gehörte, nur die notwendigsten Dinge zu tun und mir darüber hinaus alle Verpflichtungen vom Hals zu halten. Außer meiner Arbeit und meinem ehrenamtlichen Engagement beim Roten Kreuz lehnte ich alles ab, was mich für längere Zeit hätte abhängig machen können. Selbst wenn mir meine Freiheit phasenweise zu viel wurde, schreckte ich davor zurück, sie aus dieser vorübergehenden Unsicherheit durch Aktivitäten, die Suche nach neuen Kontakten oder der Mitgliedschaft in einem Verein, aufzuheben. Früher hatte ich das getan. Da wollte ich noch dazugehören. Aber die Fadheit dieser bürgerlichen Zeitvertreibe hatte mich bald motiviert, zu meiner Freiheit zurückzukehren. Leicht war es, Gründe dafür in der Kindheit aufzuspüren. Musste ich die Ursachen dafür kennen? Im Widerspruch dazu stand meine Sehnsucht nach Zweisamkeit, die mich hierher nach New York City geführt hatte. Aus dieser Ambivalenz gab es offenbar kein Entkommen.
An meinem Nachbartisch blätterte eine Frau in einem Prospekt des New Yorker-Zoos. Lange hatte ich schon keinen Zoo mehr besucht. Ich nahm die Anregung auf und lief nach dem Frühstück in den unweit gelegenen Tierpark am Rand des Central Parks, bei dessen Kassiererin ich sogar einen Gutschein von Mons New York-Pass für eine Eintrittskarte eintauschen konnte. Ich malte mir aus, wie es sein würde, wenn ich einmal mit Mon gemeinsam den Zoo besuchte. Schon an diesem Tag hätte ich dies eventuell tun können, wenn ich Mon gestern danach gefragt hätte. Doch zu schnell wollte ich dem Wachsen unserer Beziehung nicht nachgeben. Ich schlenderte über das weitläufige Gelände und betrachtete interessiert die Tiere in ihren Gehegen. Glücklicherweise trennten mich Gitter und Zäune von ihnen. Ich mochte die Unberechenbarkeit von Tieren nicht. Lieber als Tiere waren mir Pflanzen. Deshalb zog ich Botanische Gärten vor. Aber die Frau an meinem Nachbartisch hatte nun einmal in einem Prospekt des Zoos geblättert und dieser war zentraler gelegen als der Botanische Garten. Und außerdem musste ich an diesem Vormittag noch die Zugtickets für meine Fahrt nach Washington D.C. besorgen.
Am Ticketschalter in der Pennsylvania Station verlangte der Angestellte Zusatzinformationen, von denen ich nicht wusste, warum er sie benötigte, so dass ich erst nach einigem Hin und Her meine Fahrkarte von ihm erhielt. Klüger geworden, wie schwierig es war, ein Internetcafé in New York City zu finden, fragte ich kurz entschlossen einen Obdachlosen, der in der Nähe des Fahrkartenschalters an einer Säule lehnte, wo ein Internetcafé sei. Er schaute verdutzt, dass er angesprochen wurde, konnte mir aber gleich darauf eine Wegbeschreibung geben und streckte mir reflexartig eine offene Hand entgegen, in die ich ihm eine Ein-Dollar-Note legte. Seine Wegbeschreibung erwies sich als zuverlässig. Aus dem Internetcafé schrieb ich Melissa, mit welchem Zug ich morgen ankommen und mit welchem ich abfahren würde und dass ich mich über unser Treffen sehr freute. Jetzt musste ich bloß noch ein kleines Geschenk für Melissa finden und alle notwendigen Besorgungen, die ich an diesem Tag erledigen musste, gehörten der Vergangenheit an. Auf die Schnelle fiel mir leider für Melissa kein kreativeres Geschenk ein als für Mon. Es ärgerte mich, weil ich selbst Geschenke bevorzugte, die eine persönliche Idee erkennen ließen. Unzufrieden über mich selbst kaufte ich dennoch in einem Schokoladengeschäft eine Packung Trüffelpralinen und versuchte, meine Zweifel darüber zu vergessen, dass ich mir mehr Zeit für das Umherziehen durch die Straßen von New York City als für die Auswahl eines persönlichen Geschenks für Melissa nahm.
Die Tradition, immer wenn ich mich in New York City aufhielt, eine Bootsfahrt auf dem Hudson River zu unternehmen, wollte ich auch dieses Mal, so kurz meine Anwesenheit auch dauerte, fortsetzen. Die Touristenschiffe legten an der unteren Westseite Manhattans ab. Gemächlich setzte ich mich in Richtung Pier in Bewegung und sah nur einige Straßenblöcke von der Pennsylvania Station entfernt einen Teil New York Citys, der nicht so glitzerte wie der um die Fifth Avenue. Er erinnerte mich an die Bilder aus der Bronx, die in einem meiner englischen Schulbücher abgebildet waren. Trostlos war es hier. Ich sah Autowerkstätten, in denen tätowierte Männer in ölverschmierten Blaumännern arbeiteten, heruntergekommene Friseursalons, in denen Rentner über Sport und Politik stritten und Häuserfassaden, die vielleicht in den 1930er Jahren für Glanz gesorgt hatten, nun aber einen desolaten Eindruck machten, der darauf hoffen ließ, dass sie bald eingerissen oder renoviert werden würden. Ich begegnete nur Männern in diesem Viertel. Die Frauen schienen sich hier schon lange nicht mehr wohl zu fühlen.
Am Anlegesteg reihte ich mich in die Schlange der Passagiere ein. Pünktlich um 14:30 Uhr wurden wir aufs Schiff gelassen, nachdem unsere Rucksäcke und Taschen stichprobenweise gescannt wurden. Mit dem flauen Gefühl, meine Sicherheit sei gefährdeter als sonst, das mich auch bei den anderen Touristenattraktionen in New York City begleitete, suchte ich mir einen Platz auf der Backbordseite in der Nähe eines Lautsprechers, so dass ich dem Vortrag des Reiseführers Harry gut folgen konnte. Wir legten ab und Harry erzählte in US-amerikanischer Manier locker und humorvoll von der Geschichte der Gebäude, an denen wir vorbeischipperten, von Zahlen und Fakten über New York City, den Ereignissen rund um den 11. September, der Bedeutung der Freiheitsstatue und vielem mehr.
Wie ich Harry zuhörte und auf New York City schaute, zogen Bilder meiner damaligen Bootstouren auf dem Hudson River vor meinem inneren Auge vorbei. Wovon ich damals noch tagträumte, war ein stückweit Wirklichkeit geworden. Ich wünschte mir, US-Amerikaner besser kennen zu lernen, am liebsten weibliche-, und vielleicht einmal für längere Zeit in den USA zu wohnen. Von dem Gedanken, dauerhaft in den Vereinigten Staaten zu leben, war ich weit entfernt. Aber dass ich mittlerweile zwei US-Amerikanerinnen schon gut kannte, ließ mich weiter tagträumen, während Harry die Schönheit seiner Stadt beschwor, dass ich eines Tages auch in den USA wohnen würde.
Als das Schiff auf der Höhe der Williamsburg Bridge wendete und Harry in seiner Pause heimlich eine Zigarette rauchte, überlegte ich, wie der kommende Tag ablaufen würde. Ich fühlte mich gelassener als bei meiner Ankunft in New York City, weil das Treffen mit Mon erfolgreich gewesen war. Obwohl die Verabredung mit Melissa keine große Bedeutung mehr für mich besaß, wollte ich an ihr festhalten. Wie unkompliziert sich Melissa verhalten hatte, als wir unsere Verabredung in Washington D.C. vorbereitet hatten, verblüffte mich. Dass dies möglich war, hatte ich nach den monatelangen, unerquicklichen Diskussionen über die Unterschiede von Katholiken und Protestanten und über die Vor- und Nachteile, Sex vor der Ehe zu haben, nicht mehr geglaubt. Diese Auseinandersetzungen sprachen dafür, dass die Zeit gekommen war, das virtuelle Feld zu verlassen.
Unser Schiff legte wieder am Pier an. Es verging eine Weile, bis alle Passagiere von Bord gegangen waren und ich westlich am Central Park zurück zu meinem Hotel spazierte. Ich lag auf meinem Bett und versuchte einzuschlafen, war aber zu aufgeregt dafür. Darum zog ich mich wieder an, setzte mich in einem Restaurant an die Bar, schäkerte mit der Barkeeperin und trank auf ihr Wohl eine Margarita.
Am nächsten Morgen fuhr ich von der Pennsylvania Station in aller Frühe los. Nach ein paar Minuten war von den Hochhäusern Manhattans nicht mehr viel zu sehen. Der Zug durchquerte größere Städte wie Baltimore und Philadelphia, Kleinstädte und Dörfer, mal malerisch, mal unansehnlich, wie verschiedenfarbige und verschiedengroße Perlen die Eisenbahnstrecke die Ostküste in Richtung Süden säumten.
Fahrplanmäßig sollte mein Zug gegen 11 Uhr in Washington D.C. eintreffen. Nach etwa einer Stunde Fahrt blieb der Zug wegen eines Motorschadens stehen und wir mussten zwei Stunden warten, bis die Reise fortgesetzt werden konnte. Ich überlegte, ob ich Melissa anrufen sollte, war mir aber sicher, dass sie in Washington D.C. an den Zuganzeigen von der Verspätung erfahren würde. Damit mir das Warten nicht zu schwer fiel, nutzte ich die Zeit und bestellte mir eine Lasagne, die in einer Folie in die Mikrowelle gesteckt wurde und dann so heiß war, dass ich sehr vorsichtig die Folie entfernen musste, um mir die Finger nicht zu verbrennen. In Deutschland hätte mich eine ähnlich lange Fahrtunterbrechung geärgert und nervös gemacht. Hier in den USA fand ich es aufregend, aber wahrscheinlich auch nur deshalb, weil ich im Urlaub war und nichts dagegen hatte, dass die Verabredung mit Melissa damit auf drei Stunden verkürzt wurde. Denn um 16 Uhr musste ich von Washington D.C. wieder losfahren. Außerdem, dachte ich, sei es gerecht, dass beide Verabredungen ungefähr gleich lang dauerten.
Kurz bevor mein Zug in den Bahnhof einfuhr, erging es mir nicht anders als vor dem Treffen mit Mon. Meine Aufregung stieg an. Mein Herz schlug spürbar. Bis zur Kehle drangen die Herzschläge. Ich stieg aus dem Zug und sah aus der Ferne Melissa, die am Kopf des Bahngleises wartete. Wie ein kleines Mädchen hielt sie mit herunterhängenden, die Hände gekreuzten Armen eine Tasche fest und wippte mit ihrem Körper leicht hin und her. Anders als bei Mon umarmte ich Melissa zur Begrüßung. Sie hatte sich irgendeinen deutschen Satz zu Recht gelegt, den sie mir sagte, den ich aber wegen meiner Nervosität, der Umarmung und dem Trubel am Bahnsteig nicht verstanden hatte. Wir liefen vom Bahngleis in die Bahnhofshalle und sprachen über die Verspätung des Zuges. Bereits im Zug hatte ich überlegt, dass wir vielleicht einfach spazieren gehen sollten. Da ich aber nicht wusste, ob Melissa schon etwas gegessen hatte, fragte ich sie danach. Sie hatte während der Wartezeit einen Mantel gekauft und war deshalb noch hungrig. Es war ein grauer Frühlingsmantel, dessen Stoff leicht knitterte und dessen drei große, kreisrunde Knöpfe zugeknöpft waren. Dazu trug sie Jeans und Turnschuhe. Melissas Haar war in der Mitte gescheitelt. Sie holte aus ihrer Tasche einen Stadtplan von Washington D.C., auf dem wir schauten, wie weit das Lincoln Memorial vom Bahnhof entfernt lag. Dabei zeigte mir Melissa mit einem Schmunzeln, dass sie auch an ein Deutsch-Englisches Wörterbuch gedacht hatte. Also, organisiert war Melissa. Da gab es keine Einwände. Wir entschieden uns, zunächst zum Kapitol und anschließend zum Lincoln Memorial zu laufen, und wenn wir auf dem Weg ein Restaurant fänden, in dem Melissa etwas essen wollte, würden wir dort Halt machen. Dass ich in drei Stunden wieder zurück nach New York City fahren musste, wusste Melissa schon, seitdem sie meine E-Mail vom Vortag erhalten hatte. Befreit, die Begrüßung ohne größere Aussetzer hinter uns gebracht zu haben, verließen wir die Bahnhofsvorhalle.
Melissa sprach ununterbrochen. Zuerst ging es darum, wie unentschieden sie sei. Das wäre auch der Grund, warum sie noch nicht wisse, was sie essen wolle. Sie fragte, ob es mir schon während unseres E-Mail-Austauschs aufgefallen wäre, dass sie Schwierigkeiten habe, sich zu entscheiden. Die Höflichkeit der Wahrheit vorziehend verneinte ich ihre Frage. Nachdem sie weiter Vertrauen zu mir gefasst hatte, erzählte sie frank und frei, dass sie ihr Vater bestimmt fünf Mal angerufen habe, um nachzufragen, wie es ihr gehe. Er habe Angst, dass ich ihr etwas Böses antun könne. Aber jetzt habe sie ihr Handy ausgeschaltet. Ich dachte mir, Melissa sei ein nervöses Huhn, und wünschte mir Mon herbei. Aber die drei Stunden würde ich schon rumkriegen, einfach höflich sein, zuhören und dann wieder weg, zurück nach New York City.
Das Kapitol vor Augen sahen wir an einer Straßenecke ein Schnellrestaurant, in dem Melissa ein belegtes Brötchen essen mochte. Da ich mich beim Essen immer schlecht parallel auf ein Gespräch konzentrieren konnte und schon die Lasagne im Zug gegessen hatte, bestellte ich nur einen Softdrink und lud Melissa zu dem belegten Brötchen ein. Wir gingen zu einem der Tische auf der Galerie und Melissa knöpfte die drei Knöpfe ihres neuen, grauen Mantels auf. Von ihrer Figur konnte ich nicht viel erkennen, weil sie sich gleich setzte und ihr Pullover, dessen Blautöne in einem chaotischen Muster angeordnet waren, ihren Oberkörper zu einem flauschigen Rechteck formte. Während ich kaum zu Wort kam, redete Melissa von ihrem Medizinstudium und ihrem bevorstehenden Abschluss. Das Meiste, was sie mir berichtete, kannte ich bereits aus den E-Mails und so verglich ich einfach, ob die Informationen übereinstimmten. Sie taten es.
Mir fiel auf, und meine Mundwinkel mussten sich bei dem Gedanken bewegt haben, wie sich Mon und Melissa äußerlich voneinander unterschieden. Während Mon bei unserem Treffen ihren eleganten Business-Hosenanzug trug, kam Melissa in Turnschuhen, Jeans und dem blauen Pullover zu unserer Verabredung. Melissa konnte ihre Herkunft aus einem ländlich geprägten Bundesstaat mit dem Motto „Agriculture and Commerce“ nicht verbergen. Die Großstadt San Francisco, in der sie seit einigen Jahren studierte, hatte offensichtlich wenig Einfluss auf Melissas Kleidungsstil. Zwar war Melissas neuer Mantel adrett. Doch in Kombination mit der restlichen Kleidung wirkte er ulkig. Deshalb bewegten sich meine Mundwinkel und weil mein Schmunzeln nicht zu dem passte, worüber Melissa gerade sprach, fragte sie nach dessen Grund. Hilflos antwortete ich, ich freute mich einfach, dass wir uns zum ersten Mal begegneten.
Von dem belegten Brötchen hatte Melissa nur die Füllung, Salat und Hühnchen, gegessen und ließ das Brot auf dem Tablett liegen. Ihr Getränkebecher blieb halb voll zurück. Genauso wie am Freitag mit Mon im Café unweit des Rockefeller Centers tauschten wir am Ende des Besuchs in dem Schnellrestaurant unsere Geschenke aus. Melissa war so kreativ wie ich. Sie schenkte mir Trüffelschokolade von San Francisco. Ich schenkte ihr Trüffelschokolade aus New York City. Wir lachten über dieses unfreiwillige Tauschgeschäft, packten unsere Geschenke ein und stiegen die Treppe, die das Erdgeschoss mit der Galerie verband, wieder hinunter. Beim Verlassen des Schnellrestaurants hielt ich Melissa die Eingangstür auf, was sie wortlos, aber mit einer charmanten Geste beantwortete.
Melissa war in Liebesangelegenheiten merkbar routinierter als Mon. Die Häufigkeit, in der Melissa auf ihr werbendes Verhalten zurückgriff, und die Art, wie sie es tat, betonten aber ihr kindliches Wesen. Sie plapperte drauf los, ohne darüber nachzudenken, welche Wirkung ihre Worte entfalteten. Sie lachte laut heraus, wenn sie etwas komisch fand. Und nur, weil es unsere erste Verabredung war, biss sie sich auf die Zunge, wenn ihr das, was sie sagen wollte, zu deutlich erschien.
Auf dem Weg den Jefferson Drive entlang fragte ich Melissa nach ihren Zukunftsplänen. Melissa holte weit aus, als sie ihre Beweggründe schilderte, weshalb sie ihre Residency statt am University-of-California-San-Francisco-Medical-Center, an dem sie bislang ihre Praktika absolviert hatte, am Diamond Krankenhaus in Honolulu machen wolle. Sie mochte ihren Beitrag dazu leisten, dass die hawaiianischen Kinder die gleiche medizinische Versorgung erhielten wie die Kinder auf dem US-amerikanischen Festland. Melissa hatte sich beworben, sich während ihrer Residency auf dem Gebiet der plastischen Gesichtschirurgie zu spezialisieren. Ihre Schwärmerei über ihre soziale Ader und die Notwendigkeit, sich für das Wohl hawaiianischer Kinder einzusetzen, war mit einem guten Schuss baptistischem Missionseifer vermengt und damit ein explosives Gemisch, das durch kritische Nachfragen leicht hätte entzündet werden können. Darum bändigte ich meinen Widerspruchsgeist.
Nachdem Melissa aus ihrer Tasche die Sonnenbrille herausgeholt hatte, die ich schon von den Hawaii-Bildern kannte, traten wir vom Lincoln Memorial, vor dem wir uns auf eine Bank gesetzt hatten, den Rückweg an. Wir hatten nur noch eine Stunde Zeit, um zum Bahnhof zurück zu laufen.
Diese Wende läutete bereits das Ende unseres ersten Dates ein. Melissa beeilte sich, nach meiner Promotion und meinem Arbeitsplatz zu fragen. Bereits beim Lesen ihrer E-Mails fiel mir auf, dass für sie meine Promotion wichtig war. Für Melissa bedeutete die Promotion ein Herausgehobensein aus der breiten Masse, eine Auszeichnung für gesunden Ehrgeiz, ein Ausdruck für Ehre und Reichtum. All dies hatte Melissa mit ihrem Medical Doctor in ein paar Wochen selbst erreicht. Aber dennoch schien es vordringlich für sie zu sein, dass ich ebenfalls auf dieser Stufe stand. Vieles, das sie mit der Promotion assoziierte, war aus meiner Sicht falsch. Gerade ihre Überzeugung, wer promoviert wäre, verdiente viel Geld, traf für den deutschen Arbeitsmarkt nicht zu. Auch dass ich in einem deutschlandweit bekannten Architekturbüro angestellt war, beflügelte ihre Phantasie. Sie fragte mich, wie viel ein Architekt mit einem eigenen Architekturbüro in Deutschland verdiene, was ich ausweichend beantwortete. Bis jetzt reichte ihr die Vorstellung aus, ich könnte eines Tages ein hohes Gehalt bekommen. Zurzeit war dieses Gehalt noch bescheiden, aber meine Arbeitsumstände waren angenehm. Ich konnte ja größtenteils von zu Hause aus arbeiten, was mir wie auf den Leib geschneidert war. Genau wie zu meiner Promotionszeit konnte ich mir einteilen, wann ich meine Aufgaben erledigte. Neu war, dass ich auch ein Gehalt dafür erhielt und mich finanziell selbst versorgen konnte. Ich erzählte Melissa von den Vorzügen, von zu Hause aus zu arbeiten, und fragte sie, ob sie sich das nicht auch wünsche.
„Nein, nein“,
antwortete Melissa. Sie sei froh, mit Kollegen im Krankenhaus und Kommilitonen an der Universität zusammenzuarbeiten. Manchmal gäbe es zwar die üblichen Streitereien, vor allem mit ihren Kommilitoninnen, aber allein von zu Hause aus zu arbeiten, das wolle sie nicht. Während ihres Medizinstudiums und auch jetzt in den letzten Wochen bis zum Abschluss bereite sie sich am liebsten in Lerngruppen auf die Prüfungen vor, anstatt allein in der Bibliothek oder auf dem Zimmer zu sitzen. Sei sie zu lange mit sich allein, würde sie ins Grübeln kommen und sich einsam fühlen.
„Du fühlst dich einsam?“,
fragte ich.
„Ja, weil ich mich nicht fühle, wenn ich einsam bin. Klingt komisch. Ich weiß“,
antwortete sie.
Plötzlich und ungeplant geriet unser Gespräch auf eine Ebene, die für ein erstes Treffen unüblich war. Melissa blickte zu Boden und wir gingen mehrere Schritte, ohne ein Wort miteinander zu reden. Dann zitierte ich einen Satz, den ich in einem Buch gelesen hatte, weil mir nichts Besseres einfiel:
„Die Stille ist eine Gefahr. Sie ist so gefahrlos, dass in ihr das Gefährliche ins Bewusstsein tritt.“
Statt die Situation zu entschärfen und wieder normal weiter reden zu können, legte das Zitat Melissas Problem mit der Stille endgültig bloß. Sie schaute kurz auf, dann gingen wir wieder wortlos einige Meter, worauf ich sagte:
„Manchmal wird mir die Stille auch zu viel. Abends, wenn die Leute von der Arbeit wieder nach Hause fahren, nehme ich die Bahn nach München, um unter Menschen zu kommen und Freunde zu treffen. Ohne diese Ausflüge würde ich die Stille wahrscheinlich auch schwer ertragen können.“
Als sich Melissa wieder gefangen hatte, redete sie fröhlich von ihrem bevorstehenden Umzug von San Francisco nach Honolulu. Wir liefen am Weißen Haus vorbei, die New York Avenue bis zum Mount Vernon Square und bogen anschließend in die Massachusetts Avenue nach rechts ein, um bald darauf zum Bahnhof zu gelangen. Melissa schmeichelte mir mit Komplimenten. Eines, was sie im Verlauf unserer Beziehung oft erwähnte, war, dass mein Englisch gut sei. Ich genoss das Kompliment, weil, obwohl die Unterhaltung mit Mon gut funktioniert hatte, ich unsicher war, wie weit mich mein Englisch im Gespräch mit Melissa tragen würde. Und die Aussicht, dass unser erstes Treffen nun ebenfalls zu Ende ging, löste größtenteils meine Anspannung auf. Meine Freude, dass auch mein zweites Date erfolgreich verlaufen war, wuchs mit jedem Schritt, den wir das Bahnhofsgebäude besser sahen.
In der Bahnhofshalle schauten wir, an welchem Gleis der Zug zurück nach New York City abfuhr. Ich hatte Sorge, die Verspätung meines Zuges könne den Fahrplan durcheinander gebracht haben und sich damit auf meine Rückfahrt auswirken. Doch von einer Verspätung des Zuges war auf den Monitoren nichts zu lesen und das Gleis in Sichtweite konnten wir sogar schon den Zug sehen, in den andere Reisende bereits einstiegen.
Ich versuchte, in der verbleibenden Zeit bis zur Abfahrt über allgemeine Themen zu sprechen, um den Abschied nicht unnötig zu dramatisieren und keine romantische Nähe aufkommen zu lassen. Dass Melissa das Gegenteil beabsichtigte, wurde mir klar, als ich die meiste Zeit sprach und ich sie beobachtete, wie sie nicht unterdrücken konnte, als Reaktion auf meine geschichtlichen Ausführungen zur Union Station mit ihren Augen zu rollen. Irgendwann merkte sie, dass ich bis zur Verabschiedung über die Geschichte des Washingtoner Bahnhofs erzählen würde, wenn sie nicht aktiv das Gespräch auf eine andere Bahn bugsierte. Deshalb fragte sie mich:
„Wann sehen wir uns wieder?“
Genau diese Frage, von der ich vermutete, dass sie mir Melissa stellen würde, hätte ich am liebsten erst kurz bevor ich in den Zug eingestiegen wäre, ausweichend beantwortet. Bis dahin blieben aber noch etwa fünf Minuten Zeit. So antwortete ich:
„Gute Frage. Leider zahlen meine Chefs nur selten Geschäftsreisen. Nur in dringenden Fällen. Aber vielleicht ergibt sich wieder die Möglichkeit, geschäftlich in die USA zu reisen. Vielleicht muss ich mal zum Getty Museum in Los Angeles. Dann können wir uns an der Westküste auf einen Kaffee treffen.“
Meine vage Antwort gefiel Melissa nicht:
„Komm’ doch einfach mal für längere Zeit, wenn du Urlaub hast. Ich hab’ gehört, dass ihr in Deutschland sechs Wochen Urlaub pro Jahr habt. Dass ist eine ideale Zeitspanne, um auf Hawaii Urlaub zu machen. Und weil ich dort in drei Monaten eine eigene Wohnung haben werde, musst du nur den Flug bezahlen. Ist das nichts?“
Melissas Pragmatismus hatte ich wenig entgegenzusetzen:
„Warum nicht. Es stimmt. Wir haben ungefähr sechs Wochen Urlaub, aber wir dürfen sie nicht am Stück nehmen. Aber für zwei bis drei Wochen könnte ich sicher nach Hawaii fliegen.“
Nun war ich dort angelangt, wo ich nicht hinwollte. Ich war mit der Überzeugung nach Washington D.C. gefahren, dass ich Mon favorisierte. Melissa wollte ich treffen, weil es schade gewesen wäre, nach unserer bloßen E-Mail-Bekanntschaft nicht auch einmal ein realistisches Bild von ihr zu erhalten. Ich versuchte aber keineswegs, unser Verhältnis voranzutreiben. Im Verlauf unserer kurzen Begegnung vermied ich, Signale zu senden, die Melissa als Versuche hätte verstehen können, ich sei an einer Vertiefung unserer Beziehung interessiert. Deshalb ließ ich Melissas Überleitung zu einem möglichen Urlaub auf Hawaii im Ungefähren. Doch allein ihre Einladung dazu vergrößerte für mich den Verbindlichkeitsgrad zwischen ihr und mir im Vergleich zu dem, der zu Mon entstanden war. Denn obwohl ich auch mit Mon ein nächstes Treffen in New York City angesprochen hatte, blieb diese Vorausschau unverbindlicher, was mir mehr zusagte als die konkrete Vorstellung, mit Melissa meinen nächsten Urlaub auf Hawaii zu verbringen. Meine Vorliebe, Verabredungen einfach zu Ende gehen zu lassen und danach abzuwarten, was die Zukunft brachte, war mir mit Mon besser als mit Melissa geglückt.
Melissa wirkte fröhlicher, nachdem sie den nächsten Wegpfeiler für unsere Beziehung gesetzt hatte. Jetzt musste sie nicht mehr mit den Augen rollen, sondern bereitete sich zielstrebig auf das Finale unserer ersten Verabredung vor. Wir stellten uns an den Anfang des Zuges, wo noch viele andere Paare standen, und Melissa ging einen halben Schritt auf mich zu. Damit stand sie mir so nah, dass mein Sichtfeld beinahe komplett mit ihrem Gesicht ausgefüllt war. Diese körperliche Unausweichlichkeit und ihr erwartungsfroher Blick ließen den Schluss zu, sie wolle unser Date mit einem ersten Kuss besiegeln. Dies wollte ich nicht. Mein Herz hing an Mon und deshalb wählte ich den Kompromiss und umarmte Melissa, was sich allerdings verzögerte. Denn als ich zur Umarmung ansetzte, begann Melissa auf einmal ihren Mantel zuzuknöpfen. Meine Arme ausgebreitet stand ich also ein paar Augenblicke vor ihr und wartete, bis sie ihren Mantel geschlossen hatte, bevor ich meine Arme um ihre Schultern legen konnte. Anstatt sich mit der Umarmung zufrieden zu geben, schauten mich ihre großen Augen weiterhin erwartungsvoll an. Ich begann, ihr alles Gute bei den Examina ihres Medizinstudiums zu wünschen, sagte, ich freue mich auf ihre nächste E-Mail, und weil sie mich immer noch anblickte, als würde sie mehr wollen, umarmte ich Melissa erneut, flüchtiger als beim ersten Mal, und sagte dann nur noch:
„Mach’s gut!“
Als ich mich umdrehte, sah ich in meinem Augenwinkel, wie sich Melissa von meiner abrupten Verabschiedung überrascht zum Ausgang wendete. Ohne mich umzublicken, lief ich den Zug etwa bis zur Mitte entlang und stieg dann in eine seiner offenen Türen ein.
Geschafft. Ich ließ mich in einen Sitz fallen und war zufrieden, dass meine Dates mit Mon und Melissa erfolgreich verlaufen waren. Als mein Zug den Bahnhof verließ, war es hell genug, aus dem Fenster auf die Landschaft mit seinen Städten und Dörfern zu schauen. Ich dachte an Melissas Vater, der Angst hatte, seiner Tochter könnte während des Treffens etwas zustoßen. Ich hoffte, Melissa würde gut in ihr Hotel zurückkommen, dann, wie geplant, von Montag bis Freitag den Ärztekongress besuchen und unbeschadet Ende der Woche wieder in San Francisco landen. Wäre ihr in dieser Woche etwas zugestoßen, der Verdacht wäre auf mich gefallen. Also glaubte ich, ich könnte eigentlich erst in einer Woche entspannt sein, wenn ich wusste, Melissa war wieder gesund in San Francisco heimgekehrt. Außerdem musste ich mir eingestehen, dass mir Melissas lebendige Art und das damit einhergehende fordernde Verhalten zusagten.
Der halbe Schritt auf mich zu, den sie bei unserer Verabschiedung am Bahnhof gegangen war, erinnerte mich während meiner Zugfahrt nach New York City an eine unfreiwillige Begegnung mit einem Hund. Vor einigen Jahren hatte ich für einige Tage ein Kloster am Bodensee besucht. Morgens hatte ich zwischen dem Ende der Frühmesse und dem Beginn des Frühstücks einen Spaziergang auf den Feldern unternommen, die sich um die Klosteranlage erstreckten. Bei meinem letzten Spaziergang geschah es. Wie aus dem Nichts kam ein Hund auf dem Feldweg auf mich zugeeilt. Normalerweise war ich Hunden immer aus dem Weg gegangen. Ich hatte nie schlechte Erfahrungen mit Hunden gemacht, wurde nicht gebissen, nahm aber meistens einen Umweg, wenn ich von weitem einen Hund kommen sah. In der Stadt war das gut möglich. Ich musste nur die Straßenseite wechseln und es war der Hundehalter dabei, der den Hund meistens an der Leine hielt. Hier in der freien Natur war ich dem Hund ausgeliefert. Ich überlegte, ob ich wegrennen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder, da der Hund sowieso schneller war als ich und ich seine Lust, mich zu erreichen, wahrscheinlich nur gesteigert hätte. Ich blieb also wie versteinert stehen und wartete, was passierte. Der Hund rannte und verlangsamte sein Tempo erst wenige Schritte vor mir. Anstatt mich anzuspringen und zu bellen, was ich befürchtet hatte, rieb er sich grob mit seinem Körper an meinem rechten Bein. Dieses kindliche, unmittelbare und stürmische Zeichengeben, er wollte gestreichelt werden, verstand ich und begann beruhigend auf seine Seite zu klopfen und ihm den Rücken zu kraulen. Bevor ich mich während des Streichelns von meiner Aufregung erholen und begreifen konnte, dass der Hund außer gestreichelt werden zu wollen, nichts Böses vorhatte, rannte er, so schnell er angelaufen kam, wieder davon. Mein Herz schlug immer noch heftig, ähnlich stark wie nach den zwei Umarmungen von Melissa als ich den Bahnsteig entlang lief und ohne zurück zu schauen, den Zug betrat.
Ich dachte darüber nach, ob sich aus der Beziehung mit Melissa mehr entwickeln könne. Ihre Eigenschaft, dass sie bereits Erfahrungen mit der Männerwelt gesammelt hatte und den Eindruck erweckte, weitere sammeln zu wollen, war eine verlockende Perspektive. Bereits im Zug von Washington D.C. zurück nach New York City vermutete ich, dass ich mit Melissa wegen unserer von westlichen Kulturen geprägten Weltanschauungen, Beziehungsmustern und -rhythmen einfacher eine feste Beziehung eingehen könnte als mit Mon, deren Denken und Handeln von der indischen Kultur bestimmt waren. So sehr ich Mon mochte und obgleich ich ihr vom Wesen ähnlicher war und mich in ihrer Gesellschaft wohler gefühlt hatte als in Melissas-, wurde mir bewusst, dass ich für die weitere Pflege der Beziehung zu Mon viel Zeit und Geduld investieren müsste, ohne zu wissen, ob sie eines Tages Früchte tragen würden. Nichtsdestotrotz. Mon blieb meine Favoritin, auch als ich nach vielen weiteren Gedankengängen die nächtliche Skyline von New York City sah und wenig später mein Zug in der Pennsylvania Station anhielt. Mein Bedürfnis, über meine Dreiecksbeziehung zu sinnieren, war noch nicht gestillt. Darum entschied ich mich kurzerhand, zu Fuß von der Pennsylvania Station durch die nächtlichen Straßen von New York City bis zu meinem Hotel zu laufen.
Den Montagvormittag verbrachte ich im Jüdischen Holocaust-Museum, womit ich einen weiteren Gutschein von Mons New York-Pass einlöste. Bedrückt von den Bildern und Informationen freute ich mich über den abschließenden Blick aus dem Museum auf die Freiheitsstatue. Am Ende siegte die Freiheit. Dieser Gewissheit konnte ich leider nicht lange anhängen, weil ich meiner Schwester versprochen hatte, ihr neue Jeans aus den USA mitzubringen. Auch wollte ich nochmals zur St. Patrick’s Cathedreal gehen. An der gegenüberliegenden Straßenseite der Kathedrale angelangt bekam ich Bedenken, ihr näher zu kommen, geschweige denn ihren Innenraum zu betreten. Ich wollte die Erinnerungen an Mon und die Kathedrale nicht durch neue Eindrücke stören. Ich lief also direkt zur nächsten Haltestelle der Untergrundbahn und machte mich auf den Weg zu meinem Hotel. Dort wartete schon ein Sammeltaxi, das, wie bei der Anreise, an mehreren Hotels Halt machte, weitere Gäste mit deren Gepäck aufnahm und uns voll beladen über die Williamsburg Bridge durch den Stadtteil Queens zum John-F.-Kennedy-Flughafen brachte.
Bevor ich wieder über Detroit nach München zurückflog, hatte ich von einem öffentlichen Computer, der im Sicherheitsbereich des Flughafens für die Passagiere aufgestellt war, nach neuen E-Mails geschaut. Außer Werbung fand ich zwei Nachrichten. Eine kam von Mon, die andere von Melissa. Mon schrieb:
„Hallo, ich glaube, heute verlässt du wieder NYC. Ich möchte mich noch einmal bedanken, dass du dir Zeit genommen hast, um dich mit mir zu treffen. Schon auf der Busfahrt am Freitagabend von NYC nach Newark habe ich deine ganze Schokolade aus München aufgegessen. Zu Hause habe ich dann die schöne, hölzerne Schachtel sauber gemacht und in mein Regal gestellt. Jetzt beginnt für mich wieder eine ganz normale Arbeitswoche. Ich hoffe, du hast einen guten Flug zurück nach Deutschland.“
Und anschließend las ich Melissas Nachricht:
„Ehrlich gesagt, ich vermisse dich.“