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Einleitung
Das Prinzip Erde
ОглавлениеNiemals zuvor wurde so viel über die Erde gesprochen wie in jüngster Zeit. Man könnte fast meinen, die Erde sei erst vor Kurzem entdeckt worden. Die Menschen haben unglaublich viele Entdeckungen gemacht: Indigene Völker, die in noch nicht erkundeten Waldgebieten verborgen lebten, neue Lebewesen, ferne Länder und ganze Kontinente … Doch die Erde selbst ist nie wirklich entdeckt worden. Es bedurfte erst der Tatsache, dass wir die Erde verließen und sie von außerhalb sahen, um sie als Erde zu entdecken, als das Gemeinsame Haus und die Weltkugel, wie sie sich vom dunklen Hintergrund des Universums abhebt.
Dies geschah in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts im Zuge der sowjetischen und nordamerikanischen Raumfahrten. Die Astronauten übermittelten uns Bilder, die man niemals zuvor gesehen hatte, und sie beschrieben sie mit bewegenden Worten. So sagten sie zum Beispiel: „Die Erde kommt einem wie ein Weihnachtsbaum vor dem dunklen Hintergrund des Universums vor“; „sie ist unbeschreiblich schön, leuchtend, blau-weiß, sie hat in meiner Hand Platz und ich kann sie mit meinem Daumen verdecken.“ (White 1987) Andere zeigten angesichts der Erde Gefühle der Ehrfurcht und Dankbarkeit, ja sie beteten sogar. Alle kehrten sie aus dem Weltall mit einer neu entfachten Liebe zum Gemeinsamen Haus, unserer guten, alten Erde, unserer Mutter, zurück.
Dieses Bild von der von außerhalb betrachteten Weltkugel wurde via Fernsehen in der ganzen Welt verbreitet und findet sich auf großen Postern in den Schulklassen. Es erweckt in uns ein Gespür für die Heiligkeit und schafft ein neues Bewusstseinsstadium. Aus der Perspektive der Astronauten, vom Weltall aus, bilden Erde und Menschheit eine Einheit. Wir leben nicht nur auf der Erde. Wir sind die Erde, die aufrecht geht, wie es der argentinische Dichter und Sänger Atahualpa Yupanqui ausdrückte (Galasso 1992, 102 und 184). Wir sind die Erde, die denkt, die Erde, die liebt, die Erde, die träumt, die Erde, die verehrt, die Erde, die sich um Andere sorgt. Wir gehören zu den vielen Söhnen und Töchtern, die die Erde hervorgebracht hat und die gemeinsam die große Gemeinschaft des Lebens bilden, angefangen von den Bakterien, den Pilzen, den Viren, den Pflanzen, den Fischen und den Tieren bis hin zu uns Menschen.
Doch in jüngster Zeit sind schwerwiegende Bedrohungen sichtbar geworden, die die Erde in ihrer Gesamtheit betreffen. Daher rührt die neuerliche Sorge um sie, denn sie ist die Vorbedingung von allem: Sie ist es, die die Existenz aller Lebewesen aufrecht erhält und allererst ermöglicht; sie ist die Grundbedingung aller unserer Vorhaben. Ohne die Erde ist nichts möglich (Hart 2006, 61 – 78). Doch die Erde ist nun erkrankt, weil sie Jahrhunderte lang die Aggression vonseiten der Gattung Mensch zu ertragen hatte – jenes Menschen, der zugleich homo sapiens (intelligent) und demens (dumm) ist. Beim Menschen handelt es sich um eine Gattung, die nur allzu oft bewiesen hat, dass sie zum Brudermord, zum Völkermord fähig ist, indem sie Menschen und ganze Ethnien ausgerottet hat, und die nun möglicherweise die Ökosysteme und das Leben vernichtet und auf tragische Weise auch die lebendige Erde selbst töten kann.
Die Daten, die der IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Changes, das heißt der wissenschaftliche Beirat der UNO zu Fragen des Klimawandels) im Zeitraum vom 2. Februar 2007 bis zum 17. November in Valencia veröffentlicht hat, machen uns bewusst, dass wir in eine neue Epoche der Erde eintreten, in die Phase der globalen Erwärmung, die plötzliche und irreversible Veränderungen bewirken wird. Diese Erderwärmung kann je nach Region zwischen 1,4 und 6 Grad Celsius schwanken. Im globalen Durchschnitt wird sie sich zwischen 2 und 3 Grad Celsius bewegen. Diese Erwärmung, die grundsätzlich etwas sein könnte, was der Physiologie der Erde eigen ist, hat sich in den letzten Jahrhunderten durch das Handeln des Menschen stark beschleunigt. Das menschliche Handeln ist nun ihre Hauptursache. Die klimatischen Veränderungen sind anthropogen, das heißt, der Mensch und der von ihm ins Werk gesetzte Industrialisierungsprozess, der nun schon drei Jahrhunderte andauert und seine Spuren in der Umwelt hinterlässt, sind deren Hauptverursacher.
Diese Veränderungen machen sich im Abschmelzen der Polkappen, in Taifunen, in länger anhaltenden Dürreperioden, verheerenden Überschwemmungen, im kontinuierlichen Rückgang der Artenvielfalt, in einer noch nie da gewesenen Wüstenbildung (die bereits 40 % des Bodens betrifft), in einer alarmierenden Trinkwasserknappheit und einer Zerstörung der Wälder bemerkbar. Wenn wir hier nichts unternehmen, erwartet uns ein trostloses Szenario: Das Leben von Millionen Menschen könnte ernsthaft bedroht sein.
So wie wir auf unverantwortliche Weise zur Zerstörung beigetragen haben, müssen wir nun dringend an der Regeneration der Erde arbeiten. Die Heilung der Erde fällt nicht vom Himmel, sie muss vielmehr das Ergebnis unserer Mitverantwortung und einer erneuten Sorge der gesamten Menschheitsfamilie sein (Colon 2007, 108 – 119). Deshalb bildet die Option für die Erde den neuen zentralen Bezugspunkt des weltweiten Denkens und der weltweiten historisch-gesellschaftlichen Praxis. So dramatisch die Situation auch ist: Wir glauben dennoch fest daran, dass der Mensch nach Millionen Jahren Evolutionsgeschichte nicht für ein solch tragisches Ende vorherbestimmt ist. Er hat keinen Grund, zum Satan der Erde zu werden, er kann vielmehr ihr Schutzengel sein. Seine Berufung ist es, für die Erde Sorge zu tragen wie jemand, der einen Garten – wie den Garten Eden – kultiviert (Boff 2002, 89 – 93). Dies ist die Lehre, die den ersten Seiten der Heiligen Schrift der Juden und Christen, die mit dem Buch Genesis beginnt, entnommen werden kann.
Angesichts dieser Situation ist die Erde tatsächlich zum großen Objekt der Sorge und Liebe der Menschen geworden. Sie ist nicht das physische Zentrum des Universums, wie man in der Antike und im Mittelalter annahm, doch sie wurde in den letzten Jahren zum Zentrum der Affektivität der Menschheit (Toolan 2001, 22 – 44). Wir haben keinen anderen Planeten, auf dem wir wohnen könnten. Hier haben wir uns entwickelt. Von hier aus betrachten wir das gesamte Universum. Hier lieben, weinen, hoffen, träumen wir und empfinden Ehrfurcht. Von der Erde aus beginnen wir unsere große Reise zum Jenseits, zum neuen Himmel und zur neuen Erde.
Allmählich entdecken wir, dass der höchste Wert darin besteht, das Weiterbestehen des Planeten Erde – des Erbes, das uns das Universum und Gott übereignet haben, um es zu behüten und zu vervollkommnen – sicherzustellen. Doch dieser Wert besteht auch darin, die physisch-chemischen, ökologischen und geistigen Bedingungen für die Selbstverwirklichung der Gattung Mensch, der gesamten Gemeinschaft des Lebens und jedes einzelnen ihrer Mitglieder so umfassend und solidarisch wie möglich zu garantieren (O’Murchu 2002, 197 – 206).
Aufgrund dieses neuen Bewusstseins sprechen wir vom Prinzip Erde, das eine neue Radikalität begründet. Jeder Wissenszweig, jede Institution, jede spirituelle und religiöse Tradition und jede einzelne Person müssen sich folgende Frage stellen: Was mache ich, um die gemeinsame Heimat, die Erde, zu erhalten und ihre Zukunft zu sichern, die aus dem bereits 13.700 Millionen Jahre alten Universum hervorgegangen ist und es wert ist, weiter zu bestehen? Auf welche Weise trage ich dazu bei, dass die Menschheit weiterhin am Leben bleiben, sich entwickeln und ihr weltweites Projekt verwirklichen kann? Das ist der Sinn unseres vorliegenden Buches „Die Erde ist uns anvertraut“: Die Lösung für die Erde fällt nicht vom Himmel.1
Die hier dargebotenen Überlegungen stehen in engem Bezug zum Hauptanliegen, das uns in den letzten Jahren beschäftigt und seinen Niederschlag in Vorlesungen, Tagungen und Artikeln gefunden hat (s. meine einschlägigen Zeitschriftenartikel und Bücher im Literaturverzeichnis).
All diese Überlegungen haben zum Ziel, eine neue Liebe und ein überwältigendes Gefühl der Ehrfurcht für die Erde zu erwecken. Diese Erde ist, wie wir weiter unten sehen werden, ein lebendiger Großorganismus, sie ist Gaia (griechisch: Erde), unsere gemeinsame Heimat, die Pacha Mama (Mutter Erde) unserer lateinamerikanischen Völker, die Mutter und Schwester des Franz von Assisi und von uns allen. Unser Schicksal ist an das ihre geknüpft. Und weil wir Erde sind, wird es ohne die Erde keinen Himmel für uns geben.
Angesichts der dramatischen Situation aufgrund der Klimaveränderungen scheint es uns dringend notwendig zu sein, das Prinzip Erde und die Option für die Erde zu betonen. Die Heilung der Erde wird das Ergebnis einer neuen Praxis sein, die von der Logik des Herzens, der Sorge, dem Mitleid, der Mitverantwortung, der empfindsamen Vernunft und der spirituellen Intelligenz geprägt ist. Diese Eigenschaften werden uns helfen, zu einem vernünftigen, solidarischen und demokratischen Umgang mit den Ressourcen und Gaben zu finden – sie alle sind endlich, einige sind erneuerbar und andere nicht –, die die Erde für die Gemeinschaft des Lebens bereithält.