Читать книгу Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi - Страница 103
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ОглавлениеAls Ljewin die Treppe zur Hälfte hinuntergelaufen war, hörte er in der Vorhalle ein ihm wohlbekanntes Husten; aber er hörte es wegen des Geräusches seiner eigenen Schritte nur undeutlich und hoffte, sich geirrt zu haben; dann erblickte er die ganze lange, knochige, ihm so wohlbekannte Gestalt des Ankömmlings, und nun schien die Annahme, daß er sich doch vielleicht täusche, eigentlich nicht mehr möglich; aber immer noch hoffte er, daß er sich irre und daß dieser lange Mann, der da seinen Pelz auszog und so heftig hustete, nicht sein Bruder Nikolai sei.
Konstantin Ljewin liebte seinen Bruder; aber mit ihm zusammen zu sein, war ihm immer eine Qual gewesen. Und nun gar jetzt, wo Konstantin infolge jenes Gedankens, der zuerst ihm selbst in den Sinn gekommen und dann von Agafja Michailowna ausgesprochen war, sich in einem unklaren, verwirrten Seelenzustande befand, gerade jetzt erschien ihm das bevorstehende Wiedersehen mit seinem Bruder besonders peinlich. Statt mit einem lustigen, gesunden, fremden Gaste, der ihm, wie er gehofft hatte, bei seiner seelischen Benommenheit einige Zerstreuung gebracht hätte, mußte er nun mit seinem Bruder zusammen sein, der ihn durch und durch kannte, die geheimsten Gedanken aus ihm herauslocken und ihn zwingen würde, sich vollständig auszusprechen. Und das mochte Konstantin Ljewin nicht.
Aber sofort schalt er auch sich selbst wegen dieser häßlichen Empfindung aus und lief in die Vorhalle hinunter. Und sobald er seinen Bruder aus der Nähe gesehen hatte, war auch dieses Gefühl persönlicher Enttäuschung sofort verschwunden und ein tiefes Mitleid an seine Stelle getreten. Wie schrecklich Nikolai auch schon früher infolge seiner Abmagerung und Krankheit ausgesehen hatte, jetzt war er noch magerer und kraftloser geworden. Er war nur noch ein mit Haut überzogenes Gerippe.
Er stand in der Vorhalle, riß sich unter heftigen, zuckenden Bewegungen des langen, hageren Halses einen Schal ab und lächelte in einer seltsam kläglichen Art. Als Konstantin dieses stille, ergebungsvolle Lächeln sah, da fühlte er, daß ihm ein Krampf die Kehle zusammenpreßte.
»Siehst du wohl, da bin ich zu dir gekommen«, sagte Nikolai mit hohler Stimme, ohne die Augen auch nur eine Sekunde von dem Gesicht seines Bruders wegzuwenden. »Ich hatte es schon längst tun wollen, war aber immer kränklich. Aber jetzt habe ich mich recht erholt«, sagte er und wischte sich mit den großen, mageren Händen die Nässe aus dem Barte.
»Ja, ja!« antwortete Konstantin, und sein Entsetzen steigerte sich noch, als er seinen Bruder küßte und dabei mit den Lippen die Trockenheit seines Körpers fühlte und diese großen, seltsam glänzenden Augen ganz nahe vor sich sah.
Einige Wochen vorher hatte Konstantin Ljewin seinem Bruder geschrieben, daß jener kleine Teil des ererbten Landes, den die Brüder bisher noch ungeteilt zusammen besessen hatten, nunmehr verkauft sei und daß der Bruder jetzt als seinen Anteil gegen zweitausend Rubel zu erhalten habe.
Nikolai sagte, er sei jetzt gekommen, um dieses Geld in Empfang zu nehmen, hauptsächlich aber in der Absicht, einmal eine Zeitlang auf dem Familiensitze zu wohnen und den heimischen Erdboden zu berühren, um daraus wie jene Riesen Kraft für die ihm bevorstehende Tätigkeit zu gewinnen. Trotz seiner gekrümmten Haltung, mit der es noch schlimmer geworden war, trotz der bei seinem hohen Wuchse besonders auffälligen Hagerkeit waren seine Bewegungen, wie auch schon früher, schnell und hastig. Konstantin führte ihn in sein Arbeitszimmer.
Der Bruder kleidete sich mit besonderer Sorgfalt um, was früher nicht seine Art gewesen war, kämmte sein dünnes, schlichtes Haar und ging dann lächelnd hinauf.
Er befand sich in der freundlichsten, heitersten Stimmung, wie Konstantin ihn in ihrer Kinderzeit oft gesehen zu haben sich erinnerte. Selbst von Sergei Iwanowitsch sprach er ohne Bitterkeit. Als er Agafja Michailowna sah, scherzte er mit ihr und erkundigte sich nach den alten Dienern. Die Nachricht von Parfen Denisütschs Tode erweckte bei ihm eine unangenehme Empfindung; eine Art von Schrecken malte sich auf seinem Gesichte; aber er nahm sich sofort wieder zusammen.
»Er war ja auch schon alt«, sagte er und begann dann von etwas anderem zu sprechen. »Ja, ich möchte also etwa zwei Monate bei dir bleiben und dann nach Moskau fahren. Weißt du, Mjachkow hat mir eine Stelle versprochen; ich will in den Staatsdienst treten. Jetzt werde ich mir mein Leben ganz anders einrichten«, fuhr er fort. »Weißt du, diesem Frauenzimmer habe ich den Laufpaß gegeben.«
»Wem? Marja Nikolajewna? Wie ist das zugegangen? Warum denn?«
»Ach, sie war ein gräßliches Frauenzimmer! Sie hat mir eine Menge Unannehmlichkeiten gemacht.« Aber er erzählte nicht, von welcher Art diese Unannehmlichkeiten gewesen seien. Er konnte doch auch nicht sagen, daß er Marja Nikolajewna deshalb weggejagt hatte, weil sie ihm den Tee nicht so stark gekocht hatte, wie er ihn hatte haben wollen, und hauptsächlich deshalb, weil sie ihn wie einen Kranken gepflegt hatte. »Und dann will ich jetzt überhaupt mein Leben vollständig umgestalten. Ich habe ja natürlich Dummheiten gemacht, wie alle Menschen; aber mein Vermögen, das ist das letzte, worum es mir leid tut. Die Hauptsache ist doch immer, daß man gesund ist; nun, und meine Gesundheit hat sich, Gott sei Dank, gebessert.«
Konstantin Ljewin hörte zu und überlegte, was er nun seinerseits sagen könnte, vermochte aber keine passende Erwiderung zu finden. Wahrscheinlich fühlte Nikolai ihm das nach; er begann den Bruder nach dem Gange seiner Wirtschaftsangelegenheiten zu fragen, und Konstantin freute sich, von sich selbst sprechen zu können, weil er da reden konnte, ohne sich zu verstellen. Er erzählte dem Bruder von seinen Plänen und Unternehmungen.
Der Bruder hörte zu, interessierte sich aber augenscheinlich nicht dafür.
Diese beiden Menschen waren miteinander so eng verwandt und standen sich so nahe, daß die geringste Bewegung, der bloße Ton der Stimme für sie mehr besagte als alles, was man mit Worten sagen kann. Jetzt hatten sie beide nur einen Gedanken, der alles übrige erstickte: den an Nikolais Krankheit und nahen Tod. Aber weder der eine noch der andere wagte davon zu sprechen, und daher trug alles, was sie nur reden konnten, den Charakter der Unwahrhaftigkeit an sich, weil es nicht das zum Ausdruck brachte, was sie ausschließlich beschäftigte. Noch nie hatte sich Konstantin so sehr darüber gefreut, daß der Abend vorbei war und man schlafen gehen mußte, wie heute. Noch nie, keinem Fremden gegenüber und bei keinem bloßen Höflichkeitsbesuche, war er so verstellt und unaufrichtig gewesen, wie an diesem Tage. Und von dem Bewußtsein dieser Verstellung und dem Schamgefühl darüber wurde sein Benehmen noch unnatürlicher. Er hätte weinen mögen über seinen geliebten Bruder, der dem Tode entgegenging, und er mußte ihm zuhören, wie dieser seine künftige Lebensweise auseinandersetzte, und selbst darüber mitreden.
Da es im Hause feucht und nur ein Zimmer geheizt war, so ließ Konstantin für seinen Bruder in seinem eigenen Schlafzimmer ein Bett hinter einem Wandschirm zurechtmachen.
Nikolai legte sich hin; ob er nun schlief oder nicht, jedenfalls wälzte er sich wie ein Kranker umher; er hustete viel, und wenn er beim Husten die Kehle nicht ordentlich frei bekam, so brummte er etwas vor sich hin. Manchmal, wenn ihm das Atmen schwer wurde, sagte er: »Ach, mein Gott!« Manchmal, wenn ihn der Schleim zu ersticken drohte, fluchte er ärgerlich: »Zum Teufel nochmal!« Konstantin konnte lange nicht einschlafen, weil er ihn immer hörte. Seine Gedanken waren von sehr verschiedener Art, hatten aber alle ein und denselben Endpunkt: den Tod.
Der Tod, das unvermeidliche Ende von allem, trat ihm zum erstenmal mit unwiderstehlicher Gewalt vor Augen. Dieser Tod hauste bereits dort, in dem geliebten Bruder, der im Halbschlaf stöhnte und nach seiner Gewohnheit unterschiedslos bald Gott, bald den Teufel anrief, und war auch ihm, Konstantin, gar nicht so fern, wie es ihm früher geschienen hatte. Der Tod steckte auch schon in ihm selbst; das fühlte er. Wenn nicht heute, dann morgen; wenn nicht morgen, dann nach dreißig Jahren: kam das nicht auf dasselbe hinaus? Aber was dieser unvermeidliche Tod eigentlich war, das wußte er nicht, und er hatte auch niemals darüber nachgedacht, ja, er hatte auch gar nicht verstanden, darüber nachzudenken, und es nicht gewagt.
›Ich arbeite, ich will etwas schaffen, und ich habe vergessen, daß alles ein Ende nimmt, daß es einen Tod gibt.‹
Er setzte sich im Dunkeln auf dem Bette aufrecht, beugte sich vor, umfaßte seine Knie und dachte in dieser Haltung so angestrengt nach, daß er dabei den Atem anhielt. Aber je mehr er seine Denkkraft anstrengte, um so deutlicher wurde es ihm, daß es sich unzweifelhaft so verhielt: er hatte tatsächlich im Leben einen kleinen Umstand vergessen und übersehen, den Umstand, daß der Tod komme und alles ein Ende nehme, daß es nicht der Mühe lohne, etwas zu beginnen, und daß es dagegen schlechterdings keine Hilfe gebe. ›Ja, das ist furchtbar; aber es ist so.
Aber noch lebe ich ja. Was muß ich also jetzt tun? Ja, was?‹ fragte er sich verzweifelt. Er zündete ein Licht an, stand leise auf, ging zum Spiegel und betrachtete sein Gesicht und seine Haare. Ja, an den Schläfen waren schon graue Haare zu sehen. Er machte den Mund auf. Die Backzähne begannen bereits schlecht zu werden. Er entblößte seine muskulösen Arme. Ja, Kraft besaß er, viel Kraft. Aber auch Nikolai, der dort mit den kläglichen Resten seiner Lunge atmete, hatte ehemals einen gesunden Körper gehabt. Und auf einmal fiel ihm ein, wie sie als Kinder zusammen schlafen gegangen waren und oft nur darauf gewartet hatten, daß Fjodor Bogdanütsch aus der Tür ging, um sich wechselseitig mit den Kissen zu werfen und zu lachen, unbändig zu lachen, so daß selbst die Furcht vor Fjodor Bogdanütsch diese überströmende, überschäumende Lebensfreude nicht hatte hemmen können. ›Und jetzt diese verkrümmte, hohle Brust ... und ich, der ich nicht weiß, wozu ich da bin, und was aus mir werden wird ...‹
»Kcha! Kcha! Zum Teufel, was treibst du denn da? Warum schläfst du nicht?« rief ihm sein Bruder zu.
»Ich habe weiter nichts Besonderes; ich weiß nicht, ich kann nicht schlafen.«
»Aber ich habe gut geschlafen; ich schwitze jetzt gar nicht mehr. Überzeuge dich selbst; fühle nur mal mein Hemd! Nicht wahr, es ist gar nicht feucht?«
Konstantin befühlte das Hemd, ging dann wieder hinter den Wandschirm zurück und löschte das Licht aus; aber er konnte lange nicht einschlafen. Nun war er erst vor kurzem mit sich einigermaßen über die Frage ins klare gekommen, wie er leben müsse, und schon trat ihm eine neue, unlösbare Frage entgegen: der Tod.
›Er ist schon im Dahinsterben; im Frühjahr wird es mit ihm zu Ende sein; wie soll ich ihm helfen? Was kann ich zu ihm sagen? Was weiß ich über den Tod? Ich hatte ja sogar vergessen, daß es einen Tod gibt.‹