Читать книгу Literatur? Skandal! - Leonie Langer - Страница 8
Оглавление2. Ausgangssituation und Eigenheiten der zwei Skandale
2.1. Die Skandal-Literatur
Bei einem Skandal handelt es sich um ein „Geschehnis, das Anstoß und Aufsehen erregt“5; eine zweite Wortbedeutung ist „Lärm, Radau“6. Dass es sich bei Christian Krachts Roman Imperium nicht um ein völlig offenkundiges ‚Skandalbuch‘ handelt, wird daran deutlich, dass die ersten Rezensionen in den großen Medien (abgesehen von der taz7) durchweg positiv ausfallen.8 Die Kritiker9 finden nichts Skandalöses an dem Roman über den Aussteiger August Engelhardt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Kolonien nach Deutsch-Neuguinea aufbricht. Die Geschichte spielt vor dem Horizont der deutschen Kolonialmacht und zweier Weltkriege; der Kokosnuss-Verehrer Engelhardt trifft auf Antisemiten und wird später selbst zu einem. Engelhardt ist eine reale historische Person, über ihn ist bereits 2011 ein Roman des eher unbekannten Schriftstellers Marc Buhl erschienen.10
Zwar können einige Passagen, etwa Anspielungen auf Hitler11 und den Holocaust12 sowie rassistische Äußerungen13, als Provokation verstanden werden, aber der Erzähler wahrt, durch die konsequente Verwendung der indirekten Rede und den Duktus eines Erzählers vom Anfang des 20. Jahrhunderts im Stile Thomas Manns, stets eine ironische Distanz zu den Ereignissen und zu dem Protagonisten Engelhardt. Umso konstruierter und dadurch skandalöser wirkt deshalb in den Augen vieler Journalisten der Artikel „Die Methode Kracht“14 des Spiegel-Redakteurs Georg Diez, der dem Autor Sympathien für das antisemitische und rechtsradikale Denken seiner Figuren unterstellt. Als Begründung beruft er sich auf einen E-Mail-Wechsel Krachts mit dem amerikanischen Komponisten David Woodard, der 2011 unter dem Titel Five Years in einem kleinen Verlag erschien.15 So ist es im Falle Krachts nicht der Primärtext, der für den Skandal sorgt, vielmehr wird der Roman durch den Text des Spiegel-Redakteurs skandalisiert und die Medien betrachten den Artikel von Diez als eigentlichen Skandal.
Bei Günter Grass hingegen ist der Primärtext, das Gedicht Was gesagt werden muss16, der direkte Auslöser des Skandals. In dem reimlosen Prosagedicht, das in der Süddeutschen Zeitung publiziert wird, warnt ein Lyrisches Ich vor einem geplanten atomaren Angriff Israels auf den Iran, thematisiert gleichzeitig das eigene lange Schweigen über die von Israel ausgehende Gefahr und begründet das Schweigen mit der Angst, als Antisemit bezeichnet zu werden. Dabei kritisiert es nicht nur Israel, sondern auch die deutschen U-Boot-Lieferungen und fordert eine Waffenkontrolle. Es finden sich viele provokante Formulierungen in dem Gedicht, wie „Erstschlag“, „Volk auslöschen“ oder die den iranischen Diktator Ahmadinedschad verharmlosende Bezeichnung als „Maulheld“. Darüber hinaus ist der Inhalt auf politischer Ebene problematisch, da Vermutungen, wie etwa über die Nuklearbestände Israels und Irans, als Tatsachen formuliert werden.
Zu einem Skandal wird das Gedicht aber in erster Linie erst dadurch, dass sämtliche Medien Günter Grass als Lyrisches Ich identifizieren. Besonders durch diese Gleichsetzung von Autor und Sprecher wird nach Meinung der Medien das Gedicht zu einem Skandal, bei dem es primär um den Verfasser geht: Grass, der lange seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS verschwieg, setze sich nun als Israelkritiker, Tabubrecher und Mahner in Szene.
Dafür, dass Was gesagt werden muss so hohe Wellen schlägt, sorgen außerdem das Genre und das Medium: Ein Gedicht in einer Tageszeitung zu veröffentlichen, ist an sich schon ungewöhnlich. Da es ein besonders aktuelles, tagespolitisches Anliegen hat und darüber hinaus bestimmte Charakteristika eines Gedichts – jedenfalls für den Laien – wie Reim und ein klar identifizierbares Versmaß vermissen lässt, stattdessen aber ein sprechendes Ich mit einer eindeutigen Meinung hat, wäre es naheliegend gewesen, einen sachlichen Leitartikel oder Meinungsessay zu schreiben. Eben dies geschieht allerdings nicht. Dass der Verfasser vielmehr den Eindruck erweckt, er wolle sich mit der kunstvollen Form in Szene setzen und möglicher Kritik aus dem Wege gehen, da er sich mit der gewählten Gedichtform stets auf die Kunstfreiheit berufen könne, auch das trägt zum Skandal bei. Das Medium ist darüber hinaus insofern von Bedeutung, als dass davon ausgegangen werden kann, dass das Gedicht nicht so eine große Aufmerksamkeit erlangt hätte, wenn es nicht in einer großen Zeitung, sondern in einem Gedichtband publiziert worden wäre.
2.2. Auslöser und Umfang des Skandals
Beide Skandale beschäftigen die Medien über mehrere Wochen hinweg, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Der Skandal um Christian Kracht wird durch den am 13.2.12 im Spiegel erscheinenden Artikel „Die Methode Kracht“ von Georg Diez ausgelöst. Der Artikel ist mit vier Seiten außergewöhnlich lang für eine Rezension. Er wird drei Tage vor Erscheinen des Romans publiziert, die Leser sowie einige Kritiker kennen das Buch zu diesem Zeitpunkt also noch nicht. Eine Woche ist die Debatte um Imperium Dauerthema im Feuilleton, danach lässt die Berichterstattung deutlich nach. Ab dem 7. März erhält die Debatte noch einen letzten Aufschwung, als sich Kracht mit der Premierenlesung in der Schweiz erstmals seit Beginn des Skandals wieder der Öffentlichkeit präsentiert. Es folgen Aufritte bei der LitCologne, auf der Leipziger Buchmesse und in der Literatursendung Druckfrisch.
Wesentlich länger dauert der Skandal um Günter Grass an. Am 4.4.12 erscheint das Gedicht als Aufmacher in der Süddeutschen Zeitung17, einer der führenden überregionalen Tageszeitungen, die täglich Millionen Leser erreicht. „Ein Aufschrei“ titelt die SZ auf der ersten Seite, auf der ein großes Foto von Günter Grass zu sehen ist; im Feuilleton ist das Gedicht kommentarlos abgedruckt.18 Schon diese Aufmachung und die Wortwahl „Aufschrei“ zeigen: Hier geschieht etwas Großes, Aufsehenerregendes, ja Skandalöses; der Skandal ist also durchaus erwünscht und einkalkuliert. Auch dass das Gedicht nicht nur in Deutschland, sondern darüber hinaus in der italienischen Tagesszeitung La Repubblica und der spanischen El País abgedruckt wird, zeugt von seiner internationalen politischen Dimension.19 Am selben Tag erscheint ein Artikel des Publizisten Henryk M. Broder in der Welt, in dem er das Gedicht heftig kritisiert, Grass beschimpft und ihn als Antisemiten bezeichnet.20 Bei diesem Skandal dauert die Hochphase rund zwei Wochen, während derer die gesamte mediale Aufmerksamkeit deutlich größer ist als bei der Debatte um Imperium. Dass es sich bei Grass um eine andere Größenordnung handelt, wird auch daran deutlich, dass die Bild-Zeitung rege darüber berichtet, während über Kracht nur gemeldet wird, dass er seine Premierenlesung in Berlin absagt.21 Des Weiteren ist die Debatte um Kracht, anders als die um Grass, kein Thema in den Nachrichten.
Dies hat verschiedene Gründe: Christian Kracht ist zwar ein sehr bekannter, allerdings längst kein annähernd so berühmter Autor wie der Literaturnobelpreisträger Günter Grass. Letzterer hat sich schon immer in den politischen Diskurs eingemischt, er gilt als einer der letzten großen und streitbaren Intellektuellen der Bundesrepublik. Zuletzt sorgte sein Bekenntnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, für einen Skandal. Ein weiterer wesentlicher Grund für den unterschiedlichen Verlauf der Debatten liegt im Verhalten der Autoren. Christian Kracht reagiert mit konsequentem Schweigen und Rückzug, während Grass die Debatte durch seine Äußerungen in den wichtigen Medien, darunter neben der SZ22 auch die TV-Sendungen Tagesthemen, heute journal, aspekte und kulturzeit, und durch seine Kritik am medialen Umgang mit seiner Person weiter befeuert23. Kracht dagegen lässt seinen Verlag die für den 22.2.2012 geplante, ausverkaufte Premierenlesung im Deutschen Theater in Berlin absagen und schließt für ein paar Wochen sein Facebook-Profil.24
Ein weiterer Grund für die unterschiedliche Größenordnung der beiden Fälle ist, dass der Skandal um Günter Grass auch eine politische Dimension hat, während es sich bei Christian Kracht um eine reine Feuilletondebatte handelt: Kracht hat einen Roman und Diez einen Artikel darüber geschrieben – Literatur ist Geschmackssache und von jeher eher ein Nischenthema gewesen. Ein Großteil der Deutschen interessiert sich erstens nicht besonders für Literatur im Allgemeinen und zweitens nicht ausgerechnet für den neuen Roman von Christian Kracht. Der Artikel von Diez erschien auf den im hinteren Teil des Blattes zu findenden Literaturseiten des Wochenmagazins Spiegel, das zwar viele Menschen erreicht und hohes Ansehen genießt, dies aber eher im Bereich des politischen Journalismus und weniger als führende Instanz der Literaturkritik. Auch der Journalist Georg Diez hat längst nicht das Ansehen und die Autorität bekannter Literaturkritiker oder Journalisten wie z.B. Marcel Reich-Ranicki oder Frank Schirrmacher. Insofern ist es beinahe erstaunlich, dass das Thema dennoch so lange die Medien beherrscht. Das zeugt von der Skandal-Lust der Medien, die sich mit großem Eifer auf den Fall stürzen. Hinzu kommt, dass zum Zeitpunkt der Kracht-Debatte ein anderer, ungleich größerer Skandal die Medien beherrscht: der um den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, der am 17.2.2012 seinen Rücktritt erklärt – also genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Debatte um Kracht und Diez bereits in vollem Gange ist. Auch wenn es sich bei Kracht ‚nur‘ um eine reine Feuilleton-Debatte und nicht um eine politische handelt, muss die Gleichzeitigkeit der Skandale erwähnt werden, denn es ist durchaus möglich, dass die mediale Aufmerksamkeit um Kracht größer gewesen wäre, hätte es die Debatte um Wulff nicht gegeben.
Da es sich im Fall von Grass um einen politischen Intellektuellen und ein tagespolitisches Gedicht handelt, ist der Skandal von vorneherein auch ein politischer, der neben dem Feuilleton auch Politikressorts und Nachrichtensendungen beherrscht und Äußerungen von Politikern, politische Diskussionen, etwa über das Verhältnis von Israel und Iran sowie Israel und Deutschland, und Reaktionen, wie das Einreiseverbot nach Israel für Günter Grass, evoziert.
2.3. Art der Skandale
Auch in der Art der beiden Skandale liegt ein wesentlicher Unterschied. Vieles spricht dafür, den Skandal um Imperium als Pseudo-Skandal zu betrachten, der von Bellers/Königsberg wie folgt definiert wird: „Ein Pseudo-Skandal soll hier verstanden werden als innerhalb oder außerhalb der medialen Sphäre konstruierter, in der Wirklichkeit keine Entsprechung findender Sachverhalt, der (massen-)medial transportiert sowie von einem breiten Rezipientenkreis wahrgenommen und kommuniziert wird und eine öffentliche Anstoßnahme hervorruft.“25 Da es sich bei Diez’ Kritik um seine persönliche und nicht hinreichend begründete Meinung handelt, die er als Tatsache darzustellen versucht, also um einen konstruierten Sachverhalt, kann man diese Definition als durchaus zutreffend bezeichnen. Des Weiteren heißt es bei Bellers/Königsberg: „Sollte ein Pseudo-Skandal ‚vorsätzlich‘, also ungerechtfertigterweise, willentlich und wider besseren Wissens (zur Erlangung eines eigenen Vorteils) konstru-iert werden, so wäre möglicherweise gerade in dieser Tatsache der ‚wirkliche‘ Skandal zu sehen.“26 Auch dies trifft für den Skandal um Imperium zu: Als das eigentlich Skandalöse wird nicht der Roman von Kracht, sondern das Vorgehen von Diez betrachtet, dem es lediglich um Aufmerksamkeitsgewinn gehe, so die Meinung vieler Journalisten.
Das Gedicht Was gesagt werden muss hingegen kann man nach der Skandaltypologie von Dürr/Zembylas als einen Skandal bezeichnen, der sich auf der Reibungsfläche „Literatur als Gesellschaftskritik – Wider den hegemonialen Konsens“27 abspielt: „Einzelne Literaten und Literatinnen, die sich aus ihrer Warte als ‚kritische Denker und Denkerinnen‘ wahrnehmen, wagen, Inhalte anzusprechen, mit dem Bewusstsein, dass sie auf geringe soziale Akzeptanz stoßen.“28 Der bewusste Tabubruch evoziere auf Seiten der Kritiker häufig einen moralisierenden Sprachduktus, da es sich bei den Tabus um gesellschaftliche Normen handele;29 darunter fällt beispielsweise auch die als Konsens geltende Ablehnung von Antisemitismus. Des Weiteren stilisieren sich die Provokateure als Seher und Mahner, während sie ihren Kritikern Konformismus und Feigheit vorwerfen.30 Sämtliche dieser Phänomene lassen sich im Skandal um Was gesagt werden muss beobachten. Ob es sich um einen ‚Pseudo‘-Skandal oder um einen ‚echten‘ handelt, spielt allerdings für die Medien kaum eine Rolle – in großem Stil berichtet wird über beide.
5 Definition von „Skandal“ laut Online-Duden. Unter: http://www.duden.de/rechtschreibung/Skandal#Bedeutung1. Zuletzt aufgerufen am 20.1.13.
6 Ebd.
7 Andreas Fanzinadeh: „Die fabelhafte Welt des Christian Kracht.“ In: taz, 11./12.2.12.
8 Vgl. z.B. Richard Kämmerlings: „Literatur mit Sonnenkraft.“ In: Welt am Sonntag, 5.2.12; Adam Soboczynski: „Seine reifste Frucht.“ In: Zeit, 9.2.12; Paul Michael Lützeler: „Hitler und die Kokosnuss.“ In: Welt, 11.2.12; Felicitas von Lovenberg: „Ein kultischer Verehrer von Kokosnuss und Sonnenschein.“ In: FAZ, 11.2.12.
9 Aus Gründen der erleichterten Lesbarkeit werden im Text die weiblichen Formen nicht explizit genannt. Sie sind aber stets mitgemeint. Hier sei kurz angemerkt, dass eine auffällige Mehrheit derer, die sich zu den Skandalen äußern, Männer sind.
10 Marc Buhl: Das Paradies des August Engelhardt. Frankfurt am Main: Eichborn 2011.
11 Vgl. Christian Kracht: Imperium. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2012. S. 18f., S. 79.
12 Ebd., S. 231.
13 Z.B. über Emma Forsayth, ebd., S. 57.
14 Georg Diez: „Die Methode Kracht.“ In: Spiegel, 13.2.12.
15 David Woodard und Christian Kracht: Five Years. Hannover: Wehrhahn 2011.
16 Günter Grass: Was gesagt werden muss. In: SZ, 4.4.2012.
17 Im Folgenden durch SZ abgekürzt, auch der Verweis auf andere Zeitungen erfolgt mit den gängigen Kürzeln: FAZ, FAS, taz, NZZ.
18 Im Gegensatz zur La Repubblica, die dem Gedicht einen kritischen Kommentar beifügte.
19 Gerüchte, das Gedicht sei auch in der New York Times erschienen, stellen sich als falsch heraus.
20 Vgl. Henryk M. Broder: „Nicht ganz dicht, aber ein Dichter.“ In: Welt, 4.4.12.
21 „Autor Kracht sagt Lesung nach Vorwürfen ab.“ Unter: http://www.bild.de/regional/berlin/berlin-regional/autor-kracht-sagt-lesung-nach-vorwuerfen-22656516.bild.html (dpa), 15.2.12. Zuletzt aufgerufen am 20.1.13.
22 Günter Grass im Interview mit Heribert Prantl: „Ich kritisiere eine Politik, die Israel mehr und mehr Feinde schafft.“ In: SZ, 7./8./9.4.12.
23 Vgl. ebd.: „Es gibt einen Hordenjournalismus gegen mich, bis in die Formulierungen hinein.“
24 Dies geschah aus Angst vor Beschimpfungen, wie eine Anfrage der Verfasserin bei Marco Verhülsdonk, Leiter der Online-Kommunikation des KiWi Verlags ergab.
25 Jürgen Bellers und Maren Königsberg: Skandal oder Medienrummel? Starfighter, Spiegel, Flick, Parteienfinanzierung, AKWs, „Dienstreisen“, Ehrenworte, Mehmet, Aktenvernichtungen. Münster: Lit Verlag 2004, S. 7.
26 Bellers/Königsberg: Skandal oder Medienrummel?, S. 7.
27 Claudia Dürr und Tasos Zembylas: „Konfliktherde und Streithähne.“ In: Neuhaus/Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal, S. 78.
28 Ebd.
29 Vgl. ebd.
30 Vgl. ebd.