Читать книгу Auferstehung - Лев Толстой, Leo Tolstoy, Liev N. Tolstói - Страница 26
ОглавлениеEinundzwanzigstes Kapitel.
Als die Besichtigung der corpora delicti beendet war, erklärte der Präsident die gerichtliche Untersuchung für geschlossen. Und ohne Unterbrechung, weil er sich möglichst schnell frei machen wollte, überließ er das Wort dem Staatsanwalt, in der Hoffnung, daß auch dieser ein Mensch sei, der ebenfalls rauchen und zu Mittag essen wollte und sich daher ihrer erbarmen würde. Aber der Staatsanwaltsadjunkt hatte weder mit sich selbst, noch mit ihnen Erbarmen. Dieser Adjunkt war seiner Veranlagung nach dumm. Zudem hatte er das Unglück gehabt, beim Verlassen des Gymnasiums mit einer goldenen Medaille ausgezeichnet zu werden. Auf der Universität erhielt er einen Preis für seine Abhandlung über »Servituten nach dem römischen Recht«. Durch diese Zufälligkeiten war sein Selbstvertrauen im höchsten Grade gewachsen, er war eingebildet und selbstzufrieden geworden. Dazu kamen noch seine Erfolge bei den Frauen. Die Folge von alldem war, daß seine natürliche Dummheit außergewöhnliche Dimensionen annahm. Nachdem er das Wort erhalten hatte, erhob er sich langsam, indem er seine graziöse Figur zur Geltung brachte. Er stützte beide Hände auf den Tisch, neigte ein wenig sein Haupt, warf einen Blick über den ganzen Saal, wobei er jedoch die Angeklagten vermied und begann:
»Der Fall, welcher Ihnen, meine Herren Geschworenen, vorliegt«, so fing er seine während der Vorlesung der Akten und Protokolle vorbereitete Rede an, »ist, wenn man sich so ausdrücken darf, ein typisches Verbrechen.«
Die Rede des Staatsanwaltsadjunkts mußte seiner Meinung nach eine soziale Bedeutung er halten, ähnlich jenen berühmten Reden, die von berühmt gewordenen Advokaten gehalten wurden. Freilich bestand das Publikum nur aus einem Kutscher und drei Frauen, einer Näherin, einer Köchin und Simons Schwester. Aber auch jene Berühmtheiten hatten ebenso angefangen. Sein Prinzip war, immer auf der Höhe der Situation zu fein, d. h. in die Tiefe der psychologischen Bedeutung des Verbrechens einzudringen und die Krebsschäden der Gesellschaft zu entblößen.
»Sie haben, meine Herren Geschworenen, ein, wenn ich mich so ausdrücken darf, für das Ende des Jahrhunderts typisches Verbrechen vor sich, ein Verbrechen welchem, so zu sagen, die spezifischen Merkmale einer beginnenden Auflösung anhaften, einer Auflösung, der in unseren Tagen namentlich jene Schichten der Gesellschaft verfallen, welche den so zu sagen heißesten Strahlen jenes Prozesses ausgesetzt sind . . . «
Der Staatsanwalt sprach lange, wobei er sich einerseits bemühte, sich all der klugen Sachen, die er sich zurecht gelegt hatte, zu erinnern, anderseits und hauptsächlich aber, nicht einen Augenblick stecken zu bleiben, und es so einzurichten, daß seine Rede ununterbrochen eine und eine viertel Stunde dahinfloß.
Nur einmal stockte er und schluckte ziemlich lange. Aber sogleich überwand er die Schwierigkeit und glich die Bresche durch eine verstärkte Beredsamkeit aus. Er sprach bald mit zarter, ein schmeichelnder Stimme, indem er von einem Fuß auf den anderen trat und den Geschworenen in die Augen blickte, bald im ruhigen geschäftsmäßigen Ton, vertieft in das Konzept, und dann wieder mit lauter überführender Stimme, den Blick von den Geschworenen zu dem Publikum wendend. Nur die Angeklagten, die sich mit den Augen an ihm gleichsam festgesogen hatten, sah er nicht ein einziges Mal an. Seine Rede enthielt all das Neueste, was damals in seinem Kreise im Gange war, was für das letzte Wort der wissenschaftlichen Weisheit galt und noch gilt. Da gab es die Theorie der erblichen Belastung, des angeborenen Verbrechertums, Lombroso, Tardieu, Evolution, Kampf ums Dasein, Hypnotismus, Suggestion, Charcot, Decadence, — all das bunt durcheinander.
Der Kaufmann Smeljkow war nach der Auffassung des Staatsanwaltes ein Typus des kraftvollen, unberührten Russen mit seiner freien schrankenlosen Natur. In Folge seiner Vertrauensseligkeit und seines Großmutes fiel er als Opfer einiger tief entsittlichten Persönlichkeiten, unter deren Einfluß er geraten war.
Simon Kartinkin war ein atavistisches Produkt der Leibeigenschaft, ein verschüchterter Mensch, ohne Bildung, ohne Prinzipien, ohne Religion sogar. Jewfimia war seine Geliebte und ein Opfer erblicher Belastung. An ihr konnte man alle Kennzeichen eines degenerierten Subjekts beobachten. Die eigentliche treibende Kraft des Verbrechens war jedoch in der Maslowa verkörpert, die man zu den niederen Vertretern der Decadence zählen mußte. »Dieses Weib«, so sprach der Staatsanwalt, ohne die Maslowa anzusehen, — »hat Bildung gewonnen. Wir haben hier vor Gericht die Aussagen ihrer Wirtin gehört. Sie kann nicht nur lesen und schreiben, sondern auch Französisch. Sie ist eine Waise, die wahrscheinlich die Keime des Verbrechens schon in sich trug. Sie wurde in einer intelligenten adeligen Familie erzogen und hätte sich durch ehrliche Arbeit ernähren können. Aber sie verläßt ihre Wohlthäter, läßt sich von ihren Leidenschaften fortreißen und geht in ein öffentliches Haus. Sie fällt durch ihre Bildung auf und auch, wie Sie, meine Herren Geschworenen, hier von ihrer Wirtin gehört haben, durch ihre Fähigkeit, die Leute mit jener geheimnisvollen, eigentümlichen Kraft zu beeinflussen, welche in neuester Zeit von der Wissenschaft und namentlich von der Schule Charcots erforscht und unter dem Namen Suggestion bekannt geworden ist. Durch eben diese Kraft unterwirft sie sich den russischen Recken, den gutmütigen, zu traulichen Sagenheld und mißbraucht sein Vertrauen, um ihn erst zu berauben und dann erbarmungslos zu morden.«
»Na, da scheint er mir denn doch sich etwas zu hoch verflogen zu haben«, sagte der Präsident, indem er sich lächelnd zum strengen Mitglied hinüberbeugte.
»Ein fürchterlicher Schafskopf!« sagte das strenge Mitglied.
»Meine Herren Geschworen!« fuhr unterdessen mit einer graziösen Taillenwendung der Staatsanwalt fort. »Von Ihrem Machtspruch hängt das Schicksal dieser Menschen ab, aber in Ihrer Macht befindet sich zum Teil auch das Schicksal der ganzen Gesellschaft, die Sie durch Ihr Verdikt beeinflussen. Sie werden sich von der Bedeutung dieses Verbrechens durchdringen lassen, werden sich der Gefahr, welcher die Gesellschaft durch solche, so zu sagen, pathologische Individuen ausgesetzt wird, nicht verschließen, und werden die Gesellschaft, ihre gesunden, unschuldigen Elemente, vor Ansteckung und wahrscheinlichem Untergang wohl zu wahren wissen.«
Und als wäre er selbst von der Bedeutung des zu erwartenden Urteils erdrückt, ließ sich der Staatsanwalt auf seinen Sitz nieder, mit seiner eigenen Rede offenbar aufs höchste zufrieden.
Der Sinn seiner Rede war, abgesehen von den Blumen der Beredsamkeit, — daß die Maslowa den Kaufmann hypnotisiert haben sollte. Nachdem sie sich in sein Vertrauen eingeschlichen hätte, sei sie nach dem Gelds mit dem Schlüssel in sein Zimmer gegangen und hätte ursprünglich alles für sich behalten wollen. Da sie aber von Simon und Jewfimia überrascht wurde, so mußte sie natürlich den Raub mit ihnen teilen. Nachher, um die Spuren des Verbrechens zu tilgen, hätte sie den Kaufmann wieder ins Hotel gelockt und ihn dort vergiftet.
Nach der Rede des Staatsanwaltes erhob sich von der Advokatenbank ein Herr in mittleren Jahren, mit stark ausgeschnittener Weste und hielt eine geschickte Rede zur Verteidigung des Kartinkin und der Botschkowa. Es war der von ihnen für dreihundert Rubel engagierte Rechtsanwalt. Er suchte die beiden zu entlasten und die ganze Schuld auf die Maslowa zu schieben.
Er verwarf die Aussage der Maslowa, daß die Botschkowa und Kartinkin mit ihr zusammen gewesen seien, als sie das Gerd nahm, und bestand darauf, daß ihr Zeugnis, als das Zeugnis einer des Giftmordes überwiesenen, keinen Wert haben könne. Das Geld, die zweitausend fünfhundert Rubel — so sagte der Advokat — konnten von zwei ehrlichen und arbeitsamen Menschen, die von den Gästen zuweilen drei bis fünf Rubel täglich erhielten, sehr wohl erübrigt worden sein. Das Geld des Kaufmanns aber sei von der Maslowa geraubt und irgend jemand übergeben worden oder auch verloren, da sie sich in einem anormalen Zustande befunden hätte. Die Vergiftung hätte die Maslowa allein ausgeführt.
Daher ersuchte er die Geschworenen, den Kartinkin und die Botschkowa von der Entwendung des Geldes freizusprechen. Sollten sie aber die beiden in dieser Hinsicht dennoch für schuldig er achten, so möchten sie doch die vorgefaßte Absicht und die Teilnahme an der Vergiftung ausschließen.
Zum Schluß bemerkte der Advokat mit einem Stich gegen den Staatsanwalt, daß die glänzenden Ausführungen des Herrn Vertreters der Staatsanwaltschaft über die Frage der erblichen Belastung, obgleich sie dieselbe vom wissenschaftlichen Standpunkt beleuchteten, in diesem Falle doch nicht an gebracht seien, da die Botschkowa die Tochter unbekannter Eltern sei.
Der Staatsanwalt trug wütend und bissig etwas in seinem Konzept ein und zuckte in verächtlicher Verwunderung die Achseln.
Darauf erhob sich der Verteidiger der Maslowa und hielt schüchtern und stotternd seine Verteidigungsrede. Ohne die Teilnahme der Maslowa an der Entwendung des Geldes in Abrede zu stellen, bestand er nur darauf, daß sie nicht die Absicht gehabt hätte, Smeljkow zu vergiften, und das Pulver nur dazu gereicht hätte, damit er einschliefe. Er wollte auch etwas Beredsamkeit entwickeln, indem er eine Schilderung unternahm, wie die Maslowa in das lasterhafte Leben von einem Manne hin eingezogen war, der straflos geblieben, während sie jetzt die ganze Schwere ihres Fehltrittes tragen mußte. Aber dieser Exkurs in das Gebiet der Psychologie gelang ihm so schlecht, daß es allen peinlich wurde. Als er von der Hilflosigkeit der Frauen und der Hartherzigkeit der Männer zu stottern begann, unterbrach ihn der Präsident, um ihm die Situation zu erleichtern, und ersuchte ihn, bei der Sache zu bleiben.
Nach diesem Verteidiger erhob sich wieder der Staatsanwalt und begann seine Auffassung von der Vererbung gegen den ersten Rechtsanwalt zu verteidigen. Wenn die Botschkowa auch von unbekannten Eltern abstamme, so werde dadurch die Sicherheit der Vererbungstheorie in keiner Weise gemindert, denn diese Theorie sei von der Wissenschaft so weit fundiert, daß wir nicht nur das Verbrechen von der Vererbung, sondern auch die Vererbung vom Verbrechen herleiten könnten. Was übrigens die Annahme der Verteidigung beträfe, daß die Maslowa zum lasterhaften Lebenswandel von einem fingierten (er sprach das Wort »fingiert« besonders giftig aus) Manne verführt worden sei, so sprächen alle Ergebnisse der Untersuchung vielmehr dafür, daß sie die Verführerin vieler, sehr vieler Opfer gewesen, die durch ihre Hände gegangen seien. Nachdem er das gesagt hatte, ließ er sich wieder siegreich nieder.
Darauf wurde den Angeklagten anheim gegeben, sich zu rechtfertigen.
Jewfimia Botschkowa wiederholte nur, daß sie von nichts gewußt und sich an nichts beteiligt hätte und wies hartnäckig auf die Maslowa hin, als auf diejenige, die die einzige Schuldige sei.
Simon wiederholte nur einige Mal:
»Wie Sie wollen . . . aber schuldlos . . . ohne Grund . . . «
Die Maslowa sagte nichts. Auf das Ersuchen des Präsidenten, das, was sie zu ihrer Verteidigung vorzubringen hätte, zu sagen, erhob sie nur die Augen zu ihm und warf wie ein gehetztes Tier einen Blick um sich herum, senkte dann wieder die Augen und brach in ein lautes Schluchzen aus.
»Was ist Ihnen?« fragte der neben Nechljudow sitzende Kaufmann, als er den sonderbaren Ton vernahm, der diesem plötzlich entfuhr. Dieser Ton war ein zurückgehaltenes Schluchzen.
Nechljudow begriff noch immer nicht die ganze Bedeutung seiner jetzigen Lage und schrieb das kaum zurückgehaltene Schluchzen und die in die Augen tretenden Thränen der Schwäche seiner Nerven zu. Er setzte, um die Thränen zu verbergen, das Pincenez auf und begann sich zu schnauben.
Die Furcht vor der Schande, mit der er sich bedecken würde, wenn jetzt im Gerichtssaale alle seine Schandthat erkennen würden, erstickte die innere Arbeit, die in ihm vor sich ging. Diese Furcht drängte in der ersten Zeit alles andere in ihm zurück.