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Achtes Kapitel
ОглавлениеAls Judah die Augen öffnete, stand die Sonne bereits hoch über den Bergen. Die Tauben flogen scharenweise hin und her und erfüllten die Luft mit dem schimmernden Glanze ihres weißen Gefieders. Gegen Südosten ragte der Tempel auf, dessen vergoldete Zinnen sich reizend vom tiefen Blau des Himmels abhoben. Doch das waren ihm bekannte Dinge, und nur flüchtig streifte sie sein Blick. Neben ihm saß auf dem Diwan ein kaum fünfzehnjähriges Mädchen, das mit leiser Stimme sang und dazu auf einer Harfe spielte, die auf seinen Knien lag.
Als sie bemerkte, daß er erwacht sei, schwieg sie und legte das Instrument beiseite; sie ließ die Hände in den Schoß fallen und blickte ihn erwartungsvoll an.
Die beiden Geschwister stammten aus einem Geschlecht, das unter der Regierung des Herodes zu großem Reichtum gelangt war. Der Vater Judahs war bei aller Anhänglichkeit an sein Volk und dessen religiöse Gebräuche auch dem Könige aufrichtig ergeben gewesen und hatte sich in der Heimat wie im Auslande als dessen treuer Diener erwiesen. Zu wiederholten Malen mit wichtigen Botschaften nach Rom gesandt, hatte er durch sein Auftreten die Aufmerksamkeit des Kaisers Augustus erregt und dessen rückhaltlose Freundschaft gewonnen. Daher fanden sich in seinem Hause manche jener Geschenke, wie Fürsten sie zu spenden pflegen, um der eigenen Eitelkeit zu schmeicheln, als Purpurtogen, elfenbeinerne Sessel, goldene Trinkschalen und ähnliche Gegenstände, die hauptsächlich dadurch hohen Wert erhielten, daß sie von kaiserlicher Hand stammten. Ein solcher Mann mußte reich sein; allein sein Reichtum gründete sich nicht einzig auf die Gunst und Freigebigkeit von Fürsten. Viele der Hirten, die auf den Ebenen und Hügeln bis zum fernen Libanon hin die Herden hüteten, nannten ihn ihren Herrn. In den Seestädten wie im Binnenlande gründete er Handelshäuser. Seine Schiffe brachten ihm Silber aus den Bergwerken Spaniens, den reichsten, die man damals kannte, während seine Karawanen zweimal im Jahre reichbeladen mit Seidenstoffen und Gewürzen aus dem fernen Osten heimkehrten.
Dieser Mann nun ging in der Blüte seiner Jahre, etwa zehn Jahre vor dieser zweiten Periode unserer Erzählung, durch einen Schiffbruch zugrunde, betrauert von ganz Judäa. Er hinterließ neben seiner Gattin zwei Kinder, seinen Sohn Judah und seine Tochter Tirzah.
Wer die beiden Geschwister betrachtete, dem konnte ihre Ähnlichkeit nicht entgehen. Sie hatte dieselben regelmäßigen Züge und zeigte denselben jüdischen Typus wie er. Nur lag auf ihrem Gesichte noch der Reiz kindlicher Unschuld. Die zurückgezogene Häuslichkeit, in der sie lebte, sowie das innige Band, das beide umschlang, erlaubten es ihr, in einem sehr ungezwungenen Morgenkleide zu erscheinen. Ein auf der rechten Schulter befestigter Überwurf, der lose über Brust und Rücken herabfiel und unter dem linken Arme sich schloß, verhüllte ihren Oberkörper nur zum Teile und ließ die Arme ganz sichtbar. Ein Gürtel hielt das Gewand, das kaum bis zu den Knien reichte, um die Lenden fest. Ihr Kopfschmuck war sehr einfach und dabei gefällig; er bestand in einem purpurfarbenen seidenen Häubchen und einem gestreiften, reichgestickten Tuche von demselben Stoffe, welches darüber in dünnen Falten um den Kopf gewunden war, so daß dessen Umrisse deutlich hervortraten. In den Ohren und an den Fingern trug sie goldene Ringe, an den Armen und Knöcheln ebensolche Spangen. Das Haar fiel ihr in zwei langen Flechten über den Rücken. Auf jeder Wange hing gerade vor dem Ohr eine gekräuselte Locke. Man konnte ihr Anmut, Zierlichkeit und Schönheit keineswegs abstreiten.
»Sehr schön, meine Tirzah, sehr schön!« rief Judah wie begeistert.
»Das Lied?« fragte sie.
»Ja, und die Sängerin auch. Es hat griechische Anklänge. Woher hast du es?«
»Erinnerst du dich des Griechen, der vorigen Monat im Theater sang? Es heißt, er sei früher am Hofe des Herodes gewesen und habe wiederholt vor ihm und dessen Schwester Salome gesungen. Er trat gerade nach einem Ringkampfe auf, während das Haus noch vom Lärme widerhallte; allein beim ersten Tone, den er sang, wurde es so stille, daß ich jedes Wort vernehmen konnte. Von ihm habe ich das Lied.«
»Er sang doch in griechischer Sprache!«
»Und ich in hebräischer.«
»Ja; ich bin deshalb auch stolz auf meine kleine Schwester.«
In diesem Augenblick trat Amrah herein und brachte eine Platte mit Waschschüssel, Wasser und Handtüchern. Da Judah kein Pharisäer war, nahm die Waschung keine Zeit in Anspruch. Die Dienerin entfernte sich jetzt, während Tirzah sich daran machte, das Haar des Bruders zu ordnen. War ihr eine Locke zur Zufriedenheit geraten, dann nahm sie den kleinen Metallspiegel, den sie nach Art der jüdischen Frauen im Gürtel trug, und reichte ihn dem Bruder, damit er mit eigenen Augen ihre Kunstfertigkeit sehe. Unterdessen setzten sie ihr Gespräch fort.
»Was sagst du dazu, Tirzah? Ich gehe fort.«
Erschreckt ließ sie die Hände sinken.
»Fort! Wann? Wohin? Warum?«
Er lachte.
»Drei Fragen in einem Atem! Wie neugierig du doch bist!«
Im nächsten Augenblick war er wieder ernst. »Du weißt, daß das Gesetz es mir zur Pflicht macht, einen Beruf zu ergreifen. Unser guter Vater gab mir das beste Beispiel. Selbst du würdest mich verachten, wenn ich die Früchte seines Fleißes und Wissens im Müßiggang verzehren würde. Ich gehe nach Rom.«
»O, ich gehe mit!«
»Du mußt bei der Mutter bleiben. Wenn wir beide sie verlassen, wird sie sterben.«
Trauer malte sich auf ihrem Gesichte.
»Ach ja! Aber mußt du denn fort? Hier in Jerusalem kannst du alles lernen, was ein Kaufmann zu wissen nötig hat, wenn es das ist, woran du denkst.«
»Daran denke ich nicht. Das Gesetz gebietet nicht, daß der Sohn den Beruf des Vaters wähle.« »Was willst du denn sonst werden?«
»Soldat!« antwortete er mit einem gewissen Stolze.
Tränen traten ihr in die Augen. »Du wirst getötet werden.«
»Wenn es Gottes Wille ist, so sei es denn! Aber, Tirzah, nicht alle Soldaten werden getötet.«
Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, als ob sie ihn zurückhalten wollte.
»Wir sind so glücklich! Bleib zu Hause, Bruder!«
»Das Vaterhaus kann für uns nicht immer das sein, was es bisher war. Auch du wirst in nicht ferner Zeit fortgehn.«
»Niemals!«
Er lächelte über diese Entschlossenheit.
»Bald wird ein Fürst Judahs oder eines andern Stammes kommen, um meine Tirzah werben und sie mit sich nehmen, damit sie einem andern Hause als Stern leuchte. Was wird dann aus mir werden?«
Ein Schluchzen war ihre Antwort.
»Soldatsein ist ein Beruf,« fuhr Judah mit noch mehr Ernst fort. »Um ihn vollständig zu erlernen, muß man in die Schule gehn. Es gibt aber keine bessere Kriegsschule als ein römisches Lager.«
»Du wirst doch nicht für Rom kämpfen?« fragte sie mit angehaltenem Atem.
»Auch du, selbst du hassest Rom! Die ganze Welt haßt es. Hierin, Tirzah, suche den Grund der Antwort, die ich dir gebe. Ja, ich will für Rom kämpfen, wenn ich dadurch lerne, einst gegen Rom zu kämpfen.«
»Wann willst du abreisen?«
In diesem Augenblick wurden Amrahs Schritte gehört.
»Still!« sagte er. »Laß sie nicht wissen, woran ich denke.«
Die treue Dienerin kam mit dem Frühstück und setzte die Platte, auf welcher sie es trug, auf einen Stuhl vor beide hin. Dann blieb sie mit weißen Tüchern auf dem Arme stehen, um die Geschwister zu bedienen. Sie tauchten eben die Finger in ein Gefäß mit Wasser und spülten sie ab, als ein Lärm auf der Straße ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie horchten und unterschieden kriegerische Musik, welche von der nördlichen Straße her klang.
»Soldaten aus dem Prätorium! Ich muß sie sehen!« rief Judah, vom Diwan aufspringend, und eilte hinaus.
Im nächsten Augenblick lehnte er sich über die aus Ziegeln gemauerte Brustwehr am nordöstlichen Winkel des Daches. Er war so in den Anblick, der sich ihm darbot, versunken, daß er nicht merkte, wie Tirzah an seine Seite trat und die eine Hand aus seine Schulter legte.
Da das Dach alle umliegenden Gebäude überragte, konnten sie von ihrem Platze aus ostwärts bis zum gewaltigen Turm der Burg Antonia, wo die Garnison lag und der Prokurator sein militärisches Hauptquartier hatte, alles überblicken. Die nicht zehn Fuß breite Straße war an vielen Stellen mit Brücken überspannt, die teils offen, teils verdeckt waren; diese begannen sich jetzt ebenso wie die benachbarten Dächer mit Männern, Weibern und Kindern zu füllen, welche von der Musik angelockt wurden. Das Wort Musik ist freilich hier nicht ganz das richtige, denn was man hörte, war vielmehr ein Trompetengeschmetter, begleitet von den schrillen, dem römischen Soldaten aber so trauten Tönen hölzerner Blasinstrumente.
Nach einer Weile wurde der Aufzug auch den beiden Geschwistern auf dem Dache sichtbar. Zuerst kam ein Vortrab Leichtbewaffneter, es waren zumeist Schleuderer und Bogenschützen, die in weiten Abständen marschierten; dann eine Abteilung Schwerbewaffneter zu Fuß mit großen Schilden und jenen langen Speeren, wie man sie schon bei den Zweikämpfen vor Ilion gebraucht haben mochte; darauf folgten die Musiker. Dann kam ein alleinreitender Offizier, dem eine berittene Leibwache folgte, dann wieder eine fast endlos lange Abteilung schwerbewaffneter Fußsoldaten, welche, eng gedrängt marschierend, die Straße von Mauer zu Mauer ausfüllte. Die sehnigen Gliedmaßen der Männer, die taktmäßige Bewegung ihrer Schilde von rechts nach links, der feste, selbstbewußte, rhythmische Schritt, die ernste Haltung der Masse, die einer riesigen Maschine glich, alles dieses machte auf Judah einen überwältigenden Eindruck. Was seine Aufmerksamkeit vor allem fesselte, war der Adler der Legion, der auf einer hohen Stange getragen wurde. Er wußte, daß man ihn mit göttlichen Ehren empfangen hatte, als er aus seinem Standorte im Turm geholt wurde.
Auch der in der Mitte der Kolonne allein reitende Offizier erregte sein besonderes Interesse. Er war in voller Rüstung; nur sein Haupt war unbedeckt. An seiner Seite hing ein kurzes Schwert, in der Hand hielt er den Kommandostab, der wie eine Rolle weißen Papieres aussah. Sein Pferd trug statt des Sattels eine, purpurne Decke.
Als der Mann noch in weiter Ferne war, konnte Judah schon bemerken, daß sein Erscheinen die Zuschauer in zornige Erregung versetzte. Diese lehnten sich weit über die Brustwehren der Dächer oder traten kühn vor die Haustore und ballten die Fäuste gegen ihn. Sie folgten ihm unter lautem Geschrei oder spuckten auf ihn hinab, während er unter den Brücken hindurchritt. Die Weiber warfen ihm gar ihre Sandalen nach, manchmal mit solchem Geschick, daß sie ihn trafen. Je näher er kam, desto deutlicher konnte man das Geschrei vernehmen: »Räuber! Tyrann! Römischer Hund! Nieder mit Ismael! Gebt uns unsern Annas zurück!«
Endlich war er so nahe, daß Judah seine Gesichtszüge unterscheiden konnte. Dabei bemerkte er, daß der Mann die von den Soldaten so stolz zur Schau getragene Gleichgültigkeit nicht teilte. Sein Gesicht war finster und drohend und die Blicke, die er von Zeit zu Zeit nach seinen Verfolgern schleuderte, waren wild und feindselig, so daß die Furchtsamen davor zurückschreckten.
Judah hatte von der Sitte gehört, daß Oberbefehlshaber nach dem Beispiele des ersten Cäsar zum Zeichen ihres Ranges in der Öffentlichkeit nur einen Lorbeerkranz zu tragen pflegten. Hieran erkannte er, daß der Offizier niemand anderer war als Valerius Gratus, der neue Prokurator von Judäa. Im Grunde hatte Judah Mitleid mit dem Römer, der in so unverdienter Weise unter dem Sturme der Volkswut zu leiden hatte. Als daher dieser die Ecke des Hauses erreichte, beugte sich der Jüngling noch weiter über die Brustwehr vor, um ihn besser sehen zu können, und dabei stützte er sich mit der Hand auf einen vorstehenden Ziegel. Dieser hatte im Laufe der Zeit einen Sprung bekommen, der bisher nicht beachtet worden war, und der Druck war stark genug, das äußere Stück des Ziegels loszulösen, es kam ins Rollen.
Ein jäher Schreck durchzuckte den Jüngling. Er streckte die Hand aus, um das fallende Stück zu erhaschen. Die Bewegung, die er hierbei machte, konnte den Anschein erwecken, als ob er etwas von sich schleuderte. Judah stieß vor Schreck einen lauten Schrei aus, so daß die Soldaten und ebenso der Prokurator hinaufblickten. In diesem Augenblick traf den Römer das Ziegelstück auf den Kopf und er fiel wie tot vom Pferde.
Die Kohorte machte Halt. Die Wachen sprangen von ihren Pferden und beeilten sich, ihren Befehlshaber mit ihren Schilden zu decken. Die Menge, die Zeuge des Vorfalles war, zweifelte nicht daran, daß der Wurf absichtlich geschehen sei, und jubelte dem Jüngling zu, der sich noch immer über die Brustwehr gebeugt hielt. Der Anblick des Unheils, das durch ihn entstanden war, und die Erwägung der Folgen, die ihm nur zu deutlich vor die Augen traten, hatten ihn wie betäubt. Ein böser Geist fuhr mit Blitzesschnelle längs dem Zuge von Dach zu Dach und erfaßte die Volksmenge in gleicher Weise. Die Leute legten Hand an die Brustwehren, lockerten die Ziegel und den sonngebrannten Lehm, woraus die Hausgiebel zum größten Teile gebaut waren, und begannen in blinder Wut Stücke davon nach den Legionären unter sich zu schleudern. Es entspann sich nun ein hitziger Kampf. Die Disziplin der Soldaten behielt, wie es vorauszusehen war, die Oberhand. Mit schreckensbleichem Antlitz hatte sich inzwischen Judah von der Brustwehr zurückgelehnt.
»O Tirzah, Tirzah, ich habe den römischen Landpfleger getötet!« rief er aus. »Der Ziegel traf ihn, es war ein Zufall!«
»Was werden sie uns tun?« fragte sie.
Er blickte nach dem immer noch zunehmenden Tumult auf den Dächern und in der Straße und gedachte der drohenden Miene des Gratus. War er nicht tot, wo würde seine Rache innehalten? Und war er tot, zu welchen Wutausbrüchen würden die Ausschreitungen des Volkes die Legionssoldaten aufreizen? Um einer Antwort auszuweichen, beugte er sich abermals über die Brustwehr und sah gerade, wie die Leibwache dem Römer wieder auf das Pferd half.
»Er lebt, Tirzah, er lebt! – Gepriesen sei der Gott unserer Väter!«
Mit diesem Ausrufe trat er von der Brustwehr zurück und antwortete nun mit mehr Ruhe auf ihre Frage:
»Sei unbesorgt, Tirzah! Ich werde ihnen erklären, wie es kam, und sie werden sich an unsern Vater und seine Verdienste erinnern und uns nichts tun.«
Er führte sie in das Turmzimmer.
Da erbebte das Dach unter ihren Füßen und man vernahm ein Krachen wie von stürzenden Balken und gleich darauf Schreckensrufe, die dem Anschein nach vom Hof heraufkamen. Er blieb stehn und horchte, die Rufe wiederholten sich. Die Soldaten hatten das nördliche Tor eingeschlagen und waren nun im Besitze des Hauses. Judah erkannte zu seinem Schrecken, daß man es auf ihn abgesehen habe. Für eine Flucht war es zu spät. Plötzlich hörte er die angsterfüllte Stimme seiner Mutter und lief eilends hinab.
Die Terrasse oder Galerie am Fuße der Treppe war voll von Soldaten. Andere rannten mit gezückten Schwertern die Zimmer aus und ein. In einer Ecke kauerte dicht zusammengedrängt eine Gruppe von Frauen, die um Schonung baten. An einer andern Stelle rang eine Frau mit einem der Soldaten und suchte sich von ihm loszureißen, so daß dieser seine ganze Kraft anwenden mußte, um sie festzuhalten. Ihr Kleid war zerrissen; das Haar hing ihr in langen Strähnen über das Gesicht; ihre Rufe übertönten jeden andern Lärm, so daß sie deutlich vernehmbar bis zum Dache hinausdrängen. Die Angst beflügelte Judahs Schritte; mit einem Satze war er bei ihr.
»Mutter, Mutter!« rief er aus. Sie streckte die Hand nach ihm, aber eben als er sie fassen wollte, wurde er ergriffen und zurückgerissen. Dann hörte er, wie jemand rief: »Der ist es!« Judah schaute um sich und erblickte Messala.
»Was, dieser ist der Meuchler?« fragte ein stattlicher Legionär in prächtigem Waffenschmucke. »Er ist ja noch ein Knabe!«
Die Liebe zu den Seinigen ließ Judah den Streit vergessen, den er mit dem Jugendfreunde gehabt hatte.
»Hilf ihnen, Messala! Gedenke unserer Knabenzeit und hilf ihnen! Ich – Judah – bitte dich!«
Messala tat, als hörte er ihn nicht. »Ich kann hier nicht weiter von Nutzen sein,« sagte er, zum Offizier gewendet. »Auf der Straße unten gibt es bessere Beschäftigung. Nieder mit Eros, hoch Mars!«
Mit diesen Worten entfernte er sich. Judah verstand ihn, und in der Bitterkeit seiner Seele flehte er zum Himmel: »In der Stunde deiner Rache, o Herr, sei mein die Hand, die ihn treffen soll!«
Mit Mühe konnte er sich einen Weg zum Offizier bahnen. »Herr,« rief er, »jene Frau ist meine Mutter. Verschone sie, verschone meine Schwester dort! Gott ist gerecht, er wird Barmherzigkeit für Barmherzigkeit erweisen.«
Der Mann schien bewegt. »In den Turm mit den Frauen,« rief er; »aber tut ihnen kein Leid! Ihr seid mir für sie verantwortlich.« Dann wandte er sich zu denen, welche Judah festhielten, und sprach: »Holet Stricke und bindet ihm die Hände, dann führt ihn auf die Straße hinab. Seiner Strafe soll er nicht entgehn.« Die Mutter wurde hinweggetragen. Die kleine Tirzah war ganz betäubt vor Furcht und ging in ihrem Hauskleide ohne Widerstreben mit den Soldaten, welche sie fortführten. Judah warf einen letzten Blick auf beide und barg dann das Gesicht in seine Hände, als ob er sich ihre Züge unvertilgbar einprägen wolle. Vielleicht vergoß er auch Tränen, doch niemand sah sie. Die Ereignisse dieses Tages hatten in Judah eine plötzliche Umwandlung bewirkt, er war aus einem Jüngling ein Mann geworden. Mit entschlossenem Gesicht bot er seine Arme den Fesseln dar.
Ein Trompetensignal erscholl im Hofe, die Soldaten sammelten sich. Als Judah hinabstieg, standen sie bereits in Marschordnung. Seine Mutter und Schwester sowie das gesamte Gesinde wurden durch das nördliche Eingangstor geführt, dessen Trümmer den Weg versperrten. Herzzerbrechend war das Weinen der Dienstpersonen, deren manche im Hause geboren waren.
Als endlich auch die Pferde und der gesamte Viehstand des Hauses fortgetrieben wurden, begann Judah den ganzen Umfang der Rache des Prokurators zu erfassen. Das Gebäude und alles, was dazu gehörte, war ihr verfallen. Sollte es in Judäa noch andere geben, die so verwegen waren, auf die Ermordung eines römischen Statthalters zu sinnen, so sollte ihnen die Geschichte vom Schicksal der fürstlichen Familie Hur zur Warnung dienen.
Der Offizier wartete draußen, indes eine Abteilung Soldaten das Tor einstweilen verrammelte. Auf der Straße hatte der Kampf beinahe aufgehört, die Legionäre standen größtenteils ruhig in Reih und Glied, sie hatten nichts von ihrem Glanze und ihrer Stärke eingebüßt.
Seiner eigenen Lage vergessend, war Judah nur um die Gefangenen besorgt, unter denen er vergebens nach seiner Mutter und Schwester spähte. Da erhob sich plötzlich ein Weib von der Erde, wo sie sich niedergekauert hatte, und rannte zurück nach dem Tore. Vor Judah sank sie nieder und umfaßte seine Knie, ihr Gesicht war vom staubbedeckten schwarzen Haar, das wirr vom Kopfe herabfiel, fast ganz verhüllt.
»O Amrah, gute Amrah,« sprach er, »helfe dir Gott. Sorge für Tirzah und meine Mutter! Sie werden zurückkehren und –«
Ein Soldat zog sie weg. Sie sprang behende auf und eilte durch das Tor und den Gang in den leeren Hofraum.
»Laßt sie nur!« rief der Offizier. »Wir werden Siegel an das Haus legen und es verriegeln; dann muß sie verhungern.«
Die Soldaten nahmen ihre Arbeit wieder auf; als sie damit fertig waren, begaben sie sich nach der Westseite und verriegelten auch den dortigen Eingang. Der Palast der Familie Hur stand nun öde und leer.
Die Kohorte marschierte nach der Burg zurück. Der Prokurator verweilte hier längere Zeit, um sich von seiner Verletzung zu erholen und über die Gefangenen Verfügungen zu treffen.
Am folgenden Tage kam eine Abteilung Soldaten zum verödeten Palast. Die Ecken der Torflügel wurden mit Wachs versiegelt und an die Mauern ein Plakat geheftet, auf welchem in lateinischer Sprache die Worte standen: »Dies ist Eigentum des Kaisers.«
Die selbstbewußten Römer waren überzeugt, daß diese einfache Ankündigung ihrem Zwecke entsprechen würde.
Wiederum einen Tag später zog ein Trupp von zehn Berittenen unter Anführung eines Hauptmannes von Jerusalem nordwärts gegen Nazareth und näherte sich dem Orte um die Mittagszeit. Nazareth war damals ein unbedeutendes Dorf mit wenigen Häusern, die an einem Hügelabhang zerstreut standen, die einzige Straße war kaum mehr als ein von den Herden ausgetretener Pfad. Das Tal am Fuße des Hügels und die ganze Umgebung waren mit Obst- und Gemüsegärten, Weinbergen und Weideplätzen bedeckt. Vereinzelte Palmen- und Olivenhaine gaben der Landschaft ihr orientalisches Gepräge.
Als der Reitertrupp sich dem Dorfe näherte, erscholl ein Trompetenstoß, der wie ein Zauber auf die Einwohner wirkte. Sie stürmten in Gruppen aus den Häusern heraus, da jeder den Grund des ungewöhnlichen Besuches zuerst erfahren wollte.
Es war ein Gefangener unter der Obhut der Reiter, der bald die Neugierde der Dorfbewohner erregte. Er ging zu Fuß, mit bloßem Kopf, zerrissenen Kleidern und auf den Rücken gebundenen Händen. An seinen Handgelenken war ein Riemen befestigt, der um den Hals eines Pferdes geschlungen war. Der Reiterzug wirbelte derart Staub auf, daß der Gefangene fast beständig in eine gelbliche Wolke gehüllt war. Völlig kraftlos und wund an den Füßen, taumelte er mehr als er ging. Die Dorfbewohner aber konnten erkennen, daß er sehr jung war.
Am Brunnen angelangt, machte der Zug Halt. Der Hauptmann stieg vom Pferde und die meisten der Reiter folgten seinem Beispiele. Der Gefangene sank wie betäubt in den Staub der Straße. Er bat um keine Labung, augenscheinlich hatte seine Erschöpfung den höchsten Grad erreicht.
Gern hätten die Dorfbewohner, da sie näher gekommen waren und sein jugendliches Alter erkannten, ihm geholfen, allein sie wagten es nicht. Während sie so neugierig und ratlos umherstanden und die Wasserkrüge unter den Soldaten von Mund zu Mund gingen, kam ein Mann die Straße von Sapphoris herab. Eine Frau rief, sobald sie ihn bemerkt hatte: »Seht, da kommt der Zimmermann! Jetzt werden wir wohl etwas erfahren.«
Der Mann, von dem sie sprach, hatte ein sehr ehrwürdiges Aussehen. Dünne weiße Locken quollen unter dem Rande seines Turbans hervor, während ein reicher Bart, der womöglich noch weißer war, auf die Vorderseite seines groben grauen Gewandes herabwallte. Beim Brunnen angelangt, blieb er stehn und trat dann zum Hauptmann.
»Der Friede des Herrn sei mit dir!« sprach er mit unvermindertem Ernst.
»Und derjenige der Götter mit dir!« entgegnete der Hauptmann.
»Euer Gefangener ist noch jung!«
»An Jahren, ja.«
»Darf ich fragen, was er verbrochen hat?«
»Er ist ein Meuchelmörder!«
Erstaunt wiederholten sich die Leute das Wort. Rabbi Josef aber fuhr fort zu fragen: »Ist er ein Sohn Israels?«
»Er ist ein Jude,« antwortete der Römer trocken.
Das bereits im Schwinden begriffene Mitleid der Umstehenden wurde neuerdings rege.
»Ich weiß nichts von euren Stämmen,« sprach der Römer weiter. »Ich kann euch aber von seiner Familie erzählen. Ihr habt vielleicht schon von einem Fürsten Jerusalems namens Hur gehört. Ben Hur nannte man ihn. Er lebte in den Tagen des Herodes.«
»Ich kannte ihn,« sagte Josef.
»Nun, dieser ist sein Sohn!«
Von allen Seiten hörte man bei dieser Nachricht Ausrufe des Staunens und des Mitleides, doch der Hauptmann beeilte sich, dieselben zu unterdrücken.
»Vorgestern hätte er beinahe in den Straßen Jerusalems den edlen Gratus ermordet, indem er ihm vom Dache eines Palastes – jedenfalls seines Vaters – einen Ziegel auf den Kopf warf.«
Eine Zeitlang herrschte Schweigen, währenddessen die Nazarener den Jüngling wie ein wildes Tier anstaunten.
»Hat er ihn getötet?« fragte der Rabbi.
»Nein!« »Er ist verurteilt?«
»Ja, zu den Galeeren auf Lebenszeit.«
»Der Herr steh' ihm bei!« sagte Josef bewegt.
Ein Jüngling, welcher mit Josef gekommen, aber bisher unbemerkt hinter ihm stehn geblieben war, legte nun das Beil, das er trug, neben sich auf die Erde, ging zum großen Stein neben dem Brunnen und ergriff einen der dort stehenden Krüge mit Wasser. Diese Handlung ging so ruhig vor sich, daß der Jüngling bereits über den Gefangenen gebeugt stand und ihm zu trinken gab, ehe seine Wächter es hindern konnten, wenn dieses überhaupt in ihrer Absicht lag.
Die sanft auf seine Schulter gelegte Hand weckte den unglücklichen Judah aus seinem dumpfen Brüten, und aufblickend sah er in ein Antlitz, das er niemals mehr vergaß: in das Antlitz eines Jünglings von ungefähr seinem eigenen Alter, das von goldig-braunen Locken überschattet war, in ein Antlitz voll Sanftmut und Milde, dessen tiefblaue Augen ihn so voll Liebe und heiligem Ernst anblickten, daß ihr Blick unwiderstehlich war. Alle bitteren Gefühle der Rachsucht schwanden in der Brust des Juden, und sein Herz, das durch Tage und Nächte des Leidens wie verhärtet war, schmolz unter dem warmen Blicke des Fremden und ward weich und sanft wie das eines Kindes.
Er setzte seine Lippen an den ihm dargebotenen Krug und trank lang und in vollen Zügen. Kein Wort wurde zwischen beiden gewechselt.
Als Judah getrunken hatte, legte sich die Hand, die bisher auf seiner Schulter gelegen war, auf sein Haupt und ruhte wie segenspendend einen Augenblick auf den staubbedeckten Locken. Dann brachte der fremde Jüngling den Krug wieder zum Brunnen zurück, stellte ihn auf den Stein daneben, nahm wieder das Beil und ging zu Rabbi Josef zurück, indes aller Augen, jene des Hauptmannes sowohl als der Dorfbewohner, auf ihn gerichtet waren. Damit endigte die Szene am Brunnen. Nachdem die Männer getrunken und auch die Pferde getränkt hatten, wurde der Marsch wieder aufgenommen. Im Verhalten des Hauptmannes trat eine Änderung ein, er selbst hob den Gefangenen aus dem Staube empor und setzte ihn hinter einen der Soldaten auf das Pferd.
Die Bewohner Nazareths gingen nach Hause, mit ihnen auch Josef und sein jugendlicher Gehilfe.
Hier begegneten sich zum ersten Male Judah und der Sohn Marias.