Читать книгу Ein Umweg über Honolulu - Leo Gold - Страница 5

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Ich war froh, als nach diesem Wochenende wieder mein Alltag begann. Ich wollte die Beziehungen zu Mon und Melissa in demselben Stil wie vor meiner USA-Reise weiterführen. Auch Mon schien dies zu bevorzugen. Sie begann, mir wieder im Wochenrhythmus zu schreiben. Melissa hingegen beschleunigte das Tempo.

Auf ihre Nachricht, die ich am John-F.-Kennedy-Flughafen gelesen hatte, war ich nicht eingegangen. Jede Antwort hätte enthüllt, ob ich mir eine Festigung unserer Beziehung vorstellen konnte oder nicht. Melissas Satz stellte einen Lackmustest für den Stand unserer Beziehung dar. Doch über den Lackmusstreifen, den sie mir hinhielt, wollte ich noch keine Flüssigkeit gießen.

Ich versuchte, unverfängliche Themen einzuführen, um Melissa von ihrem Wunsch abzulenken, schnell Sicherheit bezüglich unserer Beziehung zu erhalten. Davon ließ sich Melissa wenig beeindrucken. Sie schrieb, ihr sei während unseres Treffens und in den Tagen danach deutlich geworden, dass die Diskussion, die wir über den Konfessionsunterschied geführt hätten, dumm gewesen wäre. Melissa entschuldigte sich für ihre Renitenz und schrieb, es mache für sie keinen Unterschied mehr, ob ich katholisch oder evangelisch sei.

Ihr Sinneswandel erfolgte plötzlich. Was hatte Melissa im Verlauf unseres Gespräches davon überzeugt, dass der Konfessionsunterschied keine unüberwindbare Barriere mehr war? Zumindest hatten wir uns über ihn in Washington D.C. gar nicht unterhalten. Reichte ein einziges Treffen aus, ihre Prinzipien unwirksam zu machen? Ich war es aber leid, die alte Diskussion fortzuführen oder durch eine neue- über die Solidität von Melissas Prinzipien zu ersetzen. Deshalb antwortete ich:

„Dann haben wir ja eine der beiden unüberwindbaren Blockaden aus dem Weg geräumt.“

Ich konnte diese ironische Bemerkung nicht ungeschrieben lassen. Außerdem hielt ich sie für gefahrlos, dadurch die Verbindlichkeit unserer Beziehung zu erhöhen. Denn Melissa hatte nach dem Wochenende in den USA von der zweiten Blockade, unsere gegensätzlichen Auffassungen zum Thema voreheliche Sexualität, nichts geschrieben. Und so ging ich davon aus, dass diese eine feste Beziehung weiterhin sicher blockierte.

In der zweiten Woche nach meiner Ankunft verabredete ich mich mit Katharina und Martin in unserem Stammlokal. Ich kannte Martin seit meiner Grundschulzeit. Unsere Klassenlehrerin hieß Frau Goethe. Sie war weder verwandt noch verschwägert mit dem deutschen Dichter. Doch sie verehrte ihn. An Wochenenden und Schulferien studierte sie Goethes Werke und reiste zu den Orten, die er in seinen Werken beschrieben hatte. Frau Goethes Versuche, uns ihren Lieblingsautor nahezubringen, stieß bei Martin auf Widerstand. Literatur gehörte nicht zu Martins Interessen. Dagegen erreichten Frau Goethes Bemühungen, weitere Anhänger des Dichterfürsten zu finden, bei mir ihr Ziel. Trotz unserer Unterschiedlichkeit, Martin war extrovertiert, ich introvertiert, blieb unsere Freundschaft durch die Schulzeit hinweg bestehen, und – was bemerkenswert war – auch später noch.

Martin besaß mehrere Bars in München und Umgebung, blieb aber in unserer Geburtsstadt wohnen. Mittlerweile liefen seine Geschäfte gut und er konnte seinen Mitarbeitern so weit vertrauen, dass er sich bis auf wenige Ausnahmen nur noch zu den normalen Bürozeiten um sein Unternehmen kümmern musste. Standesgemäß fuhr er eine schwere, schwarze Limousine. Martin fiel es leicht, in seiner offenen Art mit Frauen zu flirten und sie kennen zu lernen. War er fest liiert, blieb er ihnen treu.

Seit einem Jahr war er mit Katharina zusammen, die er während eines Urlaubs auf Teneriffa getroffen hatte. Katharina arbeitete und wohnte in München. Immer wenn wir uns zu dritt verabredeten, konnte ich nicht so frei sprechen, als wenn ich mich mit Martin allein traf. Durch mein neues Interesse an Frauen, das bei unseren gemeinsamen Abenden häufig Gesprächsthema war, schätzte ich mittlerweile Katharinas Gesellschaft. Sie wusste besser als wir, wie Frauen funktionieren. Leider hatte sie die schlechte Angewohnheit zu unken. Als ich von meinem Wochenende mit Mon und Melissa erzählte und sich Martin mit mir darüber freute, schaute Katharina kritisch und fragte:

„Schön und gut, dass du das Wochenende genossen hast. Aber wie geht es jetzt weiter?“

Natürlich hatte ich darüber nachgedacht. Aber ich wollte die Direktheit von Katharinas Frage erst Mal entkräften:

„Zunächst bin ich froh, dass alles gut gelaufen ist. Und jetzt schau’n wir mal, was passiert. Mon ist ganz anders als Melissa. Sie hat so ein typisch indisches Wesen und ist ganz zaghaft. Melissa merkt man hingegen an, dass sie erfahrener ist. Sie ist ziemlich aufreizend.“

„Weißt du, ich find’s gut, dass du zwei Freundinnen in den USA gefunden hast. Aber es wird doch langsam Zeit, wieder eine feste Beziehung einzugehen. Findest du nicht?“,

entgegnete Katharina, worauf ich sagte:

„Du willst immer alles gleich festzurren. Ich denke, sowohl die Beziehung zu Mon wie zu Melissa braucht noch Zeit, bevor ich mit einer von beiden an eine feste Beziehung denken kann.“

„Bist du dir denn klar geworden, ob du dir eher mit Mon oder mit Melissa eine feste Beziehung vorstellen kannst?“

„Schwierige Frage. Eigentlich fühle ich mich mehr zu Mon hingezogen. Wir sind uns ähnlicher. Auf der anderen Seite weiß ich, dass meine Chancen größer sind, in Zukunft mit Melissa eine feste Beziehung einzugehen, weil wir aus einer ähnlichen Kultur kommen. So etwas wie eine feste Beziehung gibt es, glaube ich, bei den Indern nicht. Die sind noch ganz traditionell. Da wird gleich geheiratet.“

Wie ich Katharina antwortete, wurde mir bewusst, dass Melissa mittlerweile die Rolle der Favoritin eingenommen hatte. Den gesellschaftlichen Anspruch, dass ab einem gewissen Alter eine feste Beziehung oder besser noch eine Ehe opportun war, spürte ich. Seit meiner Kindheit versuchte ich, die Ansprüche, die an mich gestellt wurden, zu erfüllen. Ich hatte schlicht die Erfahrung gemacht, dass, sobald ich einem Anspruch entsprach, es keine Konflikte gab und ich in Ruhe weiterleben konnte. Allen Ansprüchen bin ich nicht gefolgt. Ich ging brav zum Klavierunterricht, obwohl ich es nicht wollte; ich machte mein Abitur, brachte einen guten Studienabschluss nach Hause, zusätzlich einen Doktorgrad, erhielt eine Anstellung bei Schulz & Adler und jetzt fühlte ich die Erwartung, dass ich eine feste Beziehung, die in eine Ehe mündete, beginnen sollte. Es bedurfte nicht einmal großer Überwindung, mich mit diesem Anspruch anzufreunden, da ich mir selbst wünschte, mich fest zu binden. Ich war mir allerdings nicht schlüssig, was zuerst da war: der Anspruch oder mein Wunsch oder in welchem Verhältnis beide zueinander standen. Auf Dauer, hatte ich den Eindruck, sei es unaufwändiger, eine Ehefrau zu haben.

Wir diskutierten den ganzen Abend über Beziehungsfragen. Später gelang es mir, Katharinas Direktheit auf sie selbst umzuleiten. Ihr vehementes Eintreten für verbindliche Beziehungen stand in Zusammenhang mit ihrer eigenen Geschichte. Eigentlich richtete sich ihr Plädoyer für verbindliche Beziehungen an ihren Vater und Martin. Ihr Vater dachte, er kann nur mit mehr als einer Frau glücklich sein, und Martin, dessen Eltern nach vielen Versöhnungen doch die Scheidung eingereicht hatten, hatte als Kind erlebt, was eine Ehe bedeutete, wenn die Partner nicht zusammen passten. Während sich Katharina wünschte, dass Martin um ihre Hand anhielt, hoffte Martin, dass Katharina diesen Wunsch eines Tages vergessen würde.

Dieses Gespräch und weitere Ereignisse formulierten die Frage deutlicher:

„Bist du bereit, eine feste Beziehung einzugehen?“

Die Freiheit, mir mehr Zeit zu nehmen, bevor ich mich festlegte, stand meiner Sorge gegenüber, mich schnell entscheiden zu müssen, um die günstige Gelegenheit dafür nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Meine Überzeugung, dass ich meinem Leben eine Form geben sollte, verstärkte sich. Ich wollte eine Frau fürs Leben wählen und dafür rechtzeitig die Weichen stellen. Alle Generationen vor mir hatten es genauso getan. Auch meine Schwester hatte mit dreißig Jahren geheiratet.

Während ich arbeitete, Sport trieb, aß, Fernsehen schaute, ins Kino ging, Familienfeste besuchte, in der Sauna schwitzte, an jungen Familien vorbeilief, in der Zeitung las, den Gottesdienst besuchte, eine neue Nachricht von Melissa erhielt, überallhin begleitete mich die Frage:

„Bist du bereit, eine feste Beziehung einzugehen?“

Es blieb mir rätselhaft, wieso ich glaubte, dass viele E-Mails und ein Date als Basis für eine feste Beziehung ausreichten. Ich dachte, ich überzeugte mich davon, weil ich die ersten Zeichen von Vergänglichkeit an mir wahrnahm. Und da ich eben Melissa und Mon zu diesem Zeitpunkt kannte, überlegte ich sachbezogen, wer von beiden besser zu mir passte, um das Leben zu bestehen. Dieses Kriterium schien Melissa besser als Mon erfüllen zu können. In beide war ich verliebt. Aber jetzt ging es um ernste Überlegungen. Und diese positionierten Melissa als Favoritin.

Das Leben in einem fremden Land, ein zweiter Neuanfang kam für Mon nicht in Frage. Auf dem Dating-Portal, über das wir uns kennengelernt hatten, wählte Mon zwar die vorgegebene Option: „wohin mich Gott führt“, als Antwort auf ihre Bereitschaft, für einen Partner ihren Wohnort zu wechseln. Doch als sie nach unserem Treffen in New York City genauer über eine mögliche Zukunft unserer Bekanntschaft nachgedacht hatte, kam sie zu dem Ergebnis, dass sie in den USA bleiben wollte. Dass ich, wie sie, dieselbe Option angeklickt hatte: „wohin mich Gott führt“, beruhigte sie. Obgleich es ihr nicht sonderlich schwer gefallen war, sich an ihr neues Leben in den USA zu gewöhnen, mochte sie auf ihre gewonnene Sicherheit nicht verzichten. Ihr attraktiver Job in New York City mit dem umfangreichen Sozialpaket, die guten Aussichten, dort Karriere zu machen, sowie das enge Verhältnis zu ihren Eltern wogen schwerer als das Wagnis, sich auf eine ungewisse Zukunft in Deutschland einzulassen, der Liebe wegen.

Wiederum. Warum hegte ich wegen zahlreichen E-Mails und einem persönlichen Treffen so weitreichende Gedanken wie an das Zusammenleben? Die große räumliche Distanz mag ein Grund dafür gewesen sein. Hätten wir in derselben Stadt gewohnt, hätten wir uns mehr Zeit geben können. Aber die Distanz schien Verbindlichkeit zu fordern. Gewissermaßen als Ausgleich für die mangelnde räumliche Nähe. Außerdem kam bei Mon hinzu, dass es in Indien gewöhnlich und auch für die Inder, die in den USA lebten, nicht ungewöhnlich war, dass ein junges Paar nach nur einigen gemeinsamen Verabredungen heiratete. Von daher waren Mons Vorstellungen, ob sie in Deutschland mit mir wohnen und dafür ihr Leben in den USA aufgeben wolle, nicht verwunderlich.

Auch mir wurde bewusst, dass ich in meinem Heimatland bleiben mochte. Zwar liebte ich die USA, konnte mir aber nicht vorstellen, dort die Verantwortung für eine Familie zu übernehmen. Diese Einsicht war hilfreich, bedeutete jedoch, dass sich die Beziehung zwischen Mon und mir zu einer Liebesbeziehung nicht vertiefen konnte. In diese Richtung wiesen auch Mons Nachrichten, die ich von ihr nach meiner USA-Reise erhalten hatte. Ich hing immer noch an Mon und probierte, mehr von ihr zu bekommen, als sie zu geben bereit war. Aber Mon entwich den Bemühungen. Ich musste respektieren, dass ein Weiterkommen nicht möglich war.

Anders verhielt es sich mit Melissa. Ich sagte zu Martin, ich würde mich nicht wundern, wenn sich Melissa spontan entschied, zu mir nach München zu reisen. Außerdem hielt ich es für denkbar, dass Melissa gegebenenfalls nach Deutschland auswanderte und dort als Ärztin arbeitete. Und ebenso realistisch erschien mir eine Fernbeziehung mit gegenseitigen Besuchen, bei denen wir uns besser kennen lernen würden.

Melissas Verhalten in Washington D.C., ihre anschließenden Nachrichten und unsere Unterhaltungen über das Internet deutete ich als Hinweise, dass Melissa nicht nur an eine Festigung unserer Beziehung glaubte, sondern diese zu beschleunigen suchte. Melissas Tempo war unheimlich. Und immer unheimlicher wurde es mir, wie ich merkte, dass ein Gebräu entstand, dessen Auswirkungen ich nicht absehen konnte. Es bestand aus der Enttäuschung über den Stillstand meiner Beziehung mit Mon, meiner Zuneigung zu Melissa und meiner Befürchtung, den Kairos zu verpassen, mich zu binden.

Melissa schrieb mir in ihrer aufgeweckten Art:

„Da wir das Problem mit dem Konfessionsunterschied gelöst haben, bleibt eigentlich nur noch eine Schwierigkeit übrig.“

Melissa wiederholte ihre Argumente, weshalb für sie die voreheliche Sexualität nicht in Frage käme. Mir blieb diese Vorstellung fremd. Ich unterstellte Melissa, dass sie die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe nicht an sich hochhielt. Vielmehr glaubte ich, dass sie den Grundsatz nutzen wollte, Druck auf mich auszuüben, bald zu heiraten, um das kirchliche Gebot auf diese Weise zu umgehen. Da die Verkürzung der vorehelichen Beziehung und der sexuellen Enthaltsamkeit die Gefahr enthielt, schlecht auf die Ehe vorbereitet zu sein und deren Scheitern begünstigte, schrieb ich Melissa erneut die Gründe für meine gegensätzliche Auffassung. Ich zauderte, meine Antwort gleich zu versenden. Stattdessen machte ich einen Spaziergang.

Zurück an meinem Schreibtisch fügte ich meinen Gründen für die voreheliche Sexualität den folgenden Satz hinzu:

„Auch wenn ich anderer Meinung bin als du, ich respektiere, dass du vor der Ehe enthaltsam leben möchtest.“

Damit brachte ich das zweite Hindernis der Vertiefung unserer Beziehung ins Wanken, die Melissa unverzüglich niederriss. Sie beendete ihre Antwort mit der Zusammenfassung:

„Prima! Damit ist die letzte Hürde aus dem Weg geräumt. Es spricht für deinen Charakter, dass auch du auf Sex vor der Ehe verzichten möchtest.“

Melissa hatte meinem Satz die notwendige Drehung gegeben, damit er sich in ihr Konzept fügte. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen „akzeptieren“ und „respektieren“ hatte ich Melissa geschrieben, ich würde ihre Auffassung „respektieren“, was nicht bedeutete, dass ich sie „bejahte“ oder „teilte“ oder „akzeptierte“. Vielmehr wollte ich die Auseinandersetzung über das leidige Thema beenden. Überrascht, nun kurz davor zu stehen, eine feste Beziehung mit Melissa zu beginnen, wollte ich mehr Zeit gewinnen. Ich antwortete ihr:

„Ja, das zweite Problem scheint gelöst zu sein. Aber wir haben noch gar nicht darüber gesprochen: Was bedeutet für dich eine feste Beziehung?“

Für ein paar Tage, in denen wir uns darüber austauschten, welche Erwartungen wir an eine feste Beziehung stellten, konnte ich die Entscheidung hinauszögern. Als mir Melissa schließlich versichert hatte, dass in den USA wie in Deutschland eine feste Beziehung nicht bedeutete, ein Heiratsversprechen abzugeben, gab ich mir den letzten Ruck:

„Sieht so aus, dass wir alle Hürden aus dem Weg geräumt haben.“

So nüchtern begann die feste Beziehung zwischen Melissa und mir.

Bei unserem ersten Gespräch als Liebespaar saß Melissa in San Francisco in ihrem Studentenwohnheim am Schreibtisch. Wir nutzten ein Computerprogramm, bei dem wir gleichzeitig telefonieren wie uns über die Webcam sehen konnten. Hinter Melissa erblickte ich einen Palmbaum, der vor ihrem Fenster stand und von dem zwei Palmblätter in das geöffnete Fenster hineinragten. Ansonsten füllte Melissas Kopf und ein Teil ihres Oberkörpers das restliche Kamerabild aus. Während dieser kurzen Unterhaltung, bei Melissa war es sieben Uhr morgens und sie hatte in einer halben Stunde ein Tutorium für das Abschlussexamen zu besuchen, mussten wir uns zunächst daran gewöhnen, uns das zweite Mal nach unserem Treffen in Washington D.C. zu sehen. Eigentlich hatte ich vor, mit Melissa über den Beginn unserer festen Beziehung zu sprechen. Aber ich musste mich erst an ihr Kameragesicht gewöhnen und verarbeiten, dass sie tatsächlich in San Francisco am frühen Morgen in ihrer Wohnung saß und mit mir abends in München telefonierte. Auch Melissa schaute zunächst skeptisch und schien mein Kameragesicht mit dem wirklichen-, das sie für ein paar Stunden in Washington D.C. gesehen hatte, zu vergleichen.

Melissa trug ein weißes T-Shirt, das das Emblem ihrer Universität zeigte. Verschlafen schaute sie aus ihren Augen. Wir begannen über Alltägliches zu sprechen. Es war schwer, am frühen Morgen die Stimmung für ein romantisches Gespräch zu erzeugen. Nach einer Pause, in der wir nicht wussten, was wir sagen sollten, machte Melissa Anzeichen, als könnte ich nun zum romantischen Teil übergehen. Aber die Morgensonne von San Francisco und die wenigen Minuten, die uns blieben, bevor Melissa zu ihrem Prüfungstutorium aufbrechen musste, hemmten mich. Also schwieg ich und blickte Melissa fragend an, worauf sie sagte:

„Es ist wirklich schade, dass ich gleich los muss. Macht es dir etwas aus, wenn ich meine Sachen für das Tutorium zusammenpacke?“

„Kein Problem.“

Melissa begann laut zu denken und ich hörte ihr dabei zu:

„Heute erhalten wir Tipps, wie wir uns am besten für die Prüfungssituation vorbereiten. Ein Ziel des Examens ist es, uns in Stress zu setzen, um zu sehen, wie wir unter den im Krankenhaus üblichen Bedingungen arbeiten. Das theoretische Wissen kann ich aus dem Effeff und die praktischen Übungen dürften auch kein Problem sein. Aber dieser Stresstest. Ich spüre jetzt schon Panik. Hoffentlich weiß Ronald, das ist unser Tutor, ein paar gute Tipps, wie wir uns beruhigen können. Allein der Gedanke daran, na ja, ich muss mir einfach ein paar Ratgeber zur Stressbewältigung kaufen und wenn ich die gelesen habe, wird es schon gehen. Jetzt brauche ich noch meinen Geldbeutel. Wo ist mein Geldbeutel?“

Melissa schaute frontal in die Kamera und fragte:

„Bist du noch dran?“

Ehe ich etwas antworten konnte, war sie schon wieder aus dem Bild verschwunden. Ich sah nur noch das Fenster mit den zwei hineinragenden Palmblättern.

„Hier ist mein Geldbeutel. Gott sei Dank! Ich hatte schon gedacht, er sei weg. Erst vor drei Monaten habe ich ihn verloren. Und das war ein Aufwand, bis ich meine Papiere wieder hatte. Weil ich nicht lange auf sie warten wollte, habe ich die kostspieligere Variante gewählt, 150 Dollar gezahlt und bin somit bevorzugt behandelt worden. Das war vielleicht ein Stress. Ach, hier sind meine Autoschlüssel und, da ich gerade auf die Weltkarte schaue“,

Melissa drehte ihre mobile Kamera herum und zeigte mir die Weltkarte, die sie an der Wand über ihrem Schreibtisch befestigt hatte, und fuhr fort:

„Ich hab’ wunderbare Neuigkeiten. Nachdem ich die süße Antwort von dir gelesen habe, hab’ ich gleich in meinen Kalender geschaut. Und ob du es glaubst oder nicht, ich habe zwischen meinen Abschlussprüfungen und der offiziellen Abschlussfeier, bei der ich mein Diplom überreicht bekomme, fünf Tage frei. – Ich werde zu dir nach München fliegen.“

Bevor ich überlegen konnte, wie ich auf Melissas Ankündigung reagieren sollte, sagte sie:

„Freust du dich? Ich kann es kaum erwarten, dich wieder zu sehen!“

„Ja, prima. Das ist eine Überraschung. Klar freue ich mich, dass du zu mir kommst. – Ich muss natürlich Herrn Schulz fragen, ob ich mir die Woche frei nehmen kann. Aber ich hoffe, dass das kein Problem ist.“

„Super. Dann werde ich gleich heute Abend, wenn ich vom Tutorium zurückkomme, online gehen und günstige Tickets suchen. Warte, das ist dann mitten in der Nacht bei dir. Gut, ich werde dir die Flugdaten einfach per E-Mail senden.“

Mittlerweile saß Melissa wieder auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch und frisierte ihre Haare. Von ihrer Müdigkeit war nichts mehr zu sehen.

„Ich muss jetzt wirklich gehen, dass ich nicht in den Stau reinfahr’.“

Melissa wartete einen Augenblick. Und ich beeilte mich, um Tschüss zu sagen, damit sie nicht wieder das erste Wort hatte.

„Yep. Alles Gute und bis bald, Sweetie“,

waren Melissas letzte Worte.

Dass meine Vermutung, die ich Martin erzählte, ich traue Melissa zu, sich in ein Flugzeug zu setzen und mich in München zu besuchen, so schnell Wirklichkeit wurde, erstaunte mich dann doch. Da ich erst seit kurzem in meine neue Wohnung eingezogen war, setzte mich Melissas Ankündigung, sie komme in der ersten Maiwoche nach Deutschland, unter Druck. Bis dahin sollte ich die Wohnung gemütlich eingerichtet haben. Da ich selbst problemlos in einem Provisorium leben konnte, sah meine Wohnung dementsprechend aus. Ferner musste ich Herrn Schulz fragen, ob ich mir in der Woche Urlaub nehmen dürfte, und musste außer meinen Eltern, meiner Schwester sowie Martin und Katharina erzählen, wer mich besuchen kam. An diesem Abend wollte ich mich aber noch einmal entspannen.

Als ich am nächsten Morgen aufstand, schaute ich, bevor ich etwas frühstückte und die Zeitung las, ob mir Melissa ihre Flugdaten gesandt hatte. Anstelle von einer Nachricht fand ich drei. In der ersten- schickte sie mir als Anlage die Daten ihrer Flugverbindung, in der zweiten- schrieb sie:

„Hallo, ich hoffe du schläfst gut. Denke an dich“,

und in der dritten-, die sie erst vor wenigen Minuten abgesendet hatte, hieß es:

„Wenn du schon wach bist, können wir vielleicht telefonieren.“

Ich überlegte, ob es ein Computerprogramm gab, mit dem Melissa feststellen könnte, ob ich ihre E-Mails bereits geöffnet hatte oder nicht. Mir fiel keines ein. Und weil ich morgens gern erst Zeit mit mir verbrachte, holte ich meine Zeitung aus dem Briefkasten, brühte Kaffee auf und schaltete das Radio an.

Den ersten Teil der Zeitung gelesen schaute ich auf die Uhr. Mittlerweile musste Melissa in San Francisco schlafen gegangen sein. Trotz ihrer Angewohnheit, spät ins Bett zu gehen und nachts zu arbeiten, hatte Melissa während ihrer Prüfungsphase ihren natürlichen Rhythmus umgestellt. Einerseits konnte sie wegen ihres straffen Prüfungsprogramms nicht lange ausschlafen. Andererseits konnte sie ihr schlechtes Gewissen, stand sie später als um 7 Uhr auf, nicht ablegen, was besonders in Prüfungszeiten unangenehm war. Also ging Melissa meist schon gegen 22 Uhr zu Bett.

Der Gedanke, dass Melissa schlief, weckte meine Motivation, mit den Vorbereitungen für ihren Besuch zu beginnen. Priorität meiner Vorbereitungen besaß die Anfrage bei Herrn Schulz, ob er mir fünf Tage Urlaub genehmigte. Er delegierte die Entscheidung an seinen Kompagnon Herrn Adler, der, wie meistens, sofort und lakonisch antwortete:

„Der Liebe kann man keine Schranken setzen.“

Damit stand Melissas Deutschland-Aufenthalt nichts mehr im Weg. In den folgenden zwei Wochen kümmerte ich mich zeitgleich darum, unsere Museumsbauprojekte voranzutreiben und Melissas Besuch vorzubereiten. Es verging kein Tag, an dem ich nicht mit Melissa telefonierte und sie mir nicht über die Details ihrer Prüfungen berichtete. Hätten wir, wie es bei Fernsehduellen von Spitzenkandidaten politischer Parteien in Deutschland üblich geworden war, die Zeit stoppen lassen, um zu messen, wie lange ich im Vergleich zu Melissa gesprochen hatte, wäre vermutlich ein Verhältnis von eins zu fünf herausgekommen. Melissa besaß einen Enthusiasmus, wie ich ihn nicht kannte. Ich nahm an, dass ihre überschüssige Kraft auf ihre bevorstehende Prüfung zurückzuführen war, und hoffte, dass sich unsere Gesprächsanteile spätestens dann wieder ausgleichen würden, wenn auch ihr Umzug nach Honolulu erfolgreich abgeschlossen wäre.

Keine Frage, Melissa hatte etwas Anregendes, das eine Anziehung ausstrahlte, besonders auf mich, der ich gern entspannte. Ich liebte die Ruhe, die Bewegungslosigkeit, die blaue Stille ohne Wellenschlag. Die Telefonate holten mich aus diesem glücklichen Zustand heraus, stellten mich ins helle Tageslicht. Dort, wo alles flirrte, tönte, laut, lustig, traurig, dramatisch, existentiell, verzweifelt und überglücklich war. Da ich zu Anfang unserer festen Beziehung alle Auffälligkeiten, die ich bei Melissa wahrnahm, positiv deutete, fiel mir das Bild von Ying und Yang ein. Harmonisch fügt sich das weibliche- und männliche Prinzip ineinander. Verborgen blieb mir, dass mit dem Beginn unserer festen Beziehung das Mächtegleichgewicht, das davor unsere Beziehung ausgezeichnet hatte, zunehmend aus der Balance geriet.

Während ich nach dem langen, aufreibenden Balz-Akt froh war, auf einem gemeinsamen Fundament zu stehen, und mich nach Eintracht sehnte, setzte sich Melissas Freude an Konflikten fort. Nun besaß sie wesentlich günstigere Bedingungen, ihre Interessen und Wünsche gegenüber meinen durchzusetzen. Sie spürte, dass ich in der festen Beziehung anders als zuvor bemüht war, dass Einigkeit zwischen uns herrschte. Für mich war es selbstverständlich, dass sich alle Beteiligten in verbindlichen Beziehungen anstrengten, dass jeder zu seinem Recht kam und Kompromisse einging, um ein friedliches Zusammenleben zu gewährleisten. So hatte ich es zu Hause erlebt.

Melissa wuchs in einer anderen Familie auf. Sie musste ihre Stellung zu Hause mit Anstrengung behaupten. Melissas Mutter hatte schwache Nerven. Wollte Melissa als Kleinkind ihren Willen durchsetzen, überforderte sie damit schnell ihre Mutter. Sie brachte sie an deren Grenzen, so dass sich die Mutter oft nicht besser zu helfen wusste, als Melissa anzuschreien. Schlimmeren Schaden als das Brüllen verursachte die anschließende Bestrafung. Die Mutter ignorierte Melissa, die sich mit ihrer Mutter versöhnen wollte. Diese Gewalt verletzte Melissas Seele. Die Missachtung führte dazu, dass sich Melissa immer Neues ausdachte, um eine Reaktion von ihrer Mutter hervorzurufen. Und wenn die Mutter Melissa auch bloß weiter anbrüllte, fühlte sie sich ihr nah, fühlte sich Melissa endlich nicht mehr einsam. Hieraus entwickelte sich das prekäre Verhaltensmuster, das Melissa gerade bei Konflikten Selbstbestätigung fand. Streit stand für Melissa synonym für Nähe. Für mich hingegen bedeutete Nähe Harmonie. Somit besaßen wir zwar das gemeinsame Ziel, erreichten es aber beide nicht, weil der eine den Weg des anderen zur Nähe verhinderte.

In den Tagen vor Melissas Ankunft begann sie wieder, das Thema „voreheliche Enthaltsamkeit“ anzusprechen. Ich wunderte mich darüber. Für mich war es abgehakt. Das war der Preis, den ich zu zahlen hatte, damit unsere feste Beziehung beginnen konnte. Ich verstand nicht, weshalb sie trotz meines Zugeständnisses erneut darüber sprechen wollte. Auch ihre verstärkten sexuellen Anspielungen blieben mir schleierhaft. Wenn ich auf Sexualität vor der Ehe verzichten sollte, dachte ich mir, ist es doch am besten, so wenig wie möglich darüber zu phantasieren und die Versuchung gering zu halten.

Aber Melissa tat das Gegenteil. Sie liebte es, erotische Plaudereien zu initiieren, hielt sie aber so in der Schwebe, dass ich nicht erkennen konnte, ob es ihr bei der aufgestellten Bedingung sexueller Enthaltsamkeit um die Befolgung eines kirchlichen Gebots oder um die Steigerung der Begierde ging, Verbotenes zu tun, eine gesellschaftliche Konvention zu durchbrechen, wie sie im „Bible-Belt“ noch existierte.4

Am Montag der ersten Maiwoche landete Melissa am Münchener Flughafen. Zur Begrüßung umarmten wir uns. Für einen Kuss fehlte noch der Mut. Es war ungewohnt, Melissa das zweite Mal persönlich zu sehen. Ähnlich wie bei meinen Verabredungen mit Mon und Melissa in den USA hatte ich anfangs Schwierigkeiten, Melissa gleich auf ihre Fragen zu antworten, weil ich zwei Gespräche führen musste, das mit ihr und mein stilles Selbstgespräch. Nach und nach antwortete ich ohne Verzögerung. Wir tranken am Flughafen noch einen Kaffee und saßen eine Stunde später in meiner Wohnung, an meinem Esstisch, und aßen Weißwürste mit Semmeln.

Ich versuchte, das Gespräch am Laufen zu halten. Das war ungewöhnlich. Ansonsten hatte Melissa so viel gesprochen, dass ich mich nicht um den Gesprächsfluss kümmern musste. Sie schaute mich mit kleinen Augen schläfrig an. Der Jetlag schien seine Wirkung zu zeigen. Ich fragte Melissa unzweideutig, ob sie sich hinlegen wolle, worauf sie zweideutig blickte und sagte:

„Nö, ich bin nicht müde. Aber warte mal einen Augenblick. Ich komm’ gleich wieder.“

Melissa verschwand im Gästezimmer. Als sie längere Zeit nicht zurückkam, glaubte ich, sie habe sich doch schlafen gelegt, und ich begann, das Geschirr in die Spülmaschine einzuräumen.

Von den fünf Tagen, die Melissas Deutschlandreise dauerte, standen uns im Grunde nur drei volle Tage zur Verfügung. Wir hatten im Vorhinein überlegt, uns am Montag meine Heimatstadt anzuschauen. Dienstags wollten wir die Münchener Wahrzeichen besichtigen, Olympiastadion, Hofbräuhaus, Deutsches Museum, abends die Oper und mittwochs durfte die Schlössertour zu den Schlössern Neuschwanstein, Linderhof und Herrenchiemsee nicht fehlen. Donnerstags lud uns eine Freundin von Melissas Schwester, die für ein Jahr in Deutschland studierte, zu sich nach Erlangen ein und freitags um 9:55 Uhr startete Melissa wieder zurück zu ihrer Abschlussfeier an ihrer Universität in San Francisco.

„Mach’ schnell, ich hab’ dir ein paar Geschenke mitgebracht“,

sagte Melissa, die mit einer Geschenktüte in den Händen in die Küche gelaufen kam.

„Lass’ uns im Wohnzimmer auf die Couch setzen und dort die Geschenke auspacken.“

„Einen Augenblick.“

Ich ging hinter Melissa ins Wohnzimmer.

„Setz’ dich!“,

bat sie mich.

Nachdem ich ihrem Wunsch gefolgt war, stellte Melissa die Geschenktüte auf die Couch, nahm auf meinem Schoß Platz und drückte unversehens ihre Lippen auf meine. Ich erwiderte ihren Kuss und so ging es eine Weile hin und her, bis mich Melissa fragte:

„Willst du die Geschenke auspacken?“

Ich glaubte, Melissa hatte bereits im Flugzeug geplant, wie die Szene der Geschenkübergabe aussehen sollte. Ich kam mir vor wie ein Statist, dem gesagt wurde, was als Nächstes zu tun sei. Und weil ich den Ansprüchen Melissas, zumal ich mit ihr liiert war, gern entsprach, packte ich die kleinen Geschenke aus. Es handelte sich größtenteils um Souvenirartikel von San Francisco: einen „I love San Francisco“-Schlüsselanhänger, eine San Francisco-Tasse, ein T-Shirt mit der Golden-Gate-Bridge als Motiv darauf, Manschettenknöpfe mit dem Logo ihrer Universität sowie in Voraussicht auf meinen ersten Hawaii-Besuch einen Reiseführer über die Hawaii-Insel O’ahu. Als Dankeschön küsste ich Melissa und schaute ihr zu, wie sie die Geschenke auf den Boden und sich rücklings auf die Couch legte und darauf wartete, dass ich ihr mehr Zuwendung schenkte. Meine Ahnung bewahrheitete sich. Ihr leidenschaftlicher Einsatz für die Enthaltsamkeit vor der Ehe, über den wir Monate lang diskutiert hatten, stand kurz davor, Makulatur zu werden.

Als ich an Melissas Bauch angekommen war, unterbrach sie mich:

„Was haben wir gemacht?“

Ich wusste nicht, worauf Melissa hinaus wollte. Mir fiel ein Satz ihres Heimatpfarrers ein, den sie wenige Tage vor ihrer Ankunft in München zitiert hatte. Vielleicht gab er die Antwort auf ihre Frage preis:

„Du sollst nicht berühren, was ein Bikini verdeckt!“

Obgleich ich dieses pastorale Gebot nur halbwegs erfüllt hatte, hatte ich kein schlechtes Gewissen, etwas Verbotenes getan zu haben. Dass wir aber eine Grenze überschritten haben sollten, hörte ich aus Melissas Frage heraus. Ich wollte sie nicht in ihrer Überzeugung und ihren feinen Definitionsgrenzen, was Sexualität vor der Ehe bedeutete und was nicht, irritieren.

Ich begann, Melissas Bauch zu streicheln. Da Melissa mit dieser Reaktion nichts anfangen konnte, langweilte sie sich bald und sagte:

„Wollen wir uns deine Stadt anschauen?“

Ein guter Vorschlag. Wir zogen uns an. Melissa frisierte sich noch im Bad, dessen Ablagen sie mit wenigen Handgriffen mit Cremes, Shampoos, Kämmen und anderen Utensilien besetzt hatte. Als sie den für Deutschland typischen beweglichen Duschkopf sah, der sie an ihren letzten Deutschland-Aufenthalt erinnerte, musste sie lachen. Sie erzählte, dass sie das erste Mal in einem Frankfurter Hotel einen derartigen Duschkopf benutzt und dabei das ganze Badezimmer unter Wasser gesetzt habe.

Führte ich bisher Verwandte oder Freunde durch meine Heimatstadt, erklärte ich ihnen die Sehenswürdigkeiten auf Deutsch. Dass ich Melissa nun auf Englisch meine Stadt vorstellte, war eine Premiere, zu der ich sicherheitshalber, sollte mein englischer Wortschatz nicht ausreichen, mein Deutsch-Englisches Wörterbuch mitnahm. Die Gebäude, Plätze und Straßen sowie deren Geschichte, die mich mit ihnen verband, stießen bei Melissa auf wenig Interesse. Sie stellte kaum Fragen und wiederholte auf meine Erzählungen die immer gleiche Floskel:

„Großartig. Ich liebe es.“

Dass Geschichte Melissa nicht begeistern konnte, hatte sie mir ein anderes Mal bereits erzählt. Deshalb hatte ich schon darauf verzichtet, sie zu den geschichtsträchtigen Bauten meiner Heimatstadt zu führen, wegen denen Touristenbusse von weit her angereist kamen. Dass aber auch die Stationen meiner eigenen Geschichte keinen Reiz auf Melissas Aufmerksamkeit ausübten, machte mich, zugegebener Weise, ratlos. Aber, warum sollte ich Melissa langweilen? Ich kürzte die Besichtigung ab. Ich wusste, dass sich Melissa über einen feuchtfröhlichen Restaurantbesuch mehr freute als über die staubige Geschichte von mir und meiner Heimatstadt.

Zum zweiten Mal besuchten wir gemeinsam ein Restaurant. Offensichtlich war es Melissas Gewohnheit, ihren Teller nicht leer zu essen. Wenn ich als Kind aus Widerwillen ablehnte, meinen Teller leer zu essen, plagte mich meine Mutter mit der Weisheit:

„Kinder aus armen Ländern würden sich freuen, wenn sie genügend zu essen hätten.“

Ärgerte es mich als Kind, wenn ich gezwungen wurde, meinen Teller leer zu essen, so ärgerte es mich als Erwachsener, wenn ich Leute sah, die achtlos Essen auf dem Teller liegen ließen. Obwohl ich an meine Toleranz appellierte und mir sagte, die US-amerikanische Kultur sei eben vom Überfluss geprägt und deren Umgang mit Essen müsse deshalb anders bewertet werden, fühlte ich mich unwohl, als ich in Washington D.C. und jetzt in Deutschland sah, wie unachtsam Melissa mit Lebensmitteln umging. Dass bei unserem zweiten Restaurantbesuch Melissa eine halbe Seezunge zurückgehen ließ, schmerzte mich darüber hinaus, weil es das teuerste Gericht auf der Speisekarte war.

Dass sich Melissa für die Tagesthemen interessierte, die wir abends gemeinsam schauten, versöhnte mich mit ihrer geschichtlichen Gleichgültigkeit. Die Vielfalt der deutschen Wörter wie die Schnelligkeit, in der sie vorgetragen wurden, überforderten Melissas Deutschkenntnisse jedoch bald. Aber dank der Bilder konnte sie sich die Inhalte vieler Berichte zusammenreimen. Klappte auch das nicht, fragte sie mich, um was es sich drehe. Hierbei strengte sie sich richtig an. Es war für sie wie ein Wettbewerb. Und Melissa liebte ja Wettbewerbe.

Glücklicherweise konnte Melissa ein wenig Deutsch sprechen. Eine Großtante väterlicherseits hatte für drei Jahre in Berlin gelebt. In dieser Zeit hatte Melissa einmal ihre Sommerferien bei ihrer Großtante verbracht und hatte Deutsch gelernt. Melissa war intelligent, ohne Frage. Und ihre Intelligenz bezog sich maßgeblich auf ihre naturwissenschaftlichen Fähigkeiten, hingegen ihre Auffassungsgabe auf anderen Gebieten nur durchschnittlich war. Am Ende ihres dreimonatigen Berlin-Aufenthalts hatte sie ein leidliches Deutsch gesprochen. Leider hatte sie ihre erworbenen Kenntnisse nach dem Urlaub in Berlin nur noch praktiziert, wenn sie mit ihrer Großtante telefoniert hatte. Als diese plötzlich verstorben war, hatte es keinen Grund mehr gegeben, Deutsch zu reden. Zwar hatte Melissa während ihres Medizinstudiums überlegt, für ein oder zwei Semester in Deutschland zu studieren, aber weil es immer zu Problemen an ihrer Universität geführt hatte, Studienleistungen, die im Ausland erbracht wurden, anerkannt zu bekommen, hatte sie den Gedanken wieder fallen gelassen. Jetzt gab es wieder einen Grund, Deutsch zu sprechen. Es war schön, zu beobachten, wie Melissa seit ihrer Ankunft in Deutschland die Chance nutzte, ihre Deutschkenntnisse auf Vordermann zu bringen.

Gegen Ende der Tagesthemen wurde ich unruhig. Wie würden wir den Tag beenden? Machten wir an dem Punkt weiter, an dem wir am Nachmittag aufgehört hatten? Oder gingen wir beide auf unsere Zimmer?

Nach der Schlussmoderation des Tagesthemensprechers rekelte sich Melissa und gähnte. Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, gähnte ich auch. Melissa schmunzelte und sagte:

„Heute Nacht muss leider jeder in seinem eigenen Bett schlafen./?“

Am Satzende hob sich Melissas Stimme. Der undefinierbare Zustand zwischen Aussage- und Fragesatz glich meiner Ungewissheit, ob Melissa wirklich überzeugt war, vor der Ehe enthaltsam zu bleiben oder ob sie den traditionellen Grundsatz aus einem anderen Antrieb aufrechterhielt. Wir legten uns zu Bett, jeder in seinem Zimmer, und ich war nicht unglücklich darüber. Zum einen wollte ich über den Tag mit den vielen Ereignissen allein nachdenken. Zum anderen wollte ich nicht wieder die Frage gestellt bekommen:

„Was haben wir getan?“

Der Wecker klingelte. Ich blieb im Bett liegen und hörte nach Geräuschen, die mir verrieten, ob Melissa schon aufgestanden war. Außer Stille konnte ich nichts feststellen. Da ich mich für den Ablauf des Tages verantwortlich fühlte, befürchtete ich, dass wir den ganzen Tag aufs Spiel setzten, würden wir zu spät nach München fahren. Ich stand auf, zog meinen Morgenmantel an und klopfte an Melissas Tür. Nachdem ich keine Antwort erhalten hatte, öffnete ich sie langsam.

„Hast du mich erschrocken!“

„Entschuldige. Ich wollte schauen, ob du schon wach bist.“

„Du bist wirklich süß“,

antwortete Melissa.

„Wir sollten nicht zu spät nach München aufbrechen. Sonst bleibt uns nicht mehr viel Zeit.“

Melissa überlegte kurz und machte mir folgendes Angebot:

„Willst du nicht erst ein bisschen zu mir ins Bett kommen?“

Ich wollte Melissas Offerte nicht widerstehen, legte mich zu ihr und begann, sie zu küssen. Meine rechte Hand streichelte ihren Rücken, bis sie bestimmtere Regionen ertastete. Melissas Brustwarzen, ihre auffordernden Blicke, ihre feuchtroten Wangen versicherten meine sexuelle Absicht, deren Höhepunkt ich berührte, sanften Druck ausübte, dann über Melissas Innenseite des Oberschenkels nach unten streichelte.

„Honey“,

sagte Melissa in die kurze Atempause und ich nahm meinen Kopf zurück, damit ich ihr ganzes Gesicht sah.

„Honey“,

wiederholte sie und ergänzte:

„Lass’ uns wieder abkühlen. Du kennst meine Prinzipien. Auch wenn es uns schwer fällt, aber ich glaube, es ist besser so. Was denkst du?“

In diesem Moment hatte Melissa erreicht, falls sie das wollte, mein Verlangen nach ihr durch das Prinzip der Enthaltsamkeit wachsen zu lassen. Ich begehrte sie, perlend, außer mir, unausweichlich. Zu vielen Kompromissen fühlte ich mich bereit. Und Melissa gab mir die Gelegenheit, zumindest verbal von meiner Lust zu erzählen, indem sie fragte:

„Was denkst du?“

Aber gerade wegen dieser Frage scheute ich zurück, ihr etwas von meinem Wunsch zu sagen. Ich ahnte, dass eine ehrliche Antwort meine Neigung erschwerte, ihr näher zu kommen. Sie würde Melissa in eine bessere Position versetzen. Das Wissen um die Schwächen und Sehnsüchte anderer verführte Melissa, sie zum eigenen Vorteil zu verwenden. Und dass Melissa dies tun würde, davon war ich überzeugt. Darum ließ ich Melissa, wie sie mich, in der Ungewissheit, ob mich das Prinzip der Enthaltsamkeit zusehends sie mehr begehren ließ:

„Du hast Recht. Zum Glück haben wir früh genug aufgehört, bevor es zu spät war.“

Die vernünftigen Worte beendeten meinen Erregungszustand. Auch das Zulassen von Zärtlichkeiten reichte nicht aus, mich gefügig zu machen. Melissa war zu klug, um nicht schnell wieder zu ihrer üblichen optimistischen wie kessen Art zurückzufinden:

„Was bin ich froh, dass mein Freund so weise ist. Mein weiser Schatz. ‚Schatz‘, stimmt doch? ‚Schatz‘ sagen doch die Leute in Deutschland zueinander, die sich lieben. ‚Schatz‘ ist quasi das deutsche ‚Honey‘?“

„Genau. Hast du das Wort in einem Fremdwörterlexikon nachgeschlagen?“

„Sag’ ich nicht. Komm’, lass’ uns aufstehen und nach München fahren!“

Es dauerte, bis ich zentrumsnah einen Parkplatz gefunden hatte. Melissa nutzte die Verzögerung und telefonierte mit der Freundin ihrer Schwester Laura, die in Erlangen wohnte. Sie hieß Amanda. Amanda gab Melissa Tipps, in welche Läden sie in München zum Einkaufen gehen sollte. Somit kamen wir nach einer ausgedehnten Einkaufstour und einem schnellen Mittagessen erst am frühen Nachmittag zum Deutschen Museum. Hier gefiel es Melissa erfreulicherweise besser als beim Spaziergang durch meine Heimatstadt. Sie mochte den Angestellten, der uns mit dreizehn anderen Besuchern durch das Museum führte. Ganz besonders fesselte Melissa das Zentrum für Neue Technologien. In ihm ging es unter anderem um neuartige technische Verfahren, die die plastische Gesichtschirurgie betrafen.

„Das ist exakt das Thema, das ich in meiner Examensarbeit behandelt habe!“,

sagte Melissa.

Interessiert schaute sich Melissa die einzelnen Ausstellungsstücke und die Erklärungen dazu an.

„Ich bin wirklich beeindruckt. Ich muss herausfinden, welche Kliniken in Deutschland mit diesen Verfahren arbeiten. Stell’ dir vor, dann könnte ich vielleicht eine Kooperationspartnerschaft zwischen einem deutschen Krankenhaus und dem Diamond Krankenhaus in Honolulu gründen. Das wäre doch super. Und vielleicht habe ich so vielleicht die Möglichkeit, später an einem deutschen Krankenhaus zu arbeiten. Schön, sehr schön! Fürs erste habe ich genug gesehen.“

Als die Führung beendet war, nahm mich Melissa an der Hand und wir zogen weiter durch die anderen Abteilungen des Deutschen Museums. Mich interessierte das Museum nicht sonderlich. Aber es freute mich, dass es Melissa hier gefiel. Ob ihr hingegen unser geplanter Opernbesuch zusagen würde, konnte ich nicht einschätzen. Melissa erzählte mir, dass sie bislang noch nie in einer Oper gewesen sei, es aber einmal ausprobieren wolle. In Nashville war die Countrymusik zu Hause und außer dieser liebte Melissa die US-amerikanischen Bands, die christliche Lieder spielten. Nun hatte die Oper wenig mit Countrymusik und christlichen Liedern US-amerikanischer Herkunft gemeinsam und darum wurde unser Opernbesuch in La Bohème für Melissa zu einer Belustigung und für mich zu einer Probe, wie weit meine Geduld für Melissa reichte.

Melissa wirkte wie ein Fremdkörper im Opernsaal. Sie selbst nahm es mit Humor. Als die Opernsänger zu singen anfingen, musste sie ihr Lachen unterdrücken, weil sie es komisch fand. Statt sich an die Vorführung zu gewöhnen, fiel es Melissa im Lauf der Vorstellung immer schwerer, ihr Lachen zu unterdrücken, was die aufmerksame Teilnahme unserer Sitznachbarn erschwerte. Doch Melissa war von dem Schauspiel so erheitert, dass ihr die Blicke der Sitznachbarn nicht auffielen. Es war mir unangenehm. Und da ich vermeiden wollte, dass sich unsere Sitznachbarn über Melissas Verhalten beschwerten, machte ich ihr das Angebot, in der Pause die Oper zu verlassen. Morgen mussten wir früh los, um rechtzeitig am Treffpunkt zu sein, wo uns der Bus für die Schlössertour Ludwigs II. abholte. Ich versuchte, den Opernabend zu vergessen und mich davon zu überzeugen, dass es eine gute Idee gewesen war, vor dem Ende der Vorstellung aufgebrochen zu sein.

Dem Gebot von Melissas puritanischen Vorvätern und der katholischen Kirche entsprechend verbrachten wir die Nacht wieder jeder auf seinem Zimmer. Am darauffolgenden Morgen, mein Wecker hatte noch nicht geklingelt, wendete sich die Szenerie des Vortages in sein Gegenteil. Ich erschrak, als Melissa plötzlich vor meinem Bett stand. Nach einem Blick auf die Uhr sagte ich zu ihr:

„Morgen Melissa. Du kannst noch schlafen, wenn du willst.“

„Ich weiß. Ich möchte aber gern zu dir ins Bett schlüpfen.“

Melissa machte den Eindruck, dass sie nun bereit war, einen ihrer guten Vorsätze aufzugeben. Statt mich allein auf die Lippen zu küssen, fühlte ich neuerdings ihre Zunge. Und nicht nur das. Während ich zeitgleich damit beschäftigt war, mit meiner Hand die Hautpartien von Melissa zu streicheln, die nicht von ihrem Bikini bedeckt wurden, stimulierte Melissa direkt meine bewegliche Hautpartie, die absichtlich von meiner Badehose für die Augen anderer neutralisiert wurde. Das Gleichgewicht zwischen uns wiederherstellend reizte ich auch Melissas Geschlecht. Die Textilien, die unseren intimen Hautkontakt noch verhinderten, wurden zunehmend zum ärgerlichen Hindernis. Melissa zog als erstes ihr Nachthemd aus, ich folgte, worauf Melissa die neuen Umstände zu einem Stellungswechsel nutzte und sich auf mich setzte. Ich konnte kaum unsere erste Einheit genießen, da glitt Melissa geschmeidig wie eine Bauchtänzerin von meinem Schoß und wandte mir ihren Rücken zu. Ich legte mich seitlich hinter sie und bewegte meine Virilität dorthin, wo ich von vorne mit meiner Hand bereits angekommen war. Melissa atmete tiefer, ehe ihre Stimmbänder zu schwingen einsetzten und ihren Atem deutlich hörbar machten. Ich versuchte, meinen Genuss hinauszuzögern, bis sich Melissa nachgiebig auf ihren Rücken legte und endgültig darin einwilligte, vor dem sie ihre Eltern bis nach der Hochzeit bewahren wollten, es aber schon bei Melissas Beziehung zu Paul nicht schafften. Melissas erhabener Grundsatz, der sich als Beschleuniger der hitzigen Natur entblößte, schmolz dahin. Unaufhaltsam, im pulsierenden Rhythmus des Herzschlags näherten wir uns der gleißenden Aufhebung der Lust.

Morgenlicht flutete den Raum.

Als ich wieder klar denken konnte, schaute ich erneut auf die Uhr:

„Die Schlösser rufen!“,

sagte ich zu Melissa. Sie drehte sich um, blickte mir in die Augen, lachte und antwortete:

„Dann lass’ uns dem Ruf folgen!“

Melissa hätte es bevorzugt, den ganzen Tag im Bett liegen zu bleiben. In dem Maß, in dem Melissa vor Kraft strotzen konnte, in dem Maß brauchte sie Zeiten, in denen sie sich ausruhte. Während ich mit meinen Energien vorsichtig haushaltete und darauf aufpasste, mich nicht unnötig zu verausgaben, und darum auch auf keine außergewöhnlich langen Ruhephasen angewiesen war, lebte Melissa ja mit voller Kraft voraus, stürmte in ihrem Studium und bei all ihren anderen Aktivitäten mit vollem Einsatz nach vorne, als ob es kein Morgen gäbe, musste wegen dieser Erschöpfung ihrer Kräfte aber, meistens unfreiwillig, lange schlafen und manchmal für ein oder zwei Tage aus Ermüdung das Bett hüten.

Dieser Lebensstil machte Melissa krankheitsanfälliger als andere. Freute sie sich als Kind und Jugendliche noch darüber, ein paar Tage nicht zur Schule gehen zu müssen, begann sie als Studentin, wenn sie etwaige Hinweise auf eine aufkommende Erkrankung spürte, diesen mit Medikamenten entgegenzuwirken. Sie wollte keine Seminare und Vorlesungen verpassen. Auch an diesem Morgen schien sich Melissa durch die Nachwehen des Flugs von San Francisco nach München mit der damit verbundenen Zeitverschiebung schlaff zu fühlen und am liebsten im Bett bleiben zu wollen. Aber sie bemühte sich, sich keine Schwäche anmerken zu lassen. Und so saßen wir wenig später im Bus zu den Schlössern Ludwigs II.

Es handelte sich bei den Schlössern natürlich auch um historische Gebäude. Doch ihr Glamourfaktor war um ein Vielfaches größer als der der Bauten in meiner Heimatstadt. Wie für viele US-Amerikaner und andere Ausländer waren Burgen und Schlösser für Melissa ein Inbegriff deutscher Kultur. Sie erinnerte sich an ein Kinderbuch, in dem unterschiedliche Länder aus aller Welt mit den üblichen Stereotypen vorgestellt wurden. Auf den Seiten über Deutschland fand sie als Sechsjährige das liebliche Bild einer Prinzessin und eines Prinzen, die im Hochzeitsgewand vom Balkon eines Traumschlosses auf eine Schar ihnen zujubelnder Getreuer schauten. Dieses Bild hatte sich in Melissas Gedächtnis festgehakt. Sie wollte Fotos von Ludwigs Schlössern aufnehmen, um sie in San Francisco ihren Freunden zeigen zu können.

Zusammen mit einer Reisegruppe, die größtenteils aus Touristen aus China und Indien bestand, absolvierten wir die Schlösserreise im Takt des genau organisierten Tagesablaufs. Für unvorhergesehene Ereignisse, wie einen Stau auf der Autobahn oder einen Schwächeanfall eines Mitreisenden, fehlte die Zeit. Der etwa dreißigminütige Fußweg vom Ort Hohenschwangau zum Schloss Neuschwanstein machte Melissa zu schaffen. Ihr Übergewicht sowie ihr mangelndes Training (in San Francisco legte sie alle Wege mit dem Auto zurück und spazierte nur selten am Strand) brachten sie außer Puste. Erst als die schlanken Chinesen und Inder leichtfüßig an uns vorbeizogen und in Melissa der Wettbewerbsgeist geweckt wurde, mobilisierte sie ihre Kräfte. Zunächst holten wir unsere Reisegruppe ein und am Schlosstor angekommen hatten wir erneut den Platz erreicht, von dem wir am Beginn des Aufstiegs gestartet waren. Melissa liefen Schweißperlen über die Stirn. Sie atmete erst wieder wie üblich, ohne aus Atemnot mehrmals unser Gespräch kurzzeitig unterbrechen zu müssen, nachdem wir geraume Zeit die Aussicht genossen hatten.

Nach dem Mittagessen in einem Restaurant in Hohenschwangau, bevor wir wieder in den Bus einstiegen, hatten wir auf der Damentoilette nun flink das zweite Mal Melissas sexuellen Grundsatz ignoriert. Auch im Anschluss an die Weiterfahrt nach Ettal zur Besichtigung von Schloss Linderhof konnten wir auf einer Parkbank nur schwer aufhören, voneinander zu lassen, obwohl unsere asiatischen Mitreisenden durch den öffentlichen Austausch von Zärtlichkeiten irritiert wie interessiert auf uns aufmerksam wurden und wir so ungewollt zum Anschauungsobjekt westlicher Verhaltensweisen wurden. Eine ältere chinesische Frau, die mit ihrem gelben Hut aus unserer Reisegruppe herausstach, lächelte uns von ihrem Platz vielsagend an, als wir wieder in den Bus einstiegen.

Erschöpft kehrten wir am Abend nach München zurück. Melissa wollte auf jeden Fall das Hofbräuhaus besuchen, von dem ihr Richard erzählt hatte. Ihr Vater war einmal auf einer Geschäftsreise mit Kollegen im Hofbräuhaus eingekehrt und hatte Melissa vor ihrer Abreise von San Francisco gebeten, ihm einen der Bierkrüge mit dem HB-Logo mitzubringen. Den, den er sich damals selbst mitgebracht hatte, war zu Bruch gegangen, und weil er so daran hing, Freitagabends die Arbeitswoche mit einem Bier zu beschließen, das ihm aus dem Bierhumpen aus dem Hofbräuhaus besser schmeckte als aus der neu erworbenen US-amerikanischen Kopie, wünschte er sich dieses Souvenir. Da wir nicht wussten, wann wir am Donnerstagabend aus Erlangen von Amanda zurückkommen würden, gingen wir sicherheitshalber an diesem Tag schon zum Hofbräuhaus und kauften einen der Bierhumpen. Wir blieben dann auch gleich zum Abendessen und vom Bier angeheitert, den Bauch voll, die Ohren von der Blasmusik noch taub, das Bierglas unterm Arm verließen wir das Hofbräuhaus und taten zu Hause in meinem Bett erneut, was lange Zeit heiß diskutiert wurde und nun keiner Rede mehr wert war.

Amanda begrüßte uns enthusiastisch am Erlanger Bahnhof. Sie schwenkte die Flagge von Nashville und rief irgendeinen Schlachtruf aus High-School-Zeiten, den Melissa erwiderte. Beide fielen sich in die Arme und teilten die Freude von Ex-Patriots, die auf einen anderen US-Amerikaner im Ausland trafen. Ihr Glück sprang auf mich über. Ich wartete, bis Melissa mich Amanda vorstellte. Amanda nahm mich gleich darauf in den Arm und drückte mich so fest, dass ich glaubte, sie sei Kraftsportlerin. Ihre männlichen Gesichtszüge und Verhaltensweisen trugen ebenso dazu bei, dass es mich nicht verblüffte, wie sie uns erzählte, sie komme gerade vom Fußballtraining. Da ich angenommen hatte, dass Amanda und Melissa lieber ungestört den Tag in Erlangen verbringen würden, hatten wir bereits vorab vereinbart, dass jeder seine eigenen Wege gehen und wir uns abends wieder am Bahnhof treffen sollten.

Amanda rollte mit Mühe ihre Nashville-Flagge wieder ein, worauf die beiden in Richtung Innenstadt loszogen. Ich dagegen hielt mich zunächst noch im Bahnhofsgebäude auf, wo ein Café mit dem „besten Kaffee Erlangens“ warb. Ich freute mich, die Verantwortung für Melissa für einige Stunden an Amanda abgegeben zu haben. Wie ein Paar junger Eltern, das seine Kinder über das Wochenende zu den Großeltern gibt, kostete ich aus, nur an mich zu denken.

Es war eine neue Erfahrung, mit einer Ausländerin, die nicht in Deutschland wohnte und darum eine Fremde war, fest liiert zu sein. Melissa gegenüber fühlte ich mich verantwortlicher als für meine bisherigen Freundinnen. Auf einmal sah ich Deutschland aus der Perspektive eines Touristen und erlebte die Deutschen als nette Gastgeber. Sobald jemand hörte, unabhängig davon, wo wir uns in dieser knappen Woche in München und Umgebung aufhielten, dass Melissa Englisch sprach, bemühten sich die Leute Englisch zu sprechen und erinnerten sich beim Small-Talk daran, was sie mit den USA verband. Die einen berichteten von einem Verwandten, der in den USA lebte, die anderen von Urlaubserlebnissen in Florida oder Cincinnati und wieder andere erzählten von ihren positiven Erfahrungen mit US-amerikanischen Soldaten in der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Aus dem Bahnhofscafé beobachtete ich die Leute, die sich in der Bahnhofshalle aufhielten. Ich liebte es, mich in ein Café zu setzen und an nichts denken zu müssen. Obwohl ich hauptsächlich von zu Hause aus arbeitete und sicher freier war als die Arbeitnehmer, die jeden Morgen ins Büro gehen mussten, konnte ich mich von montags bis freitags, von 8 bis 17 Uhr, von einer angespannten Arbeitsatmosphäre auch kaum lösen. Bei mir konnte der Chef zwar nicht physisch erscheinen. Doch seine E-Mails und Anrufe mit Arbeitsanweisungen und seine subtilen Methoden, um schnell an Arbeitsergebnisse zu kommen, konnten meine Tagesplanung ebenso unverhofft verändern, wie wenn er im Büro nebenan gesessen hätte. Am Wochenende blieb leider auch wenig Freiraum, um, ohne an irgendetwas Spezielles denken zu müssen, mich in ein Café zu setzen. Samstags arbeitete ich seit dem Beginn meines Promotionsstudiums als ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Münchener Einsatzzentrale des Roten Kreuzes und sonntags ging ich zum Mittagessen zu meinen Eltern und traf mich nachmittags oder am frühen Abend mit Freunden. Und montags begann dann wieder alles von vorn.

An diesem Donnerstag in der ersten Maiwoche konnte ich aber, gegen Ende von Melissas Deutschlandbesuch, wieder einmal allein in einem Café sitzen. Wenn ich gewollt hätte, sogar die nächsten sieben Stunden, bis ich mich am Bahnhof mit Melissa und Amanda verabredet hatte. Um die Freiheit vollkommen zu genießen, schaltete ich mein Handy aus.

In einem Antiquariat war ich einmal auf eine Publikation gestoßen, in der das biblische Buch Kohelet ins Schwäbische übersetzt worden war. Für den Begriff „Windhauch“, dem Leitmotiv der Schrift,

„Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch“ (Kohelet, 1,2),

verwendete der Übersetzer den Begriff „Seifenblase“, also auf schwäbisch „Soifeblas’“. Dieses Wort fiel mir ein, als ich den letzten Schluck meines Kaffees im Bahnhofscafé von Erlangen trank und auf meinem Tassenboden eine einzige Kaffeeblase übrigblieb. Ich setzte die Tasse vorsichtig ab, um wenigstens die Kaffeeblase zurückzulassen, da von dem Kaffee sonst nichts mehr zu sehen war. Ich strengte mich an, dachte ich, um sämtliche Ansprüche zu erfüllen und am Schluss blieb, da musste ich Kohelet Recht geben, nichts übrig als eine „Soifeblas’“. In ihnen spiegelte sich das Leben noch ein wenig, auch wenn es vergangen war, bis sich am Ende auch dieser Spiegel in Luft auflöste. Gott sei Dank hatte ich, nachdem ich von dem Antiquariat wieder nach Hause gekommen war, den Text der Einheitsübersetzung gelesen und hatte dabei den optimistischen Rat Kohelets gefunden, den er der ernüchternden Feststellung, alles sei Windhauch, gegenüberstellte:

„Iß freudig dein Brot, und trink vergnügt deinen Wein; denn das, was du tust, hat Gott längst so festgelegt, wie es ihm gefiel. Trag jederzeit frische Kleider, und nie fehle duftendes Öl auf deinem Haupt. Mit einer Frau, die du liebst, genieß das Leben alle Tage deines Lebens voll Windhauch, die er dir unter der Sonne geschenkt hat, alle deine Tage voll Windhauch. Denn das ist dein Anteil am Leben und an dem Besitz, für den du dich unter der Sonne anstrengst“ (Kohelet, 9,7-9).

Diese Aufmunterung mochte ich. Und die im Zitat erwähnte Frau, meinte ich, mit Melissa gefunden zu haben.

Ich verließ das Café in Richtung Botanischem Garten und fand am Marktplatz ein uriges Lokal. Da mein Hunger vorerst größer war als meine Lust, den Botanischen Garten zu besuchen, bestellte ich mir eine Schweinshaxe und ein Maß Bier. Ich saß an einem der Tische vor dem Restaurant unter einem Kastanienbaum und fragte den Kellner, wo es hier Zigarren zu kaufen gebe. Er zeigte mir etwa hundert Meter entfernt ein Tabakwarengeschäft und sagte, ich könne ruhig gleich hingehen und eine kaufen. Die Schweinshaxe dauere immer etwas länger. Ich kaufte eine Zigarre und setzte mich wieder an meinen Platz unter dem Kastanienbaum, wo bereits mein Bier auf mich wartete. Die Schweinshaxe, die mir der Kellner servierte, schmeckte. Satt bestellte ich mir anschließend einen Espresso und zündete meine Zigarre an. Es blieben noch vier Stunden, bis ich wieder am Bahnhof sein musste. Ich setzte meinen Weg zum Botanischen Garten fort und setzte mich dort auf eine Parkbank in den Schatten eines Baumes, schaute dem Wasserspiel eines Brunnen zu, rauchte meine Zigarre zu Ende und dachte an den Rat von Kohelet.

Als es unangenehm kühl wurde, machte ich mich langsam auf und ging zum Bahnhof. Ich lief am Bahngleis auf und ab und überlegte verschiedenste Szenarien, die eintreten könnten, wenn Melissa und Amanda nicht, wie verabredet, pünktlich zum Zug kommen würden. Nur noch drei Minuten bis zur Abfahrt. Es hatte sich nicht gelohnt, Melissa für die paar Tage ein Handy zu kaufen, und Amandas Nummer hatte ich mir leider auch nicht notiert. Auf meinem Handy, das ich auf dem Weg zum Bahnhof wieder eingeschaltet hatte, fand ich auch keine Nachricht von ihnen. Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr bewegte sich, der Sekundenzeiger eilte unhaltbar weiter. Der Bahnsteig war beinahe leer. Die meisten Fahrgäste waren bereits in den Zug eingestiegen. Wenn die beiden nicht bald kamen, müssten wir einen späteren Zug nehmen. Meine Nervosität stieg. Der Minutenzeiger bewegte sich erneut, jetzt hatten die beiden noch 60 Sekunden Zeit. Der Schaffner schaute ungeduldig auf die Uhr, wann er das Zeichen zur Abfahrt geben konnte. Schwere, schnelle Schritte hörte ich die Treppen zum Bahnsteig hinaufeilen:

„Gott sei Dank! Ihr habt es noch geschafft.“

Amanda umarmte rasch Melissa, dann mich, und forderte uns auf:

„Schnell, schnell, geht in den Zug!“

Aus dem Fenster winkten wir Amanda, die zum Abschied nochmals ihre Nashville-Flagge zückte und sie energisch schwenkte. Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr wies auf 18.05 Uhr. Jetzt konnte der Schaffner seinen Pfiff abgeben, seine grüne Kelle heben und der Zug setzte sich in Bewegung.

Während der Rückfahrt und zu Hause beim Kofferpacken weihte mich Melissa in die Neuigkeiten ein, die ihr Amanda erzählt hatte. Ich hörte ihr dabei nicht genau zu, weil ich bei dem Gedanken sentimental wurde, dass die knappe Woche, die mich Melissa in München besuchte, in wenigen Stunden zu Ende ging. Die körperliche Nähe, die ich genoss, sollte so abrupt aufhören, wie sie am Anfang der Woche begonnen hatte. Und wenn nichts Unvorhergesehenes in den nächsten Monaten bis zu meinem Hawaii-Urlaub im Oktober geschehen würde, konnten wir erst dann wieder wirklich zusammen sein. Auch die schlechte Aussicht, dass in den nächsten Wochen, in denen sich Melissa am Diamond Krankenhaus in Honolulu eingewöhnen musste und ein straffes Programm abzuleisten hatte, unsere täglichen Telefonate nicht selbstverständlich stattfinden konnten, machten mich traurig. Melissa bemerkte meine gedrückte Stimmung. Sie schmiedete schon Pläne über meinen Honolulu-Aufenthalt hinaus und schlug vor, dass ich nach Weihnachten zu ihr und ihrer Familie nach Nashville kommen sollte.

Meine Laune änderte sich. Statt weiterhin über die räumliche Distanz unserer Fernbeziehung zu hadern, zweifelte ich, ob es gut sei, mich so früh ihrer Familie vorzustellen. Schließlich bedeutete das eine weitere Vertiefung unserer festen Beziehung und hätte als ein Schritt auf eine mögliche Hochzeit hin missverstanden werden können.

„Glaubst du“,

fragte ich Melissa,

„dass es gut ist, mich schon so früh zu deinen Eltern mitzunehmen. Wir sind ja eben erst zusammengekommen.“

„Ihr Europäer! In den USA ist es ganz normal, seinen Freund den Eltern vorzustellen, auch wenn man noch nicht lange zusammen ist. Die Eltern drängen sogar darauf, dass man so schnell wie möglich den Freund der Tochter kennenlernt.“

Und Melissa fügte süffisant lachend die Provokation hinzu:

„Besonders, wenn es ein Ausländer ist“,

worauf ich ihr entgegnete:

„Weißt du, ich denke, wenn man ein Jahr lang in einer festen Beziehung gelebt hat, sollte man wissen, ob man zueinander passt oder nicht. Und wenn man zu dem Ergebnis kommt, ja, es passt, dann steht aus meiner Sicht einer Hochzeit nichts mehr im Weg. Das ist in den USA gang und gäbe, dass man nicht lange fackelt, bevor man heiratet. Und auch aus religiösen Gründen wird es gern gesehen, wenn zügig geheiratet wird. Du weißt ja, auch wenn wir die letzten Tage gegen meine Überzeugung gehandelt haben, würde ich mich wesentlich besser fühlen, wir wären verheiratet. Das ist ja nur ein gestempeltes Papier und dann gibt es keine Probleme mehr, dann können wir solange Sex haben, wie wir wollen.“

Melissa musste mir angesehen haben, dass meine Gesichtsfarbe bei ihren Ausführungen verblasste. Wir waren kaum einen Monat ein Paar und schon dachte Melissa nicht nur über das Heiraten nach, sondern sprach auch mit mir darüber. Ich wollte meine Position klarstellen:

„Über das frühe Heiraten haben wir doch schon während einer unserer Diskussion gesprochen. Die Gefahr, dass solche Ehen nicht gut gehen, ist unberechenbar. Das ist sicher auch der Grund dafür, warum die meisten Europäer erst mehrere Jahre ihre feste Beziehung prüfen, bevor sie sich auf die Ehe einlassen. Wir sind in diesem Punkt nüchterner. Und ich kenne viele aus meinem Freundeskreis, bei denen es ein Segen war, dass sie nicht geheiratet haben. Ihre Beziehung ist nach wenigen Jahren in die Brüche gegangen.“

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Meine Eltern freuen sich einfach, wenn sie dich zwischen den Jahren kennen lernen. Und wir werden eine Menge Spaß haben in Nashville.“

Ich wusste nicht, ob mich Melissa verstanden hatte. Für den Moment schien mir die Situation entschärft zu sein. Dennoch konnte ich das Gefühl nicht loswerden, Melissa wollte mich mit dem Spaß, den wir in der folgenden Nacht miteinander hatten, bestechen.

Diese Meinungsverschiedenheit, die am Donnerstagabend wieder hervortrat, machte mich bei Melissas Abreise vom Münchener Flughafen gefasster, obgleich ich gemischte Gefühle hatte, weil ich auf Melissas körperliche Präsenz bis zum Oktober verzichten musste. Noch einmal nahmen wir uns in die Arme, küssten einander, bis sich Melissa lachend entzog. Sie drehte sich, solange sie in der Reihe zur Passkontrolle wartete, noch mehrere Male zu mir um. Dann winkte sie und verschwand im Sicherheitsbereich.

Je weiter ich mich von Melissa entfernte, durch die Schalterhalle hindurch, den Gang ins Parkhaus und wenig später mit dem Auto auf der Autobahn fuhr, spürte ich ihre Abwesenheit. Gleichzeitig legte sich mein Verantwortungsgefühl gegenüber Melissa ab. Nun war Melissa wieder auf sich allein gestellt, musste selbst schauen, wie sie zu Recht kam. Und dass sie das konnte, stellte ich nicht in Frage, weil die meisten Leute am Flughafen Englisch sprachen und im Flugzeug der US-amerikanischen Fluggesellschaft sowieso.

Ein Umweg über Honolulu

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