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Inhaltsverzeichnis

Im Bureau der Firma Oskar Klebinder, Modewestenstoffe en gros, herrschte heute keineswegs rege Tätigkeit. Der Chef war zwar wie alle Tage am Morgen hier gewesen, hatte ein bißchen mit dem Personal gebrummt, und speziell den Kontoristen Neuhäusl, der sich um eine volle halbe Stunde verspätet hatte, für den nächsten Ersten die Kündigung in Aussicht gestellt. Hatte dann in seinem Privatkontor eine heftige Auseinandersetzung mit dem Reisenden Zerkowitz gehabt – »In Wien spazieren gehen, dafür zahl' ich Sie nicht! Fällt mir nicht ein!« hatte man ihn schreien gehört. – Schließlich hatte er dem Fräulein Postelberg unter fortwährendem Husten und Räuspern zwei Briefe diktiert, und dazwischen über den Kohlenstaub in den Stadtbahnzügen geschimpft. Dann aber war er mit der Bemerkung fortgegangen, daß er in einer Stunde wahrscheinlich wieder da sein werde; aber die Drohung machte auf keinen seiner Angestellten Eindruck. Man wußte, daß er mit dem Zehnuhrzug nach Kottingbrunn fahren wollte, wo nachmittag das Rennen stattfand.

An solchen Tagen pflegten die Bureaustunden im Hause Oskar Klebinder, Modewestenstoffe en gros, gemütlich und angenehm zu verlaufen. Denn der Buchhalter Braun, der den abwesenden Chef zu vertreten hatte – Mister Brown wurde er von den drei Bureaufräuleins genannt, obwohl er nach Mährisch-Trübau zuständig war und kein Wort Englisch verstand –, Mister Brown war kein Spielverderber. Er selbst arbeitete zwar gewissenhaft an seinem Stehpult weiter, addierte unverdrossen Ziffernkolonnen, schloß Konti ab und eröffnete neue, aber was rings um ihn geschah, interessierte ihn nicht. Seine Kollegen und Kolleginnen durften sich die neunstündige Bureauzeit vertreiben, wie es ihnen beliebte. Nur wenn die Unterhaltung zu laut wurde, schüttelte er mißbilligend den Kopf.

Laut war die Unterhaltung diesmal nicht. Eine einzige Schreibmaschine klapperte. Das war Fräulein Hartmann, die morgen auf Urlaub ging und ihren Rückstand aufarbeiten mußte. Fräulein Springer las aus dem Tagblatt den Sportbericht vor. Fräulein Postelberg hatte zwei Spiegel auf ihren Schreibtisch gestellt und legte die letzte Hand an ihre neue Frisur. Herr Neuhäusl beschäftigte sich mit der Malträtierung seiner Taschenuhr, der er die Schuld an seiner Verspätung beilegte. Der Praktikant Josef malte traumverloren auf einen Bogen Kanzleipapier mit blauem Bleistift seine Unterschrift, die so schwungvoll war, daß er ohneweiters zum Gouverneur der österreichisch-ungarischen Bank hätte ernannt werden können. Aus dem Lagerraum war die fettige Stimme des Reisenden Zerkowitz zu vernehmen, der irgend jemandem Vorwürfe machte, weil eine Musterkollektion noch immer nicht zusammengestellt war.

»Ethel, wie steht sie mir?« fragte jetzt Fräulein Postelberg, die eben mit ihrer Frisur fertig geworden war.

»Laß dich anschauen! Wirklich großartig, Claire,« sagte Fräulein Springer.

»Claire« und »Ethel« sind für Angestellte einer Manufakturfirma am Franz-Josefs-Kai nicht gerade alltägliche Namen. Keine der beiden Damen hätte ihr Recht auf den schönklingenden Rufnamen aus ihren Tauf-, Geburts- oder sonstigen Dokumenten schwarz auf weiß nachweisen können. Aber dem Fräulein Postelberg konnte man die Berechtigung, sich »Claire« rufen zu lassen, nicht bestreiten. Obwohl sie ein widriges Geschick als schlichte Klara Postelberg in Wien II hatte das Licht der Welt erblicken lassen, so stand sie doch bei dem männlichen Personal aller Häuser, mit denen die Firma Oskar Klebinder in Geschäftsverbindung stand, in dem Ruf, etwas »Französisches«, etwas »echt Pariserisches«, oder, wie der Reisende Zerkowitz, ein gewiegter Frauenkenner, es noch deutlicher ausdrückte, »ein gewisses Etwas« an sich zu haben. Sie bezog den »Chic parisien« im Subabonnement, pflegte auf dem Weg ins und aus dem Bureau in französischen Romanen zu lesen, und hatte im Vorjahr durch den Vortrag eines französischen Chansons bei einem Vereinsabend einen außerordentlichen Erfolg erzielt. Fräulein Springer, die ungarische Korrespondentin, hingegen gab sich, seit sie in einem Wettschwimmen im Dianabad den zweiten Preis erzielt hatte, ganz als sporting girl. Sie verbreitete Angst und Schrecken durch die robuste Art ihres Händedrucks, mit dem sie ihre Freunde und Bekannten aufs äußerste zu mißhandeln pflegte, und hatte es durch Terrorismus im Bureau durchgesetzt, daß ihr Vorname Etelka in das klangvollere Ethel abgekürzt wurde. Sie führte mit Vorliebe Gespräche über amerikanische Mädchenerziehung und über die Stellung der Frau »drüben«, »jenseits des großen Wassers«, und wußte den leichten ungarischen Akzent in ihrer Sprache durch gelegentlich eingestreute »All rights« und »Neverminds« zu verbergen.

Sonja Hartmann hieß wirklich Sonja. Sie stand jetzt auf, stülpte den Deckel über ihre Schreibmaschine und schloß sie ab.

»So. Fertig,« sagte sie. »Zwölf Tage lang rühr' ich jetzt keine Feder an. Außer wenn ich euch Ansichtskarten aus Venedig schick'.«

Sonja Hartmanns bevorstehende Urlaubsreise stand seit zwei Tagen im Mittelpunkt der Erörterungen. Das Ergebnis ihres gestrigen Bittgangs zum Chef – zwölf Tage hatte er bewilligt – war mit Spannung erwartet und eingehend besprochen worden. An der Zusammenstellung der Reiseroute hatte das ganze Bureau mit Eifer und Hingebung mitgearbeitet, für die notwendigen Einkäufe und sonstige Vorbereitungen hatte der welterfahrene Herr Zerkowitz, der Reisende, seinen sachkundigen Rat geliehen. In kaum vierundzwanzig Stunden ging der Zug ab, der Sonja Hartmann aus dem Südbahnperron in märchenhafte Fernen entführen sollte. Und vor drei Tagen hatte noch niemand auch nur die leiseste Ahnung gehabt von dem Glück, das ihr bevorstand. Aber vorgestern hatte Georg Weiner, ihr Freund, von seinem Vater ganz unerwartet dreihundert Kronen als Belohnung für ein bestandenes Kolloquium bekommen. Neunzig Kronen hatte sie selbst in der Sparkassa gehabt, die konnte sie zur gemeinsamen Reisekasse beisteuern. Und für beinahe vierhundert Kronen ließ sich schon ein ganz hübsches Stückchen Welt besehen. Freilich, das Rundreisebillett zweiter Klasse, Wien-Triest-Venedig-Wien – schon gestern war es im Bureau von Hand zu Hand gegangen und gebührend angestaunt worden – war dünn genug und enthielt nicht imponierend viel Blätter. Aber ebenso wie in den amtlichen Communiqués über Monarchenzusammenkünfte oder Ministerbegegnungen die bedeutungsvollen Ergebnisse nicht im Text, sondern zwischen Zeilen verborgen liegen, so sollten die eigentlichen Genüsse der Reise nicht auf den perforierten Blättern des Rundreiseheftes, sondern zwischen ihnen gefunden werden. Schon am Semmering wollte man die Fahrt für einige Stunden unterbrechen und eine Besteigung des Sonnwendsteines unternehmen. Für die Besichtigung Laibachs – Graz kannte Sonja Hartmann schon – und für den Besuch der Adelsberger Grotte war je ein halber Tag vorgesehen. Von Triest aus sollten größere und kleinere Ausflüge nach Pirano, Capo d'Istria und Grado unternommen und der mehrtägige Aufenthalt in Venedig durch einen Abstecher nach Padua unterbrochen werden. Denn Padua – hatte Georg Weiner erklärt –, war doch nicht solch ein Allerweltsreiseziel wie Venedig, sondern lag abseits vom Strome der Globetrotter, und schon eher im Herzen Italiens. Wer in Venedig war, der kennt nur die Fransen Italiens, wer aber in Padua war, kennt auch das Innere, – hatte auch Herr Zerkowitz bestätigt. Padua stand also gleichfalls auf dem Reiseplan, obwohl Sonja eigentlich einen längeren Aufenthalt auf dem Lido vorgezogen hätte. Von Padua aus sollte dann jenes Telegramm an Sonjas Chef, Herrn Klebinder abgehen, über dessen Abfassung es gestern beinahe zu einem Streit zwischen Sonja und Georg Weiner gekommen wäre. Sonja war unbedingt für einen draufgängerischen Text gewesen, für eine Tonart, die den Gedanken an einen Widerspruch von vornherein nicht aufkommen lassen sollte. Georg Weiner hatte einen diplomatischen Entwurf in Vorschlag gebracht, und schließlich hatte man sich auf die Stilisierung: »Durch Unwohlsein Rückfahrt verzögert, ankomme Freitag« geeinigt. Freitag, das ergab zwei volle Tage Urlaubsverlängerung, und die sollten, wenn das Geld langte, auf der Heimreise zu einer Fußwanderung durch das romantische Ennstal verwendet werden.

Sonja zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich in ihren Stuhl zurück, als säße sie schon im Eisenbahnwagen und ratterte an Mürzzuschlag, St. Peter oder Opcina vorbei.

Zwischen neun und neun

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