Читать книгу Das Feuer der Werwölfe - Leonie Graf - Страница 11
Kapitel 7
ОглавлениеMali beobachtete wie die ersten Sonnenstrahlen durch das kleine Scheunenfenster fielen. Sie musste wohl doch etwas geschlafen haben, denn sie fühlte sich fast fit. So leise wie möglich stand sie auf. Sie würde sich jetzt auf den Weg nach Hause machen, und zwar ohne Damian. Mit einem Blick zu ihm vergewisserte sie sich, dass er immer noch schlief. Sie klopfte sich das Heu aus der Kleidung und stieg dann rückwärts die Leiter hinab. Eine der Stufen knarzte etwas, als Mali darauf trat. Mit angehaltenem Atem sah sie zu Damian. Er regte sich jedoch nicht einen Zentimeter. Sein Atem ging immer noch gleichmäßig.
Mali öffnete das Scheunentor einen Spalt breit. Es gab ein leises Quietschen von sich. Sie atmete die frische Luft ein, die ihr draußen entgegenschlug. Dann machte sie sich auf in die Richtung, aus der sie in der Nacht gekommen waren. Ihr Plan war, dass sie jetzt erstmal in Richtung Stadtmitte laufen würde, bis sie wieder wusste, wo sie eigentlich war.
„Ich würde in die andere Richtung laufen, wenn du nach Hause willst“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter Mali. Sie fuhr erschrocken herum. Damian.
„Was machst du denn hier?“, fauchte Mali. „Ich brauche dich nicht. Ich gehe alleine.“
„Mali, du hast versprochen mir zu vertrauen.“ Damian stand jetzt direkt vor ihr und blickte ihr in die Augen.
„Erstens habe ich es dir nicht versprochen und zweitens war die Bedingung, dass du ehrlich bist, was du nicht warst.“ Mali war sauer. Was dachte der eigentlich, was für Spielchen er mit ihr spielen konnte.
„Wenn das, was ich gestern gesagt habe nicht ehrlich war, dann weiß ich auch nicht“, meinte Damian.
Mali knirschte mit den Zähnen. Sie musste zugeben, dass er Recht hatte. Er war wirklich ehrlich gewesen. Er konnte ja nichts dafür, dass ihr die Wahrheit nicht gefiel.
„Also gut.“ Mali zuckte mit den Schultern. „Aber du leistest keinen Widerspruch und ich entscheide, was wir machen, bis wir wieder aus dem Haus raus sind, auch welchen Weg wir dahin nehmen, ist das klar?“
Damian nickte. „Ja, aber ich würde den anderen Weg…“
Mali schnitt ihm das Wort ab.
„Also dann gehen wir.“
Sie schlug ihren Weg ein. Sie wusste nicht, ob es ihr Trotz oder mangelndes Vertrauen war, sie wollte jedoch auf keinen Fall den Weg gehen, den Damian vorgeschlagen hatte. Zügig liefen sie nebeneinanderher, keiner von beiden sagte ein Wort. Sie beide waren in ihre eigenen Gedanken versunken.
Nach ein paar Minuten kamen sie wieder in die Stadt. Mali erinnerte sich an die dunklen Gassen, die sie gestern Nacht entlang gerannt waren, die unheimlichen Schatten, die durch das diffuse Licht der Straßenlaternen auf die Hauswände geworfen wurden, die alles umfassende Stille. Doch jetzt war alles anders. Die Gassen sahen freundlich aus, nicht mehr bedrohlich. Es herrschte reges Treiben. Es war zwar noch früh am Morgen und doch liefen schon einige Menschen zügig durch die Straßen. Die Stille war dem leisen Gemurmel der Leute gewichen. Die Leute schienen fröhlich.
Mali sah eine kleine Traube Leute dicht beieinanderstehen. Sie redeten miteinander. Scheinbar ging es um Klatsch und Tratsch, so wie die Leute ihre Köpfe zusammensteckten.
Mali und Damian stürzten sich in das Labyrinth der Gassen. Plötzlich blieb Mali stehen. Am Ende der Gasse, die sie gerade betreten hatten, sah sie den alten Marktplatz. Er war leer. Wie immer. Seit Mali denken konnte, hatte niemand den Platz betreten. Die Leute mieden ihn und gingen mit gesenktem Kopf daran vorbei, um ihn nicht ansehen zu müssen. In der Mitte des großen, runden Platzes stand ein Brunnen. Der Brunnen war seit Jahren nicht mehr in Betrieb, über dem Rand hingen angetrocknete Algen. Das Rohr, das sich aus einem Steinquader über den Brunnen erstreckte und aus dem früher vermutlich immer das Wasser rausgelaufen war, rostete inzwischen schon. Die Steinwände des Brunnens waren mit Moos bewachsen und die schönen, in den Stein gemeißelten Figuren schon fast nicht mehr zu sehen. Hinter dem Brunnen stand eine große Steintafel. Auf einem kleinen Sockel davor, lagen ein paar, inzwischen schon zu Staub zerfallene, Blumensträuße. Niemand schien sie wegzunehmen. Niemand schien neue, frische dazuzulegen. Auch die Steintafel war schon mit Moos bewachsen, wenn auch nicht so stark wie der Brunnen. Nur wenige der Namen, die auf die Tafel geritzt waren, konnte man gerade noch so entziffern. Alle anderen waren schon komplett verwittert. Es waren viele Namen, sehr viele. Sie standen unter einer Inschrift mit den Worten: Die Verstorbenen. Daneben prangte ein Datum. Die Jahreszahl war ebenfalls zu verwittert, um sie noch lesen zu können, doch den Tag konnte Mali gut lesen. Es war der zweite Juli gewesen.
Mali war schon oft vor dem Platz stehen geblieben. Sie hatte sich jedoch nicht getraut ihn zu betreten. Die Tafel jedoch hatte sie sich immer von der Weite angeschaut, weswegen sie viele der Namen, die hineingeritzt und noch nicht verwittert waren, kannte. May Abraham, Sina Bauer, Max und Cloe Belfour, waren nur die ersten Namen von den insgesamt 518. Mali kannte fast niemanden von diesen Personen. Belfour hieß ein Mädchen aus ihrer Stufe mit Nachnamen, wenn sie sich recht erinnerte, aber der Zusammenhang war ihr unklar. Emma Belfour war ein sehr schüchternes Mädchen. Mali hatte kaum etwas mit ihr zu tun.
Das Denkmal auf dem Platz war sicher schon sehr alt. Es zeugte von irgendeinem Krieg. Mali hatte es jedoch nie gewagt jemanden danach zu fragen. Die Leute wurden komisch, wenn man auf das Thema zu sprechen kam. Sie mieden den Blick auf das Denkmal, sie mieden das Thema und Mali wollte nicht diejenige sein, die das Thema auf den Tisch brachte. Auch ihre Mutter hatte sie nie nach dem Denkmal gefragt. Ihr war schon mehrfach aufgefallen, dass ihre Mutter immer das Gesicht verzog, wenn sie an dem Denkmal vorbeigingen, ganz so, als ob sie Schmerzen hätte. Mali wollte sie nicht auch noch damit belästigen und danach zu fragen. Und alle jüngeren Leute schien es entweder nicht zu interessieren, was damals vorgefallen war, oder die, die es doch interessierte, wussten ebenso wenig wie Mali darüber Bescheid.
Da Mali so abrupt stehen geblieben war, wäre Damian fast in sie hineingelaufen.
„Was ist?“, fragte er.
Mali schüttelte nur den Kopf. Sie wusste jetzt endlich, wo sie waren. Von hier würde sie den Weg nach Hause finden. Es war nicht mehr allzu weit, jedoch musste sie sich eingestehen, dass Damian wirklich recht gehabt hatte. Der Weg, den er davor vorgeschlagen hatte, wäre wirklich kürzer gewesen.
„Du hattest Recht“, gab Mali kleinlaut zu. „Deiner war wirklich der kürzere Weg.“
Sie blickte Damian an. Halb rechnete sie schon mit einer bissigen Bemerkung von wegen, ich habe es dir doch gesagt, oder hättest du mal besser auf mich gehört, doch Damian schwieg nur. Die einzige Regung war ein kurzes Nicken. Dann nahm er Malis Arm und zog sie weiter.
Mali wusste nicht genau, was sie von dieser Reaktion halten sollte, doch sie war froh darüber, dass Damian ihr nicht unter die Nase rieb, dass er doch Recht gehabt hatte. Sie mochte es nicht, wenn sie Fehler machte und jemand ihr dann deutlich zu verstehen gab, dass er besser war als sie.
Als sie dann endlich vor der Haustür ihres Hauses standen, kamen bei Mali die ersten Zweifel. War es eine gute Idee, wieder zurückzukommen? Würde der Leichnam ihrer Mutter immer noch da liegen? Bei dem Gedanken daran drehte sich Malis Magen um. Ihre Hand verkrampfte sich um die Türklinke.
Damian schien ihr ihre Gedanken ansehen zu können. Er legte seine Hand auf Malis und sah sie abwartend an.
„Bereit?“
Mali nickte nur. Dann drückte Damian die Klinke gemeinsam mit Malis Hand herunter. Die Tür war nicht abgeschlossen und schwang nach innen auf. Im Flur war es dunkel. Nur das wenige Licht, das durch den Türspalt zur Küche fiel, warf einen leuchtenden Streifen auf den alten Teppich. Mali tastete nach dem Lichtschalter. Mit einem Flackern ging das Licht an. Alles sah aus wie immer. Die Türen zur Küche und zum Wohnzimmer waren angelehnt. Hinten bei der Treppe stand der alte Wandschrank. Er war aufgestellt worden. Die beiden Leichen waren verschwunden. Mali atmete erleichtert auf. Nichts zeugte mehr von dem Tag. Keine Blutspuren, gar nichts mehr. Nur der Wandschrank stand nicht mehr auf seinem alten Platz. Er thronte mitten im Eingangsbereich. Eine Ecke war abgebrochen. Ansonsten hatte der Schrank seinen Sturz die Treppe hinunter unbeschadet überlebt. Mali wunderte sich immer noch, wie ihre Mutter es geschafft hatte, ihn die Treppe hinunterzustoßen. Sie versuchte sich gegen die aufkommende Erinnerung zu wehren, doch die Bilder zogen an ihrem inneren Auge vorbei: Der herunterfallende Schrank, einer Pistole, der Postbote, ihre Mutter Blut. Um sich abzulenken, ließ Mali ihren Blick wieder durch das Zimmer schweifen. Reste von rot-weißem Absperrband lagen auf dem Boden, ansonsten zeugte nichts mehr von der Arbeit der Polizei. Die Spurensicherung war schon fertig mit ihrer Arbeit.
Mali bückte sich und sammelte alle Reste davon ein. Damian half ihr schweigend dabei. Gemeinsam versenkten sie die Fetzen des Absperrbands in einem Mülleimer. Mit einem lauten Knall ließ Mali den Deckel zufallen, wie als würde sie die Erinnerung darin einsperren.
Mali blieb noch kurz im Wohnzimmer stehen. Sie sah sich um, um zu sehen, ob noch irgendwo Spuren von der Polizei übrig waren, die sie übersehen hatte. Als das nicht der Fall war ging sie wieder hinaus in den Flur. Das Lämpchen von ihrem Anrufbeantworter blinkte rot. Mali drückte auf die Wiedergebetaste. Es ertönte die hohe Stimme einer Polizistin, die Mali darum bat zur Wache zu kommen, um eine Zeugenaussage zu machen. Als der Anrufbeantworter mit einem Piepen zu verstehen gab, dass die Aufnahme zu Ende war, drückte Mali auf die Löschtaste. Sie hatte keine Zeit irgendwelche Zeugenaussagen abzugeben.
Sie drehte sich um und ging zurück ins Wohnzimmer. Halb hatte sie schon vergessen, dass Damian ebenfalls noch da war.
„Ich schaue mal nach, ob ich noch etwas finde, was mir hilft die Aufzeichnungen meiner Mutter besser zu verstehen“, sagte sie.
Damian nickte.
„Willst du mitkommen?“, fragte sie zögerlich.
Damian antwortete ihr nicht. Er trat einfach zu ihr und nahm ihre Hand, als würde er wissen, dass Mali gerade jemanden an ihrer Seite brauchte.
Mali ging langsam auf die Treppe zu, Damian folgte ihr. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte mit suchen, doch irgendwie schien es ihr richtig, sich das Büro ihrer Mutter vorzunehmen, um einen Hinweis auf die verschlüsselten Papiere zu bekommen.
Als Mali den Treppenabsatz erreichte, zögerte sie. Damian verstärkte kurz den Druck um ihre Hand, um ihr zu zeigen, dass er bei ihr war. Mali holte tief Luft, dann stieß sie vorsichtig die Tür zum Arbeitszimmer ihrer Mutter auf. Sie erinnerte sich an den Tag, als sie die Papiere aus dem Schreibtisch genommen hatte. Der alte, hölzerne Schreibtisch, dessen Schönheit ihr damals so unbedeutend vorgekommen war, stand an einer Wand. Durch das Fenster darüber fiel helles Licht darauf. Damals war sie blind gewesen für seine Schönheit, doch heute empfand sie anders. Der Schreibtisch kam ihr unglaublich schön und wertvoll vor. Außerdem hielt er Erinnerungen für sie bereit. Erinnerungen an ihre Mutter. Doch Mali war nicht bereit sie zuzulassen. Sie wollte nicht anfangen zu weinen. Nicht hier vor Damian.
Mit den Fingern ihrer freien Hand strich sie zärtlich über die Maserungen.
„Er ist wunderschön“, flüsterte sie leise.
Damian nickte.
Mali trat einen Schritt vor und öffnete die dritte Schublade wieder mit dem Schlüssel. Sie hatte ihn die ganze Zeit um den Hals hängen gehabt. Die Schublade war jedoch leer. Auch in den anderen Schubladen, die nicht verschlossen waren, war nichts zu finden. Enttäuscht zuckte Mali mit den Schultern. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte.
„Nichts“, meinte sie nur und stand auf.
„Willst du noch bleiben?“, fragte Damian vorsichtig. Sie beide wussten, dass sich diese Frage nicht nur auf das Arbeitszimmer ihrer Mutter bezog, sondern allgemein gemeint war. Wollte sie noch länger in ihrem Haus bleiben? Eine weitere Nacht, bevor sie ihre Aufgabe in die Hand nehmen sollte, diesen Carlos Vendris zu suchen? Wollte sie das wirklich noch länger aufschieben? Irgendwann, das war Mali klar, musste sie sich der Aufgabe widmen, so unerreichbar deren Lösung auch scheinen mag.
Mali zuckte unschlüssig mit den Schultern.
„Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Eigentlich will ich den Ort hier nicht wieder so schnell verlassen, aber ich habe Angst, dass die Erinnerungen zu stark sind und mich erdrücken werden.“
„Verstehe“ Damian sah zu Boden.
„Nein ich glaube nicht, dass du das verstehst“, antwortete sie eine Spur bissiger als beabsichtigt. Sie war zwar nicht in der Stimmung schon wieder zu streiten, aber sie konnte Damians Art nicht leiden, wie er immer meinte, er würde alles wissen und verstehen. Er hatte nicht so etwas durchgemacht wie sie, er hatte nicht erst vor kurzem seine Mutter verloren. Mali ärgerte sich schon wieder, wie sie hatte so dumm sein können, einzuwilligen, dass er mitkam. Er machte doch bloß Ärger oder nervte sie.
„Gut, vielleicht, habe ich nicht gerade vor ein paar Tagen meine Mutter verloren, aber glaube ja nicht, dass du die einzige bist, die einen geliebten Menschen verloren hat“, schoss Damian zurück. Mali merkte, dass er verletzt war. Er war rot geworden. So viele Gefühle hat er bisher noch nie gezeigt. Noch nie hatte er etwas so Persönliches von sich preisgegeben. Schnell blickte er zur Seite.
„Tut mir leid“ Mali fühlte sich schlecht. Dauernd bildete sie sich Vorurteile über Damian und beurteilte ihn anhand dessen. Dauernd beurteilte und verurteilte sie ihn, obwohl sie ihn kaum kannte.
„Hast du auch deine Mutter verloren?“
Damian sah Mali überrascht an. Dann drehte er wieder den Kopf weg.
„Ich will nicht darüber reden“, murmelte er.
„Damian, wie soll ich dir vertrauen, wenn du dich dauernd vor mir verschließt?“ Mali war wütend. Dauernd wollte dieser Typ etwas über sie erfahren, doch wenn es ihm zu persönlich war, wechselte er sofort das Thema.
Damian raufte sich die Haare.
„Mali, ich verspreche dir, dass ich es dir irgendwann erzähle, aber ich kann es noch nicht. Nicht jetzt, ok?“ Er sah Mali flehend an. „Bitte Mali“
Schließlich willigte Mali ein.
„Gut, wenn du es versprichst.“
„Versprochen.“
Es entstand eine lange Pause. Damian brach das Schwiegen irgendwann.
„Willst du eine Nacht hierbleiben?“
Mali schüttelte den Kopf.
„Nein, ich muss weiter. Ich muss…“ Sie stockte. Sie wusste nicht, wie viel sie Damian anvertrauen konnte. Sollte sie ihm jetzt schon die ganze Wahrheit erzählen? Sie konnte es nicht riskieren. Also entschied sie sich für ein Bruchstück.
„Ich muss in den Wald. Meine Mutter hat mir aufgetragen etwas zu suchen.“ Dass es sich bei diesem Etwas um eine Person handelte, verschwieg Mali.
„Was musst du suchen?“, fragte Damian.
„Ich weiß es nicht“, log Mali.
Damian überlegte.
„Das könnte eine interessante Suche werden, wenn wir nicht mal wissen, wonach wir suchen.“ Er lachte. Mali verstand zwar nicht was an dieser Situation so lustig war, jedoch war sie froh, dass Damian nicht weiter nachfragte.
„Hier finden wir wahrscheinlich nichts mehr“, meinte sie nur und verließ das Zimmer. Damian folgte ihr. Sie gingen wieder nach unten in die Küche. Im Türrahmen blieb Mali kurz stehen. Sie erinnerte sich an ihr letztes Frühstück mit ihrer Mutter. Sie verbannte diese Erinnerung jedoch sofort wieder aus ihrem Kopf. Dafür hatte sie jetzt echt keine Zeit.
„Was ist?“, fragte Damian, der ihr Zögern bemerkt hatte.
„Nichts“, log Mali wieder. Und während sie sich und Damian etwas zu essen machte, fragte sie sich unwillkürlich, ob sie beide jemals an den Punkt kommen würden, dass sie dem anderen so weit vertrauten, dass sie keine Geheimnisse voreinander hatten. Wenn, dann würde das jedoch noch lange gehen, wenn sich Damian weiterhin so benahm, dachte Mali grimmig.
Sie brachen bald auf. Mali holte ihren Rucksack vom Schrank und suchte auch noch den ihrer Mutter. Beide Rucksäcke packten sie voll mit Essen, das sie noch in der Vorratskammer gefunden hatten, vollgefüllten Trinkflaschen und ein paar Wechselklamotten. Mali wusste nicht, wie lange sie unterwegs sein würden, doch sie rechnete mit ein paar Tagen. Hoffentlich nicht mehr, dachte sie verzweifelt.
Gegen Nachmittag standen die Rucksäcke gepackt im Hausflur und Mali und Damian waren gestärkt.
Mali holte ihre Wanderschuhe aus dem Regal und zog sie an. Ein Blick zu Damian zeigte ihr, dass er selbst schon einigermaßen festes Schuhwerk anhatte. Das war gut, so musste sie sich wenigstens nicht auf die Suche nach passenden Schuhen für ihn machen. Mali bezweifelte nämlich stark, dass sie Schuhe in seiner Größe finden würde. Sowohl sie als auch ihre Mutter hatten beide sehr kleine Füße.
Als letztes zog Mali die Papiere ihrer Mutter aus der Jackentasche, faltete sie vorsichtig zusammen und verstaute sie in ihrem Rucksack.
An der Tür blieb sie noch einmal stehen und drehte sich noch einmal um.
„Warte kurz hier“, rief sie Damian schon im Laufen zu. „Ich muss nur noch schnell was holen.“
Zügig lief sie die Treppe hoch und ging in ihr Zimmer. Von ihrem Schreibtisch schnappte sie sich ihr Handy. In einer der komplett überfüllten Schubladen fand sie auch noch ein Ladekabel. Beides in der Hand lief sie wieder nach unten. Dort angekommen stellte sie ihren Rucksack noch einmal ab und packte unter dem kritischen Blick von Damian beides hinein.
„Was willst du denn damit?“, fragte er amüsiert. „Erwartest du, dass es im Wald Steckdosen gibt?“ Er musste grinsen.
„Hältst du mich wirklich für so blöd?“, fragte Mali leicht eingeschnappt. Ohne eine Antwort von Damian abzuwarten, zuckte sie kurz mit den Schultern.
„Wer weiß. Vielleicht sind wir irgendwann froh es doch noch eingepackt zu haben.“
Sie zog den Reißverschluss ihres Rucksackes wieder zu und schulterte ihn. Dann wandte sie sich Damian zu.
„Bereit“, murmelte sie. Damian nickte bloß.
Gemeinsam verließen sie das Haus und Mali zog die Haustür mit einem Ruck hinter sich zu. Sie wusste nicht warum, aber es fühlte sich an, als würde es ein längerer Abschied sein. Sie wusste nicht, wann sie wiederkommen würde. Der Gedanke machte ihr Angst, sodass sie kurz mit dem Gedanken spielte einfach hierzubleiben. Die blöden Papiere waren es vielleicht nicht einmal wert ihren Besitzer zu erreichen. Doch dann zwang Mali sich weiterzugehen. Sie musste die Aufgabe, die ihre Mutter ihr noch gegeben hatte, erfüllen. Sie durfte sie jetzt nicht enttäuschen. Sie musste es zumindest einmal probieren diesen Carlos Vendris zu finden.
Der Stadtteil, in dem Mali wohnte, grenzte direkt an den Wald, weswegen es ein sehr kurzer Fußmarsch bis dahin war. Ein kleiner Weg führte in den Wald hinein, verlor sich jedoch schon bald im Dickicht. Zögerlich machte Mali einen Schritt hinein. Hier war es merklich kühler und dunkler. Es war still. Nur gelegentlich durchbrach ein Knarzen der Bäume die Stille. Das einzige Geräusch waren Malis und Damians Schritte, die sich ihren Weg durch das unebene Unterholz bahnten. Schweigend schlugen sie sich nebeneinanderher durch das Dickicht. Hin und wieder schrammte eine Brombeerranke über Malis Unterarme und hinterließ dort einen Kratzer. So gut es ging wich Mali den Ranken aus. Sie beide konzertierten sich auf den schwierigen Weg. Kleine Äste knackten und Laub stob auf, wo immer sie auch ihre Füße aufsetzten. Gelegentlich hörte man auch noch das Pfeifen eines Vogels oder das beharrliche Pochen eines Spechtes.
Mali gefiel die Stille des Waldes. Seit sie klein war, hatte sie gerne im Wald gespielt. Sie fand es aufregend sich hinter den großen Bäumen zu verstecken und zu warten, ob ihre Mutter sie fand. Meistens hatte sie es aber nicht lange ausgehalten sich zu verstecken und war nach ein paar Minuten schon wieder hinter den Bäumen hervorgesprungen. Ihre Mutter hatte dann jedes Mal so getan, als hätte sie sich fürchterlich erschreckt. Daraufhin hatten sie sich beide immer vor Lachen auf dem Waldboden gewälzt. Bei der Erinnerung an ihre unbeschwerte Kindheit musste Mali schmunzeln. Dann jedoch hatte ihre Mutter ihr eines Tages verboten weiter als hundert Meter in den Wald hineinzugehen. Mali hatte den Grund dafür nie erfahren und würde es wahrscheinlich auch nie erfahren, jetzt da ihre Mutter tot war. Ab dann hatte der Wald an Reiz für sie verloren, weswegen sie nur noch selten hergekommen war.
„Wo sollen wir anfangen zu suchen?“ Damian war stehen geblieben. Auch Mali hielt jetzt an. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie beinahe in ihn hineingelaufen wäre. Mit seiner Frage holte er sie unsanft wieder zurück in die Gegenwart.
„Ich wäre jetzt ins Herz des Waldes gelaufen, um sich dann von innen in Kreisen nach außen zu bewegen“, antwortete Mali. Als Damian nichts antwortete fügte sie noch leise hinzu: „So machen die das zumindest immer in meinen Büchern.“
Damian nickte nur. Dann meinte er: „Der Wald ist groß. Es wird gute drei Stunden dauern, bis wir in der Mitte sind und ab dann wird es erst richtig schwierig, das ist dir klar, oder?“
Mali zögerte, doch dann nickte sie. Was hatten sie für eine andere Wahl. Das war die einfachste Art, den ganzen Wald zu durchkämmen, auch wenn es sehr lange dauern konnte. Aber sie musste das Risiko eingehen. Sie musste es schaffen Carlos Vendris zu finden.
„Also gut“, meinte Damian. Dann zeigte er etwas schräg in den Wald hinein. „Da entlang.“
„Woher weißt du das?“, fragte Mali.
„Da werden die Bäume immer dichter. Ungefähr in dieser Richtung müsste das Zentrum liegen.“ Damian lief los. Etwas verdutzt blieb Mali zurück, doch dann lief auch sie los, immer tiefer in den Wald hinein. Sie hoffte, dass es nicht allzu lange dauern würde, bis sie Carlos gefunden hatte. Auf drei oder mehr Tage hier im Wald mit einer mürrischen Begleitung an ihrer Seite war sie nicht so erpicht, obwohl sie sich immer als kleines Kind vorgestellt hatte, alleine im Wald zu leben und sich durchzuschlagen. Aber in ihrer Vorstellung war sie eben stets alleine unterwegs gewesen. Und wenn sie doch eine Begleitung dabeigehabt hätte, dann wäre es ihre Mutter gewesen und nicht ein Junge wie Damian. Doch jetzt, da sie älter war, fand Mali diese Vorstellung im Wald überleben zu müssen nicht mehr ganz so traumhaft.
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