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Verneigung vor Leonardo Sciascia 8. Januar 1921 Racalmuto – 20. November 1989 Palermo

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Monika Lustig

Stella polare … un gigante1. Sein Werk gilt es nun endlich wieder und ganz neu zu lesen, zu entdecken, es gründlich zu erforschen. Seine Linie muss unbedingt fortgeführt werden.2 So und ähnlich feurig klingt es anlässlich des 100. Geburtstags des Maestro di Regalpetra3 – Leonardo Sciascia.

Seine Linie, das ist der mit den Waffen der Literatur geführte Kampf um eine gerechte und freie Gesellschaft unter dem Spannungsbogen »Sizilien – Metapher der Welt«. Er, Sciascia, ein unbestechlicher europäischer Aufklärer, ein Mann von fester Überzeugung4, die Wurzeln tief versenkt im schwefelhaltigen Gestein seiner Insel und dem Meer, ja dem Meer stets den Rücken zugekehrt.

Mit diesem Buch, ein pensierino5 zum festlichen Anlass, wagen wir in diesem Sinne einen kämpferischen Schritt und veröffentlichen erstmalig in deutscher Übersetzung zwei seiner historischen Essays (oder literarischen Fallbeschreibungen), entstanden und veröffentlicht in unterschiedlichen Schaffensphasen, zusammengehalten von der thematischen Klammer Inquisition und Folter, die sich wie ein blut- und feuerroter Faden durch Sciascias Werk zieht6. Tod des Inquisitors (Morte dell’inquisitore, 1964) ist der erste, und gewidmet hat Sciascia »sein kleines Buch den Racalmutesern, den lebenden und den toten, von fester Überzeugung«.

Es kreist um den Fall des rebellischen Augustinermönchs Fra Diego La Matina, Sciascias Held, sein idealer Mitbürger aus fernen Zeiten, welcher im Jahr 1657 unter der spanischen Inquisition in Sizilien (1479–1782), einem regelrechten Anti-Staat7, nach mehreren Schauprozessen, wiederholten Galeerenstrafen, Folter und Hohn seinem Peiniger, dem hochwürdigen Inquisitor Juan López de Cisneros mit eisernen Handschellen den Schädel einschlägt. Vom Heiligen Offizium in Palermo nach allen Regeln der Kunst inquisiert und der Seelenhygiene zugeführt, weigert er sich, seine Seele zu retten. Unablässig theologisch argumentierend verschleißt er eine gehörige Anzahl an hochgelehrtem inquisitorischem Personal und schwört auch angesichts des Feuertods nicht ab. Er ist: »Ketzer nicht angesichts der Religion (die [die Sizilianer] auf ihre Weise befolgen oder nicht befolgen), sondern angesichts des Lebens«. Er hält die Menschenwürde hoch: blieb unerschütterlich:/ er verzog keine Miene, hielt den Hals starr und den Oberkörper steif (Dante). Die vermeintliche Häresie, das wird im Laufe der Einkreisung des Falls deutlich, ist sozialer, politischer Natur, ist eine evangelische und damit höchst gefährliche, umstürzlerische Auslegung des rechten Glaubens.

Tod des Inquisitors war Sciascias liebstes, ihm »teuerstes Werk, ein nicht abgeschlossenes«, über das er sich wieder und wieder den Kopf zerbricht, das er versucht ist, immer neu zu schreiben, und es doch nicht tut. Er wird es nie zu Ende schreiben, wartete er doch immerzu auf ein neues Indiz, eine Erkenntnis, die ihm plötzlich aus den vertrauten Dokumenten hell ins Auge scheint. Doch – ging es ihm tatsächlich und ausschließlich um solch ein faktisches Element?


Wir schließen auf zu diesem Nicht-Abgeschlossenen, erkennen das Offene, das Non-finito als politische Ansage: Über den historischen Rahmen des Terrorregimes der spanischen Inquisition hinausgehend ist mit dem Offenen die Inquisition als solche gemeint. Die Inquisition als grausames, menschenverachtendes System, das immer präsent und perpetuierbar bleibt. Und dazu längst auf keinen religiösen Glauben mehr Bezug zu nehmen braucht. Die Beunruhigung, die diese Erkenntnis bei Sciascia auslöst, hat sich offen und wellenförmig ausgebreitet. Die Wellen seiner Beunruhigung reichen ins Hier und Heute, erfassen uns mit Wucht.

»Ich habe mich für die Inquisition interessiert, weil diese weit davon entfernt ist, nicht mehr in der Welt zu existieren«, kommentiert Sciascia die Herausgabe seines Werks und leitet damit über zum zweiten Essay:

Der Mann mit der Sturmmaske. Eine literarische, schmerzhafte Nachzeichnung des Bekenntnisses (oder Geständnisses) vor dem Solidaritätsvikariat in Santiago de Chile eines nach dem Pinochet-Staatsstreich wendehälsigen Chilenen: Unerkannt hinter seiner Maske deutet er im Stadion, ein riesiges Gefangenenlager unter freiem Himmel, auf ehemalige Genossen, deren Identität den Militärs und Folterknechten längst bekannt ist. Mit dem Fingerzeig auf sie fällt er vermeintlich ihr Todesurteil. Das längst feststeht, er muss es angeblich um den Preis des eigenen Lebens mit seiner Geste bekräftigen und steigert so die Perfidie ins Unerträgliche. Von dieser Last nun meint der Verräter sich durch ein Geständnis befreien zu können; doch letztlich wird aus seiner Anhörung eine abscheuliche Feier der Selbstrechtfertigung.

»Man wollte mit dem Mann mit der Sturmmaske ein unauslöschliches, übermächtiges Abbild des Terrors schaffen. Des Terrors der Denunziation ohne Gesicht, des Verrats ohne Namen. Man wollte mit Vorbedacht und makabrem Scharfsinn das Gespenst der Inquisition heraufbeschwören, das einer jeden Inquisition, das der ewigen und immer raffinierteren Inquisition.«


Der Fall des Fra Diego, den Sciascia mit ironisch-kritischen Kommentaren und nachhallenden Fragen zu den jeweiligen Dokumenten – in die Kerkerwände des Palazzo dello Steri eingeritzte Zeugnisse der Eingekerkerten, Folterprotokolle, seriöse, aber auch tendenziöse Geschichtsbücher, bis hin zu phantasieschäumenden Romanzen – einkreist, wird uns wie ein Sezierwerkzeug in die Hand gegeben. Und der Auftrag lautet: die Machtstrukturen unserer Zeitgeschichte bloßzulegen: die eines Systems8, das aufbaut auf einer mit subtilen und unkontrollierbaren Mitteln betriebenen Entfremdung des Menschen von der, von seiner Natur als vernunftbegabtem, mit kritischem Geist, kommunikativer Vernunft, moralischer Urteilsfähigkeit ausgestattetem Wesen. Angefangen bei der Ausschaltung des buon senso, des gesunden Menschenverstands.

»Selbst die Existenz eines so törichten, alles andere als heiligen Tribunals [das Heilige Offizium] war nur möglich, weil es in seiner Umgebung an jedweder intellektuellen Kraft fehlte. In Wirklichkeit gab es keinerlei Häresie, die zu bekämpfen gewesen wäre9

Heldenhaft wäre heute also die Belebung der dem Menschen innewohnenden Kräfte: Vernunft und Kritikvermögen, Zweifel. Mit kritischem Blick tief unter die Oberfläche dessen zu schauen, was wir vor Augen haben, es bis auf die Wurzeln freizulegen. Immer im Bewusstsein der eigenen Wurzeln.

Die Menschenwürde wieder hochhalten, so lautet Sciascias Lektion.


Sciascia erhob seine Stimme an vielen Orten, im literarischen Schreiben, aber auch in den Medien und der aktiven Politik. Als Mitglied der parlamentarischen Ermittlungskommission zur Entführung und Ermordung von Aldo Moro verkündete er 1980 auf dem XXIV. Kongress des Partito Radicale: »[…] leider kann ich nicht zwei Dinge zugleich tun. Und wie ihr seht, aufgrund der Tatsache, mein Amt als Abgeordneter ausüben zu müssen, schreibe ich nicht. Seit über einem Jahr gelingt es mir nicht mehr zu schreiben …« So verließ er Palazzo Montecitorio wieder, also auch den transatlantico, die Wandelhalle, in der die eigentlichen politischen Entscheidungen verabredet werden. Seine unerbittliche Analyse, seinen politischen Verstand, sein moralisches Urteil ließ er weiterhin als geschätzter wie gefürchteter Kommentator in die großen italienischen und internationalen Zeitungen einfließen.


Vermutlich in einer von ihnen bin ich zum ersten Mal auf seinen Namen gestoßen, nachdem ich 1979 auf einer anderen Mittelmeerinsel gelandet war, erste Etappe einer einundzwanzigjährigen italienischen Reise. Kaum dass ich Italienisch lesen konnte, füllte sich mein wanderndes Bücherregal mit Sciascias Romanen und Erzählungen. Heute, angegriffene Preziosen meiner Lehrjahre in der fernen Heimat, stehen sie neben der viele tausend Seiten umfassenden Gesamtausgabe in blauem Leinen; daneben das teilweise auch von mir übersetzte Werk von Sciascias größter Entdeckung als Herausgeber im Verlag Sellerio editore Palermo: der unvergessliche Andrea Camilleri.

Als ich 1993, ein Jahr nach der Ermordung der beiden Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, zum ersten Mal meinen Fuß auf sizilianischen Boden setzte, spürte ich unmittelbar jene vielschichtige arabische Atmosphäre, auf den Märkten, in den Palazzi, in den Gärten, in den Gassen mit ihrem unverwechselbaren Licht. Ich kam trotz der Tragik der, wie viele meinten, vorhersehbaren Ereignisse in den Genuss der Zeugnisse architektonischer und künstlerischer Glanzleistungen: die Zisa, die Chiesa San Giovanni degli Eremiti in Palermo, aber auch die Normannenkathedralen in Monreale und in Cefalù, die stolz ihr arabisches Vermächtnis herzeigen. Ich speiste Couscous in Trapani, kostete in Castelbuono von einem der Produkte der rivoluzione agricola musulmana, der sich die heute nicht mehr wegzudenkenden Reben, Agrumen, Pistazien verdanken – nämlich von dem weißen Pülverchen der Manna-Esche, dem allerlei magische, aphrodisische Wirkung zugeschrieben wird.

Und irgendwann leuchteten die Zeilen von Leonardo Sciascia hell in mein Denken: »Ich habe das Gefühl, dass meine Geburt meinem Aufenthalt hier [in Racalmuto] nachgeordnet ist. Ich war bereits da und wurde dann erst geboren. Es scheint mir, als wüsste ich von meinem Heimatort viel mehr als das, was mein Gedächtnis bewahrt hat und das, was mir andere erzählt haben: etwas Geträumtes, Visionäres, wovon in Fetzen und Fragmenten nicht nur das gegenwärtig ist, was die kurze Genealogie meiner Familie mir vermitteln konnte, sondern auch die gesamte arabische Geschichte des Städtchens. Der Grund dafür ist sehr einfach: Mein Aufenthalt an diesem Ort, und zwar der vor meiner Geburt, beginnt mit den Arabern und durch die Araber.«

Wie tief das arabische Erbe in die Insel eingesickert ist, schildert Sciascia in seinem historischen Roman Das Ägyptische Konzil (Il Consiglio d’Egitto, 1963) um den genialen Fälscher, den maltesischen Mönch Giuseppe Vella, gemeinhin bekannt als der »Arabische Betrug«. Er gilt vielen als sein schönstes Werk und ist ein großartiges, von Ironie getränktes Lehrstück über die Pflicht, uns die Errungenschaften der Zivilisationen – insbesondere die in unverständlichen Sprachen geschriebenen gründlich und mit unverstelltem Blick zu erschließen. Die Folterszene, Opfer der Rechtsgelehrte, der große Aufklärer und jakobinische Verschwörer, Francesco Paolo di Blasi, ist messerscharfe Peinigung für einen humanistischen Geist. Mit großem Gewinn habe ich Das Ägyptische Konzil 2016 für die Andere Bibliothek als Band 377 neu übersetzt.


Sciascias genealogische Festschreibungen reichen weit über seine arabische Vergangenheit hinaus, wenden sich ins Universale. Beim Betrachten des Portraits eines Unbekannten von Antonello da Messina (sein Lieblingsmaler, heute im Museo Mandralisca in Cefalù) schlagen diese eine sozusagen globale Ausrichtung ein. Vincenzo Consolo (1933–2012) hat jenen Unbekannten in seinem Roman Das Lächeln des unbekannten Matrosen (dt. 1996) zu beunruhigendem Leben erweckt.

Diskussionen um die Identität des Mannes, vielleicht gar Symbol eines universellen italienischen Charakters, um die Bedeutung seines Blicks, seiner erotischen Kraft, um das Zweideutige, die sicilianità, hielt Sciascia entgegen: »Wem ähnelt der Unbekannte aus dem Museum Mandralisca? Dem Mafioso vom Land und dem der besseren Viertel, dem Abgeordneten auf den Bänken der Rechten und dem auf denen der Linken, dem Bauern, dem Staranwalt. Er ähnelt dem, der diese Zeilen schreibt (so wurde ihm gesagt) und bestimmt ähnelt er Antonello. Und versucht einmal, den sozialen Stand und das besondere Menschsein dieses Charakters zu bestimmen. Unmöglich. Handelt es sich um einen Adligen oder einen Mann aus dem Volk? Einen Notar oder einen Bauern? Einen ehrlichen Mann oder einen Gauner? Einen Maler Dichter Meuchelmörder?

›Er ähnelt‹, das ist alles.«

1Leitgestirn; ein Gigant.

2Fabio Stassi, zeitgenössischer sizilianischer Autor im Gespräch.

3Titel der bekannten Sciascia-Biographie von Matteo Collura, Mailand 1996.

4Sciascia gehört als Racalmuteser zu den uomini di tenace concetto, wie er sie selbst definiert.

5Kleine Aufmerksamkeit.

6Titus Heydenreich, Die Inquisition in Siziliens Geschichte und Literatur, Tübingen 1987.

Dafür steht auch Sciascias Vorwort zu Alessandro Manzonis Storia della colonna infame (Palermo, 1981). (Geschichte der Schandsäule, aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, mit einem Vorwort von Umberto Eco und einem Nachwort von Michael Stolleis, Mainz 2012, jedoch ohne Sciascia-Vorwort.) Manzoni rekonstruiert darin auf der Grundlage zeitgenössischer Quellen einen Kriminalprozess in Mailand 1630: Zwei angebliche »Pestsalber« sollen, um die Seuche zu verbreiten, die Mauern mit giftigen Substanzen beschmiert haben. Sie wurden aufgrund von unhaltbaren Anschuldigungen gefoltert, verurteilt und auf unvorstellbar grausame Art hingerichtet. Die Schandsäulen dann errichtet anstelle ihrer zerstörten Häuser.

7Diesen Begriff entnehmen wir dem Buch von Francesco Renda, L’Inquisizione in Sicilia, (Palermo, 1997); sinngemäß heißt es im Vorwort: »Die Macht der spanischen Inquisition innerhalb des sizilianischen Staatsgefüges war nicht verfassungskonform oder stand jedenfalls über der Verfassung. Der Anti-Staat missbrauchte seine Macht gegenüber dem Staat. Der theokratische – katholische – absolutistische Staat, die spanische Monarchie, stellte sich dem laizistischen Staat entgegen, der gegenüber den Forderungen der Moderne auf andere Weise offen war. Was in Sizilien ausgefochten wurde, war kein lokales Streitgeplänkel, sondern ein Aspekt und ein Moment des ideologischen und politisch-religiösen Kampfes, der seine Wurzeln sehr tief in der spanischen Geschichte versenkte.«

8Wäre es nicht absolut irreführend, könnte man auch die Begriffe »Supermacht« und »global« mitdenken, aber in Zeiten der Verschwörungstheoretiker wird ja gefährlicherweise wenig gedacht.

9Américo Castro, España en su Historia – Cristianos, moros en judíos, Madrid 1948.

Ein Sizilianer von festen Prinzipien

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