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ОглавлениеII DIE ZWILLINGE
Als der eine geboren war, wollte der Vater ihm den Namen Jeremias geben, indes der Großvater meinte, David klinge majestätisch. Aber die Mutter war für Gion Battesta, so wie der Vater hieß und wie es Brauch war. Und die andern fügten sich. Als sie sahen, dass es Zwillinge gab, kamen sie auf die Idee, den einen Gion und den andern Battesta zu nennen. Aber für die Mutter war Gion Battesta eine einzige Person, folglich bekam der zweite den gigantischen Namen Gion Evangelist Silvester. Sie glichen sich wie ein Ei dem andern, waren ein Mensch in zwei Personen, und nur die Mutter wusste, wer wer war.
Die Zwillinge sind im Spätherbst geboren, wenn der Orion hinter der dunklen Garvera emporzusteigen beginnt, und seine Sterne am Firmament wie Kristalle glitzern. Bei uns kennt niemand den Orion, obschon er das markanteste Sternbild an unserem Himmel ist. Aber auch die Riesenberge, die sie vor der Nase haben, kennen die meisten Leute kaum. Wie sollen sie da Riesensterne kennen, 1300 Lichtjahre entfernt, mit so exotischen, arabischen Namen wie aus Tausendundeiner Nacht: Alnitak, Alnilam, Mintaka, Beteigeuze und Bellatrix? Die Alten nannten Orion den Himmelsjäger. Es wird auch berichtet von einem riesigen Pferdekopf, der sich im Orion zeige, einem Wirbel aus stellarem Nebel und Staub in der unendlichen Leere vor einem rötlichen Grund. Jäger, die in diesem Zeichen geboren seien, hätten ein Auge für Kristallklüfte und würden ungern töten.
Die Zwillinge sind begeisterte Jäger und Erzähler geworden. Waren große Bewunderer des bestirnten Himmels. Wenn sie vom Himmel sprachen, leuchteten ihre Augen wie die Sterne des Orion. Und wenn sie von Gemsen sprachen, funkelten ihre Augen und die Augen der Zuhörer. Ist es mit den Gemsen doch so wie mit den Sternen: Je länger man schaut, desto mehr sieht man, und desto mehr kommen noch zum Vorschein. Bloß dass man bei den Sternen immer mehr sieht, je dunkler es wird, und bei den Gemsen umgekehrt: je heller es wird, desto zahlreicher werden sie. Und wenn er von Gemsen und Sternen erzählte, kam Gion Evangelist Silvester unweigerlich auf den von ihm hochverehrten Plinius zu sprechen, und zwar auf die Stelle, wo Plinius vom Elefanten berichtet, gleich nachdem er den Menschen behandelt hat:
«Das größte unter den Landtieren und dem Menschen an Verstand zunächst stehend ist der Elefant, denn er versteht die Sprache seines Landes, gehorcht den Befehlen, behält die erlernten Verrichtungen, zeigt Freude an Liebe und Ruhm und ist, was selbst beim Menschen selten ist, rechtschaffen, klug, gerecht und hat religio quoque siderum, Ehrerbietung für die Gestirne.»
Sagt, ist das nicht wundersam?
Auf der Jagd sah man die Zwillinge nie beisammen. Wenn einer auftauchte, wusste man nie, welcher es war. Einer hatte ein rotes Tuch um den Hals, der andere ein graues, und zwischendurch tauschten sie die Halstücher. Das machte die Leute zugleich verwirrt, ärgerlich und neugierig. Einzig am Bauchnabel hätte man die beiden unterscheiden können. Aber Bergler zeigen ihren Bauch niemals her.
In Tat und Wahrheit waren sie zwei vollkommen verschiedene Menschen, und nur die Unsicherheit der andern machte sie einander gleich und der eine Übername, den die Leute den beiden gegeben hatten: Settembrini.
Settembrini schien nur ein einziger Jäger zu sein. Er formte Menschen nach seinem Ebenbild und Gemsen nach seiner Fantasie.
Die Gemsen werden im Zeichen der Zwillinge geboren. Um zu gebären, verlassen die Geißen das Rudel. Das Kitz vom Vorjahr wird mit Läufen und Krucken verjagt. Es begreift das nicht. Immer wieder möchte es zur Mutter zurück. Die Geiß bleibt unerbittlich. Der Jährling muss von einem Tag auf den andern selbständig werden. Es gibt kein Zurück. Verloren und orientierungslos, allein oder mit ihresgleichen irren die Halbwüchsigen in der Gegend herum ohne zu wissen, wie ihnen geschieht.
Die Geiß steht da mit offenem Maul. Ihre Flanken bewegen sich in raschem Rhythmus. Sie legt sich hin, quält sich, presst, drückt, fünfzehn, zwanzig, dreißig Minuten lang. Mit erhobenem Kopf und aufgesperrtem Maul treibt sie das Kitz aus. Sie, das Tier, ächzt vor Schmerzen. Kaum ist das Neugeborene auf der Erde, erhebt sich die Geiß, wendet sich um mit heraushängender Nachgeburt. Eingehend beriecht sie das Kitz, beleckt und betrachtet es, staunt über das, was sie gemacht hat. Dann versucht sie, dem Kitz mit ihren Vorderläufen und Krucken aufzuhelfen. Nach drei, vier Minuten hebt es seinen Kopf und versucht, auf die Läufe zu kommen. Die Mutter hilft, stößt, stützt. Nach zehn Minuten steht es auf seinen langen, dünnen Läufen, nass und glitschig. Mehrmals knickt es ein. Steht wieder auf, versucht den ersten Bocksprung.
Nach zwanzig Minuten verlassen Geiß und Kitz den verschmierten Setzplatz und steigen in die schützenden Felsen hinauf.
Die Jäger meinten, der Name Settembrini komme von «September». Sie haben nur den September im Kopf, und ein bisschen Moos. Die Jäger wären auch fähig zu behaupten, dass «Mescalero» von mescal, Moos komme. Jäger sind nix im Erklären von Namen. Niemand wusste, woher der Name Settembrini kam. Hätte sich auch von sittar, schießen, oder von brin, braun herleiten können, entweder wegen der dunklen Haut der Zwillinge oder wegen der Eule der Minerva, von der Gion Evangelist Silvester sagte, dass sie ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung, enten far brin, beginne. Dem Gion Battesta imponierte der Rabe von Crestliandras mehr als die Eule der Minerva. Der Rabe sei ein Singvogel, der seine Heiserkeit nicht loswerde, die Antwort der Natur auf die romanischen Chöre.
Settembrini hätte auch der Name eines Gewehrs sein können oder eines Zaubers. Er bedeute jedoch nichts. Jedenfalls wecke dieser Name aber die Fantasie. «Was die Fantasie weckt, ist gut. Wegen seiner Fantasie glaubt der Wildhüter nicht, dass Settembrini nur erlaubte Tiere schieße. Das widerspricht meiner Theorie, dass Beamte keine Fantasie hätten.»
Das Stichwort ließ ihn sogleich vom Thema abschweifen. «Am meisten Fantasie haben die Kinder. Darum sind Kinder eine potenzielle Gefahr, und deshalb wird ihnen die Fantasie ausgetrieben – ihnen, die mit dem Tornister und voller Begeisterung in die erste Klasse kommen und angeödet die letzte verlassen.» Zum Thema Schule fiel ihm nicht viel Gutes ein. Die Besten seien die, die wüssten, ohne zu lernen. Er hielt mehr vom Hokuspokus des Weihwassers als von den Weihen der Pädagogik.
Er war ein Heide wie die Sonne.
Settembrini war bald ein Intellektueller, bald ein Handwerker. Je nach Farbe des Halstuchs. Er konnte zwei Dutzend Wörter zu einem ordentlichen Gedicht zusammenfügen, aber auch einen Stoß Bretter zu einem soliden Fußboden. Er konnte Homer interpretieren, aber auch eine Kristallkluft öffnen. Er konnte eine Kristallkluft ausräumen, aber auch Oscar Wilde plündern, wenn dieser über Rousseau sprach: «Die Menschheit wird Rousseau immer dafür lieben, dass er seine Sünden nicht dem Priester, sondern der Welt gebeichtet hat.» Er konnte von seiner Liebe zu den Gemsen sprechen und sie ohne Umstände töten.
Unsere Literatur sollte nicht mit der «Consolaziun» beginnen und mit der «Chrestomathie» enden. Es reiche, wenn die Jagd beim Kanton beginne und bei der Regierung ende.