Читать книгу Literatur? Skandal! - Leonie Langer - Страница 5
ОглавлениеKurzzusammenfassung
Der Journalismus befindet sich in einem ständigen Kampf um Auflagen, Quoten und Klickzahlen; die Medien werden von einer zunehmenden Lust an Skandalen und Krisen beherrscht. Die im Rahmen des Studiengangs Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin im Februar 2013 eingereichte Masterarbeit analysiert am Beispiel zweier Literaturdebatten die neue Empörungsbereitschaft im Journalismus: Im Frühjahr 2012 beschäftigen die Debatten um Christian Krachts Roman Imperium und um Günter Grass’ israelkritisches Gedicht Was gesagt werden muss wochenlang die Medien. Inwiefern diese Skandale von den Medien produziert werden und welche Mechanismen dabei greifen, wird in dieser Arbeit untersucht.
Im Februar 2012 erscheint Christian Krachts Roman Imperium über den Aussteiger August Engelhardt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Kolonien nach Deutsch-Neuguinea aufbricht. Die Geschichte spielt vor dem Horizont der deutschen Kolonialmacht und zweier Weltkriege; der Protagonist trifft auf Antisemiten und wird später selbst zu einem. Im Magazin Der Spiegel unterstellt der Journalist Georg Diez dem Autor Sympathien für das antisemitische und rechtsradikale Denken seiner Figuren. Dieser Kurzschluss vom Protagonisten auf den Autor wird von anderen Medien als Skandal bezeichnet.
Bei Günter Grass hingegen ist der Primärtext, das Gedicht Was gesagt werden muss, der direkte Auslöser des Skandals. In dem reimlosen Prosagedicht, im April 2012 in der Süddeutschen Zeitung publiziert, warnt ein Lyrisches Ich vor einem geplanten atomaren Angriff Israels auf den Iran, thematisiert gleichzeitig das eigene lange Schweigen über die von Israel ausgehende Gefahr und begründet das Schweigen mit der Angst, als Antisemit bezeichnet zu werden. Zu einem Skandal wird das Gedicht in erster Linie dadurch, dass die Medien Grass als Lyrisches Ich identifizieren. Besonders durch diese Gleichsetzung von Autor und Sprecher wird nach Meinung der Medien das Gedicht zu einem Skandal, bei dem es primär um den Verfasser geht: Grass, der lange seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS verschwieg, setze sich nun als Israelkritiker, Tabubrecher und Mahner in Szene.
Welche kontroversen Debatten diese beiden Texte in den Medien auslösen und was das über den Journalismus im 21. Jahrhundert verrät, damit setzt sich diese Arbeit kritisch auseinander.
Es werden fünf Thesen in Bezug auf die Mechanismen der Skandalisierung aufgestellt: Skandale werden von den Medien selbst erzeugt, Skandaldebatten sind sprachlich emotional aufgeladen, sie vereinfachen Sachverhalte und drehen sich nicht primär um Inhalte, sondern um Personen, bei Skandaldebatten handelt es sich stets um selbstreferentielle Metadebatten. Es wird untersucht, inwiefern sich diese Thesen an den Skandalen um Christian Kracht und Günter Grass verifizieren lassen.
Darüber hinaus werden die Folgen der Skandalisierung erörtert. Am Beispiel der Debatten um Kracht und Grass wird aufgezeigt, inwiefern Skandale Diskurse anstoßen können, die über die reine Skandalberichterstattung hinausgehen. Bei den beiden untersuchten Fällen sind das drei zentrale Themen: die Diskussion über die Bedeutung von Literatur, Literaturkritik und die Rolle des Schriftstellers, die Diskussion über Faschismus und Antisemitismus sowie über den Journalismus im 21. Jahrhundert.
Die beiden Fälle wurden nicht nur aufgrund ihrer Aktualität als Analysegrundlage ausgewählt, sondern weil durch die differierenden Ausgangssituationen die Analogien der Mechanismen besonders deutlich werden. Denn so unterschiedlich die beiden Fälle auch sind, es lassen sich bestimmte Parallelen in Bezug auf den Umgang der Medien mit ihnen feststellen. Am Beispiel der beiden Debatten wird gezeigt, dass Skandale keine natürlichen Reaktionen auf einen Missstand, sondern die Folge der Mechanismen öffentlicher Kommunikation sind, bei denen die eigentlichen Inhalte allzu schnell sekundär werden.