Читать книгу Krieg und Frieden - Лев Толстой, Leo Tolstoy, Liev N. Tolstói - Страница 23

XXI

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Während im Sall bei Rostows nach den Klängen der vor Ermattung falsch spielenden Musikanten die sechste Anglaise getanzt wurde und die müden Diener und Köche das Abendessen herrichteten, erlitt Graf Besuchow einen sechsten Schlaganfall. Die Ärzte erklärten, es bestände keine Hoffnung auf Genesung mehr. Dem Kranken wurde die Beichte in der Weise abgenommen, daß er dem Geistlichen nur durch Zeichen antwortete, und darauf das Abendmahl gereicht; dann traf man die nötigen Vorbereitungen zur Letzten Ölung, und es herrschte im Haus ein geschäftiges Treiben und eine erwartungsvolle Unruhe, wie sie eben in solchen Augenblicken das Gewöhnliche sind. Außerhalb des Hauses, vor dem Torweg, drängten sich, vor den heranrollenden Equipagen sich verbergend, die Sargmacher, welche eine gewinnbringende Bestellung für das Begräbnis des reichen Grafen erwarteten. Der Oberkommandierende von Moskau, der sonst immer seine Adjutanten geschickt hatte, um sich nach dem Befinden des Kranken erkundigen zu lassen, kam an diesem Abend persönlich, um von dem berühmten Würdenträger aus der Zeit der Kaiserin Katharina, dem Grafen Besuchow, Abschied zu nehmen.

Das prächtige Wartezimmer war voller Menschen. Alle standen respektvoll auf, als der Oberkommandierende, nachdem er ungefähr eine halbe Stunde allein bei dem Kranken gewesen war, von dort wieder herauskam; er erwiderte die Verbeugungen nur durch ein leises Neigen des Kopfes und bemühte sich, möglichst schnell an den auf ihn gerichteten Blicken der Ärzte, Geistlichen und Verwandten vorbeizukommen. Fürst Wasili, der in diesen Tagen recht blaß und mager geworden war, gab dem Oberkommandierenden das Geleit und sagte einige Male leise etwas zu ihm.

Nachdem er den Oberkommandierenden hinausbegleitet hatte, setzte Fürst Wasili sich im Saal ganz allein auf einen Stuhl, legte das eine Bein hoch über das andere, stützte den Ellbogen auf das Knie und bedeckte die Augen mit der Hand. Nachdem er so eine Zeitlang gesessen hatte, stand er auf und ging mit ungewöhnlich raschen Schritten, sich mit ängstlichen Augen nach allen Seiten umsehend, den langen Korridor hinunter nach den hinteren Zimmern des Hauses, zu der ältesten Prinzessin.

Die Personen, die in dem schwach beleuchteten Wartezimmer anwesend waren, sprachen in ungleichem Flüsterton miteinander, verstummten aber jedesmal und blickten mit fragenden, erwartungsvollen Augen nach der Tür, die in das Zimmer des Sterbenden führte und einen schwachen Ton vernehmen ließ, sooft jemand durch sie herauskam oder hineinging.

»Jedem Menschenleben«, sagte ein bejahrter Geistlicher zu einer Dame, die sich neben ihn gesetzt hatte und ihm kindlich-gläubig zuhörte, »jedem Menschenleben ist seine Grenze gesetzt, die man nicht überschreiten kann.«

»Hoffentlich ist es noch nicht zu spät, um ihm die Letzte Ölung zu geben?« fragte die Dame mit Hinzufügung des geistlichen Titels des Angeredeten, als ob sie darüber keine eigene Meinung hätte.

»Das Sakrament, meine Liebe, ist etwas Hohes und Großes«, erwiderte der Geistliche und strich sich mit der Hand über die Glatze, auf der einige zurückgekämmte, halbergraute Haarsträhnen lagen.

»Wer war denn das? War das nicht der Oberkommandierende selbst?« wurde am andern Ende des Zimmers gefragt. »Was er für ein jugendliches Aussehen hat!«

»Und dabei ist er doch schon in den Sechzigern. Ob das wahr ist: es heißt, daß der Graf niemand mehr erkennt? Man wollte ihm schon die Letzte Ölung geben.«

»Ich habe einen gekannt, der siebenmal die Letzte Ölung erhalten hat.«

Die zweite Prinzessin kam mit verweinten Augen aus dem Zimmer des Kranken und setzte sich neben den Doktor Lorrain, der in einer graziösen Pose, mit dem Ellbogen auf den Tisch gestützt, unter dem Porträt der Kaiserin Katharina saß.

»Sehr gut«, antwortete der Arzt auf die Frage, wie ihm das Moskauer Wetter gefalle. »Es ist ein vorzügliches Wetter, ein ganz vorzügliches Wetter, Prinzessin, und dazu kommt noch, daß man hier in Moskau die Empfindung hat, man wäre auf dem Land.«

»Nicht wahr?« sagte die Prinzessin mit einem Seufzer. »Darf er jetzt trinken?«

Doktor Lorrain überlegte.

»Hat er die Medizin eingenommen?«

»Ja.«

Der Arzt sah nach seiner Breguetschen Uhr.

»Nehmen Sie ein Glas abgekochtes Wasser, und tun Sie eine Prise« (er zeigte mit seinen schlanken Fingern, was das Wort Prise bedeutete) »Cremor tartari hinein.«

»Es ist mir noch nie ein Fall vorgekommen«, sagte der deutsche Arzt in sehr mangelhaftem Russisch zu einem Adjutanten, »daß jemand nach dem dritten Schlaganfall am Leben geblieben wäre.«

»Er ist aber auch ein außerordentlich lebenskräftiger Mann gewesen«, erwiderte der Adjutant. »Wem wird nun dieser Reichtum zufallen?« fügte er flüsternd hinzu.

»Dazu wird sich schon ein Liebhaber finden«, antwortete der Deutsche lächelnd.

Alle blickten wieder nach der Tür, die ihren knarrenden Ton hören ließ: die zweite Prinzessin, welche das von Doktor Lorrain verordnete Getränk bereitet hatte, trug es dem Kranken hin. Der deutsche Arzt trat zu Doktor Lorrain.

»Vielleicht zieht es sich doch noch bis morgen vormittag hin?« fragte der Deutsche auf französisch, aber mit schlechter Aussprache.

Doktor Lorrain zog die Lippen in den Mund und bewegte mit strenger Miene den Zeigefinger vor seiner Nase hin und her.

»Heute nacht, nicht später!« sagte er leise mit einem wohlanständigen Lächeln der Selbstzufriedenheit darüber, daß er den Zustand des Kranken so klar erkenne und sich mit solcher Bestimmtheit darüber äußern könne. Darauf verließ er das Zimmer.

Inzwischen öffnete Fürst Wasili die Tür, welche in das Zimmer der ältesten Prinzessin führte.

In dem Zimmer war es halbdunkel; es brannten nur zwei Lämpchen vor den Heiligenbildern, und es roch schön nach Räucherpapier und Blumen. Das ganze Zimmer war mit kleinen Möbelstücken vollgestellt: Chiffonnieren, Schränkchen und Tischchen. Hinter einem Bettschirm waren die weißen Decken eines hohen Federbettes sichtbar. Ein Hündchen fing an zu bellen.

»Ah, Sie sind es, Kusin!«

Sie stand auf und strich sich über das Haar, das bei ihr immer, auch jetzt, so außerordentlich glatt anlag, als wäre es mit dem Kopf aus einem Stück gemacht und dann überlackiert.

»Nun, ist etwas vorgefallen?« fragte sie. »Ich habe einen solchen Schreck bekommen.«

»Nein, es ist nichts geschehen; der Zustand bleibt unverändert. Ich bin nur hergekommen, Catiche1, um mit dir über die vorliegende wichtige Angelegenheit zu sprechen«, sagte der Fürst und ließ sich müde auf den Lehnstuhl nieder, von dem sie aufgestanden war. »Wie warm du ihn gesessen hast«, fuhr er fort. »Nun, setze dich hin und laß uns miteinander reden.«

»Ich glaubte schon, es wäre etwas vorgefallen«, sagte die Prinzessin, setzte sich mit ihrer unveränderlichen Miene steinernen Ernstes dem Fürsten gegenüber und schickte sich an zu hören. »Ich hatte schlafen wollen, Kusin, aber ich bin nicht dazu imstande.«

»Nun, wie steht's, meine Liebe?« sagte Fürst Wasili, ergriff die Hand der Prinzessin und zog sie, wie er sich das nun einmal angewöhnt hatte, nach unten.

Es war klar, daß sich dieses »Wie steht es?« auf mancherlei Dinge bezog, von denen sie beide auch ohne nähere Bezeichnung wußten, daß sie gemeint waren.

Die Prinzessin mit ihrer im Verhältnis zu den Beinen unförmlich langen, hageren, geraden Taille blickte mit ihren vorstehenden grauen Augen den Fürsten offen und ohne Aufregung an. Sie wiegte den Kopf hin und her und schaute mit einem Seufzer nach den Heiligenbildern hin. Man konnte ihre Gebärde sowohl als Ausdruck des Leidens und der Ergebung als auch als Ausdruck der Müdigkeit und der Sehnsucht nach baldiger Erholung auffassen. Fürst Wasili nahm diese Gebärde nur als Ausdruck der Müdigkeit.

»Meinst du etwa, daß ich es leichter habe?« sagte er. »Ich bin abgehetzt wie ein Postpferd; aber ich muß doch mit dir sprechen, Catiche, und zwar sehr ernsthaft.«

Fürst Wasili schwieg; seine Wangen fingen nervös zu zucken an, bald auf der einen, bald auf der andern Seite, und verliehen seinem Gesicht einen unangenehmen Ausdruck, den es sonst niemals trug, wenn er in einem Salon war. Auch seine Augen sahen anders aus als gewöhnlich: bald blickten sie dreist und spöttisch, bald scheu und ängstlich umher.

Die Prinzessin, die mit ihren dürren, mageren Händen das Hündchen auf dem Schoß festhielt, blickte dem Fürsten Wasili aufmerksam in die Augen; aber es war klar, daß sie das Schweigen nicht durch eine Frage unterbrechen würde, und wenn sie bis zum Morgen schweigen müßte.

»Also siehst du, meine liebe Prinzessin und Kusine Katerina Semjonowna«, fuhr Fürst Wasili fort, der sich offenbar nicht ohne einen inneren Kampf dazu entschloß, seine angefangene Rede wiederaufzunehmen, »in solchen Momenten, wie die jetzigen, muß man alles erwägen. Wir müssen an die Zukunft denken, an euch denken. Ich liebe euch alle wie meine eigenen Kinder, das weißt du.«

Die Prinzessin blickte ihn ebenso trübe und starr an wie vorher.

»Schließlich muß ich doch auch an meine Familie denken«, redete Fürst Wasili, ohne die Prinzessin anzusehen, weiter und stieß ingrimmig ein neben ihm stehendes Tischchen von sich weg. »Du weißt, Catiche, daß ihr drei Schwestern Mamontow und dazu noch meine Frau, daß ihr vier die einzigen rechtmäßigen Erben des Grafen seid. Ich weiß, ich weiß, wie schwer es dir wird, von derartigen Dingen zu reden oder auch nur daran zu denken. Und mir wird das wahrlich nicht leichter. Aber, meine Beste, ich bin ein hoher Fünfziger; da muß man auf alles gefaßt sein. Weißt du wohl, daß ich Pierre habe rufen lassen müssen, weil der Graf geradezu auf sein Bild gezeigt und verlangt hat, er solle zu ihm kommen?«

Fürst Wasili blickte die Prinzessin fragend an, konnte aber nicht ins klare darüber kommen, ob sie über das, was er ihr gesagt hatte, nachdachte oder ihn, ohne etwas zu denken, ansah.

»Ich bitte Gott unablässig nur um das eine, Kusin«, antwortete sie, »daß er sich seiner erbarmen und seine herrliche Seele ruhig aus dieser Zeitlichkeit hinscheiden lassen wolle ...«

»Jawohl, ganz gewiß«, fuhr Fürst Wasili ungeduldig fort, indem er sich die Glatze rieb und ärgerlich das vorhin weggestoßene Tischchen wieder zu sich heranzog. »Aber schließlich ... es handelt sich schließlich darum ... du weißt ja selbst, daß der Graf im vorigen Winter ein Testament abgefaßt hat, in dem er mit Übergehung der rechtmäßigen Erben, die wir doch sind, sein ganzes Vermögen diesem Pierre vermacht.«

»Er hat ja eine ganze Menge Testamente gemacht!« antwortete die Prinzessin mit aller Seelenruhe. »Aber Pierre konnte er nichts vermachen; Pierre stammt nicht aus einer richtigen Ehe.«

»Meine Liebe«, sagte Fürst Wasili und drückte das Tischchen fest an sich; er wurde lebhafter und begann schneller zu sprechen, »wie aber, wenn der Graf eine Eingabe an den Kaiser abgefaßt hat und ihn bittet, Pierre zu legitimieren? Du kannst dir wohl denken, daß mit Rücksicht auf die Verdienste des Grafen diese Bitte Beachtung finden würde ...«

Die Prinzessin lächelte wie jemand, der überzeugt ist, eine Sache besser zu verstehen als der, mit dem er redet.

»Ich will dir noch mehr sagen«, fuhr Fürst Wasili fort und ergriff sie bei der Hand. »Geschrieben ist die Eingabe, aber nicht abgeschickt, und der Kaiser hat von ihr erfahren. Die Frage ist nur, ob diese Eingabe wieder vernichtet worden ist oder nicht. Wenn nicht, so wird, sobald alles zu Ende ist« (hier seufzte Fürst Wasili und gab dadurch zu verstehen, was er mit den Worten »sobald alles zu Ende ist« meinte) »und die Papiere des Grafen untersucht worden sind, das Testament mit der Eingabe dem Kaiser zugestellt werden, und das Gesuch des Grafen wird dann unfehlbar erfüllt. Dann erhält Pierre als legitimer Sohn das ganze Vermögen.«

»Aber kann ihm denn unser Anteil zufallen?« fragte die Prinzessin ironisch lächelnd, als ob alles andere passieren könne, nur das nicht.

»Aber, liebe Catiche, das ist doch alles sonnenklar. Er allein ist dann der legitime Erbe der ganzen Hinterlassenschaft, und ihr bekommt auch nicht so viel! Du wirst ja wissen, meine Liebe, ob das Testament und die Eingabe nach ihrer Abfassung wieder vernichtet sind. Und wenn sie aus irgendeinem Grund in Vergessenheit geraten sein sollten, so wirst du ja wissen, wo sie sich befinden, und mußt sie heraussuchen, da ...«

»Das sollte mir fehlen!« unterbrach ihn die Prinzessin spöttisch lächelnd, ohne daß sich der Ausdruck ihrer Augen geändert hätte. »Ich bin eine Frau, und ihr Männer glaubt ja, daß wir Frauen alle dumm sind; aber so viel weiß ich denn doch, daß ein unnatürlicher Sohn nicht erben kann ... Un bâtard!« fügte sie hinzu, in dem Glauben, durch diese Übersetzung dem Fürsten die Unrichtigkeit seiner Anschauung zwingend zu beweisen.

»Aber wie ist es nur möglich, Catiche, daß du das nicht verstehst! Du bist doch so klug; du mußt das doch begreifen: wenn der Graf eine Eingabe an den Kaiser geschrieben hat, in der er ihn bittet, seinen Sohn als legitim anzuerkennen, dann wird infolgedessen Pierre nicht mehr Pierre, sondern Graf Besuchow sein und erbt dann aufgrund des Testaments das ganze Vermögen. Wenn nun das Testament und die Eingabe nicht vernichtet sind, so bleibt dir außer dem tröstlichen Bewußtsein, an dem Grafen ein gutes Werk getan zu haben, und andern schönen Dingen von gleichem Wert nichts, aber auch rein gar nichts. Das ist völlig sicher.«

»Ich weiß, daß das Testament abgefaßt ist; aber ich weiß auch, daß es ungültig ist; Sie scheinen mich ja für eine vollständige Idiotin zu halten, Kusin«, sagte die Prinzessin mit der Miene, mit welcher Frauen zu sprechen pflegen, wenn sie etwas recht Scharfsinniges und Kränkendes zu sagen glauben.

»Meine liebe Prinzessin Katerina Semjonowna!« begann Fürst Wasili ungeduldig von neuem. »Ich bin nicht zu dir gekommen, um mich mit dir herumzustreiten, sondern um mit dir als meiner Verwandten, einer guten, trefflichen, echten Verwandten, über deine eigenen Interessen zu sprechen. Ich sage dir zum zehntenmal: wenn die Eingabe an den Kaiser und das zu Pierres Gunsten abgefaßte Testament in den Papieren des Grafen vorhanden sind, so erbst du, meine Beste, mit deinen Schwestern gar nichts. Wenn du mir nicht glaubst, so glaube sachverständigen Männern: ich habe soeben mit Dmitri Onufriitsch« (dies war der Advokat des Hauses) »gesprochen; er hat genau dasselbe gesagt.«

Offenbar ging jetzt plötzlich irgendeine Veränderung in dem Denkapparat der Prinzessin vor. Ihre schmalen Lippen wurden blaß (die Augen dagegen blieben wie sie gewesen waren), und als sie zum Sprechen ansetzte, klang ihre Stimme so rauh und zornig, wie sie es anscheinend selbst nicht erwartet hatte.

»Das wäre ja noch schöner!« rief sie. »Ich habe nichts für mich gewollt und will nichts für mich.« Sie warf das Hündchen vom Schoß herunter und strich sich den Rock ihres Kleides glatt. »Das ist also sein Dank und seine Erkenntlichkeit Leuten gegenüber, die für ihn alles geopfert haben! Vortrefflich! Sehr schön! Ich verlange für mich nichts, Fürst!«

»Gewiß, aber du bist nicht allein, du hast Schwestern«, antwortete Fürst Wasili. Aber die Prinzessin hörte nicht auf ihn.

»Ich habe es schon längst gewußt, aber ich hatte es wieder vergessen, daß ich in diesem Haus nichts anderes als Gemeinheit, Betrug, Neid, Intrigen und Undank, schwärzesten Undank zu erwarten hatte ...«

»Weißt du oder weißt du nicht, wo sich dieses Testament befindet?« fragte Fürst Wasili mit noch stärkerem Zucken der Wangen als vorher.

»Ja, ich bin dumm gewesen; ich glaubte noch an Menschen und liebte sie und opferte mich für sie auf. Aber Erfolg haben in der Welt nur diejenigen, die schändlich und nichtswürdig sind. Ich weiß, wessen Intrigen dahinterstecken.«

Die Prinzessin wollte aufstehen, aber der Fürst hielt sie an der Hand zurück. Die Prinzessin hatte das Aussehen eines Menschen, der sieht, daß er sich im ganzen Menschengeschlecht getäuscht hat; voll Ingrimm blickte sie den Fürsten an.

»Es ist noch nichts verloren, meine Beste. Bedenke doch, Catiche, daß er dies alles in der Übereilung getan hat, in einem Augenblick des Zornes, in einem Augenblick körperlicher Zerrüttung; und nachher hat er es vergessen. Unsere Pflicht ist es, meine Liebe, den von ihm begangenen Fehler wiedergutzumachen und ihm seine letzten Augenblicke dadurch zu erleichtern, daß wir ihn nicht bei dieser Ungerechtigkeit verbleiben lassen, daß wir ihn nicht sterben lassen mit dem schrecklichen Bewußtsein, diejenigen unglücklich gemacht zu haben, die ...«

»Die alles für ihn zum Opfer gebracht haben«, fiel die Prinzessin ein und wollte wieder aufspringen; jedoch der Fürst hinderte sie daran. »Aber er hat dieses Opfer nie zu schätzen gewußt. Nein, Kusin«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu, »nun weiß ich, daß man auf dieser Welt keinen Lohn für gute Taten zu erwarten hat, und daß es auf dieser Welt keine Ehrenhaftigkeit und keine Gerechtigkeit gibt. Auf dieser Welt muß man listig und schlecht sein.«

»Nun, nun, so beruhige dich doch nur; ich weiß ja, was du für ein gutes, edles Herz hast.«

»Nein, ich habe ein böses Herz.«

»Ich kenne dein Herz«, widersprach der Fürst, »und lege hohen Wert auf deine Freundschaft und wünsche lebhaft, daß du gegen mich die gleiche Gesinnung hegen mögest. Beruhige dich und laß uns vernünftig miteinander reden, solange es noch Zeit ist – vielleicht haben wir noch einen Tag lang Zeit, vielleicht auch nur eine Stunde. Teile mir alles mit, was du von dem Testament weißt, und namentlich, wo es sich befindet; du mußt das doch wissen. Wir wollen es dann nehmen und dem Grafen zeigen. Er hat es sicher schon ganz vergessen und wird den Wunsch haben, es zu vernichten. Du wirst mich ja verstehen: mein einziger Wunsch ist, seinen Willen gewissenhaft zu erfüllen; nur deshalb bin ich ja auch hergekommen. Der einzige Zweck meines Hierseins ist ihm und euch zu helfen.«

»Jetzt habe ich alles durchschaut. Ich weiß, wessen Intrigen dahinterstecken; jetzt weiß ich es«, sagte die Prinzessin.

»Darum handelt es sich doch aber nicht, meine Teure!«

»Es ist Ihr Protegé, Ihre liebe Fürstin Anna Michailowna Drubezkaja, ein Frauenzimmer, das ich nicht als Stubenmädchen haben möchte, diese garstige, widerwärtige Person!«

»Wir wollen doch keine Zeit verlieren.«

»Ach, es ist gar nicht zu sagen! Im vorigen Winter hat sie sich hier eingedrängt und dem Grafen so schändliche, abscheuliche Dinge über uns alle gesagt, besonders über Sofja – wiederholen kann ich es gar nicht –, daß der Graf ganz krank wurde und uns zwei Wochen lang nicht sehen wollte. Ich weiß, daß er in dieser Zeit jenes schändliche, unwürdige Schriftstück abgefaßt hat; aber ich habe gedacht, dieses Schriftstück hätte weiter keine Bedeutung.«

»Das ist gerade der Kernpunkt; warum hast du mir denn nicht schon früher davon gesagt?«

»In dem Mosaikportefeuille ist es, das er unter seinem Kopfkissen liegen hat; jetzt weiß ich es«, sagte die Prinzessin, ohne auf die Frage zu antworten. Dann fuhr sie mit ganz verändertem Wesen beinahe schreiend fort: »Ja, wenn eine Sünde, eine große Sünde an mir ist, so ist es der Haß gegen dieses abscheuliche Weib! Warum drängt sie sich hier ein? Aber ich werde ihr schon noch einmal die Wahrheit sagen; das werde ich tun. Es wird schon der richtige Zeitpunkt dafür kommen!«

Fußnoten

1 = Katerina.

Anm. des Übers.

Krieg und Frieden

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