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Als man von Tische aufstand, wäre Ljewin gern Kitty in den Salon gefolgt; aber er fürchtete, es könnte ihr unangenehm sein, wenn es allzu offenkundig würde, daß er sich um sie bemühte. Er blieb daher bei den Herren und beteiligte sich an dem allgemeinen Gespräche; aber ohne daß er Kitty sah, empfand er durch das Gefühl ihre Bewegungen, ihre Blicke und den Platz, an dem sie sich im Salon befand.

Gleich auf der Stelle und ohne daß es ihn die geringste Anstrengung gekostet hätte, erfüllte er das Versprechen, das er ihr gegeben hatte: immer gut von allen Menschen zu denken und immer alle Menschen zu lieben. Das Gespräch war auf die Gemeindeorganisation übergegangen, in der Peszow ein besonderes Prinzip zu erkennen glaubte, das er als »Chorprinzip« bezeichnete. Ljewin war weder mit Peszow noch mit seinem Bruder einverstanden, der, wie das so seine Art war, den Wert der russischen Gemeindeorganisation zum Teil anerkannte und zum Teil auch wieder bestritt. Aber er nahm an ihrem Gespräche teil und richtete dabei sein Bemühen nur darauf, einen Ausgleich zwischen beiden herbeizuführen und die Schärfe ihrer Entgegnungen abzuschwächen. Er interessierte sich ganz und gar nicht für das, was er selbst sagte, und noch weniger für das, was jene beiden sagten; er hatte nur einen Wunsch: daß sie und alle Menschen sich wohl fühlen und vergnügt sein möchten. Er kannte jetzt das einzige, was in der Welt von Wichtigkeit war. Und dieses einzige befand sich zuerst dort im Salon und bewegte sich dann vorwärts und blieb an der Tür stehen. Ohne sich umzuwenden, fühlte er ihren auf ihn gerichteten Blick und ihr Lächeln, und nun mußte, mußte er sich umwenden. Sie stand mit dem jungen Schtscherbazki in der Tür und blickte nach ihm hin.

»Ich denke mir, Sie wollen zum Klavier gehen«, sagte er, zu ihr tretend. »Die Musik, das ist etwas, was mir auf dem Lande fehlt.«

»Nein, wir sind nur gekommen, um Sie herauszuholen, und ich danke Ihnen«, bei diesem Worte belohnte sie ihn mit einem Lächeln wie mit einem Geschenke, »daß Sie zu uns herangetreten sind. Was haben die Leute nur davon, sich herumzustreiten? Es überzeugt ja doch nie einer den andern.«

»Ja, das ist richtig«, versetzte Ljewin. »Meistens streitet man nur deswegen so hitzig, weil man gar nicht begreifen kann, was der Gegner eigentlich beweisen will.«

Ljewin hatte oft, wenn die klügsten Leute miteinander stritten, die Beobachtung gemacht, daß die Streitenden nach ungeheuren Anstrengungen und einem gewaltigen Aufwande von logischen Feinheiten und von Worten endlich zu der Einsicht gelangten, daß das, was sie sich abmühten, einander klarzumachen, schon längst, schon vom Beginne des Streites an, beiden klar gewesen war, daß aber dem einen dies, dem andern etwas anderes Herzenssache war und sie das, was ihnen Herzenssache war, nicht hatten aussprechen mögen, um es nicht Angriffen auszusetzen. Er hatte es schon oft erlebt, daß man während eines Streites Verständnis für das gewinnt, was dem Gegner Herzenssache ist, und sich auf einmal selbst für ebendasselbe erwärmt und sofort mit dem Gegner einverstanden ist und daß dann alle Beweise als unnötig in Wegfall kommen. Und manchmal hatte er auch einen andern Hergang erlebt: man spricht endlich das aus, was einem Herzenssache ist und um dessentwillen man nach Beweisen herumgesucht hat, und wenn es sich so macht, daß das in gutherziger, aufrichtiger Weise herauskommt, so ist auf einmal der Gegner einverstanden und hört auf zu streiten. Ebendies hatte Ljewin sagen wollen.

Sie legte die Stirn in Falten und bemühte sich, ihn zu verstehen. Aber kaum fing er an, das Gesagte zu erläutern, als sie es auch schon begriffen hatte.

»Ich verstehe: man muß erkennen, wofür der Gegner eigentlich kämpft, was ihm Herzenssache ist; dann ist es möglich ...«

Sie hatte den Gedanken, den er vorher nur mangelhaft ausgedrückt gehabt hatte, vollständig erfaßt und richtig ausgedrückt. Ljewin lächelte froh; so überraschend war ihm dieser Übergang von dem wirren, wortreichen Streite mit Peszow und seinem Bruder zu dieser lakonischen, klaren, fast wortlosen Mitteilung der verwickeltesten Gedanken.

Der junge Schtscherbazki entfernte sich von ihnen; Kitty aber trat an einen dort aufgestellten Spieltisch, setzte sich, nahm den Kreidestift in die Hand und begann auf dem neuen grünen Tuche allerlei sich schneidende Kreislinien zu ziehen.

Sie nahmen das Gespräch wieder auf, das bei Tische geführt worden war: über Frauenrecht und Frauentätigkeit. Ljewin schloß sich der von Darja Alexandrowna geäußerten Meinung an, daß ein Mädchen, das sich nicht verheiratet habe, eine weibliche Beschäftigung für sich in einer Familie finden könne. Zur Bekräftigung führte er an, keine Familie könne ohne eine Helferin auskommen, in jeder Familie, ob arm oder reich, gebe es Pflegerinnen für die Kinder und müsse es solche geben, möchten dies nun für Lohn angenommene Personen sein oder Verwandte.

»Nein«, versetzte Kitty errötend; aber sie sah ihn nur um so fester mit ihren ehrlichen Augen an, »manches Mädchen ist so gestellt, daß es nicht ohne Demütigung in eine andere Familie eintreten kann, und doch kann das Mädchen selbst ...«

Er verstand aus dem bloßen Anfange des Satzes, was sie meinte.

»O ja«, rief er, »ja, ja, ja, Sie haben recht, Sie haben recht!«

Alles, was Peszow bei Tische für die Gleichberechtigung der Frauen vorgebracht hatte, verstand Ljewin jetzt auf einmal, und zwar lediglich infolgedessen, weil er in Kittys Herzen die Furcht vor der Altjungfernschaft und einer solchen Demütigung wahrnahm; und da er sie liebte, fühlte er diese Furcht und diese Demütigung mit und warf sofort alle seine Beweisgründe über Bord.

Es trat ein Stillschweigen ein; sie zeichnete immer noch mit der Kreide auf dem Tische. Ihre Augen leuchteten in stillem Glanze. Ihre Stimmung hatte sich ihm mitgeteilt, und er fühlte in seinem ganzen Wesen die sich immer mehr steigernde Spannung der Glücksempfindung.

»Ach, ich habe den ganzen Tisch vollgemalt!« sagte sie, legte die Kreide hin und machte eine Bewegung, als ob sie aufstehen wollte.

›Wie kann ich denn hier allein bleiben, ohne sie?‹ dachte er erschrocken und griff nach der Kreide. »Bitte, bleiben Sie noch ein Augenblickchen!« sagte er, indem er sich an den Tisch setzte. »Ich wollte Sie schon lange etwas fragen.«

Er blickte ihr gerade in die freundlichen, wiewohl erschrockenen Augen.

»Fragen Sie, bitte!«

»Bitte, sehen Sie her«, sagte er und schrieb folgende Anfangsbuchstaben hin: A, S, m, a: E, k, n, s, b, d, n, o, n, d? Diese Buchstaben bedeuteten: »Als Sie mir antworteten: ›Es kann nicht sein‹, bedeutete das niemals oder nur damals?« Es war höchst unwahrscheinlich, daß sie diesen langen Satz sollte verstehen können; aber er blickte sie mit so ängstlicher Spannung an, als hinge sein Leben davon ab, ob sie diese Worte verstehen werde oder nicht.

Sie sah ihn ernst an; dann stützte sie die gerunzelte Stirn auf die Hand und begann zu lesen. Bisweilen schaute sie ihn dabei an und fragte gleichsam mit dem Blicke: ›Bedeutet es das, was ich denke?‹

»Ich habe es verstanden«, sagte sie endlich errötend.

»Was ist das für ein Wort?« fragte er und zeigte auf das n, das »niemals« bedeutete.

»Dieses Wort heißt ›niemals‹«, antwortete sie. »Aber dieses Wort sagt nicht die Wahrheit.«

Er wischte das Geschriebene schnell weg, reichte ihr die Kreide hin und stand auf. Sie schrieb: D, k, i, n, a, a.

Dolly fühlte sich über den Kummer, den ihr das Gespräch mit Alexei Alexandrowitsch bereitet hatte, völlig hinweggetröstet, als sie diese beiden Gestalten nebeneinander sah: Kitty, die, die Kreide in der Hand, mit einem schüchternen, glückseligen Lächeln zu Ljewin in die Höhe blickte, und seine hübsche Gestalt, die sich über den Tisch beugte, mit den leuchtenden Augen, die sich bald auf den Tisch, bald auf sie richteten. Plötzlich strahlte er über das ganze Gesicht: er hatte verstanden. Es bedeutete: »Damals konnte ich nicht anders antworten.«

Er blickte sie zaghaft fragend an.

»Nur damals?«

»Ja«, antwortete ihr Lächeln.

»Und jetzt ... und jetzt?« fragte er.

»Nun, dann sehen Sie, bitte, her und lesen Sie! Ich werde schreiben, was mein Wunsch ist, mein dringender Wunsch!« Sie schrieb folgende Anfangsbuchstaben: D, S, v, u, v, k, w, g, i. Das bedeutete: »Daß Sie vergeben und vergessen könnten, was geschehen ist.«

Er ergriff mit krampfhaft zitternden Fingern die Kreide und schrieb in solcher Erregung, daß er die Kreide dabei zerbrach, die Anfangsbuchstaben folgender Sätze hin: »Ich habe nichts zu vergeben und zu vergessen; ich liebe Sie noch unverändert.«

Sie sah ihn mit einem regungslosen Lächeln an.

»Ich habe verstanden«, flüsterte sie.

Er setzte sich hin und schrieb einen langen Satz. Sie verstand alles, und ohne zu fragen, ob sie auch alles richtig aufgefaßt habe, nahm sie die Kreide und antwortete sofort.

Er konnte das, was sie geschrieben hatte, trotz längerer Bemühung nicht verstehen und blickte ihr oft in die Augen. Er war von seinem Glücke ganz benommen und schlechterdings nicht imstande, für die Anfangsbuchstaben die Worte einzusetzen, die sie gemeint hatte; aber in ihren reizenden, glückstrahlenden Augen las er alles, was er zu wissen brauchte. Und nun schrieb er drei Buchstaben. Aber er hatte noch nicht zu Ende geschrieben, als sie schon das Geschriebene hinter seiner Hand las, es selbst zu Ende brachte und auch gleich die Antwort dazuschrieb: »Ja.«

»Ihr spielt wohl secrétaire?« fragte der alte Fürst, der zu ihnen herantrat. »Aber nun müssen wir fahren, wenn du noch zur rechten Zeit ins Theater kommen willst.«

Ljewin stand auf und begleitete Kitty bis zur Tür.

In ihrem Gespräche war alles Erforderliche gesagt worden; es war gesagt worden, daß sie ihn liebe und ihrem Vater und ihrer Mutter sagen wolle, daß er morgen vormittag hinkommen werde.

Anna Karenina | Krieg und Frieden

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