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Konstantin Ljewin hatte schon längst die Beobachtung gemacht, daß, wenn Leute einem den Verkehr mit ihnen durch übermäßige Nachgiebigkeit und Unterwürfigkeit unbehaglich gestalten, sie ihn einem sehr bald unerträglich machen durch übermäßige Ansprüche und Händelsucht. Er ahnte, daß es auch mit seinem Bruder so kommen werde. Und in der Tat dauerte die Sanftmut seines Bruders Nikolai nicht lange. Gleich am nächsten Morgen zeigte er sich reizbar und suchte geflissentlich Streit mit Konstantin, indem er dessen wundeste Punkte berührte.

Konstantin fühlte sich schuldig, ohne doch an der Sache etwas bessern zu können. Er wußte: wenn sie sich beide nicht verstellen, sondern ihre wahre Herzensempfindung aussprechen wollten, das heißt nur das, was sie wirklich dachten und fühlten, dann würden sie nur einer dem andern in die Augen sehen, und er, Konstantin, würde nur sagen: ›Du wirst sterben, du wirst sterben!‹ und Nikolai würde nur antworten: ›Ich weiß, daß ich sterben werde; aber ich fürchte mich davor, ich fürchte mich, ich fürchte mich.‹ Und weiter würden sie nichts sagen, wenn sie eben nur ihre Herzensempfindung aussprechen wollten. Aber in dieser Weise konnten sie natürlich nicht nebeneinander leben, und daher versuchte Konstantin zu tun, was er sein ganzes Leben lang zu tun versucht und nicht fertiggebracht hatte, was aber nach seiner Beobachtung viele Leute so ausgezeichnet verstanden und was im Leben geradezu eine Notwendigkeit ist: er gab sich Mühe, etwas anderes zu sagen, als was er dachte, und hatte dabei fortwährend die Empfindung, daß er den Eindruck der Unaufrichtigkeit mache, daß sein Bruder ihn durchschaue und darüber in gereizte Stimmung komme.

Am dritten Tage forderte Nikolai seinen Bruder auf, ihm nochmals seinen Plan vorzutragen, und verurteilte diesen Plan nicht nur als ganz verfehlt, sondern warf ihn auch absichtlich in einen Topf mit dem Kommunismus.

»Du hast lediglich einen fremden Gedanken aufgegriffen; aber du hast ihn verhunzt und willst ihn auf einem Gebiete anwenden, wo er gar nicht hinpaßt.«

»Aber ich sage dir ja, daß mein Unternehmen mit dem Sozialismus nichts gemein hat. Die Sozialisten leugnen die Berechtigung des Eigentums, des Kapitals, der Erbfolge; ich aber verwerfe diesen wichtigsten Ansporn menschlicher Tätigkeit nicht (es war ihm selbst widerwärtig, daß er solche Ausdrücke gebrauchte; aber seit er sich so eifrig der Arbeit an seiner Abhandlung widmete, hatte er unwillkürlich angefangen, immer häufiger nichtrussische Worte zu verwenden), ich will nur die Arbeit regeln.«

»Das ist es eben; du hast einen fremden Gedanken aufgegriffen, ihm alles das genommen, was seine eigentliche Kraft ausmacht, und möchtest einem nun einreden, das sei etwas Neues«, versetzte Nikolai und zerrte ärgerlich an seiner Krawatte.

»Aber mein Gedanke hat ja gar nichts gemein ...«

»Beim Kommunismus«, fuhr Nikolai mit ironischem Lächeln fort, und seine Augen blitzten dabei recht boshaft, »beim Kommunismus kann man wenigstens an dem Reize der Klarheit und Zweifellosigkeit seine Freude haben, ich möchte sagen, so ähnlich wie bei der Mathematik. Mag sein, daß das Ganze ein Hirngespinst ist. Aber nehmen wir einmal an, es wäre möglich, mit der ganzen Vergangenheit reinen Tisch zu machen, das Eigentum, die Familie aufzuheben: dann würde sich auch die Arbeit regeln lassen. Aber bei dir ist ja gar nichts ...«

»Warum rührst du meinen Gedanken mit dem Kommunismus zusammen? Ich bin nie Kommunist gewesen.«

»Aber ich bin einer gewesen und finde, daß der Kommunismus zwar verfrüht, aber doch etwas Verständiges ist und eine Zukunft hat; er befindet sich in derselben Lage wie das Christentum in den ersten Jahrhunderten.«

»Ich meine ja auch nur, man muß die Arbeitskraft vom naturwissenschaftlichen Gesichtspunkte aus betrachten, das heißt sie studieren, ihre Eigenschaften bestimmen und ...«

»Ach was, das ist ganz zwecklos. Diese Kraft findet ganz von selbst, nach dem Maße ihrer Entwickelung, eine bestimmte Form, in der sie sich betätigt. Überall hat es Sklaven gegeben, dann später métayers; auch bei uns gibt es die Halbpartarbeit, es gibt die Pacht, es gibt die Tagelöhnerarbeit; wonach suchst du eigentlich noch weiter?«

Bei diesen Worten seines Bruders geriet Konstantin plötzlich in Hitze, weil er in tiefster Seele fürchtete, daß jener recht habe und daß er, Konstantin, wirklich nur so eine Art Mittelding zwischen Kommunismus und festbestimmten Formen schaffen wolle – und daß das kaum möglich sei.

»Ich suche nach Mitteln, die Arbeit sowohl für mich als auch für den Arbeiter gewinnbringend zu machen. Es liegt mir daran, eine Organisation zu schaffen ...«, antwortete er in starker Erregung.

»Es liegt dir gar nicht daran, eine Organisation zu schaffen. Du willst einfach, wie du das dein ganzes Leben lang getan hast, dich als Original hinstellen und zeigen, daß du die Bauern nicht in kunstloser Weise, sondern nach einem bestimmten Systeme ausbeuten kannst.«

»Nun, wenn du das glaubst, dann gib dich nicht weiter mit mir ab!« antwortete Konstantin; er fühlte, wie sein linker Backenmuskel unhemmbar zuckte.

»Du hast nie Überzeugungen gehabt und hast auch jetzt keine; du willst nur deiner Eitelkeit frönen.«

»Ausgezeichnet! Dann gib dich nicht weiter mit mir ab!«

»Ich will mich auch nicht weiter mit dir abgeben! Dumm von mir, daß ich es so lange getan habe! Hol dich der Teufel! Es tut mir nur leid, daß ich überhaupt hergekommen bin!«

Konstantin gab sich nachher die größte Mühe, seinen Bruder wieder zu beruhigen; aber Nikolai wollte nichts hören; er sagte, es wäre schon das beste, wenn er wieder wegführe, und Konstantin sah, daß seinem Bruder das Leben schon geradezu eine unerträgliche Pein war.

Nikolai hatte bereits alles zur Abreise zurechtgemacht, als Konstantin noch einmal zu ihm trat und ihn in gezwungen klingendem Ton um Verzeihung bat, wenn er ihn irgendwie gekränkt habe.

»Sieh mal, wie großmütig.« erwiderte Nikolai lächelnd. »Wenn du gern recht haben möchtest, so kann ich dir ja dieses Vergnügen machen. Also du hast recht; aber abreisen tue ich trotzdem!«

Erst unmittelbar vor der Abreise küßte Nikolai seinen Bruder, sah ihn auf einmal mit seltsam ernstem Blicke an und sagte: »Trotz alledem, Konstantin, gedenke meiner nicht im bösen!« Seine Stimme zitterte.

Das waren die einzigen Worte, die er in wirklich herzlichem Tone gesprochen hatte. Konstantin fühlte, daß er sich bei diesen Worten hinzudenken sollte: ›Du siehst und weißt, daß es mit mir schlecht steht; wir sehen uns vielleicht nicht wieder.‹ Konstantin verstand dies, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen. Er küßte seinen Bruder noch einmal; aber er konnte nicht reden und wußte auch nicht, was er ihm hätte sagen sollen.

Drei Tage nach der Abreise seines Bruders fuhr auch Konstantin Ljewin weg, ins Ausland. Auf der Eisenbahn traf er mit Kittys Vetter Schtscherbazki zusammen, und dieser war über Ljewins düsteres Wesen sehr erstaunt.

»Was hast du denn?« fragte ihn Schtscherbazki.

»Nichts; nichts Besonderes. Es gibt so wenig Vergnügliches auf der Welt.«

»Aber wieso? Komm doch mit mir nach Paris, statt nach deinem Mülhausen zu fahren. Du sollst mal sehen, wie vergnüglich es da ist.«

»Nein, damit habe ich schon abgeschlossen. Für mich ist es Zeit zu sterben.«

»Na, so ein toller Gedanke!« rief Schtscherbazki lachend. »Ich will gerade erst anfangen, so recht zu leben.«

»Ja, so habe ich vor kurzem auch noch gedacht; aber jetzt weiß ich, daß ich bald sterben werde.«

Was Ljewin da sagte, war in der letzten Zeit seine aufrichtige Überzeugung geworden. Er sah in allem nur den Tod oder das Herannahen des Todes. Aber das Unternehmen, das er in die Wege geleitet hatte, interessierte und beschäftigte ihn nur um so mehr. Er mußte doch das Leben ausnutzen, ehe der Tod kam. Dunkelheit verhüllte ihm die ganze Zukunft; aber gerade infolge dieser Dunkelheit hatte er die Vorstellung, daß der einzige leitende Faden in dieser Dunkelheit sein Unternehmen sei, und mit letzter Kraft griff er nach diesem Faden und hielt ihn fest.

Anna Karenina | Krieg und Frieden

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