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I. EINLEITUNG

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Es besteht kein Zweifel, daß auch die Germanen der frühen, vorchristlichen Zeit eine Einrichtung kannten, die in der völkerkundlichen Literatur im allgemeinen als „Blutsbrüderschaft“ bezeichnet wird und bei der durch das Vermischen einiger Blutstropfen der Beteiligten eine Art „künstlicher Verwandtschaft“, ein „verwandtschaftsähnliches“ Verhältnis geschaffen wird.

Alle Belege für die Existenz der germanischen Blutsbrüderschaft stammen aus dem Norden; bei den Kontinentalgermanen scheinen sich keine Spuren dieser urtümlichen heidnischen Institution gehalten zu haben. Von einem global-vergleichenden Standpunkt aus betrachtet ist dies eine höchst merkwürdige und schwer zu erklärende Tatsache, die meines Wissens bisher völlig unbeachtet geblieben ist. Dieser Frage weiter nachzugehen, wäre für die Kenntnis der germanischen Blutsbrüderschaft zweifellos von großer Bedeutung.

Es wäre also – streng genommen – nicht von der germanischen, sondern von der altnordischen oder altskandinavischen Blutsbrüderschaft zu sprechen. Wenn im folgenden dennoch von der „germanischen“ Blutsbrüderschaft die Rede sein wird, so ist das nicht dahingehend zu verstehen, daß „skandinavisch“ und „germanisch“ gleichgesetzt werden, sondern es soll damit in erster Linie die – wenn auch nur in einem bestimmten Teil der Germania belegte – „germanische“ Institution von den entsprechenden Einrichtungen anderer Völker abgehoben werden.1

In Skandinavien, wo das Christentum erst um die Jahrtausendwende Fuß zu fassen vermochte, hatte sich die Erinnerung an diese höchst altertümliche Form der Verbrüderung noch bis in jene Zeit hinein erhalten, in der auf Island die Sagas verfaßt wurden. Blutsbrüderschaft nach überliefertem heidnischen Ritual wird damals aber auch in Skandinavien wohl schon seit langem nicht mehr geschlossen worden sein.

Aus einigen Belegen allerdings geht deutlich hervor, daß die Institution der Blutsbrüderschaft in den Jahrhunderten zwischen der Landnahmezeit und dem endgültigen Durchdringen des Christentums auf Island noch lebendig gewesen sein muß.

Unser Wissen über die germanische Blutsbrüderschaft beruht auf einer Reihe von Belegen in Werken der isländischen und der dänischen Literatur des Hochmittelalters. Die relativ große Zahl der Erwähnungen kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bis auf ganz wenige Ausnahmen tatsächlich nur um Erwähnungen handelt, aus denen man zwar eine Vorstellung von der Häufigkeit und Bedeutsamkeit dieser Einrichtung, nicht aber von ihrer Eigentümlichkeit zu gewinnen vermag.

Eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Rekonstruktion dieser aus früheren Zeiten übernommenen Institution besteht darin, daß die kulturhistorische Zuverlässigkeit gerade derjenigen Stellen, die für die Blutsbrüderschaft und den Rasengang am wichtigsten sind, ziemlich umstritten ist.

Was mag die Ursache für das Verschwinden der altnordischen Blutsbrüderschaft gewesen sein? Es liegt nahe, den Grund dafür in der Christianisierung des Nordens zu suchen. Abgesehen von der Verschiedenartigkeit der Missionierung ist dagegenzuhalten, daß weder bei den Kelten noch bei den Südslawen eine prinzipielle Unverträglichkeit der heidnischen Blutsbrüderschaft mit dem Christentum gegeben war: bei beiden Völkern wurde die althergebrachte Institution der Blutsbrüderschaft in christlichem Sinne umgedeutet und – wenigstens in frühen Zeiten – dem neuen Glauben mehr oder weniger „offiziell“ eingefügt.

Daß die vorchristliche Blutsbrüderschaft zumindest in einigen Fällen als ein Gegenstück der christlichen Eucharistiegemeinschaft, der Brüderschaft all derjenigen, die gemeinsam das Blut Christi getrunken haben, aufgefaßt wurde, geht aus der altirischen Erzählung vom Boroma unzweifelhaft hervor.2 Von großem Interesse scheint mir die spontane Deutung der Blutsbrüderschaft als einer „Art Eucharistie“ zu sein, die Eugen ZINTGRAFF am Ende des vergangenen Jahrhunderts von seinem eingeborenen Dolmetscher erhielt:

Mein Dolmetscher Muyenga, der natürlich auch unter dem Schwur stand, hatte einmal in Kamerun bei einem Missionar gearbeitet. Er belehrte mich nun während des Gelages, Blutsfreundschaft bei den Schwarzen sei so gut, als wenn ein Christ auf die Bibel schwöre. Die Blutsbrüderschaft sei überhaupt das Abendmahl des schwarzen Mannes.3

Sowohl in Irland als auch bei den Südslawen war es durchaus möglich, daß Kleriker sich an einer Verbrüderung durch Blutmischung beteiligten4, daß sie ihre Zeremonien leiteten5, und sogar, daß die Verbrüderung in einer Kirche stattfand6.

Dies scheint doch wohl darauf hinzudeuten, daß sich das Verschwinden der nordgermanischen Blutsbrüderschaft nicht (oder zumindest nicht allein) auf eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Blutsbrüderschaft und Christentum zurückführen läßt. Eine der Ursachen für das Erlöschen der germanischen Blutsbrüderschaft dürfte vielmehr in der eigentümlichen Ausformung zu suchen sein, welche die Institution der Blutsbrüderschaft meiner Ansicht nach bei den Germanen erfahren hatte und die ihren Charakter entscheidend geprägt zu haben scheint: Die besondere Nähe zur Person und zum Kult Odins7.

Einerseits ist der Abstand zwischen dem Zeitpunkt, zu dem sich die in den Quellen geschilderten Handlungen ereigneten, und dem Zeitpunkt der Abfassung der Texte, die davon berichten, ziemlich groß8, woraus sich bestimmt einige der Unsicherheiten erklären lassen, andererseits deutet vieles darauf hin, daß am Ende der heidnischen Zeit der ursprüngliche „Sinn“ der Institution den Beteiligten selbst nicht mehr zur Gänze bewußt gewesen sein wird und das Wissen um den tieferen Zusammenhang der Handlungen, die beim Verbrüderungsritual Verwendung fanden, schon damals verlorengegangen war. Ich bin der Ansicht, daß die aus frühesten Zeiten übernommene Institution der Blutsbrüderschaft in Skandinavien bereits vor ihrer endgültigen Verdrängung durch das Christentum im Schwinden begriffen gewesen war.9

Darüber hinaus ist noch ein weiterer Umstand in Betracht zu ziehen, der die geringe Anzahl von Beschreibungen der Art und Weise, in der die heidnischen Nordgermanen ihre Blutsbrüderschaften schlossen, zu erklären vermag: genauso wie einem Christen die Feststellung, daß jemand getauft wurde, genügt, und es überflüssig und unsinnig wäre, dabei jedesmal alle Handlungen, die das Sakrament der Taufe umfaßt, aufzuzählen und zu beschreiben, genauso wird für einen Isländer des 9. oder 10. Jahrhunderts der Hinweis, daß zwei Männer Blutsbrüderschaft geschlossen hatten, genügt haben, um ihm dadurch das Ritual und die Konsequenzen ins Gedächtnis zu rufen, die zu diesem Zeitpunkt in Island die Institution der Blutsbrüderschaft ausmachten.10

Vielleicht können diejenigen Stellen, die neben der allgemeinen Charakterisierung der Situation Einzelheiten des Rituals erwähnen, gerade dahingehend gedeutet werden, daß die Erzähler nunmehr ihre Vertrautheit mit den Sitten und Bräuchen der alten Zeiten unter Beweis stellen wollten, indem sie die Blutsbrüderschaft nicht mehr als eine ohnehin wohlbekannte Institution bloß erwähnten oder auf sie anspielten, sondern indem sie Beschreibungen von dieser im hohen Mittelalter auch dem skandinavischen Publikum schon fremd gewordenen und nur mehr vom Hörensagen bekannten Einrichtung der heidnischen Vorzeit in ihre Dichtung einfließen ließen. Gerade die Verfasser der Fornaldarsögur lieben das Motiv der Verbrüderung ganz besonders. In manchen dieser Sagas ist es geradezu eine Art Mode geworden, daß sich die Hauptpersonen bei der ersten sich anbietenden Gelegenheit verbrüdern.

Während sich über die Konsequenzen, die die germanische Blutsbrüderschaft mit sich zog, trotz etlicher Unsicherheiten ein einigermaßen abgerundetes Bild gewinnen läßt, ist die Rekonstruktion des Rituals und somit die Gesamtdarstellung der spezifisch germanischen Blutsbrüderschaftsform höchst problematisch und umstritten.

Seit mehr als einem Jahrhundert hat der sogenannte Rasengang, das „ganga undir jarðarmen“ der altnordischen Texte, der in einem unzweifelhaften, aber schwer zu deutenden Zusammenhang mit dem altskandinavischen Ritual der Blutmischung stand, das Interesse der Forschung angezogen. Zumal jenes „ganga undir jarðarmen“ aber nicht nur beim Abschluß von Blutsbrüderschaften Verwendung fand, sondern auch noch andere, mit einer Verbrüderung offenbar nicht zusammenhängende, Funktionen haben konnte, stand der Rasengang und die Deutung seiner verschiedenartigen Anwendungsmöglichkeiten fast ausschließlich im Mittelpunkt des Forschungsinteresses; der Verbrüderung durch das Vermischen des Blutes hingegen, deren Symbolik auch dem modernen Menschen noch irgendwie verständlich, wenngleich in ihrer Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit sicherlich nicht wirklich nachvollziehbar erscheint, würde in allen Untersuchungen, die diesen Fragekreis berühren, viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Zwar gibt es seit Jacob GRIMM eine beträchtliche Anzahl von Arbeiten zur Problematik des Rasengangs11, die Blutsbrüderschaft wurde jedoch in all diesen Unteersuchungen der Problematik des Rasengangs ziemlich in den Hintergrund gedrängt.

Eine besondere Schwierigkeit bei der Beschreibung der germanischen Form der Blutsbrüderschaft besteht weiters auch darin, daß sich dieselbe von anderen Formen „künstlicher“ Brüderschaft, die es, wie bei vielen anderen Völkern auch, neben der Verbrüderung durch Blut auch bei den frühen Nordgermanen gegeben hat, kaum abgrenzen läßt. Auch bei einer recht geringen Zahl von Ausnahmen sehe ich meist keine Möglichkeit, zu entscheiden, ob eine Verbrüderung durch Blutmischung oder aber eine der anderen institutionellen Verbrüderungsformen gemeint ist. Auch die Terminologie reicht – vor allem deshalb, weil sich die historische Entwicklung der den Begriffen zugrundeliegenden Gegebenheiten weitestgehend unserer Kenntnis entzieht – nicht aus, um eine scharfe Trennung der Blutsbrüderschaft von anderen Formen vorchristlicher germanischer Brüderschaften zu ermöglichen12. Der Versuch, die nordgermanische Blutsbrüderschaft von den ihr sehr nahe verwandten Einrichtungen der Schwurbrüderschaft und der Eidbrüderschaft um jeden Preis abtrennen zu wollen, wäre schon allein aufgrund unseres relativ bescheidenen Wissens über diesen Bereich der altgermanischen Kultur zum Scheitern verurteilt. Die verschiedenen Verbrüderungsformen, welche die Nordgermanen besaßen, waren wohl trotz aller Unterschiede und aller divergierenden und konvergierenden Entwicklungen, die im Lauf der Zeiten eingetreten sein müssen, letzten Endes doch nur Variationen der selben Grundvorstellung.

Den Mittelpunkt der gegenwärtigen Arbeit wird allerdings die germanische Blutsbrüderschaft bilden, wenngleich die anderen Formen „künstlicher“ Brüderschaft dabei stets im Auge behalten werden sollten.

Nach der deskriptiven Darstellung des Rituals und der Konsequenzen der germanischen Form der Blutsbrüderschaft soll im 4. Teil dieser Arbeit eine möglichst alle in Betracht kommenden Aspekte berücksichtigende Gesamtdeutung des altnordischen fóstbrœðralag versucht werden. Dies ist die eine Hauptaufgabe der folgenden Seiten.

Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß die Institution der Blutsbrüderschaft so gut wie weltweit verbreitet war. Nicht nur die Kelten, Germanen, Slawen, Skythen, Iberer, Lydier, Meder und Araber praktizierten sie13, sondern auch bei einer ganzen Reihe von anderen Völkern Asiens, z. B. den Türken und Mongolen, manchen Stämmen der Chinesen in der Frühzeit ihrer Kultur und insbesondere den Bewohnern des Malaiischen Archipels14, sowie den Ureinwohnern Australiens war diese Einrichtung bekannt. In keinem anderen Erdteil jedoch hat die Besiegelung von Freundschaften und Bündnissen durch das Vermischen einiger Blutstropfen der Betroffenen eine derartige Bedeutsamkeit und eine so erstaunliche Verbreitung erlangt wie in Afrika: dort scheint es – zumindest vor dem Eindringen der europäischen Zivilisation, der diese wohl jahrtausendealte Institution binnen kurzer Zeit zum Opfer fiel – südlich der Sahara tatsächlich nur sehr wenige Stämme gegeben zu haben, welche die Blutsbrüderschaft nicht kannten15. Ob diese Einrichtung auch der Urbevölkerung Amerikas bekannt war, oder ob sich die wenigen aus diesem Erdteil stammenden Beschreibungen blutsbrüderschaftsähnlicher Verbindungen auf europäischen Einfluß zurückführen lassen, ist eine rein ethnologische Frage16, die ich nicht beantworten kann und deren Lösung für die gegenwärtige Arbeit kaum von Bedeutung wäre.

Eines aber ist auch so gewiß: die Einrichtung der Blutsbrüderschaft findet sich bei so weit voneinander entfernten Völkern wie etwa den Negerstämmen Äquatorialafrikas, indogermanischen Völkern im Norden und Südosten Europas sowie den Eingeborenen Süd- und Ostasiens, Völkern und Stämmen, die im Verlauf ihrer historischen Entwicklung nie miteinander in Berührung gekommen sein können; an eine Ausbreitung der Institution der Blutsbrüderschaft durch Entlehnung (wenngleich eine solche in manchen Fällen gewiß in Betracht gezogen werden muß) von einem der eben genannten Völker zu den übrigen ist bei der oben angedeuteten weltweiten Verbreitung sicherlich nicht zu denken. Ob es sich aber um eine Erbsituation (die dann auf gemeinsame Ahnen der genannten Völker zurückgehen müßte) oder aber um spontane Parallelschöpfungen handelt, wird sich mit den bisher zur Verfügung stehenden Mitteln kaum entscheiden lassen.

Sollte die so überaus weitverbreitete Einrichtung der Blutsbrüderschaft wie z. B. die in ihrer Struktur und Funktion trotz weltweiter Verbreitung verblüffend „ähnlichen“ Initiationsriten nicht vielleicht eher als eine Ausformung dessen angesehen werden können, was Adolf BASTIAN mit dem Begriff Elementargedanke17 zu erfassen versucht hatte: als Ausdruck einer allgemeinmenschlichen Grundvorstellung? BASTIANs Anregungen wurden zu seiner Zeit heftig bekämpft und fielen dann ziemlich rasch der Vergessenheit anheim. Ich halte es jedoch für unzweifelhaft, daß es sich dabei um eine Fragestellung von allergrößter Bedeutsamkeit handelt, die unmittelbar in den Bereich der Problematik der Konstitution der menschlichen Psyche führt. Verständlicherweise kann es nicht das Ziel dieser Arbeit sein, zu einer „Archetypik der menschlichen Psyche“ vorzustoßen. Die folgenden Ausführungen wollen nur Anstoß zu derartigen Überlegungen sein und – soweit dies bei einem solchen Unternehmen möglich ist – dazu ein reichhaltiges und unmittelbares Anschauungsmaterial bieten.

Die Berechtigung solcher Überlegungen wäre allerdings nur dann gegeben, wenn sich tatsächlich zeigen ließe, daß mit dem von der Völkerkunde geschaffenen Begriff wirklich überall „das selbe“ gemeint ist. Worauf beruht aber letzten Endes diese Annahme? Lassen sich denn bei derartigen räumlichen und zeitlichen Unterschieden überhaupt Vergleiche anstellen, und worin besteht die Vergleichbarkeit? Wenn wir die Institution der Blutsbrüderschaft als eine traditionelle rituelle Vermischung des Blutes der Beteiligten mit der Absicht, dadurch eine nahe Verbindung oder ein Bündnis zu stiften oder zu bekräftigen, zu definieren versuchen und alle anderen mit dem menschlichen Blut verknüpften Riten beiseite lassen, dann zeigt sich tatsächlich, daß sich Entsprechungen dieses „Modells“ in den verschiedensten Kulturen wiederfinden. Innerhalb seines Umrisses scheinen sich dem Versuch, die Elemente, aus denen es jeweils besteht, – auch wenn dieselben aus verschieden gearteten Kulturen stammen – miteinander zu vergleichen, keine grundsätzlichen Bedenken entgegenzustellen.

Nun handelt es sich aber bei der gegenwärtigen Arbeit weder um eine völkerkundliche Untersuchung der Blutsbrüderschaft mit der Absicht, eine neue Theorie derselben zu entwickeln, noch um den Versuch, eine umfassende ethnologische „Gesamttypologie“ zu erstellen, sondern um eine Arbeit, in derem Mittelpunkt die germanische Form der Blutsbrüderschaft steht und bei der das völkerkundliche Material nur um seiner Beziehungen zur Germanistik willen herangezogen wird.

Neben der bereits angedeuteten Aufgabe der Beschreibung und Erklärung der nordgermanischen Form der Blutsbrüderschaft ergibt sich als zweite Hauptaufgabe die Beantwortung der Frage, inwieweit die germanische Blutsbrüderschaft als „typisch“ angesehen werden kann: eine Fragestellung, die meines Wissens von germanistischer Seite noch nie systematisch in Angriff genommen worden ist.18 Es wird danach zu fragen sein, welche Merkmale der germanischen Blutsbrüderschaft sich auch bei anderen Völkern wiederfinden, welche sonst bekannten Züge ihr fehlen, aber auch, ob es sich dabei um Wesentliches, nicht Wegzudenkendes oder nur um Äußerlichkeiten handelt. Möglicherweise wird sich dabei zeigen, daß das eine oder andere Merkmal nur den Nordgermanen eigentümlich war, sonst aber nirgendwo wiederkehrt. Das Ergebnis dieses über die skizzierte „innergermanistische“ Fragestellung noch hinausgreifenden Problemkreises müßte in der Feststellung liegen, wieweit und inwiefern spezifisch germanische Form der Blutsbrüderschaft Teil hat an einer über die einzelnen Kulturen hinausgehenden „Ähnlichkeit“ der zu untersuchenden Institution.

„Typische“ Elemente des Verbrüderungsrituals bzw. typische Konsequenzen der Blutsbrüderschaft sind meiner Auffassung nach solche, die die Institution konstituieren, und zwar nur diejenigen, die bei mehreren genetisch nicht näher verwandten und kulturell voneinander nicht beeinflußten Völkern vorkommen.

Allerdings gibt es in diesem Sinne außer den in meinem Definitionsversuch genannten Grundtatsachen der Blutmischung und der Gemeinschaftsstiftung kein einziges Element, das überall vorkommt. Manche sind relativ selten, manche ziemlich häufig. Je häufiger ein Element in sehr verschiedenen Weltgegenden auftritt, desto „typischer“ wird man es wohl nennen dürfen, je mehr sich seine Verbreitung völliger Isoliertheit annähert, desto eher scheint die Bezeichnung „atypisch“ gerechtfertigt.

Spricht man allerdings von einem völkerkundlichen „Typus der Blutsbrüderschaft“ (etwa synonym mit „der Elementargedanke Blutsbrüderschaft“), dann gäbe es in diesem Sinne natürlich überhaupt keine „atypischen“ Elemente: denn alle Elemente, die als Teile der Blutsbrüderschaft auftreten können, wären in diesem Fall typisch. Eine immer vollständigere Sammlung des Materials würde vermutlich in allen Fällen, wo das Problem der Typik zur Entscheidung steht, immer deutlicher klären können, welche Elemente zu den typischen und welche zu den nur zufällig auftretenden in einer solchen um ihre Typik zu befragenden „Gruppe“ von Phänomenen zu rechnen sei.

Entscheidend ist der Standpunkt, den man einnimmt. Vergleicht man die konstituierenden Elemente der Institution in verschiedenen Kulturen nach typologischen Gesichtspunkten, dann werden sich typische (d. h. mehreren genetisch nicht näher verwandten und kulturell voneinander unabhängigen Völkern gemeinsame) Merkmale erkennen lassen. Sehr seltene bzw. vollständig isolierte Elemente sind von einem solchen übergeordneten, global vergleichenden Blickpunkt aus als nicht typisch (als „atypisch“) anzusprechen. Verändert man nun seinen Standpunkt und betrachtet die zu untersuchende Institution aus dem Blickwinkel desjenigen Volkes, dessen Blutsbrüderschaft in einem oder in mehreren konstituierenden Elementen atypisch ist, dann freilich ist eben dieses Abweichen von der allgemeinen Norm gerade für dieses bestimmte Volk wiederum typisch und signifikativ. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß man nur durch einen Wechsel der Blickrichtung zu einer solchen – eben nur scheinbaren – Doppeldeutigkeit gelangt. Durch die Berücksichtigung der verschiedenartigen Blickrichtungen verschwindet dieser scheinbare Widerspruch.

Doch darf man eines nicht außer acht lassen: die Erkenntnis der jeweils für ein bestimmtes Volk oder einen bestimmten Stamm typischen Elemente ist durch die Erkenntnis der (global vergleichend gesehen) atypischen Elemente bedingt. Nur dann, wenn ich erkannt habe, was allgemein betrachtet typisch oder atypisch ist, kann ich zur Konstatierung des jeweils Besonderen, für eine bestimmte Kultur Typischen vordringen. Ohne den ersten Schritt der Feststellung von typischen bzw. nicht typischen Merkmalen ist auch der zweite, die Erkenntnis des für eine bestimmte Kultur Typischen, nicht möglich.

Die Ausgangsbasis für diesen vergleichenden Teil der Arbeit bilden völkerkundliche Beschreibungen. Zweifellos besitzen dieselben recht unterschiedlichen wissenschaftlichen Wert; manche von ihnen stammen von Forschern oder Missionaren, die Jahre oder sogar Jahrzehnte bei ein und demselben Volk gelebt haben, andere wiederum geben nur den oberflächlichen Eindruck wieder, den europäische Reisende, die sich zufälligerweise einmal gezwungen sahen, mit einem Eingeborenenhäuptling Blutsbrüderschaft zu schließen, von dieser Einrichtung gewonnen hatten.

Besonders wichtig jedoch ist es, sich den Umstand vor Augen zu halten, daß alle unsere Berichte von Außenstehenden stammen, wenn auch zum Teil von Außenstehenden, denen die Mittel der modernen Forschung zu Gebote standen. Trotzdem (um nicht zu sagen: gerade deshalb) wird ihren Augen so manches, was sich nicht nach außen hin kundtut, verborgen geblieben sein. Dazu kommt außerdem noch die Tatsache, daß dann, wenn einer der Beteiligten ein Europäer war, bisweilen ein vereinfachtes Ritual verwendet wurde.19 Sicherlich wissen wir dank der ethnologischen Forschung über die Blutsbrüderschaften der sogenannten „primitiven“ Völker besser Bescheid als über dieselben bei längst erloschenen Kulturen wie etwa der heidnisch-nordgermanischen, wo wir ausschließlich auf Rekonstruktionen angewiesen sind. Es darf jedoch keinesfalls übersehen werden, daß auch die völkerkundlichen Untersuchungen unserer Zeit keineswegs frei von Deutungen und Wertungen sind!

Die germanische Blutsbrüderschaft

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