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An einem schwülen, fliegenreichen Tag des Sommers 1509 ritt Erasmus von Rotterdam von Italien kommend über den Splügen mit Apostoli, seinem Schüler, und mit Barlichin, dem Stummelohr, den er in Cläven als Führer über den Pass in Dienst genommen hatte. Der gelehrte Mann war in Bologna gewesen. Hatte dort Papst Julius II. gesehen, wie er in voller Rüstung an der Spitze seiner Truppen im Triumph in die Stadt einmarschiert war. War – etwas erstaunt über die Aktivitäten des Stellvertreters Christi – nach Venedig zum berühmten Verleger Aldus Manutius weitergereist. Hatte dort inmitten des hektischen Druckereibetriebs gearbeitet: gelesen, geschrieben, redigiert, korrigiert. War weitergereist: Padua, Ferrara, Siena. Hatte Rom besucht und Neapel und befand sich jetzt auf dem Rückweg nach Engelland.
Der Weg war miserabel. Das Rösslein ging seinen Trott. Der berühmte Mann hatte für die Landschaft weder Sinn noch Zeit. Wollte so rasch wie möglich aus dieser Bergeinöde herauskommen. Wenig unterhalb der Passhöhe wird Barlichin, der historisch nicht dokumentiert ist, entlassen (bergab helfen bekanntlich alle Heiligen), kehrt über den Pass zurück und entschwindet unserem Blick. Wir werden ihn zwanzig Generationen später in einer anderen Gegend für kurze Momente wieder antreffen, als Jäger. Seine Abenteuer soll er auf fünf Oktavblättern festgehalten haben, vorn und hinten eng beschrieben, «augenmörderisch klein», wie sich einer ausgedrückt hat, der dieses Dokument in Händen gehabt hat. Titel: «Das Leben des berühmten Jägers und Bergbegleiters, des zweimalgeborenen Alpenführers Barlichin».
All dies konnte der große Humanist nicht wissen, und er verspürte auch nicht die leiseste Lust, im Sattel stundenlang diesem Possenreißer zuzuhören oder die Felsen zu bewundern. Erasmus reiste nicht zur Kurzweil. Er fand die Gegend zum Kotzen: Steine, Steine, nichts als Steine, und überdies machten ihm seit einiger Zeit Nierensteine zu schaffen.
Um all die Steine zu vertreiben, legte er sich im Kopf ein Buch zurecht, welches er seinem Freund Thomas Morus widmen und dem er den Titel «Lob der Torheit» geben würde. Schließlich erreichte er auf seinem Gaul Rheinwald und Schams, ließ erleichtert die Viamala hinter sich. Im schönen Domleschg mit seinen Burgen und Schlössern muss er einem imperialen Jagdtross begegnet sein und widmet diesen Narren, «denen die Jagd alles bedeutet», einige Zeilen. Erasmus schreibt lateinisch, denn noch ist Latein die Sprache des Geistes. Aber bereits 1534 wird diese Schrift in die heutige Sprache des Geistes übersetzt:
«Dahin» – zu den Narren – «gehören auch die, denen das höchste die Jagd ist, und die behaupten, es tue ihnen unglaublich wohl, wenn jenes abscheuliche Tuten der Hörner und das Geheul der Meute losgeht – ich glaube, wenn sie den Kot ihrer Hunde riechen, duftet es in ihren Nasen nach Zimt. Und welcher Genuss, das Wild auszuweiden! Ochsen und Hämmel darf die Plebs ausnehmen, aber Wild zerlegen nur der Edelmann. Mit entblößtem Haupt, gebeugtem Knie, in der Hand das diesem Dienste geweihte Messer – um Gotteswillen kein anderes! – beginnt er, mit bestimmten Gesten bestimmte Teile in bestimmter Folge feierlich zu zerlegen. (...) Wem erst noch vergönnt war, das Wildpret verspeisen zu helfen, bildet sich gar ein, er habe an Adel beträchtlich zugenommen.»
Weshalb hat das Schicksal den Erasmus nicht ein paar Jahre später durchs Domleschg geführt? Er hätte ein gänzlich anderes Bild von der Jagd gewonnen, denn 1526 wird sie in diesem Landstrich wieder ein Volksrecht. In seinem Buch «Adagia», das seinen Ruhm begründete, hatte Erasmus geschrieben: «In früheren Zeiten waren selbst unter der Herrschaft von Tyrannen (die damals freilich noch nicht so raffiniert waren und noch nicht ganz begriffen hatten, welche Möglichkeiten in einer absoluten Herrschaft liegen) zumindest Meere, Flüsse, Straßen und Jagden Allgemeinbesitz.»
Für die Bündner Männer jedenfalls beginnt jetzt wieder die Zeit der Freiheit. Die Veränderungen sind radikal. Schluss mit den verhassten Revieren. Schluss mit den Fisimatenten. Fertig Halali. Erasmus hätte eine andere Geschichte verfasst, wenn er die neuen Jäger gesehen hätte. Und fast fünfhundert Jahre später ist es an der Zeit, sie niederzuschreiben:
Dies ist die Geschichte meiner Zwillingsonkel, Gion Battesta und Gion Evangelist Silvester, Settembrini genannt, wenn sie nicht beide beisammen waren. Gemsjäger, Bewunderer des Himmels, Literaten. Literaten, ohne selber Literatur zu machen. Literaten in dem Sinne, dass sie Homer und Herodot, Plinius und Plutarch und all die anderen glänzenden Autoren unserer Kultur lasen und mit ihnen lebten. Sie waren Bergler, nicht zuletzt darum, weil sie schonungslos jenen fürchterlichen, per Kilo gehandelten «Monta Blau» rauchten, und einen noch fataleren Montagner tranken. Montagner trinken und Montaigne lesen, das war die Devise dieser beiden Meister im Pissen gegen den Wind. Auf der Jagd arbeitet man immer gegen den Wind. Gemsen und Bücher waren ihr Leben. Manch einer mag ebenso viele Gemsen ebenso viele Stunden zu Tal gebuckelt haben wie Settembrini. Aber keiner hat so viele dicke Wälzer über Grund und Grat geschleppt wie Settembrini. Die Literatur war sein Seelenelixier.
Settembrini hätte verunglücken müssen. Der Mythos will ja, dass der Mann der Berge in den Felsen zugrunde gehe. Settembrini hat es vorgezogen, sich einzuspinnen und ist ein Schmetterling geworden, so wie Kafka will, dass der Jäger sich verwandle und schließlich gaukelnd in die Lüfte entschwinde.