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Teil 1 Leis und Fleh

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1.

1966 beginnt die Kulturrevolution mit einer Versammlung von Studenten unter der Leitung Mao Tse-tungs auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking. Walt Disney stirbt. Woody Allen schreibt das Theaterstück ‚Mach’s noch einmal, Sam’. Die Beatles spielen in San Francisco ihr letztes öffentliches Konzert. Frankreich zieht sich aus der militärischen Integration der NATO zurück und zündet auf Mururoa seine erste Atombombe. Bei internationalen Sportwettkämpfen werden Dopingkontrollen eingeführt. Eric Clapton gründet zusammen mit Ginger Baker und Jack Bruce die Gruppe Cream. Doktor Schiwago kommt in die Kinos. Die Hare-Krishna-Bewegung entsteht. Sophie Marceau und Stefan Raab werden geboren. Star Trek flimmert zum ersten Mal im amerikanischen Fernsehen.

The Monkees – A Little Bit Me, A Little Bit You

Widmen wir uns dem Thema Unglückswurm: Zuallererst fällt mir ein Beispiel ein, als wir noch Pimpfe waren, in die Volksschule gingen, die Nachbarskinder und ich. Die Zeit Mittespät Sechzig, der Ort hinter der Baracke am Ende der Straße, die als Kindergarten diente. Reini sprengte diesen Scheißhaufen mit einem China-Kracher, während wir ums Karee zogen. Richtig verboten, das Ganze eigentlich. Kleine Kinder durften gar keine Knaller haben. Nicht mal Judenförz. So hießen diese kleinen Miniteile, die zu einer Kette gebunden, damals von uns auseinandergepopelt und gezündet wurden. Einzeln sahen sie wie Mini-Dynamitstangen aus. Wir kapierten gar nicht, was es bedeutet, das mit den Juden. Ich jedenfalls null. Ich dachte zuerst, es heißt Judo. Fragte mich, was Judo mit Furzen zu tun hatte und warum es dann knallt. Uns ging‘s ja nur um den Spaß, um die Aufregung. Anzünden und flüchten. Der Rest war vollkommen egal.

Gut, um zurück zu kommen: Ein China war quasi das Beste, das wir ergattern konnten. Der Fladen: Ein riesiger, ekliger, hellbrauner, fast wie von einer Kuh. In dem Fall aber von so einem großen Pissköter. In diesen steckte Reini den Kracher. Bevor irgendjemand auch nur etwas schnallte.

Ich schrie noch: »Weg, weg, alle, weg, schnell!«, da knallte es bereits. Und dann regnete es Scheiße. Wirklich. Kleine bis große Fetzen. Richtig echt widerlich, in den Haaren und überall. Eigentlich zählt das jetzt gar nicht zum Pech, fällt mir grad auf. Weil ja alle getroffen wurden, mehr oder weniger oft. Alle - bis auf Reini, der direkt davor stehen geblieben war, um zuzusehen, wie es den Haufen zerrissen hat.

Die Volksschule reflektierend fällt mir ein zweites, richtiges Beispiel vom Pech ein: Es begab sich beim alten Geiss. Wahrscheinlich ein alter Nazi. Bei dem mussten alle Kinder im Schulhof in Zweierreihen im Kreis um ihn herumgehen, ganz brav still und leise. Nur beim Geiss, bei niemand anderem. Der Weisnichtmehrwer ärgert mich und rennt weg. Ich hinterher, den Frechen kauf ich mir. Wir hatten einfach nicht mitbekommen, dass gerade gehorsamer Schulhof zelebriert wird. Ich renne wie blöd, habe ihn fast, sehe plötzlich die hohen Beine, denke, auweia, der Geiss, da schlägt es auch bereits ein. Im wahrsten Sinn. Sein Rohrstock zieht voll durch, knallt in den Buckel. Mir bleibt die Luft weg, auf die Fresse haut‘s mich, ewig keine Luft. Ich dachte, ich muss verrecken. Aber damit kennen sich die Nazis ja gut aus, mit dem Verrecken, meine ich und na ja, Pech eben. Der andere kam ja, kurz vor mir, noch am Geiss vorbei. Ungestraft.

1969 startet die erste Boeing 747 zum Versuchsflug. In den USA wird Richard Nixon zum Präsidenten vereidigt und Tausende demonstrieren gegen den Krieg in Vietnam. Im Rhein gibt es ein Massenfischsterben durch Einleitung eines Insektizids. Die Maß auf dem Oktoberfest kostet 2,40 DM. In deutschen Kinos läuft „Spiel mir das Lied vom Tod“. Elvis Presley veröffentlicht „In The Ghetto“, die ZDF Hitparade läuft das erste Mal. In den Schulen wird der Sexualkunde – Atlas eingeführt. Das Woodstock Festival findet statt und der erste Mensch steht auf dem Mond. Michael Schuhmacher wird geboren.

The Who – Magic Bus

Ich könnte jetzt noch jammern, weil ich so oft ungerecht behandelt worden bin, wie beispielsweise damals, frisch im Gymnasium. Der Erdkäslehrer erzählt, in dem Tante Emma Supermarkt auf dem Schulweg würden welche klauen. Dabei er steht direkt vor uns, Zweierbank in der Mitte, ganz vorne. Deshalb denke ich erst, das ist normal, wenn er so glotzt. Und er glotzt und glotzt. Die ganze Zeit, glotzt er den Bernd und mich an, glotz, glotz. Ich schaue zurück und denke noch, was glotzt der so. Aber natürlich habe ich mich nichts getraut, war auch einfach zu perplex. Heute würde ich mindestens sagen, ist was? Am liebsten natürlich: »Was glotzt du so, du A...?« Armer Wicht, soll das natürlich heißen.

Jetzt könnte ich ja zugeben, ja schuldig. Es wäre ja längst verjährt. Aber Bernd und ich waren damals endbrav, gut erzogen hieß das, artig ist das Wort. Unsere Eltern wollten artige Jungs und die besaßen sie. Wir waren niemals in diesem Laden, gingen immer einen anderen Weg. Uns reichte das Erlebnis beim vorbeilaufen. Ein fetter Verkäufer hat diese riesige Ratte mit dem Schneeschieber aus Eisen den Straßengraben entlang gejagt, gestellt und schließlich geköpft. Also, um zurück zu kommen, der blöde Erdkäs erzählte vom Klauen, dass Schüler dort Sachen mitnahmen, ohne zu zahlen. Die wären bekannt und würden gestraft und ich dachte, okay, stehlen darf man ja nicht – und er glotzte und glotzte uns an, dieser dumme Esel. Ich war so doof und kapierte gar nicht, auf was der da rauswollte. Bernd fragte mich danach recht konsterniert, wieso der Erdkäs uns die ganze Zeit angeschaut hatte. Kapiert, was da gelaufen ist, habe ich erst an der Bushaltestelle, auf dem Heimweg. Als die gemeine Karin, so eine naseweise Blonde, die ich bis dahin ganz hübsch fand, schnippisch bemerkte, Süßigkeiten vom Supermarkt mampfend: Gell, das würdest du jetzt auch gerne klauen, was?

Nehmen wir einmal an, diese zu Unrecht erfolgte Anschuldigung kann jedem passieren. Oder ist schon mal jedem widerfahren. Schließlich in diesem Fall ja auch dem Bernd, ist also demzufolge nichts Außergewöhnliches. Das mag ja sein. Aber er wurde im Anschluss nicht von einem schönen Mädchen verhöhnt, oder? Dazu braucht man mein Pech.

Schöne Mädchen haben bei mir generell so eine Art Vorab-Bonus. Bei denen bin ich hilflos, wie versteinert und sind sie gemein, dann restlos verdattert. Das liegt vielleicht an Kiki, mit der ich als Atta-Baby spielte, in ihrem Garten mit der komischen, schrägen Mauer, die an einer Stelle so niedrig war, dass man fast darüber steigen konnte. Das sind Bilder von früher, ebenfalls diese unglaublich schönen Augen, groß, mit schwarzem Rand, dann blau, dann heller werdend zur Pupille hin, mit Muster, einfach faszinierend. Ich bekomme es nicht hin, die Beschreibung, merke ich gerade. Dazu bräuchte ich Seiten und es würde letztlich nicht einmal annähernd hinkommen, also tolle Augen einfach. Lieb war sie häufig, manchmal frech. Wir haben uns öfter geneckt und alles Mögliche miteinander unternommen, spielmäßig. Ich merkte gar nicht, dass das ein Mädchen ist. Sie war einfach ein sehr guter Freund. Vermutlich mochte sie mich wirklich und nicht nur, weil unsere Eltern uns zusammen gesteckt haben. In ihre Augen konnte ich bereits damals regelrecht eintauchen. Eine Stimmung drin erkennen. Nur wusste ich oft nicht, welche.

Das Gesicht zuerst natürlich Klein-Mädel, zwergig mit Grübchen, wenn sie lachte, mit langen Zöpfen, übergroßen Schneidezähnen und so. Später hat sich das normalisiert, verwachsen sagt man wohl, das Unproportionierte, meine ich. Vorpubertär wurde sie kurz mal ein bisschen pummelig. Aber als Teenie, mein lieber Mann, da entwickelte sie sich zu einem sehr hübschen Mädchen.

Nein mehr. Viel mehr. Traumschön, endschönmäßig. Dazu konnte sie Gesichter machen, nein, trifft es nicht. Also, man beschreibt vielleicht so: Sie besaß ein Mienenspiel, das bereits ein gewöhnliches Gesicht verzaubert hätte. Aber ihres war dazu noch perfekt. Na ja, beinahe. Es gab eine kleine Narbe, fast mittig auf der oberen Stirn. Ich habe nie gefragt woher, muss höllisch weh getan haben. Genau diese Winzigkeiten, die Narbe, der kleine Höcker auf der perfekten Nase, die machten sie so unglaublich schön, dass mir in ihrer Nähe immer ganz anders wurde. Als kleiner Krüppel habe ich das natürlich zunächst nicht gemerkt. Erst viel später.

1963 unterzeichnen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer den sogenannten Elysée – Vertrag zur Zusammenarbeit. Der Erzbischof von Mailand nennt sich nach der Wahl Papst Paul VI. Eröffnung der 963 Meter langen Fehmarnsundbrücke. John F. Kennedy besucht die geteilte Stadt Berlin. Das Wunder von Lengede ereignet sich. Beim legendären Postraub werden in England 2,6 Millionen Pfund geklaut. In Berlin (West) wird erstmals Joghurt in einer Kunststoffverpackung verkauft, die nach dem Verzehr weggeworfen werden kann. Der erfolgreichste Song ist von den Beatles und heißt: ‚She Loves You’. Edith Piaf stirbt mit 48 Jahren in Paris. Jim Clark dominiert und gewinnt die Formel 1.

The Beatles – I Am The Walrus

Jetzt fällt mir gerade das Schlimmste ein, was man mir damals angetan hat. Machen wir einen kurzen Zeitsprung. Hoppie, los geht’s zurück, in die frühen Sechziger. Bei mir altersmäßig deutlich vor der Schule. Ich spreche vom Kinderheim am Titisee. Ich war wohl fünf, schätze ich, vielleicht jünger. Das Geschehene hatte ich perfekt verdrängt. Es war absolut, total und vollkommen weg. Erst im Rahmen einer Therapie stieg es hoch. So eine Selbsterfahrungsstory, vielleicht erzähle ich die noch. Erst damals erinnerte ich mich wieder an dieses Erlebte und zwar zunächst wie Emotions-Schnappschüsse. Willkürliche Bilder, die irgendwann Logik bekamen, eine Geschichte formten. Zusammen mit dem Gefühl absoluter Hilflosigkeit, Trauer und unendlicher Einsamkeit. Dazu gemischt, eine irrsinnige Wut.

Es ist unklar, warum meine Eltern auf diese Idee kamen. Es hieß, ich habe nicht gut gegessen. Verantwortlich war wohl der Unglücksgott. Wer wissen will, wie das damals teilweise ablief, der braucht nur einmal über Kinderheime in den sechziger Jahren zu recherchieren und voilà. Wie lange ich dort gewesen bin, keine Ahnung, für mich gefühlt ewig. Wochen wohl, als Mini kapiert man das ja nicht. Ich konnte zwar bereits heimlich die Uhr lesen, getraut habe ich mich aber nicht, etwas zu sagen, als der andere Junge dafür gelobt wurde. Der war eh älter. Ganz sicher war ich mir nicht, ob ich es wirklich kann. Für mich sah es jedenfalls so aus, als müsste ich für immer dableiben. Die Mama ist für immer weg.

Meine Mutter hatte die Kleider mit meinen Initialen benäht, damit sie nicht verwechselt werden. Ebenfalls meinen Hobbie. Daran merkt man vielleicht, wie jung ich gewesen bin. Das war ein Plüschtier von Steiff. Es hieß eigentlich Flossie. Meiner nicht, weil ich’s wohl nicht richtig aussprechen konnte. Damals, als ich ihn zum Geburtstag bekam. Den Hobbie, den liebte ich und wie! Der war ganz arg wichtig und wertvoll. Er hat so gut gerochen. Schmusen mit ihm war etwas essentielles, nicht mehr ganz allein sein. Sie nahmen ihn mir weg. Sofort, als allererstes. Diese große, schöne und junge Frau, das ist so ein Bild, legte ihn oben auf den Schrank und sagte, sie schneidet jeden Tag ein Stück von ihm ab, von meinem Hobbie und hat mir sogar das große Messer dafür gezeigt.

Noch mehr Fotos im Kopf gibt’s, von blöden Spaziergängen, jeden Tag derselbe Weg, an Kuhscheiße hinter Stacheldraht entlang, kreisenden Raubvögeln am Himmel und das Bild einer Kinderschlange vorm Klo. Warum, ich weiß es nicht. Vielleicht durften wir nicht vorher oder wir mussten alle gleichzeitig. Egal, jedenfalls sind da diese wartenden Kinder. Alle juckeln und kneifen, weil sie es kaum aushalten, bis sie endlich dran sind.

Apropos schiffen. Da kommt ein Bild: Das verpisste Bett, in das ich mich legen musste, gezwungen von dem Lulatsch. Das Leintuch eklig, ganz gelb getrocknet und knallhart. Ich dachte nur, das war ich aber gar nicht. Morgen schneiden sie dafür den Hobbie tot. Eines Abends bekam ich ihn tatsächlich. Dann hat ihn aber gleich ein anderer Großer weggenommen. Ich konnte nichts tun. Der Hobbie tat mir so leid, mit diesem gemeinen Esel zusammen sein müssen. Ich habe geweint, weil er mir den wahrscheinlich kaputt macht, tötet. Und ich nichts, nichts, einfach nichts tun kann, ihm zu helfen. Pech, Unglückswurm eben.

Dafür gab’s jeden Tag geiles Katzenkotz zu essen. Immer mit Kartoffeln, nur einmal Nudeln. Da hab ich mich zuerst gefreut. Die waren aber dermaßen verkocht, richtig eklig und die Soße, noch ekliger. Dann noch lieber matschige Kartoffeln. Einmal sollte ein Film gezeigt werden. Wir saßen bereits im Kinoraum. Dort hieß es allerdings: Nix da, ihr böse. Warum, wurde mir nie gesagt. Oder ich habe es einfach nicht kapiert. Zu laut reingelaufen vielleicht. Jedenfalls mussten alle wieder raus, mein einziger Kinoabend in dieser Zeit. Der ja nicht stattgefunden hat. Eines Tages holte man mich, setzte mich wohin. In ein Zimmer, wo ich vorher noch nie gewesen bin und es gab Spielsachen. Spielsachen ohne Ende. Später ging es in ein anderes Zimmer. Da saßen meine Eltern in Sesseln und meine Tante Lotti, die hatte ein Auto. Ich ging nicht zu meinem Vater und als es hieß, warum nicht, sagte ich: »Der ist böse.« Und das tut mir heute noch leid.

1976 lässt sich Idi Amin in Uganda zum Präsidenten auf Lebenszeit ernennen. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte tritt in Kraft. Der neue Ministerpräsident von Kambodscha heißt Pol Pot. In Afrika wird zum ersten Mal eine Ebola Infektion registriert. In Argentinien ergreift das Militär die Macht. Erich Honecker steigt zum Vorsitzenden des Staatsrats der DDR auf. Ulrike Meinhof wird erhängt in ihrer Zelle aufgefunden. Die Concorde fliegt im Linienverkehr. Musik von ABBA und Boney M. erobern die Charts. Die Sex Pistols veröffentlichen Anarchy in the UK, the Ramones den Song Blitzkreig Bob, Elton John hat zusammen mit Kiki Dee den Nr.1 Hit: „Don’t go on breaking my heart“ und Rod Steward coverd erfolgreich den Song von Cat Stevens, The First Cut Is The Deepest. Die Damen des FC Bayern München werden Fußballmeister.

Bruce Springsteen – Spirit In The Night

Pech haben muss ja nicht immer traurig sein. Ich könnte jetzt mit ‚es war einmal’ anfangen. Sagen wir so: Es begab sich zu der Zeit, als meiner Einer mit der 11d einen Schulausflug ins Elsass machte. Die Jugendherberge, in die wir zogen, befand sich in einem schönen, alten Schloss unterm Dach in – weiß die Stadt nicht mehr. Klang wie Löwenzahn auf Französisch, Pissenlit oder so.

Der Herbergsvater, Marke Vorgartenzwerg-Nase-ohne-Bart, bekam bereits beim Einchecken einen Schreikrampf, original. In diesem Laden durfte man nämlich gar nichts. Nicht rennen, nicht hüpfen, nicht mal schnell gehen und sich nicht schubsen, mit etwas Lärm. Das war der Auslöser für die Schreipredigt gewesen. Nein, man durfte nur flüstern, sachte und sanft strumpfsockig übers Parkett gleiten, keine Schuhe tragen und leise, leise, vorsichtig, achtsam, weil diese Bruchbude sonst Schaden nimmt, keine Erschütterung vertragend und so. Es war bescheuert, dort Heranwachsende einzuquartieren. Zwergvater Herberg verlangte endartige Jugendliche, am Besten in Zweierreihen, leise, leise. Wohl der kleine Bruder vom Geiss.

Das Ganze ging gut bis zum Abend. Dann packte Lessi Lässig im Zimmer unseren, damals problemlos zu erstehenden Alkvorrat aus, den er im Kinderkoffer reingeschmuggelt hatte und wir spielten Karten. Im Halbdunkel. Licht gab es ausschließlich von der Schlossbeleuchtung, die Flutlichtanlage für Touries. Herbergszwerg hatte nämlich Punkt zehn, Bettruhe, die Sicherung rausgedreht. Das Dumme dabei, dass es in Deutschland zu dieser Zeit noch gar keine Sommerzeit gab. Die kam erst Jahre später und so tickte unsere Uhr erst Neun bei Licht aus, ins Bett geh, artig, artig.

Ein Witz. Kein Mensch wurde müde. Im Prinzip eigentlich voll wurscht, wir hatten Gaudi. Pst, leise, leise. Dann musste ich dummerweise aufs Klo. Beziehungsweise, da haben wir’s! Pech Nummer eins. Wer denkt denn an so etwas: Pissen verboten! Und wen stellt der böse alte Gnom auf seiner Patrouille? Mich. Wen sonst? Während es mir beinahe die Blase zerreißt, habe ich die Ehre und den Genuss, mir von einem verkniffenen Hutzelmännchen im Nachthemd die Leviten lesen zu lassen. Bildmäßig fehlt zur absoluten Perfektion nur die Zipfelmütze. Ich höre kaum zu. Eigentlich gar nicht. Der spinnt total, der Alte. Derweil schleichen die Anderen hinter ihm vorbei, aufs Klo. Lachen und lachen, weil es mich erwischt hat, aber natürlich leise, leise.

Okay, zurück im Zimmer ist klar, wir dürfen nicht mehr raus, also – wer müssen muss, der geht ans Fenster. Flutlichtschiffen in antikem Ambiente. Das Nebenzimmer johlt, der Bourbon fotografiert. Sie fordern uns auf, doch auch mal aus dem Fenster zu scheißen. Ich weiß nicht mehr, wer eigentlich auf die Idee gekommen ist. Wir waren wohl doch etwas prall, zumindest ich.

Jetzt sind wir beim Pech Nummer zwei. Der Bourbon kommt mit seiner Kamera rüber und wir stellen uns auf, in Positur. Ähnlich einem Fußballteam, nur nackig. Die einen zeigen ihre Schwänze und die anderen heben den Arsch hin, zu denen ich gehöre. Unser Fotograf steht an der Tür, bereit. Aber den Auslöser, den drückt er nie.

Mit einem Schlag wird’s hell. Blitzmäßig! Hä, denke ich noch. Neben mir ist hektische Bewegung. Ich drehe mich um. Alle anderen sind längst weg, in Lichtgeschwindigkeit in die Betten gehüpft, der Bourbon verschwunden. Es gibt nur noch mich und vorne in der Tür, die Hand noch am Lichtschalter, den Mund offen, Gevatter Herberg. Der Retter der Sperrstunde, das Hemd der Nacht.

Zu allem Überfluss kommt dazu, mein Bett ist vorne an der Tür. Eile brauche ich jetzt auch nicht mehr zu entwickeln. Ich stiefele also auf ihn zu, während er glotzt. Dann ins Bett geschlüpft, während Dejan bereits zu kichern anfängt. Wenn Dejan im Kino lacht, dann lachen alle. Sogar bei einem Drama wie Love Story, oder wie der Heulsusenfilm damals geheißen hat. Dementsprechend können wir anderen uns auch nicht mehr halten, während der Alte vor Wut zittert. Der kriegt jetzt einen Infarkt, denke ich. Dann bricht es aus ihm heraus, das Schlimmste, was er uns antun kann: »Zigeuner! Zigeuner seid ihr!«

Sprach es und verschwand. Bliebe zum Schluss noch zu erwähnen, er verschmierte unseren Klassen-Herbergsausweis mit Filzstift, wir wären Perverse mit Homoaufnahmen. Unser Lehrer versuchte, es raus zu waschen. Ging natürlich nicht, rausgeworfen waren wir ebenso natürlicherweise. Die nächste Herberge mit Sportplatz und alles locker Drumrum, nahm uns auch so auf. Und als Letztes, die Mädchen bedauerten, dass Bourbon nicht noch schnell abgedrückt hatte. Obwohl, wenn ich’s mir recht überlege, war es vielleicht doch eher Glück. Je nach Augenblick des Auslösens, wäre ja nur noch ein Einzelner, dummer, nackter Pechvogel auf dem Bild zu sehen gewesen.

The Beatles – Long, Long, Long

Apropos Mädchen. Da sind wir erneut beim Thema Pech. Wir hatten nicht viele in der Klasse, also vier eigentlich nur, obwohl sechs an der Zahl. Aber zwei davon waren asexuell. Also genau genommen keine Mädchen, sondern so eine Art biologische Rechenmaschine. Von den übrigen Vieren blieben letztlich nur zwei wirklich interessant. Die Parallelklasse aber, die 11a, die hatte Mädchen. Massig Mädchen, drei Viertel waren Mädchen und was für welche. Eine schöner als die andere, echt ungelogen. Ich hab’ die Typies so beneidet. Ich war eh in der falschen Klasse, Mathezweig mit Franz. Ich hasste Mathe und die langweilige Physik kapierte ich nie. Aber da musste ich ja rein, weil der Vadder gern gerechnet hat und meine große Schwester in Mathe gut gewesen ist. Deswegen logischerweise also auch der Junior. Dabei hätte ich in Sprachen machen sollen, wie die 11a. Ich war nur im labern gut, das merkt man ja. Okay, gut ist jetzt relativ. Jedenfalls gern und viel dahergeredet, kurz – mal wieder Pech gehabt. Was sonst.

Dazu kamen, immer schlimm und gleichzeitig faszinierend, wie Spock sagen würde, diese Träume und Phantasien, echt beängstigend, teilweise. Die haben bereits bei der Französischlehrerin angefangen, der schönen Mireille. Wenn ihr Hintern vibrierte, während sie etwas an die Tafel geschrieben hat, hat manchmal die ganze Klasse gestöhnt. Diese Träume wurden immer schlimmer, der Steife in der Hose unendlich peinlich. Der wollte ja gar nicht mehr weg. Jeder Reiz produziert einen Gedanken und jeder Gedanke einen Reiz. Volles Pech, ein Teufelskreis. Vielleicht hat das aber jeder in dem Alter. Ich habe nie gefragt, das schickt sich nicht. Aber das aller, allerschlimmste an all dem war: In die 11a ging Kiki.

Bin ich bei anderen, jedenfalls attraktiven Mädchen, bereits total verklemmt gehemmt, ich hab’ das so gehasst, echt jetzt, so blieb mir bei Kiki bereits in zwanzig Metern Entfernung das Herz stehen. Ich konnte sie nicht einmal genau ansehen, niemals, nur heimlich. Manchmal starb ich vor Schreck sogar, wenn ich dachte, sie ist’s. Dabei war sie’s gar nicht, sondern jemand ähnliches.

Es gibt da von Robert Crumb einen Comic, nur eine Seite lang. Die Geschichte heißt: ‚Kurts Furz’. Der Plot ist der, dass der gutaussehende, sympathische Kurt ein Problem mit Mädchen hat, die ihm gut gefallen. Da muss er nämlich sofort ganz fürchterlich furzen, so Super-Kanonenschlagmäßig laut. Dementsprechend klappt es nie mit einer, obwohl die alle auf ihn stehen. Sobald er eine Schöne trifft, mit ihr redet, muss er kurz darauf mit dümmlichster Ausrede ganz schnell fliehen und den Darmtornado dann in der nächsten, hohlen Gasse fliegen lassen. Die arme Sau, kommentiert der Autor dieses Pech.

Bei mir ist das ähnlich, nur ist es mehr eine Art Versteinerungseffekt. Was ich damit sagen will: Der Körper versteinert in Sekundenbruchteilen, so fühlt es sich an. Sämtliche Muskeln sind wie Stein, unmöglich, sich zu bewegen, vollkommen verkrampft. Dazu kommt das Gehirn, ebenfalls eingefroren. Das Gesicht dabei in dümmlichem Grinsen erstarrt. Die rechte Hand auf Brusthöhe erhoben, nur die Finger der rechten Hand sind noch frei beweglich. Die machen, so völlig bescheuert, eine Art Spasten-Winkewinke – und Hallo!

Das ist endpeinlich. Genau so, nein, noch schlimmer hab’ ich es bei Kiki gebracht, öfters sogar. Einmal bin ich bei ihrem Haus vorbei gegangen. Sie hat mir aus dem Garten hinterher gerufen: »Ja da ist ja Leon, der kleine Leon, hallo Leonie!«

So hat sie mich früher genannt, wenn sie mich ärgern wollte und dazu dieses schelmische Gesicht gemacht, mit dem Grübchen auf der linken Wange. Ich sagte dann oft: »Kiki – Kih-Kih – Kikeriki«. Daraufhin rauften wir miteinander. Sie kämpfte gut, sehr gut, stark für ein Mädchen, fand ich. Gelegentlich durfte sie gewinnen. Tja, damals bereits Kavalier. Nein, machte einfach Spaß, wenn sie oben saß. Dann kitzelte sie mich im Gesicht mit ihrem Zopf, das fand ich so klasse. Einmal hatte sie keinen, sondern die langen Haare offen, saß auf mir, schaute herunter, und wie – und ich in ihre unendlichen Augen. Ihre Haare umschlossen unsere Gesichter, bildeten wie so eine Art Vorhang. Nur wir beide, die Welt weg, verschwunden. Dieser Augenblick schien ewig zu sein. Ich glaube, seit dem Moment liebe ich sie.

Aber damals, als sie mir hinterher rief, nutzte ich die Chance natürlich nicht und bin weiter gedappt, wie Depp. Tat so, als wäre ich ganz plötzlich vollkommen ertaubt. Später hab’ ich das so bereut und ständig gedacht, warum. Warum nur, du Idiot? Immer wieder und wieder. Mir vorgenommen, fest vorgenommen, das nächste Mal machst du es besser, anders, sprichst mit ihr, du dummes Schwein. Du findest sie doch irre, mach’ was, egal was bei rauskommt. Was kannst du schon verlieren? Ständig ausgemalt, wie ich es besser mache. Davon geträumt. Immer und immer wieder. Gewünscht, dass jedes Mal, wenn ich auftauche, sie ihr Lieblingslied innen hört. Wie magisch und sie erkennt, wir sind füreinander bestimmt, gottgegeben oder so.

Und was mache ich?

Noch größeren Mist, beim nächsten Mal. Da stand sie nämlich mit Claudia irgendwo rum, in der Schule. Zum Glück gab es nur uns drei und keine Zuschauer. He, hört, hört, Glück im Pech. Sie waren wohl albern zu diesem Zeitpunkt. Es war ja wirklich schlimm, dass sie in der Parallelklasse war und die alle ständig an uns vorbeigingen. Diese Prozession schönster Mädchen. Oder wir an ihnen, je nach Stundenplan. Ich glaube, sie hatten den Blödsinn an diesem Vormittag bereits mit mehreren praktiziert. Jedenfalls, während Kiki mich irgendwie undeutbar angesehen hat, rief Claudia: »He du, halt’s Maul!«

Und ich voll versteinert, im Gehirn den vollen Blackout, absolutmäßig, salutiere und brülle: »Jawoll!«

Frage mich gleichzeitig, wie geschieht mit mir? Während sie kichern und ich nicht glauben kann, was ich gerade getan habe. Zum Glück, he, hallo zweimal Glück an einem Tag, in fünf Minuten sogar, kann ich relativ unauffällig recht schnell um die Ecke verschwinden und wäre dann am liebsten tot.

Es gibt also nicht nur Pech in meinem Leben, sondern ganz besonders auch Dummheit. Reichlich, ich bin damit gesegnet. Seitdem floh ich immer, wenn ich sie sah, wenn irgend möglich und möglichst unauffällig.

Die 11a Mädchen saßen manchmal im Gang. Ich musste dran vorbei. In dieser Situation tat ich immer sehr beschäftigt, kramte etwas oder schnappte mir einen Kumpel. Neben dem ich dann, scheinbar intensiv palavernd, vermutlich spastmäßig den Gang entlang gehinkt bin. Meine Beine fühlten sich wie Bratwürste an.

Besonders schlimm waren die Tennisplätze. Da spielte sie nämlich und ich radelte regelmäßig vorbei, wenn ich vom Sport oder vom Gitarrenunterricht gekommen bin. Bereits vorher erlitt ich nahezu einen Herzkasper. Vor lauter Angst, sie könnte ja da sein. Gelegentlich traf es zu. Eigentlich ein Wunder, dass es mich niemals hingehauen hat, weil ich nicht mehr richtig auf den Weg schaute. Einmal habe ich beinahe eine Oma abgeräumt. Fluchen konnte die Dame, mein lieber Mann. Pech. Nein. Eher Glück vielleicht, dass ich nicht in die reingerauscht bin.

Jedenfalls, so vorbei radelnd, wünschte ich mir immer wieder dieses Wunder. Das mit der Musik im Innern. Sie sollte ihr gerade aktuelles Lieblingslied hören, in ihrem Kopf, es in ihrem Body spüren. So wundermäßig eben, wenn ich in der Nähe bin. Und immer intensiver, je näher ich ihr kommen würde. Dann hätte sie sicher irgendwann gemerkt: Öha, diese Supermusik hat offenbar mit dem Spast dort auf dem Rad zu tun. Vielleicht würde sie ja denken, der hat anscheinend doch was. Dieses gewisse Etwas, von Hawkwind, die kennt sicher keiner mehr, in dem Lied: ‚Quark, Strangeness & Charm’ beschrieben. Sie würde mich lieben und ich sie noch viel mehr. Wir wären glücklich und hätten Kinder, kleine Frechknirpse und schöne Minimädchen, mit Grübchen und Kaleidoskop-Augen. Aber das alles ist Unsinn. Für all das gilt: Nix ist’s oder war’s und wird’s nie sein.

Statt dessen schleiche ich im Gang vorbei. Mir ist schlecht vor Angst. Während die anderen Typies, diese Hunde von der 11a, ‚Mädchen, sitz auf meinem Schoß’, und dergleichen mehr Aktionen à la: ‚Der große Fummleroni’ spielen. Mit diesen Schönsten der Schönen. Diese verdammten Glückpilze. Gustav Gänse, alle miteinander. Verflucht.

Gentle Giant – I Lost My Head

Gesagt werden sollte wohl noch, in der Schule lief es ab der Elften gar nicht so gut. Eigentlich wirklich nicht gut. Also vollschlecht, im Grunde genommen. Erwähnt habe ich es ja bereits mit den Matheprobs. Bei Physik konnte man von Problemen gar nicht mehr reden. Der Dipol hasste mich und ich ihn, weil er nichts erklären konnte. Ein Hirnwichser, aber jetzt wird’s vulgär. Okay, das ist sicher bereits bemerkt worden: Ich bin voll vulgär, eben fäkalsprachlich gestört, dazu einfach gewöhnlich, roh, niedrig, unfein, proletenhaft, inzwischen gar nicht mehr artig und abgeschweift.

Wie gesagt, ich schrammelte beim Dipol immer gerade so am Sechser vorbei, den Fünfer konnte ich ausgleichen, bis dahin. Mit was wohl? Mit Deutsch, genau. Früher sogar mit Englisch, aber da baute ich auch gerade ab, wie überall. Nun gut, ich habe die Super-Topp-off-the-Popps-Ausrede: Zuhause lief es nämlich noch viel schlechter, viel, viel schlechter! Offenbar spätestens seit meinem vierzehnten Geburtstag. Während andere erwachsen, selbständig und glücklich wurden, entwickelte sich Meiner Einer immer mehr zum vollkommenen Simpel.

Ich weiß noch, wie ich früher einmal dachte, das Allerschlimmste, was dir je passieren kann, ist dass Mama stirbt. In dieser Zeit als Minimanschgerl, mit fünf, sechs, höchstens sieben etwa, als ich damals einmal traurig gewesen bin, da sagte die Mutter zu mir: Schlaf einfach drüber, wirst sehen, morgen sieht es ganz anders aus. Nach dem Aufwachen ist alles besser. Damals stimmte das tatsächlich. Aber inzwischen leider überhaupt nicht mehr, im Gegenteil. Ich weiß morgens bereits, dass dieser Tag noch schlechter als der vorherige sein wird und es trifft immer ein, echt ungelogen.

Manchmal wache ich Nachts auf. Bin endgroggy, aber schlafen ist nicht. Statt dessen denke ich nach, denke und denke. Ich denke überhaupt gern und viel. Besonders gerne Mist. Dieses nachdenken hört gar nicht mehr auf. Ratter, ratter macht’s, wie eine kaputte Maschine. Unter anderem male ich mir aus, die Situationen, in denen ich abgeschifft bin, einfach besser hinzubekommen. Abschiffen steht für Peinlichkeiten, voller Dummheit oder Feigheit. Theoretisch erst einmal und beim nächsten Mal dann im praktischen Versuch. Aber es klappt nie. Leider trifft diese: ‚Morgen ist es wieder gut’-Theorie bei mir nicht zu. Bei allen mir bekannten Leuten wurde das Leben besser, nur nicht beim Blödian. Ich kann mich noch gut erinnern, damals sendete das ZDF frühabends immer Schweinchen Dick, mit Duffy Duck, Coyote Carl und so. Im Abspann ein jeder Sendung fahren die Trickfiguren mit dem Bus davon. Man sieht ihn von hinten und als allerletzte Szene öffnet sich die Radkappe vom Reserverad, darin das Schweinchen. Es sagt: »Und nicht vergessen – immer schön fröhlich bleiben.«

Das hat mich jedes Mal mitgenommen, unbeschreiblich. Mit mir geschah in diesem Moment genau das Gegenteil, ich wurde so vollends traurig, ich wäre am liebsten sofort gestorben. Alternativ hätte ich dieses dumme Schwein da im Fernseher am liebsten gekillt. Ich hätte die Sendung gar nicht erst anschauen sollen, wollte es aber. Zuletzt habe ich beim Abspann einfach umgeschaltet.

Das ist eben Pech. Das lag zum Einen vielleicht daran, dass meine Mutter an Alzheimer litt, mit vierzig Jahren bereits vielleicht, keine Ahnung, wäre möglich. Es wurde in Familienkreisen von ‚Mutters Krise’ gesprochen, aber während der bin ich winzig klein gewesen. Wahrscheinlich habe ich sie ausgelöst, als quengelnder Nervzwerg vermutlich.

Mittlerweile hatte sie die halbe Hundertschaft an Jahren plus x voll und war längst zur Idiotin mutiert. Falsch, es gibt einfach kein Wort dafür. Einerseits schien das da Mama zu sein, andererseits jemand vollkommen anderes. Mehr Tier sich zurück entwickelnd und das kam immer mehr heraus, zum Vorschein meine ich, aber richtig bemerkt wurde das damals von niemandem. Es gab Anzeichen, aber wie zum Teufel, soll ein Siebzehnjähriger handeln, der von dieser Krankheit noch nie gehört hat? Geschweige denn, selbst wenn, was hätte ich tun sollen? Verdammt, ich brachte ihr ja beispielsweise wieder Fahrradfahren bei, nachdem sie gestürzt war und sich nicht mehr getraut hat, es aber unbedingt tun wollte. Wie man es bei einem kleinen Kind macht, zuerst einmal alles erklären und beruhigen, die Angst nehmen. Dann bin ich neben ihr her gerannt und so weiter. Aber wie gesagt, ich wusste nicht, was da los ist.

An ein frühes Erlebnis erinnere ich mich genau: Ich sehe Bonanza, etwa mit dreizehn, allerhöchstens, eher drunter. Wer schaut sich so einen Schmarrn an, wenn es bereits Raumschiff Entenscheiß gibt? Weltraum ist um Klassen besser als Hottehü-Pferdchen und Peng-Peng. Während diese Star Treck-Folgen liefen, war ich um die Vierzehn, das weiß ich genau. Zurück zum Thema, jedenfalls kommt sie ins Wohnzimmer, erblickt die Glotze und fragt, wer ist denn der da und ich sage, na der Pa, der Pa von Bonanza, mit Hoss und Little Joe, den kennst du doch! Wirst du jetzt senil oder was?

Und sie explodiert – nein – atomisiert trifft es eher. So wütend habe ich die Mutter noch niemals zuvor erlebt. Seitdem sagte ich nie mehr auch nur irgend etwas. Wenn meine Kumpels kamen, wurde es fast immer endpeinlich. Erst recht bei Mädchen, also Klassenkameradinnen. Ich hatte ja keine Freundin, sondern Pickel. Wer will ein Ungeheuer mit den Pocken im Gesicht? Pickel sind auch Pech, oder etwa nicht? Viele Pickel sind viel mehr Pech. Pickel hoch hundert Milliarden sind Desaster pur.

Aber was ich sagen wollte, die Frau, die damals noch ziemlich nach meiner Mutter ausgesehen hat, setzte sich einfach dazu. In mein Zimmer, an den Schreibtisch, als die Marina einmal da war. Ich winkte und winkte, mit allen Zaunpfählen, die es gibt. Heute würde ich wohl sagen: »Hallo, geht’s noch? Mach vom Beet, aber hoppie!« Falls das immer noch nicht reicht, eben: »Verpiss dich!«

Aber damals, ich war ja artig, gut erzogen. Trotzdem flippte ich letztlich aus und zwar so richtig. Nämlich in dem Augenblick, als ich ihre Hand in Marinas Tasche gesehen habe. So heimlich, dumm heimlich neugierig, krasser geht’s ja wohl nicht. Somit wurde es doch noch ein klassisches La Verpissola! Ich warf sie regelrecht raus. Wäre es ein Kumpel gewesen, hätte ich ihm den Arm polizeigriffmäßig umgedreht, bis zum plärren. Eine Umgangsform, wie man das mit depperten Deppen eben tun muss. Gestorben wäre ich natürlich auch am liebsten und das am besten sofort. Die Marina mochte ich doch auch sehr. Phasenweise liebte ich sie vielleicht, sie aber doch lieber den Danny. Nun gut, das wäre eine andere Story. Netterweise hat sie die Szene mit der Mutter niemals anderen Leuten gegenüber erwähnt. Diese Begebenheit hätte das Potential gehabt, mich in der Schule für immer zu ächten.

Jetzt kommt eine weitere Supergeil-Ausrede, warum ich so verklemmt bin. Das rührt vielleicht daher, weil ich einmal, Zufall, bei der Mutter im Kleiderschrank so Pornoprospekte gefunden habe. Damals war ich noch total jung, der echte Pimpf. Die Dinger habe ich dem Reini gezeigt. Der sagte, Ui, die ficken sich. Damit ging das Dilemma los. Weil ich das irgendwo geil fand, was die da machen, total geil. Gleichzeitig widerlich, so unendlich widerlich und dreckig. Ich bin so unendlich dreckig, eine Drecksau, weil mich das aufgeilt. Die Mutter hätte das eigentlich längst merken müssen, dass da jemand dran gewesen ist. Ich fand nämlich immer mehr, der blöde Schrank quoll beinahe über. Wenn man halt ein Versteck gefunden hat, so wie Ali Baba mit seinem Schatz, dann muss man eben immer wieder hingehen. So also hat das damals mit dem Sex bei mir angefangen.

Meine Verlegenheit wurde immer größer, als mir klar wurde: Öha, die schönen Mädchen sind ja für diese dreckigen Dinge da. Das will ich aber gar nicht, beziehungsweise doch. Es ist schon komisch, wenn man jemanden zu verstehen glaubt, aber gleichzeitig einen Riesenständer schiebt. Zwar will ich sie lieben, achten und so edler Rittermäßig sein, es aber doch auch mit ihnen treiben, richtig dreckig pervers. Wenn sie das allerdings auch wollen, dann sind diese wunderbaren Geschöpfe ja auch dreckig. Verdorben. Aber wie kann ich sie dann achten und verehren? Ich drehte mich im Kreis, hatte das perfekte Perpetuum Mobile erfunden.

Vielleicht kamen diese massiven sexuellen Komplexe aber auch von dem ständigen Eiern in der siebten und achten Klasse, welches als wixen bezeichnet wurde. Das hatten die Repetenten eingeführt. Dabei wurde man regelrecht vergewaltigt, von mehreren ergriffen und durchgeknetet. Der Flößer machte sich dabei in die Hose und hieß danach deswegen so. Auf jedem Stuhl war ein riesiger Schwanz gemalt, mit dickem Filzstift oder reingekratzt, sodass es aussah, als habe man einen enormen Steifen. Aber wahrscheinlich wurde ich einfach verklemmt geboren.

Die Mutter setzte sich jeden Abend wie zufällig hin, wenn ich ins Bett ging. Es war in den Jahren davor ein Kampf ohne Ende gewesen, mein Zimmer nach meinen Vorstellungen einzurichten, selbst aufzuräumen und sauberzumachen. Aber ich wollte ja eigentlich von diesem Abendritual berichten. Jedenfalls sitzt sie da am Bett und glotzt. Ich sterbe bereits vor Peinlichkeit und packe den Lattenzaun aus, um mit den Pfählen zu winken. Da sagt sie daraufhin tatsächlich: Ich schau dir nichts ab. Das ist richtig pervers, also bitte, echt jetzt.

Das gehört sich doch nicht. Und bei gehört sich nicht, sind wir wieder beim Pech angekommen, jetzt beim: Zum Anderen, nach dem zum Einen von vorhin. Also, zum Anderen, mit dem Vadder konnte ich ja gar nicht. Das Dogma: ‚Gehört sich nicht’, gehörte zu ihm wie seine Kriegsverletzung.

Wir lebten in verschiedenen Universen, ich bin mir sogar sicher, er ist gar nicht mein Vater. Kann gar nicht sein, allein die Optik. Er blond und blauäugig, glattes Haar, eher korpulent und wenn man ihn nach dem Sinn des Lebens fragen würde, ich bin Hundertprozent sicher, die Antwort ist: »Arbeiten«. Er besitzt null Sinn für schöne Dinge, musikmäßig bestenfalls humptata oder noch schlimmer, hat letztlich überhaupt keine Ahnung davon und will auch keine haben. Vielleicht kommt das vom Krieg, Artilleriefeuer, Stalinorgel oder so. Die Musik, die ich mag, das sind ja gar keine Schwarzen, kann demzufolge auch keine Negermusik sein. Wahrscheinlich stört sie nur beim Aktensortieren.

Zurück zum Aussehen, ich habe schwarze Locken, grüne Augen und wenn ich nüchtern bin, kann man mich unter der Tür durchschieben, so dünn bin ich. Ich vermute eher, mein Vater ist vielleicht Silvio gewesen, der italienische Freund meiner Mutter, wer weiß.

Das traue ich ihr durchaus zu. Silvio würde viel eher zu mir passen, die Locken, die Haarfarbe, der Charakter. Ich bin temperamentvoll, wenn freundlich formuliert, cholerisch trifft es eher. Ich liebe Musik, das Theater, Gedichte, Gemälde, die Kunst, all diese Dinge. Früher bin ich anstelle von ihrem Mann mit der Mutter in die Operette und ins Musical gegangen. Oper sehr selten, nur wenn unvermeidlich, das war mir immer too much Hardcore. Ich bin unorganisiert, launisch, chaotisch und spontan, vermeide Planungen und verabscheue alles, was mit Schule zu tun hat: Ringbücher, Schnellhefter und vor allem, am allermeisten Aktenordner.

Da muss ich jetzt schnell philosophieren, wie pervers es heutzutage ist. Früher, da brauchte ein Mensch eine Keule, oder noch besser, Pfeil und Bogen, eben Werkzeuge, Waffen. Heutzutage überlebst du ohne eigenen Aktenordner nicht. Genauso ist der Vadder, bestens sortiert, gelocht und abgeheftet. Der wandelnde Aktenordner.

Aber nicht nur ich hatte Probs mit ihm, auch meine Schwester. Eigentlich alle anderen Menschen. Beispielsweise, wenn er auf der Autobahn mit allerhöchstens Hundertzehn die linke Spur blockierte, ewig und meinte, die sollen warten. Die anderen Autos, die da hinten bei unserem 17m bis auf die Stoßstange auffuhren, uns die Lichthupe gaben und mehr. Bis wir dann schließlich von rechts überholt wurden und die Mutter einen Schreikrampf kriegte, wie so oft beim Autofahren. Sie kreischte bei jeder Kurve im Gebirge beispielsweise, weil sie uns wohl schon in den Abgrund stürzen wähnte. Es hat lange gedauert, bis ich mich daran gewöhnt habe.

Beim Vadder wurde nur Aral getankt. In Italien Agip. Wenn es das nicht gab, dann standen wir eben. Ich weiß noch, wie wir mal gefahren sind, an lauter Tankstellen vorbei, bis wir endlich eine blöde Richtige gefunden hatten. Ich war stinksauer, durfte aber nix sagen, als Zwerg da hinten. Sah uns bereits zu Fuß mit dem Reservekanister eine Aral-Tankstelle suchen und weiter an den anderen Marken vorbei stiefeln. Für mich ist das Aktenordner pur, ich schwor damals, ich tanke später bei allen. Das ist nämlich total wurscht, der Sprit kommt aus der gleichen Raffinerie. Die paar Additive, hauptsächlich Farbstoffe, vergiss es.

Ich weiß ebenfalls noch, wie der Vadder sich aufregte, als meine Schwester und ihr Verlobter mit einem Paar aus dem Amateurtheater sehr befreundet waren, das ihm nicht passte. Er schickte den Leuten einen Detektiv hinterher, weil die Frau in einer Bar arbeitete. Ich erinnere mich gut, wie er tobte, das ist schmutzig, das hat mit Sex zu tun. Meine Schwester starb gerade vor Scham deswegen. Ich war zufällig in dieses Scharmützel geraten. Normalerweise hielten mich alle außen vor, den Kleinen und zugegeben, Eltern sind wohl immer etwas peinlich, aber meine brachten echt die Hämmer. Meine Schwester ist ja längst abgehauen und verheiratet, aber ich schweife mal wieder, sorry.

Was ich sagen wollte, kurz: Daheim war’s einfach scheiße, es gibt leider kein anderes Wort dafür. Blödmäßig trifft es nicht wirklich, deshalb lebte ich bereits halb beim Daniel, mit dem konnte man reden und wie gut. Mit seinen Eltern ebenso. Stundenlang hörten wir Musik, ich lernte massig Bands durch ihn kennen und lieben. In dieser Phase prägte er mich richtiggehend, beziehungsweise natürlich auch seine Musik. Er besaß bereits damals mehrere hundert Platten. Ich entdeckte zahllose Bands und Stilrichtungen.

Wir trafen uns praktisch fast jeden Tag, gingen oft am Wochenende weg, manchmal ins Kino, auf Konzerte, meine ersten damals. Ich sah John Lee Hooker, Gentle Giant und Ton, Steine, Scherben beispielsweise. Letztere bei ihrem letzten Konzert. Glück, das gebe ich zu. Gelegentlich lud er mich ein, weil ich doch ständig in Geldnot gewesen bin, wenn das Anbetteln meiner Eltern nix gebracht hatte. Wir redeten viel, dachten gleich und empfanden ähnlich. Er brachte eine Anarchozeitung zusammen mit Fetti heraus, von Teilen des Lehrkörpers gehasst. Er galt dort als arrogantes Professorensöhnchen. Dabei ließ er sich nur nichts gefallen von Idioten wie dem Dipol. Dazu supersportlich und der Klassenstärkste. Sein Vater lehrte zuvor in Amerika, Danny war quasi neu in der Schule. Englisch konnte er im Schlaf und ich liebte ihn irgendwie. Asexuell natürlich, aber das merkte ich erst, als es zu spät geworden war, wir aneinander vorbei redeten und die Freundschaft zerbrach. Dazu komme ich später etwas genauer. Er bekam Taschengeld und Kleidergeld, der Glückspilz. Na, Thema erkannt? Was ist das Gegenteil?

Eltern, die sagen, du bekommst doch eh alles, für was also Taschengeld? Dann kannst du wieder mal die Jammertriaden abziehen. Weil direkt danach fragen ging ja gar nicht. Das bedeutete ein dickes Nein und zwar meist für immer, in diesem einen Fall zumindest. Stattdessen musste man bei der Mutter dann traurig sein und seufzen, ach wie gerne würde ich doch beispielsweise diesen Film ansehen und aufpassen, dass man dabei nicht auf den Schalter für Moralpredigten drückte. Darüber hinaus war es zwingend erforderlich, die momentane Stimmung im Haus zu beachten, einen günstigen Zeitpunkt zu erwischen. Dieses Rumgemache-Blabla nervt, ist peinlich und verlorene Zeit. Klamottenmäßig schlug das Unglück ebenfalls zu. Durch eine Mutter, die einem mit siebzehn immer noch am liebsten zu Hergard’s Kindermoden geschleppt und in doofe Hummelsheimhosen statt Lewis gesteckt hätte, so püppchenmäßig. Die fast nie macht, worum man sie bittet. Wo, bevorzugt vom Vadder, auf Argumente beständig mit Papperlapapp geantwortet wird.

Nein, jetzt mal ernsthaft, das mit Zuhause ist einfach eine Ausrede. Ein prima Vorwand, den ich zu gerne hernehme. Ich war für die Schule einfach zu faul. Ein faules Stück Dreck. Wenn ich jemanden gefunden hätte, der für mich schifft und schnauft, hätte ich womöglich gar nichts mehr getan.

1977 bringt eine Rakete den ersten Wettersatelliten für den europäischen Raum in eine geostationäre Umlaufbahn. Die RAF ermordet Hanns Martin Schleyer. Ökologisch gebaute Häuser entstehen. Marc Bolan von der Band T.Rex, Sepp Herberger, Ludwig Erhard, René Goscinny, Elvis Presley und Wernher von Braun sterben. Die EU führt eine Zolltarifunion ein. Blondie, Wire, The Clash und Motörhead nehmen ihr Debütalbum auf und Devo, Dead Kennedys, Siouxie and the Banshees, Talking Heads, Dire Straits, The Human League, Iron Maiden, Simple Minds und The Stranglers werden gegründet. Nach dem Erfolg des Films ‚Saturday Nights Fever’ bricht in der BRD das Discofieber aus und weiße Polyesteranzüge kommen in Mode. Im Scheidungsrecht wird die Schuldfrage abgeschafft. Die Produktion des VW-Käfers läuft aus, Amnesty international erhält den Friedensnobelpreis, Krieg der Sterne läuft in den Kinos. In Spanien erhalten Frauen das Wahlrecht. Das erste Funktelefonnetz, das sogenannte A-Netz, wird mit zuletzt 787 Teilnehmern eingestellt. Dick Evans verlässt die irische Band Hype, die übrigen vier Musiker ändern daraufhin ihren Namen in U2.

Led Zeppelin – D’Yer Mak’er

Pech ist außerdem, wenn es einem die schönste Jahreszeit verhaut, den Frühling nämlich. Mit Bienchen und Blümchen, alle freuen sich, nicht nur die Kaninchen. Man hört zwitschern und pfeifen, summen und brummen, sieht blühen und blättern und so weiter. Und der Meine Eine, was darf der? Rotzen und schneuzen und niesen und Tränen aus juckenden Augen reiben, dazu kaputt sich fühlen, mit Kopfweh und dergleichen mehr.

Aber seit letztem Jahr gibt es zum Glück, he, holla, hört, hört, Glück, das Wunder beim Dr. Pouw. Ich sitze also deswegen im Wartezimmer, mitsamt ein paar tausend Tempos und lese Mickymaus, bzw. den Donald darin. Wer steht schon auf eine alles besser wissende und könnende Maus? Nochmal Glück, hallo, Glück hoch zwei. Welcher Doc hat Comics? In den meisten Wartezimmern liegen doch nur Omazeitungen und Halbsexhefte herum. Während dem Lesen schaue ich kurz hoch. Ach du – ...! Oje.

Wer setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber? Kiki.

Herz steht, tut weh. Keine Luft, uff! Versteinerung, alles ist Krampf. Au Weia. Ich gaffe bestimmt gerade. Affe gaffe affmäßig.

Oh Gott, wie peinlich. Schnellstmöglichwegjetztschauen, ins Comic. Wo war ich grad? Oje, ich spüre ihren Blick.

Den Blick dieser Augen. Sie sieht mich an, ganz sicher. Ich fühle es, ganz deutlich. Gleich lacht sie mich aus.

Ich muss raus hier! Puh, ist das heiß! Ich schwitze gleich wie ein Schwein. Halt, können die überhaupt? Blöde Redensart, also wie ‘n Schweinebraten eher. So ein Quatsch, wo hast du das her? Ach, klar, vom Donnie natürlich.

Rasende Gedanken, rasende Granitversteinerung. Granit ist der härteste Stein. Nicht rot werden jetzt.

Oh nein! Ich werde rot, ich merke es ganz deutlich.

Rot, röter und Spot an! Röter geht’s nicht. Ich spüre, ich versinke, zerfließe im Stuhl, scheinbar Comic lesend. Gleich muss ich niesen, schneuzen oder sterben.

»Hallo Leon.«

»Hei. Äh. Hallo. Eh. Moment, ich muss niesen, sorry«.

Puh, wenn ich nur nicht so rot wäre. Naseputzen ist beinahe das Tollste, was man in Gegenwart schöner Frauen machen kann. Nur reihern und furzen ist besser. Ich bin wirklich unmöglich und endlich damit fertig. Endpeinlich. Mist.

»Äh, he, hallo Kirsten.«

Kirsten ist ja der Übername, finde ich. Hier im Süden voll selten. Den hörte ich noch nie vorher, schöner geht nicht.

»Du darfst immer noch Kiki zu mir sagen, wie früher.«

Oje, ich stammele, stottere und so weiter. Fehlt nur noch Luft schnappen und schnaufen. Das kommt bestimmt auch gleich.

Die rote Birne leuchtet garantiert bereits ampelmäßig. Gleich bleibt deswegen draußen der Verkehr stehen. Der Schweinebraten dampft. Donald würde sich jetzt so ausdrücken: »Verd...#+*%$#&#§!!«

So nah.

Sie ist so nah, so richtig nah. Ihre Nase ist eigentlich nicht perfekt, da ist ein Winzhügel drauf. Aber was soll ich mit meinem Kolben da sagen, sie lächelt. Hä? Warum lächeln und he, äh, hm, bitte, was du sagen?

»Ich fragte, warum du hier bist.«

»Heuschnupfen, Allergie, Gräser, Bäume, Blütenpollen und so, Roggen, was da grad rumfliegt. Ich bekomme eine Spritze, dann ist’s weg für dieses Jahr, äh. Normalerweise, meine ich. Äh. Und du, bist du krank?«

Erneut dieses kurze Lachen, ganz eigen. Das kann nur sie. Etwas mehr als ein Lächeln, mit Grübchen und so dermaßen extrem weißen Zähnen, dass die Firma Blendax neidisch würde. Überhaupt, so einen Mund gibt’s nur einmal. Den zu küssen, boah. Jetzt spinnst total, Typie.

»Pille.«

»Was?«

Mist. Wie bitte, heißt es, weißt du doch, Junge. Unhöflicher Prolet, schon wieder versagt und hä? Jetzt erst registriere ich, dass es ein Witz ist. Sie deutet mit den Augen auf die zwei alten Hexen da drüben. Die personifizierten Missbilligungen. Bei dieser Aussage eben haben sie deutlich hörbar nach Luft geschnappt. Wie sie jetzt glotzen, köstlich. Hihi, die hat es so richtig gerissen. Hallo Geiss-Mamas! Also frech, gibt’s ja gar nicht. Die Kiki ist cool, mein lieber Mann!

An sich wäre dieser gelungene Joke mit den alten Damen da nicht unbedingt erwähnenswert gewesen, wenn man von dem Ausmaß ihrer Unverschämtheit einmal absieht. Damals liefen zwar jede Menge Sexfilme mit Titeln wie ‚Schulmädchen Report’ oder ‚Jodeln in der Lederhose’ in den Kinos, nichtsdestotrotz galt ein Fräulein, welches die Pille nahm, als eine Nutte weil sie ihre Jungfräulichkeit nicht für die Ehe mit ihrem zukünftigen Mann aufsparte. Allein erziehende Frauen waren dem allgemeinen Volksverständnis nach Schlampen, die sich hatten schwängern lassen.

Aber zurück zu Kiki, dieser Blick gerade, diese Augenbewegung – das gehört mit zum Schönsten auf dieser Welt.

»Ich brauche eine Untersuchung für die Schule in Amerika, ein Attest für mein Auslandsjahr.«

»Herr Pattik?«

Na toll, jetzt komme ich dran, ideal, hallo Unstern, schade, war auch zu schön, um so weiter zu gehen.

Die Versteinerung ist plötzlich fast weg, ich kann mich bewegen, etwas, immerhin endverkrampft spastmäßig aufstehen, eine leichte Verbeugung. Öha, artig, ich verabschiede mich sozusagen.

Dazu sollte ich etwas sagen, was soll ich sagen, jetzt ist’s schon wieder vorbei, wir zwei – ... dabei will ich sagen, ich könnte noch Stunden, Tage, Wochen, mein Leben lang dir so nah sein, für immer, immer und ewig ... –

»Äh, Servus.«

Während ich wie abwesend der Sprechstunde hinterher trotte, rast die Birne, was zu tun ist. Jetzt, das ist doch die Chance, die Chance deines Lebens – nütze sie, du dummer Depp. Obwohl – ...

Holla – Blödmann! Sag’ mal, bildest du dir ein, du könntest mir der ?

Mach dich nicht lächerlich, du bist ein Hanswurst. Das trifft es gut, Wurst und Hansel. Mach dir nichts vor – wurst bist du ihr auch, es war nur Höflichkeit gewesen – und Selbstsicherheit.

Sich selbst sicher sein. Das ist ganz anders, wie du bist. Kein Wunder, wenn man so unvorteilhaft aussieht, also nix wie heim! Oder doch nicht? Soll ich warten? Sie kommt ja gleich dran, das kann ja nicht ewig gehen. Dann kommt sie raus und dann – ja, was ist dann?

Was mach ich dann, wenn ich dann dastehe, wie der Ochs vorm Einkaufsregal und dann dumm rumglotze? Wäre es nicht peinlich? He – ich bin ja längst draußen. Hä? Das ging ja wie im Traum. Jetzt steh’ ich und wart’ ja doch. Ich bin verrückt und peinlich, aber ich kann nicht anders. Ich muss eigentlich ganz dringend weg. Aber eigentlich heißt eigentlich etwas anderes und –

»Hast du auf mich gewartet?«

»Äh, ja, eh ...«

Hoppla, das ging jetzt zu schnell zum lügen. Gerade bastelte ich noch eine Story, die vielleicht glaubwürdig geklungen hätte und –. He? Ich glaube, sie freut sich, echt, gibt’s doch gar nicht. Okay, stimmt, sie sagt, wir haben den gleichen Heimweg. Und mein Schnupfen ist weg und die Vögel brummen und die Autos summen und die Bienlein zwitschern überall. Mein Herz hüpft im Takt dazu. Jetzt gehen wir zusammen, also heim, meine ich.

Es sieht aber echt aus, als wäre sie meine Freundin. Plötzlich, ganz plötzlich ist der Spast weg und der Krampf weg, der Granit zerbröselt. Es ist wie früher, als wir klein waren, spielten und uns mochten. Ich jedenfalls sie, also fast wie früher. Ich bin doch sehr aufgeregt und zapplig. Ich bin glücklich. So glücklich, so grundlos, beziehungsweise ist klar, wegen ihr. Dann kann ich echt lustig sein, charmant, wirklich, bin ich echt charmant witzig manchmal. Ich glaube, ich kann Humor, ein bisschen wenigstens. Okay, natürlich Labersackmäßig. Ich kann nicht anders. Ich höre aber auch zu und so blöd, so blöd, in einem Monat ist sie weg. So ist’s, das ist eben Pech – und Glück. So nah und reden. Zumindest reden darf ich. Und sie ansehen. Und sie amüsieren darf ich. Sie hat mich im Amateurtheater gesehen, da spielte ich die letzten Jahre im Weihnachtsmärchen. Wie immer den Hanswurst. Das liegt mir. Also die lustige Figur, wenn man nett sein will. Ich hab’ ihr gefallen, echt wirklich, sagt sie. Ich habe Talent, sagt sie. Das ist jetzt ein Kompliment, oder so. Sie kann einen anlächeln, dass man stirbt. Jetzt lacht sie wieder und berührt mich dabei.

Mannomann – siehatmichberührt – ich hab’s gespürt, ganz genau. Oh Mann, ist das Absicht? Sie ist so nah, dass ich sie riechen kann. Mann Typie, wie sie duftet! Boah, das haut mich um und Mist, sie ist zuhause.

Genesis – Carpet Crawlers

Auf dem Heimweg fühlte ich mich so unglaublich, dass ich beinahe: »Schön ist es auf der Welt zu sein, sagt die Biene zum dem Stachelschwein«, gesungen hätte. Ein bescheuertes Schwachsinnlied von Roy Black und diesem naseweisen Mädchen, Anita oder so. Das hab ich früher wie verrückt gehasst. Aber ist ja egal, zuerst trafen wir uns in der großen Pause.

Bereits am nächsten Tag kam sie zu mir, sagte hallo, mit Grübchen und Blendax. Während ich noch dachte, oje, was nun tun, schnappte sie mich einfach am Arm. Mann, sie hatmichwiederangefasst. Sagte, komm mit und wir gingen zu den Anderen, die im Eingang vom Schulhof standen, wo geraucht wurde. Ich rauchte zwar damals nicht und Kiki sowieso nicht, aber die coolen, interessanten Schüler, die standen genau da. Eben deshalb wir auch und ich konnte mich zu den 11a – Leuten einfach dazustellen. Ein paar kannte ich ja von früher, die Zwillinge Ralf und Jochen beispielsweise. Mit denen war ich im Flötenkurs als Atta-Zwerg. Ralf fragte, weißt du noch, wie uns die Alte die Flöten auf den Kopf gehauen hat, wenn wir uns verspielt haben? Ich sagte, nö. Typisch. Dieses unerfreuliche Erlebnis mal wieder total verdrängt. Ich habe einfach alle Flöten gehasst.

Besonders gern traf ich Kiki nach der Schule, wenn wir gemeinsam aus hatten und wir zusammen heimgingen. Immer den kleinen Umweg zuerst zu ihr, da bestand ich darauf. Da konnte im Unterricht gewesen sein, was wollte. Heimgehen wurde endgut. Die anderen frotzelten schon rum. He Leon, gehst du jetzt mit der Kiki? Und ich sagte, ja, heim manchmal und sonst nix. War dabei aber so happy, so glücklich wie nie zuvor, so unglaublich viel, dass das Herz wehtat. Ich konnte nie genug mit ihr zusammen sein. Zuerst zwar ganz schüchtern, Mensch, war ich schüchtern, ich glaube, sie hat wirklich jeden Schritt gemacht.

Mit Daniel und seiner Freundin Ulrike waren wir zu viert in der Schauburg im neuen Wim Wenders ‚Im Lauf der Zeit’. Ich kann’s einfach nicht beschreiben, wie umwerfend diese Momente waren. Ich dachte zuerst, oje, der Daniel sieht super aus. Blonde Locken sind viel schöner als blöde schwarze. Darüber hinaus ist er ein viel besserer Typ als ich und schönen Mädchen gegenüber durchaus empfänglich. Er hat zwar die Ulrike, aber man weiß ja nie. Da muss ich jetzt vor Eifersucht sterben. Aber war gar nicht, sie begegnete ihm lieb und freundlich. Jedoch mir, mir schenkte sie Grübchen mit Blendax. Ulrike und Daniel klebten da auf ihren Sitzen aneinander. Vielleicht zufällig saßen wir irgendwann auch ganz nah zusammen. Der Film ging ewig. Wir berührten uns. Es kribbelte unendlich. Ich hätte sie gerne irgendwie in den Arm genommen und gequetscht. Im Kino gar nicht so einfach.

Danach aßen wir beim Ballermann traditionell Curry mit Pommes. Daniel und ich taten das immer, aber diesmal mit klasse Mädchen. Dieser Film war der Schönste meines Lebens.

Obwohl ich ständig an sie dachte, Nacht und Tag, es lenkte eigentlich unendlich ab, und mal war ich happy, dann wieder hatte ich Schiss, es könnte vorbei sein, vergangen, was eigentlich noch gar nicht begonnen hatte, wurde ich in der Schule gleich besser. Die drei Klassenarbeiten in der Zeit jedenfalls. Das lag vielleicht auch daran, dass wir ein paarmal zusammen lernten. Wie sie sagte, ich kapier das nicht in Mathe, besuchte ich sie das erste Mal seit ewiger Zeit. Der Stoff erschien so easy im Vergleich zu unserem Mist, gleiches Thema, aber viel einfacher, wie ich bereits sagte, in der 11a wäre es bestimmt besser gewesen.

Pech, okay. Jetzt gerade habe ich allerdings Glück, massenhaft, ich bin bei ihr. Es ist warm, wir sitzen im Schatten auf der Terrasse, quasi wie früher in ihrem Garten. So nah bei ihr zu sein ist endmäßig aufregend. Mein Herz kaspert wie wild. Ich glaube, ich starre. Kiki ist dermaßen nah, ich atme sie praktisch ein, obwohl mir dabei die Luft wegbleibt. Das geht wirklich. Ihr auf das Heft konzentrierter Blick hebt sich, diese Wahnsinnsaugen finden meine und ich versinke in ihnen. Sie sagt, hast du was und ich kann nicht anders, sage ja, habe ich. Dich, äh, Du, meine ich. Du bist ganz nah bei mir. Und dann kann ich echt nicht mehr anders und sage: »Du bist wunderbar, wunderschön, ich bin ja so verschossen in Dich, seit Jahrzehnten bereits. Ich will immer mit Dir zusammen sein, für immer und ewig, will Dich heiraten und kleine Frechzwerge oder Minimädchen mit Grübchen von Dir, am Besten gleich ein Dutzend«, und sie lacht. Plötzlich küssen wir uns. Es ist mein erster richtiger Kuss.

Oh Gott, ichbinhinundweg. Wir kleben aneinander. Sinn und Hirn kollabieren und oje, da bekomme ich gleich einen Ständer. Aber diesmal ist es nicht peinlich, es stört sie null und ich glaube, wir haben uns stundenlang geküsst. Ich weiß gar nicht mehr, wie wir vom Garten in ihr Zimmer gekommen sind. Dann hören wir Musik, sie hat gute Platten, mag sogar Genesis. Das ist ein Wunder. Welchem Mädchen gefällt diese Schrägmusik? Wir hören Lamb Lies Down. Den folgenden Satz hab ich mal gelesen, in Conan der Eroberer. So ein Held und toller Typie wie der wäre ich damals auch immer gern gewesen. Den Satz finde ich so schön und er beschreibt es genau, besser geht nicht: Ihr bringt den Kelch meines Glückes zum überfließen!

The Cure – Boys Don’t Cry

Nun, auf das Thema Unglückswurm bezogen: Ausnahmen bestätigen die Regel, leider. Die zweiundzwanzig Tage bis zu ihrer Abreise waren die schnellsten meines Lebens. Zeit ist ja nie gleich lang, scheint nur so. Man setze sich nur mal in eine Achterbahn mit Schiss oder auf einen Zahnarztstuhl. Dann merkt man, wie lange eineinhalb Minuten sein können. Das Pech hatte mich bald wieder am Wickel. Mit Kiki flog das Glück und das Licht meines Lebens nach Amerika.

An meinem 18ten Geburtstag war ich zuerst den ganzen Tag deprimiert. Die Bundesregierung, da steckt übrigens das Wort ‚Gier’ drin, gratulierte mir und hieß mich im Kreis der Gewachsenen willkommen. Bis vor kurzem musste man 21 Jahre alt sein, zur Volljährigkeit. Irgendwie fand ich diesen Wisch endmäßig blöd. Am Abend aber kamen meine Freunde, Daniel, Marina, Fetti, Susanne, Bourbon und Peter. Die schleppten einen bemalten Motor als Geburtstagsgeschenk an, irre schwer, ein Kerzenständer mit achtzehn Kerzen drauf, da hätte ich heulen können und weiß nicht, warum. Die volle Heulsuse eben.

Der Vadder hat dieses Ding von der ersten Sekunde an gehasst. Abends lag auf dem Kopfkissen ein Betthupferl, also etwas Süßes und der Zettel: »Man wird nur einmal 18«. Wie ich, anstatt der schönen Schrift von früher, die inzwischen endkrakelig gewordene von der Mutter gesehen habe, tja, da habe ich dann wirklich geflennt. Kann man mal sehen, welch ein bescheuerter Hund ich bin.

Am übernächsten Tag kam eine Karte von Kiki und mich hat es zerrissen vor Glück. Neben einem lieben Text klebte da der Abdruck eines Kusses drauf, versiegelter Lippenstift, glaube ich, damit es nicht verwischt. Ich schwebte, praktisch den ganzen Tag und sang dieses Lied von den Carpenters: ‚Please Mr. Postman’. Das wollte gar nicht mehr aus meinem Kopf heraus.

Briefe von Ihr sollten in dieser Zeit das Einzige sein, das mich aufbauen konnte. Inseln des Glücks. Spitzen eines versunkenen Gebirges im Meer der Tränen. Das nenne ich jetzt so, weil es gut klingt. Ich weinte natürlich nicht den ganzen Tag, das sind schon peinliche Ausnahmen. Auch Weicheier sind Männer und als solche an Konformismus gebunden und heulen ist verboten.

Es fühlte sich eher an, dass die Welt außen an Farbe zu verlieren schien. Irgendwie immer grauer wurde. Auch die inneren Welten verblassten synchron. Ich fuhr damals auf einen Oldie von den Stones ab, nämlich: ‚Paint it Black’. Seitdem ist Schwarz meine Lieblingsfarbe. Früher war es einmal Grün gewesen.

Zurück zu Kiki, ich schrieb manchmal Gedichte für sie. Im Nachhinein endpeinlich. Da könnte ich im Boden versinken, aber das wäre jetzt eine eigene Geschichte. Letztlich wollte und musste ich die Korrespondenz doch etwas normalisieren. Nicht wie Cyrano de Bergerac jeden Tag heimlich einen Liebesbrief durch die feindlichen Reihen des Belagerungsrings schmuggeln. In meinem Fall der elterliche Geldbeutel in der Küchenschublade, obwohl ich das natürlich am liebsten getan hätte. Cyranos tragische Liebesgeschichte nahm mich damals echt mit, als ich sie gelesen habe. Ich kam durch eine mit dem gleichen Thema von Donald darauf, wie so oft. Wer heulen will, dem sei’s empfohlen. Von der Optik her, als großnasiges Ungeheuer sind wir echte Verwandte, wir beide. Ich beneidete ihn, weil er seine Feinde im Duell abstechen konnte.

Aber zurück zum Licht meiner Augen, sie konnte ja gar nicht soviel antworten, das wäre in Belästigung ausgeufert. Sie sollte sich frei fühlen, wurde sie doch sehr eingespannt, ein komplett neues Leben. Mir wäre von den Anforderungen dort Höllenangst gewesen. Ich meinte irgendwann, kümmere dich vor allem um deine Problems, das ist schwer genug. Schreibe nur, wenn du wirklich Zeit und Bock hast. Gleichzeitig hatte ich natürlich Angst, sie könnte sich in einen geilen Ami verlieben. Das schrieb ich ihr einmal. Sie antwortete, keine Sorge, mein Süßer.

Zuhause wurde es immer mieser. Meine Mutter nervte, stärker als Reklamelieder. Sie wurde langsam komplett verrückt und befahl, ich solle bis 23 Uhr zuhause sein. Jetzt, mit achtzehn. Lachhaft, vorher gab es diese Restriktionen nicht. Damit konnte ich jetzt plötzlich gar nicht mehr mit Daniel ins Kino gehen. Ich hielt mich natürlich nicht daran, geht’s noch? Dafür gab es beim Heimkommen jedes Wochenende frisch gedampfte Kacke, Vorwürfe ohne Ende. Das hat mich dermaßen angekotzt. Um elf war ja der Film meistens erst aus. Wir mussten ja heimradeln. Zum Ballermann wollten wir ebenfalls. Überhaupt, wie tickt die? Ich bin volljährig! Wo gibt’s das denn? In diesem Unsinn unterstützte der verdammte Vadder sie natürlich. Gegen mich waren sie immer ein Herz und eine Seele, wie die Tetzlaffs im Fernsehen. Er servierte bei diesen Gelegenheiten gerne den geilen Spruch, den von deinen Füßen unter meinem Tisch und so weiter, es wurde kein verdammtes Klischee ausgelassen.

Schließlich kam der Eklat, in Form eines Besuches von meiner Tante Lotti. Ich flog aus meinem Zimmer. Eine heilige Tradition, gegen die auflehnen sinnlos war. Ich bin ja nichts, außer artig und zuvorkommend. Rechtlos. Die Tante kann man ja nicht ins Kellerzimmer einquartieren. Als erstes hatte sie gleich meine schöne Ölfunzel geschrottet. Koffer daraufgestellt. Was soll’s, zählt ja nicht, wer bin ich denn. Jedenfalls begab es sich eines Mittags, dass ich lernen wollte, wirklich jetzt und konnte es nicht, weil mein Zimmer mit Mittagsschlaf belegt wurde. Sie pennte bereits und mein Ranzen stand drin. Daraufhin dachte ich, na gut, dann gehst halt in den Park. Vielleicht ist ja etwas mit Fußball, wenn die anderen da sind. Danach lernst du eben, fest vorgenommen. Leider ging nix mit spielen, kein Schwein da und so konnte ich statt dessen meine Einsamkeit kultivieren. Kiki fehlte mir, dieses Loch im Herz wollte und wollte nicht heilen.

Zu dieser Zeit zog ich mir bevorzugt Herzschmerzmusik rein, richtig zwangsmäßig. Holla, diese folgende Geschichte habe ich ja noch gar nicht erzählt. Kurz vor der Abreise sagte Kiki, sie gehe zum Frisör und ich antworte, spinnst du? Du hast die schönsten Haare der Welt! Als Antwort gab’s Grübchen mit Blendax. Sie meinte, wirst schon sehen. Es stand ihr richtig gut, so halblang. Schau mal, sagte sie und hatte mir ein Büschel Haare von ihr mit einem Schleifchen zusammengebunden. Ein richtig dickes und ich war hin und weg. Sagte aber, geil, das gibt einen super Rasierpinsel, den kann ich brauchen. Sie haute mich lachend und wir küssten uns. Dann bat sie um eine Locke von mir und klar, freilich, so schlecht sehen meine Haare wirklich nicht aus. Die Stelle fühlte sich danach fast kahl an. Also haben wir quasi Blutsbrüder/Schwesternschaft, ohne dass welches geflossen ist, geschlossen. Ihr Büschel ist jetzt mein Hobbie. Der tollste Hobbie der Welt. Ich schmuse damit, spüre sie, bin endtraurig und glücklich gleichzeitig.

Das kann man tatsächlich sein, ungelogen, echt wahr.

Cat Stevens – Father And Son

Nun gut, als ich vom Park heimkam, dampfte die Kacke. Frisch aufgebrüht. Die Eltern kochten in heiligem Zorn, lern, lern – lern, lern, längst ein Allergie auslösender Lieblingsbegriff von mir. Wo warst du denn? Du hättest, könntest, solltest gefälligst, sei nicht so frech und dann hörte ich natürlich mein absolutes Top-Lieblingswort. Welches der Vadder dann gebrauchte, wenn man ihn mit Argumenten ausgekontert hatte. Das bedeutete, was du sagst, ist Bockmist. Wer bist du denn? Du bist nichts, gehorche gefälligst. Das hieß, ich habe es bereits zuvor erwähnt: Papperlapapp.

Ich weiß nicht mehr, wie oft dieses Wort während unserem gemeinsamen Leben benutzt wurde, vermutlich über siebentausendmal. Ich fühlte mich in dieser Situation gerade absolut ungerecht behandelt. Hatte ich doch lernen wollen und konnte nicht ins verschlossene Zimmer, aber das interessierte offenbar niemanden. Schlussendlich hockte ich mich nach diesem intensiven Konflikt an den Schreibtisch und lernte natürlich. Sofort. Das geht nach frisch gequirlten Exkrementen besonders effektiv, logo.

Quatsch. Vielmehr, natürlich hockte ich da. Musste ich ja. Wären sie in der Lage gewesen, hätten sie mich wahrscheinlich auf dem Stuhl festgeklebt. Allerdings fühlte ich mich fertig. So fertig mit dieser Scheißwelt, dass ich flennte. Blöde Heulsuse. Die Scheißtränen tropfen das ganze Scheißmatheheft voll, alles verschmiert, das Papier wellt sich. Dieses blöde Heft ist im Arsch. Ist mir doch egal. Es klopft. Tante Lotti sagt, komm zum Abendessen. Genau das packe ich nicht, diese Negierung aller Geschehnisse. Egal was passiert, die Etikette wird gewahrt. Zum Essen hast du zu erscheinen. Das musste meine Schwester auch immer. Mit verheultem Gesicht am Tisch sitzen, ja aufessen und alles nochmal serviert bekommen. Die gesammelten Weisheiten ertragen. Ich denke, ihr spinnt und sage nein, geht nicht. Die Mutter kommt. Beziehungsweise, das Ding da, was von ihr übrig ist. Ich schimpfe und schreie. Sie geht. Sie ist mein Opfer. Verzeih mir bitte. Und wie ich heulend dahocke, wird plötzlich die Tür aufgerammt, der Vadder stürmt rein, stiermäßig beschleunigt, packt von hinten zu, will mich beuteln, wie ein Hund einen Lumpen rumschüttelt. So wie früher.

Blitz, schmor, die Sicherung brennt durch, ich sehe nichts mehr, Tränennebel, bin nur noch Reflexe, Drehung, Befreiung, ich hebele. Öha, der ist ja überhaupt kein Gegner. Wumm, gegen den Schreibtisch mit dir, voll ins Kreuz, tut gut, hä? Zack, Außensichel, Füße weggehauen. Peng, es haut ihn um. Warte mal Alter, jetzt darfst tauchen, unter den umstürzenden Schreibtisch gedrückt, das ging ratzfatz, schau her, da kannste mal sehen, hä?

Tante Lotti schreit. Über dem Scheppern und Krachen erklingt das Kreischen der Mutter, die bringen sich um. Es dringt durch. Ich bin wieder und da lasse ich los. Ein Schubser, noch tiefer unter den Schreibtisch.

Fass mich ja nie mehr an! Kapiert?

Ich packe meine Jacke, heule wie zehntausend Susen und schwöre: Ich komme nie mehr zurück.

The Who – Behind Blue Eyes

Und so ging ich flennend zu Daniel. Sie nahmen mich auf, diese Lieben, für Wochen. Meine Mutter reiste mit der Tante nach Nancy. Ich sollte sie erst als komplett Irre wiedersehen, aber jetzt greife ich vor. Macht man nicht, ich weiß.

Nach drei Wochen oder so etwa, kam der Vadder und sprach mit Daniels. Mein Klassenlehrer saß mit dabei. Ihm habe ich es zu verdanken, weil der Vadder den von Daniel sofort hasste. Da wäre nix gegangen. Um es kurz zu machen, ich durfte als Ergebnis der Verhandlungen ausziehen. Er würde mir Geld geben und ich versprach zu lernen, kam nur an dem Tag des Auszugs heim, holte meinen Kram und zog mit Schnulli, einem Linksintellektuellen aus der Schule, in die Burg.

Wir rasten mit dem gemieteten VW-Bus wie die Gestörten. Alle halfen mit, schleppten und alle wollten mal fahren. Wir hatten ja den Führerschein ganz frisch. Meinen Kram warf es beim Transport umeinander, aber das ist eigentlich total unwichtig jetzt.

Die erste Nacht in der Wohnung war gefühlt ein Horror. Unheimlich, endeinsam. Schon lustig. Wenn man meint, tiefer geht’s nicht, dann lacht wer da oben. Die ganze Nacht hockte ich auf der Matratze. Die Straßenbeleuchtung erhellte alles. Dazu die laute Straße. Das Zimmer war groß, fremd und ungemütlich. Alles gar nicht schön. Das Einzige was blieb, war schmusen mit Hobbie-Kiki. Dabei fühlte ich mich noch behinderter.

Es gibt einfach keine Worte dazu, jedenfalls in meinem Vorrat. Das ausgesuchte Lied sagt, was ich damit meine, obwohl meine Augen leider grün sind. Apropos Lied. Im Radio lief der Hit von Elton John, mit Kiki Dee: ‚Dont’t go on breaking my heart’. So als ob sich jemand einen Scherz erlauben würde. Irgendwie fühlte sich das wie rühren in der Wunde an, aber genug gejammert.

Daniel kam öfters, der Gute, das half natürlich. Er besuchte aber auch Schnulli, mit dem ich mich leider gar nicht verstand. Uns trennten Welten. Kommunismus und Jazz, das war nicht meins. Irgendwann kroch so ein Gefühl hoch, er besucht lieber den anderen, mit dem hat er mehr gemeinsam.

Die Burg, eine Brauerei aus rotem Buntsandstein mit Türmchen, Zinnen und so Zeug, sah von außen toll aus. Innen lebte es sich aber gar nicht besonders. Es gab nie Sonne, herbstbedingt wurde es kalt, der Ölofen war stinkig und das Öl musste ich vom Keller hochholen, aus einem Tank pumpen, eine Sauerei andauernd. Die Nachbarin lebte fürs Butzen. Sprach jedes Mal vom Butzen, wenn sie mich sah, aber ich verstand ihre Winks mit den Pfählen gar nicht. Und selbst wenn. Die wäre wohl nie zufrieden gewesen, solange ich nicht alles mit der Zahnbürste glänzend gewienert hätte. Aber die Bude war leidlich billig und letztlich okay. Ich hatte das Rauchen angefangen und erst so ausgezogen merkte ich, Mist. Du Vollspast kannst ja gar nichts. Es ist unglaublich, wie viel Geld das ganze Klump kostet, das man tagtäglich braucht. Da bleibt nix für das, was man eigentlich gern hätte. Dann machte ich einen Fehler. Die berühmte Weiche, gestellt in Plus oder Minus, das heißt tatsächlich so, also nach rechts oder links die Fahrt. Unumkehrbar, wenn man drüber gefahren ist und die Meine, die zeigte ins Minus.

Strauchdiebe

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