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Siebentes Kapitel

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Von jenem Tore der heiligen Stadt, welches jetzt den Namen des heiligen Stephan trägt, zog sich eine Straße längs der nördlichen Seite der Burg Antonia nach Westen hin, folgte dann eine Strecke dem Tyropöischen Tale nach Süden, wendete sich dann wieder westwärts bis über das sogenannte »Richtertor« hinaus, wo sie endgültig eine südliche Richtung annahm. Der mit der heiligen Örtlichkeit vertraute Reisende oder gelehrte Forscher wird in der beschriebenen Straße sogleich einen Teil jenes Leidensweges erkennen, der für den Christen reicher an heiligen, freilich traurigen Erinnerungen ist als irgendeine andere Straße der Welt.

An einer Biegung dieser Straße stand ein zwei Stockwerke hohes Haus, das aus unbehauenen Steinen erbaut war und fast wie eine kleine Festung aussah. An der Westseite befanden sich vier, an der Nordseite nur zwei Fenster; sie waren in der Höhe des zweiten Stockwerkes und in der Weise angebracht, daß sie gegen die Straße etwas vorragten. Im unteren Stockwerke waren die Tore die einzigen äußerlich sichtbaren Maueröffnungen.

Kurze Zeit, nachdem der junge Jude beim Palaste auf dem Marktplatze von dem Römer geschieden war, erschien er vor dem Westtore dieses Hauses und klopfte. Die kleine Tür, die in einem der Torflügel hing, wurde aufgemacht. Er trat hastig ein, ohne auf die tiefe Verneigung des Pförtners zu achten.

Der Gang, in den er jetzt trat, war einem engen Tunnel mit verzierten Wänden und durchlöcherter Decke nicht unähnlich. Zu beiden Seiten desselben zogen sich Steinbänke hin, die vom Alter geschwärzt und durch langen Gebrauch geglättet waren. Zwölf bis fünfzehn Schritte brachten ihn in einen Hofraum, der sich in Gestalt eines Rechteckes von Norden gegen Süden erstreckte und mit Ausnahme der Ostseite rings von zweistöckigen Gebäuden umgeben war. Die Diener, die hier ab und zu gingen, der Lärm der Mühlsteine, die Wäschestücke, die an straffgespannten Leinen flatterten, die Hühner und Tauben, die sich lustig im Hofe tummelten, die Ziegen, Kühe, Esel und Pferde, die sich von Zeit zu Zeit in den Ställen vernehmen ließen, sowie ein großer Wassertrog, der allem Anscheine nach zu gemeinsamem Gebrauche bestimmt war, wiesen darauf hin, daß hier der Wirtschaftshof des Eigentümers war. Im Osten befand sich eine Mauer mit einem Tore, das durch einen gleichfalls engen Gang in einen andern Hof führte.

Dieser war geräumig und ganz mit Gesträuchen und Schlinggewächsen bepflanzt. Ein Springbrunnen nahe einer Halle an der Nordseite verbreitete frische Kühle. Auf rebenumrankten Säulen erhoben sich luftige Steinlauben, die von rot- und weißgestreiften Vorhängen beschattet waren. Auf der Südseite führte eine Treppe zu den Terrassen des oberen Stockwerkes hinauf, über welche große Zelttücher zum Schutze gegen die Sonnenstrahlen gespannt waren. Eine zweite Treppe führte von hier zum flachen Dache empor, das rings von einem steinernen Gesims und einer aus hellroten, sechseckigen Backsteinen hergestellten Brustwehr umgeben war.

In diesen Hof trat nun der Jüngling. Ein Pfad, der sich rechts durch das teilweise blühende Gesträuch wand, führte ihn zur Treppe. Er stieg die Stufen hinauf und kam zur Terrasse – einem breiten Gang, der mit weißen und braunen, schon sehr abgenützten Fliesen belegt war. Durch eine Tür an der Nordseite trat er in ein Gemach, das sich in Dunkelheit hüllte, als der Vorhang hinter ihm gefallen war. Trotzdem ging er sicheren Schrittes auf einen Diwan zu und warf sich auf ihn nieder. Die Stirn mit den Händen verbergend, lag er eine Zeitlang regungslos da.

Als die Nacht vollends hereingebrochen war, erschien eine Frau in der Tür und rief ihn mit Namen. Er antwortete und sie trat ein.

»Das Abendessen ist vorüber und es ist Nacht. Ist mein Sohn nicht hungrig?« fragte sie.

»Nein!« antwortete er.

»Bist du krank?«

»Ich bin schläfrig.«

»Deine Mutter hat nach dir gefragt.«

»Wo ist sie?«

»Im Sommerhäuschen auf dem Dache.« Er richtete sich auf.

»Gut. Bring mir etwas zu essen.«

»Was wünschest du?«

»Was du willst, Amrah. Ich bin nicht krank und doch fehlt mir etwas. Bring mir etwas, das gleichzeitig als Nahrung und Arznei dient.«

Amrahs Fragen und der ruhige, teilnahmsvolle, besorgte Ton, in welchem sie dieselben stellte, zeugten von einem herzlichen Verhältnis zwischen beiden. Sie legte ihre Hand auf seine Stirn und ging dann wie befriedigt hinaus, indem sie bemerkte: »Ich will sehen.«

Nach einer Weile kam sie zurück und brachte auf einer hölzernen Platte eine Schüssel voll Milch, dünne Schnitten weißen Brotes, einen zarten Brei aus zerstoßenem Weizen, einen gebratenen Vogel nebst Honig und Salz sowie einen silbernen Becher mit Wein. Eine bronzene Handlampe, die sie mitgebracht hatte, erhellte das Zimmer. Sie schob nun einen Stuhl vor den Diwan, stellte die Platte darauf und kniete daneben nieder, um Judah zu bedienen. Sie mochte etwa fünfzig Jahre zählen, hatte dunkle Hautfarbe und schwarze Augen, aus denen in diesem Augenblicke eine fast mütterliche Zärtlichkeit blickte. Sie war eine Sklavin von ägyptischer Abstammung, der auch nicht das heilige fünfzigste Jahr die Freiheit hätte bringen können. Aber sie würde dieselbe gar nicht angenommen haben, denn der Jüngling, den sie eben bediente, war ihr lieb wie das eigene Leben. Sie hatte ihn von Kindheit an genährt und gepflegt und konnte ihren Dienst gleichsam nicht entbehren. Für sie konnte er nie zum Manne werden.

Judah verzehrte schweigend das ihm vorgesetzte Essen. Dann, als Amrah die Platte fortgetragen hatte, ging auch er hinaus und begab sich aufs Dach.

Im Orient dient das Dach sehr verschiedenartigen Zwecken. Während des Tages treibt die Hitze jeden in das Dunkel der inneren Gemächer. Aber am Abend, wenn kühlende Lüfte durch das Land streichen und der Himmel von glänzenden Sternen erhellt ist, dann versammelt man sich aus dem Dach, das zugleich Spielplatz, Schlafgemach und Stelldichein für die Familie ist. Daher pflegt es auch bequem, manchmal sogar mit reichem Luxus ausgestattet zu sein.

Der Jüngling schritt langsam einem Turme zu, der sich an der nordwestlichen Ecke des Palastes erhob. Durch einen halb aufgezogenen Vorhang trat er in das Innere. Es lag in völliger Finsternis, doch befanden sich an allen vier Seiten bogenförmige Öffnungen, durch welche die Sterne sichtbar waren. An einer der Öffnungen ruhte in halb liegender Stellung auf einem Diwan eine Frauengestalt, die nur das wallende weiße Gewand bemerkbar machte. Als sie seine Schritte hörte, ließ sie den Fächer in ihrer Hand sinken und rief:

»Judah, mein Sohn.«

»Ich bin es, Mutter,« antwortete er und eilte auf sie zu. Er kniete neben ihr nieder, und sie schlang ihre Arme um ihn, küßte ihn und zog ihn an ihre Brust. Dann lehnte sie sich wieder bequem in den Diwan zurück, während der Sohn sich neben sie setzte und den Kopf in ihren Schoß legte.

»Amrah erzählte mir, daß dir etwas begegnet sei,« sprach sie, ihm die Wangen streichelnd. »Als mein Judah noch ein Kind war, schwieg ich, wenn Kleinigkeiten ihn in Aufregung brachten. Jetzt aber ist er ein Mann; er darf nicht vergessen,« – ihre Stimme klang ungemein weich – »daß er eines Tages mein Held sein soll.«

Sie redete in der Sprache, die im Land fast unbekannt geworden war und nur mehr von wenigen, ebenso alten als reichen Familien in ihrer Reinheit gepflegt wurde, um den Unterschied zwischen Juden und Heiden desto schärfer hervortreten zu lassen, in der Sprache, in welcher Rebekka und Rahel zu Benjamin redeten.

Diese Worte schienen ihn aufs neue nachdenklich zu machen. Nach einer Weile indes ergriff er die Hand, mit welcher sie ihm Kühlung zugefächelt hatte, und sprach:

»Heute, meine Mutter, wurden meine Gedanken auf Dinge gelenkt, an die ich bisher nicht gedacht habe. Sag' mir vor allem, was ich werden soll.«

»Habe ich es dir nicht gesagt? Mein Held sollst du werden.« Er konnte ihr Gesicht nicht sehen; doch wußte er, daß sie scherze. Er wurde ernster.

»Du bist so gut, so lieb, Mutter! Niemand wird mich jemals so lieben wie du.«

Er bedeckte ihre Hand mit Küssen und fuhr dann fort:

»Ich glaube zu wissen, warum diese Frage dir unangenehm ist. Bisher hat mein Leben dir gehört. Aber es ist des Herrn Wille, daß ich mich eines Tages auf eigene Füße stelle, es wird ein Tag der Trennung, ein Tag des Schmerzes für dich sein. Ja, ich will dein Held werden, aber du mußt mir den Weg weisen. Du kennst das Gesetz, jeder Sohn Israels muß einen Lebensberuf haben. Ich bin nicht ausgenommen. Darum frage ich jetzt: soll ich die Herden hüten? oder das Feld bebauen? oder die Säge führen? oder ein Schriftgelehrter oder Gesetzeskundiger werden? Was soll ich beginnen? Liebe, gute Mutter, hilf mir zu einer Antwort!«

»Gamaliel hielt heute einen Vortrag,« sagte sie nachdenklich.

»Ich hörte ihn nicht.«

»Dann warst du wohl bei Simeon, der, wie man sagt, die hohen Geistesgaben seiner Familie geerbt hat.«

»Nein, auch ihn sah ich nicht. Ich war auf dem Marktplatze, nicht im Tempel. Ich habe den jungen Messala besucht.«

Eine gewisse Veränderung im Klang seiner Stimme erregte die Aufmerksamkeit der Mutter. Eine dunkle Ahnung ließ ihr Herz schneller schlagen; der Fächer ruhte wieder.

»Messala!« rief sie aus. »Was konnte er denn sagen, das dich so beunruhigt?«

»Er hat sich sehr verändert.« »Du willst sagen, er ist als Römer zurückgekehrt.«

»Ja.«

»Römer!« fuhr sie, halb mit sich selbst sprechend, fort. »Der ganzen Welt bedeutet das Wort soviel als Herrscher. Wie lange war er fort?«

»Fünf Jahre.«

Sie hob ihren Kopf und blickte nachdenklich in die Nacht hinaus. Der Jüngling brach zuerst das Schweigen.

»Was Messala sagte, war an sich schon kränkend genug; die Art und Weise aber, wie er manches vorbrachte, war geradezu unerträglich.«

»Ja, fast alle Römer sind unerträglich stolz!« sagte die Mutter.

»Nun, Messala hat stets ein gut Teil von dieser unangenehmen Eigenschaft besessen. Als er noch ein Kind war, hörte ich ihn Fremde verspotten, die zu ehren selbst ein Herodes nicht unter seiner Würde hielt; Judäa aber hat er bisher stets verschont. Heute zum ersten Male hat er im Gespräch mit mir unsere Gebräuche und unseren Gottesglauben angegriffen. Ich habe, wie es dein Wunsch war, mit ihm endgültig gebrochen. Und nun, teure Mutter, möchte ich Gewißheit haben, ob die Römer wirklich Grund haben, uns zu verachten. Worin stehe ich Messala nach? Gehören wir einem minderwertigen Volke an? Warum sollte ich mich, sei es selbst in Gegenwart des Kaisers, als Sklaven fühlen? Weshalb sollte ich nicht, wenn ich mich fähig fühle und dafür entscheide, die Ehren der Welt auf allen Gebieten erstreben dürfen? Warum darf ich nicht zum Schwerte greifen und Kriegsruhm suchen? Warum als Dichter nicht alles besingen, was meine Brust bewegt? Ich kann Handwerker, Hirt, Kaufmann werden – weshalb nicht Künstler wie die Griechen? Sag' mir, Mutter – hierin besteht mein ganzer Kummer – warum darf ein Sohn Israels nicht alles tun, was ein Römer tut?«

Die Mutter hatte mit reger Aufmerksamkeit den Worten Judahs zugehört. Ihre Hand legte sich sanft auf seine Stirn und die Finger strichen liebkosend über sein Haar, während ihre Augen die fernen Sterne suchten. Ihr Nationalstolz war nicht minder entwickelt als der des Sohnes, er war kein bloßes Echo desselben, sondern entsprang ihrer innersten Natur. Sie wollte ihm antworten; aber um alles in der Welt nicht hätte sie ihm eine unbefriedigende Antwort geben mögen: eine Anerkennung der Überlegenheit des Römers mußte Judah entmutigen und seine Tatkraft für immer lähmen. Sie fürchtete, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein.

»Die Beantwortung der Fragen, die du mir vorlegst, ist für ein Weib zu schwierig. Laß mir bis morgen Zeit zur Überlegung; ich will den weisen Simeon bitten –«

»Sende mich nicht zu dem Lehrer,« sagte Judah rasch. »Ich bedarf mehr als eine bloße Belehrung. Diese könnte er mir besser geben als die Mutter. Du aber kannst mir etwas verschaffen, was er nicht kann, nämlich den Entschluß, der die Seele eines Mannes ist.«

Sie warf einen Blick zum Himmel und suchte die ganze Bedeutung seiner Fragen zu erfassen.

»Fasse Mut, mein Sohn! Es ist wahr, Messala ist von edler Abkunft. Schon in den Tagen des republikanischen Rom haben sich Glieder seiner Familie teils als Krieger, teils als Zivilbeamte ausgezeichnet. Doch wenn heute dein Freund seiner Ahnen sich rühmte, durch Aufzählung der deinigen könntest du ihn beschämen. Wenn er, um dir seine Überlegenheit zu beweisen, auf das hohe Alter hinwiese, bis in welches sich sein Geschlecht zurückverfolgen läßt, auf ruhmvolle Taten, Rang und Reichtum, so könntest du ohne Furcht in jeder Hinsicht den Vergleich mit ihm aufnehmen.«

Sie hielt inne; nach einigem Nachsinnen sprach sie weiter: »Es gilt heute als fester Grundsatz, daß der Adel der Geschlechter und Familien vorzugsweise durch hohes Alter bestimmt wird. Ein Römer steht aber hierin stets einem Sohne Israels nach. Er könnte höchstens bis zur Gründung Roms zurückgehn. Wie steht es aber in dieser Beziehung mit uns? Sind wir besser daran?«

Wäre es im Gemache nicht so dunkel gewesen, so hätte Judah den Ausdruck des Stolzes bemerken müssen, der sich bei diesen Worten über ihr Gesicht verbreitete. Ihre Stimme zitterte, zarte Erinnerungen tauchten in ihrem Geiste auf.

»Dein Vater, mein Judah, ist zu seinen Vätern versammelt. Doch erinnere ich mich, als sei es heute abend gewesen, des Tages, da er und ich mit einer Anzahl von Freunden in festlicher Stimmung zum Tempel hinaufzogen, um dich dem Herrn darzustellen. Wir opferten die Tauben, ich nannte dem Priester deinen Namen, und in meiner Gegenwart schrieb er in das Register: ›Judah, Sohn des Ithamar, aus dem Hause Hur.‹ Dieser Name wurde sodann in das allgemeine Familienbuch des Volkes Israel eingetragen. Ich weiß nicht, wann man anfing, den Namen jedes Israeliten in dieser Weise aufzuschreiben. Doch ist dieser Gebrauch gewiß älter als der Auszug aus Ägypten. Ich habe Hillel sagen hören, Abraham selbst habe das erste Geschlechtsregister angelegt und es mit seinem und seiner Söhne Namen eröffnet, dazu sei er bestimmt worden durch die Verheißungen des Herrn, welche ihn und seine Nachkommen von allen Völkern schieden und zu Stammvätern des edelsten Geschlechtes, des wahrhaft auserwählten Volkes machten. Unser Volk hat öfters in manchen Punkten das Gesetz Gottes mißachtet, aber in diesem Punkte nie. Nur einmal werden die Register unterbrochen, und zwar am Ausgange des zweiten Zeitraumes. Als aber das Volk aus der langen Verbannung zurückgekehrt war, hielt es Zerobabel für seine erste Pflicht gegen Gott, die Bücher wieder herzustellen. So sind wir imstande, die jüdischen Geschlechter in ununterbrochener Reihe durch volle zwei Jahrtausende zu verfolgen. Und darum, wenn hohes Alter der Prüfstein des Adels ist, dann sind die Söhne Israels, welche dort auf den Höhen Rephaims ihre Herden weiden, edler geboren als die Edelsten der Marcier.«

»Und ich, Mutter, wer bin ich nach diesen Büchern?«

»Was ich bisher sagte, mein Sohn, bezog sich schon auf deine Frage. Ich will dir genauer antworten. Wenn wir unsere Geschlechtsbücher zurückverfolgen bis zur Gefangenschaft, weiter zum Bau des ersten Tempels und endlich bis zum Auszug aus Ägypten, so erlangen wir unumstößliche Gewißheit, daß du in gerader Linie von Hur, dem Gefährten Josuas, abstammst. Willst du noch weiter gehn? Dann nimm die Thora und schlage das Buch Numeri auf, so wirst du dort unter den zweiundsiebzig Geschlechtern nach Adam den ursprünglichen Stammvater deines Hauses finden.«

Stille herrschte eine Zeitlang in dem Zimmer auf dem Dache. »Ich danke dir, Mutter,« sagte Judah dann, ihre beiden Hände ergreifend; »ich danke dir von ganzem Herzen. Ich hatte recht, daß ich den würdigen Lehrer nicht hierher bemühte. Er hätte mir nicht besser und befriedigender Auskunft geben können. Aber begründet denn hohes Alter für sich allein schon den Adel einer Familie?«

»Ah, du vergissest, mein Sohn; unsere Ansprüche gründen sich nicht auf das Alter allein; die Auserwählung durch den Herrn ist unser vorzüglichster Ruhm.«

»Du sprichst vom ganzen Volke, Mutter, und ich rede von der Familie, unserer Familie. Haben sich Glieder derselben seit der Zeit unseres Vaters Abraham irgendwie ausgezeichnet? Welche Taten haben sie vollbracht? Wie sich vor ihren Mitmenschen hervorgetan?«

Die Mutter zögerte. Sie fühlte, daß die Unterredung mit Messala wohl mehr in ihrem Sohn aufgewühlt habe, als sie gedacht hatte.

»Ich ahne, mein Judah,« sagte sie, ihm die Wange streichelnd, »ich ahne, daß ich mehr gegen einen wirklichen als gegen einen eingebildeten Feind zu kämpfen habe. Ist Messala dieser Feind, so laß mich nicht im Finstern mit ihm kämpfen. Erzähle mir alles, was er gesagt hat.«

Der Jüngling erzählte jetzt seiner Mutter die ganze Unterredung mit Messala und verweilte mit besonderem Nachdruck bei den verächtlichen Äußerungen, die dieser über die Juden, ihre Gebräuche und ihren engbegrenzten Lebenskreis getan hatte.

Ohne ihn zu unterbrechen, hörte ihm die Mutter zu, denn nun erkannte sie klar den Stand der Dinge. Die Liebe zu einem Spielgenossen der Kindheit hatte Judah zum Palaste auf dem Marktplatze geführt. Er hoffte, ihn so wiederzufinden, wie er ihn vor Jahren verlassen hatte; er traf aber einen Mann, der, statt unter fröhlichem Lachen der Spiele der Vergangenheit zu gedenken, nur von der Zukunft sprach und von künftigen Ehren, von Macht und Reichtum träumte. Sich selbst unbewußt, war Judah mit verletztem Stolze und von einem leicht erklärlichen Ehrgeiz erfüllt heimgekehrt. Sie aber, die wachsame Mutter, sah es, und da sie nicht wußte, wohin ihn dieser Drang führen könne, erwachte in ihr die Jüdin. Wie, wenn diese Gedanken ihn dem Glauben der Väter entfremdeten? In ihren Augen wäre dies schrecklicher als alles andere, was sonst daraus folgen konnte. Sie wußte nur ein Mittel, diese Gefahr abzuwenden, und sie wendete es an mit der ganzen Kraft ihres Geistes, die noch ihre zärtliche Liebe erhöhte. Daher nahmen ihre Worte den Ausdruck männlicher Entschiedenheit und öfters dichterischen Schwung an, als sie sprach:

»Es hat nie ein Volk gegeben, das nicht davon überzeugt war, jedem andern zumindest ebenbürtig zu sein, nie eine bedeutende Nation, die sich nicht für die größte hielt. Wenn der Römer mit Verachtung auf Israel herabsieht, so wiederholt er nur die Torheit der Ägypter, Assyrer und Makedonier, und da die Verachtung sich gegen Gott kehrt, werden auch die Folgen bei den Römern ähnliche sein.«

In noch entschiedenerem Tone fuhr sie fort: »Es gibt kein Gesetz, das einem Volke einen Vorrang vor anderen zugesteht. Hat ein Volk sich zur Macht erhoben und seine Aufgabe vollbracht, so geht es zu Grunde, um einem andern Platz zu machen, das seine Macht erbt und neue Namen auf die alten Denkmäler schreibt. Das ist die Weltgeschichte. Ich will nicht behaupten, daß es im Fortschritt der Nationen keinen Unterschied gibt, kein Volk gleicht vollkommen dem andern. Das größte Volk ist aber jenes, das Gott am nächsten steht. Dein Freund – oder dein ehemaliger Freund – hat, wenn ich dich recht verstehe, behauptet, wir hätten keine Dichter, Künstler und Krieger, damit wollte er, glaube ich, sagen, wir hätten überhaupt keine großen Männer. Fehlt es uns nun wirklich an großen Männern? Ein großer Mann, mein Kind, ist derjenige, dessen Leben den Beweis liefert, daß er von Gott, wenn nicht ausdrücklich berufen, so doch in seinem Wirken geleitet wurde. Ein Perser ward das Werkzeug Gottes zur Bestrafung unserer Väter, da sie von ihm abfielen, er führte sie in die Gefangenschaft. Ein anderer Perser wurde auserwählt, ihre Kinder in das heilige Land zurückzuführen. Größer als beide indes war Alexander, durch den der Herr die Verwüstung Judäas und die Zerstörung des Tempels rächte. Der besondere Vorzug dieser Männer bestand darin, daß sie von Gott zur Vollstreckung seines Willens ausersehen wurden; daß sie Heiden waren, kann ihren Ruhm nicht schmälern.

Allgemein herrscht die Ansicht, daß der Krieg die edelste Beschäftigung des Mannes sei, daß der höchste Ruhm nur auf dem Schlachtfelde errungen werden könne. Wenn auch die Welt diese Ansicht angenommen hat, laß dich durch sie nicht täuschen. Der Mensch muß etwas Höheres über sich anerkennen und verehren; das ist ein Gesetz, das so lange gelten wird, als es Dinge gibt, die seinem Verstande unfaßbar sind. Das Gebet des Barbaren ist ein Aufschrei der Furcht vor einer überlegenen Kraft, der einzigen göttlichen Eigenschaft, die er klar erkennt. Wir aber waren die ersten, die über diesen rohen, barbarischen Glauben hinausgingen. An die Stelle der rohen Kraft setzten unsere Väter Gott, der Erguß der Furcht wich in unserem Kult dem Hosiannagesang und den Psalmen. Die Herrschaft der Römer ist weiter nichts als ein Rückfall in die alte Barbarei. Die Römer setzen den Krieg über alles, und nirgends außer im Kriegswesen hat Rom Selbständiges geschaffen. Seine Spiele und Schaustellungen sind griechische Einrichtungen, denen nur die Grausamkeit der Römer einen blutigen Charakter gegeben hat. Roms Religion – wenn man von einer solchen überhaupt sprechen kann – setzt sich aus Gebräuchen und Lehren aller anderen Nationen zusammen. Seine höchst verehrten Götter – Mars und selbst Jupiter nicht ausgenommen – entstammen dem griechischen Olymp. Der Römer ist gegen die Vorzüge anderer Völker blind, seine Selbstsucht verhüllt sein Auge wie mit einem dichten Schleier, der ebenso undurchdringlich ist wie sein Brustpanzer. O die ruchlosen Räuber! Unter ihrem Tritte erdröhnt die Erde wie eine mit Dreschflegeln bearbeitete Tenne. Unter anderen Völkern – ach, daß ich es dir sagen muß, mein Sohn! – sind auch wir gefallen. Sie haben unsere höchsten, unsere heiligsten Stellen besetzt, und niemand kann sagen, wie das alles noch enden wird. Allein soviel ist gewiß: mögen sie Judäa zermalmen, wie man Mandeln zerstampft, und sein Öl und Mark, Jerusalem, verzehren, der Ruhm der Männer Israels wird in unerreichbarer Höhe am Himmel leuchten, denn ihre Geschichte ist Gottes Geschichte. Durch ihre Hände schrieb er, durch ihren Mund redete er und er war mit ihnen in allem Guten, auch dem geringsten, das sie jemals taten. Ist es möglich, mein Sohn, daß jene, mit denen Jehova in solcher Weise verkehrte, nichts von ihm lernten, daß in ihrem Leben und Wirken die gewöhnlichen menschlichen Eigenschaften nicht von der Göttlichkeit durchdrungen und beeinflußt wurden, daß ihr Geist nicht – selbst nach Jahrhunderten noch – ein schwaches Abbild des göttlichen bewahrte?« Eine Zeitlang war das Rauschen des Fächers allein vernehmbar in der Stille, die nach diesen Worten eintrat.

»Beschränkt man«, sprach sie weiter, »die Kunst auf Bildhauerei und Malerei, dann ist es allerdings wahr, daß Israel keine Künstler hat. Aber man darf nicht vergessen, daß die Kunstfertigkeit unserer Hände unterbunden wurde durch das Verbot: ›Du sollst dir kein Bildnis machen noch irgendein Gleichnis von dem, was im Himmel oben oder auf der Erde unten oder was unter der Erde im Wasser ist!‹ ein Verbot, das die Sopherim über seinen Zweck und seine Geltung hinaus ausgedehnt haben. Noch darf man vergessen, daß lange, bevor Dädalus in Attika erschien, zwei Israeliten, Beseleel und Soliab, die Werkmeister der ersten Stiftshütte, die Cherubim zu beiden Seiten des Gnadenthrones über der Bundeslade gebildet hatten. Sie waren aus getriebenem Gold, nicht gemeißelt; es waren nicht rein menschliche, sondern himmlische Gestalten. Wer wagt es zu behaupten, daß sie nicht schön waren oder daß sie nicht die ersten Statuen waren?«

»O, ich begreife jetzt,« fiel Judah lebhaft ein, »warum die Griechen uns übertroffen haben. Und die Bundeslade – Fluch über die Babylonier, welche sie zerstörten!«

»Nein, Judah, sei doch gläubig! Nicht zerstört wurde sie, sondern allzu sicher in irgendeiner Bergeshöhle versteckt, daß sie verloren ging. Eines Tages wird sie, wie Hillel und Schammai versichern, nach dem Willen des Herrn wiedergefunden und ans Tageslicht gebracht werden, dann wird Israel wieder vor ihr tanzen und singen wie in der alten Zeit. Und jene, welche dann das Antlitz der Cherubim schauen werden, werden die Hand jedes Israeliten küssen wollen aus Ehrfurcht vor dem Genie seines Volkes, das durch Jahrtausende untätig schlummerte.«

Die Mutter war ganz in leidenschaftlichen Eifer geraten. Nun machte sie eine Pause, um sich zu sammeln und ihre Gedanken zu ordnen. »Du bist so gut, Mutter,« sprach Judah im Tone der Dankbarkeit. »Ich werde niemals ermüden, es zu sagen. Schammai und Hillel hätten nicht besser reden können. Ich bin jetzt wieder ein wahrer Sohn Israels.«

»Schmeichler!« entgegnete sie. »Du weißt freilich nicht, daß ich bloß wiederholte, was ich von Hillel hörte, als er eines Tages in meiner Gegenwart mit einem römischen Sophisten stritt.«

»Nun, die Herzlichkeit der Sprache ist doch dein Eigentum.« Sie wurde sofort wieder ernst.

»Wo bin ich stehn geblieben? Ja, ich beanspruchte für unsere Vorfahren die ersten Statuen. Die Fertigkeit des Bildschnitzers ist aber nicht die einzige Kunst, gleichwie die Kunst selbst nicht die einzige Größe ist. Ich denke mir immer die großen Männer aller Jahrhunderte als einen langen Heereszug, der nach den verschiedenen Nationen in Gruppen abgeteilt ist: hier Inder, dort Ägypter, dort Assyrer; unter Trompetengeschmetter und mit fliegenden Fahnen ziehen sie einher, während all die zahllosen Geschlechter vom Anbeginn an als ehrfurchtsvolle Zuschauer zu ihrer Rechten und Linken stehn. Und fortwährend ergießt sich über die ganze Reihe von einem bis zum andern Ende, von der grauen Vorzeit bis in die ferne Zukunft, ein Licht, das den Streitenden den Weg weist, ohne daß sie es kennen – das Licht der Offenbarung! Und wer ist sein Träger? Unser Volk, Judah! Wie schwillt einem jedem Israeliten die Brust bei diesem Gedanken! An diesem Lichte erkennen wir sie. Dreimal selig ihr, unsere Väter, ihr Diener Gottes und Hüter des Bundes! Dort ist auch dein Platz, Judah, und wäre auch jeder Römer ein Cäsar, du sollst ihn nicht verlieren!«

Judah war tief bewegt. »Ich bitte dich, Mutter, fahre fort!« rief er aus. »Deine Worte sind für mich wie Siegesgesang. Ich warte auf Miriam und die Frauen, die ihr singend und tanzend folgten.« Die gehobene Stimmung Judahs geschickt benützend, fuhr die Mutter fort: ›Nun gut, mein Sohn! Kannst du den Siegesgesang der Prophetin hören, dann kannst du auch weiter meinem Gedankengange folgen. Stelle dich im Geiste mit mir an den Wegrand, während die Auserwählten Israels an der Spitze des Zuges an uns vorüberschreiten. Sieh, sie kommen! Zuerst die Patriarchen, dann die Väter der Stämme. Es dünkt mir, ich höre die Glöckchen ihrer Kamele und das Blöken ihrer Herden. Wer ist der, der dort allein und abgesondert zwischen den Gruppen geht? Es ist ein Greis, doch ungetrübt ist sein Auge und ungebrochen seine Kraft. Er sah den Herrn von Angesicht zu Angesicht. Er war Krieger, Dichter, Redner, Gesetzgeber und Prophet. Wie die Morgensonne durch ihr strahlendes Licht alle übrigen Gestirne verdunkelt, so überragt er an Ruhm alle übrigen, selbst den ersten und edelsten der Cäsaren. Auf ihn folgen die Richter. Danach kommen die Könige: der Sohn Jesses, ein Held im Kriege und ein Sänger unsterblicher Gesänge; und sein Sohn, der reichste und weiseste aller Könige, der die Wüste bewohnbar machte und, während er auf ihren öden Flächen Städte baute, doch auch Jerusalems nicht vergaß, das der Herr zu seinem Sitz auf Erden auserwählt hatte. Neige dein Haupt tiefer, mein Sohn! Die jetzt kommen, sind die ersten in ihrer Art und die letzten. Ihr Angesicht ist nach oben gewandt, als ob sie eine Stimme vom Himmel hörten und lauschten. Ihr Leben war voll des Kummers. Ihr Gewand riecht nach Grab und Verwesung. Horch! Hörst du nicht die Stimme einer Frau unter ihnen: ›Singet dem Herrn, denn er hat glorreich triumphiert!‹ Neige dich vor ihnen in den Staub! Sie waren Gottes Herolde, seine Diener, die in den Himmel blickten und die ganze Zukunft schauten. Und was sie sahen, schrieben sie nieder und hinterließen ihre Schriften der Nachwelt, auf daß spätere Zeiten deren Wahrheit bewiesen. Sieh hier den Thespiter und seinen Diener Elisäus! Sieh dort die drei Jünglinge, die dem Bilde des Babyloniers die Verehrung versagten, und unter ihnen den, der am Gelage die Sternkundigen beschämte. Und dort, mein Sohn, sieh dort den Sohn des Amos, aus dessen Mund die Welt die herrlichen Weissagungen über den kommenden Messias vernahm!«

Die Mutter machte eine Pause, als sei sie in tiefe Gedanken versunken.

»Ich habe dir, Judah,« fuhr sie endlich fort, »so gut ich es vermochte, unsere großen Männer, die Patriarchen, Gesetzgeber, Krieger, Sänger und Propheten vor Augen geführt. Vergleiche sie mit den besten Männern Roms und frage dich, ob du dich unseres Volkes zu schämen brauchst. Darum, was deine Zukunft betrifft,« – sie sprach die letzten Worte langsam und mit zitternder Stimme – »was deine Zukunft betrifft, mein Sohn, so diene dem Herrn, dem Gotte Israels, nicht Rom. Für ein Kind Israels gibt es keinen Ruhm außer im Dienste des Herrn; darin aber findet es hohen Ruhm.«

»Ich darf also nicht Soldat werden?« fragte Judah.

»Warum nicht? Nannte nicht Moses Gott einen Herrn der Heerscharen?«

Es herrschte wieder tiefe Stille im Zimmer auf dem Dache. Endlich sprach die Mutter: »Du hast meine Erlaubnis, nur diene dem Herrn und nicht dem Cäsar!«

Judah ging auf diese Bedingung ein und sank allmählich in Schlummer. Die Mutter erhob sich, schob ihm das Kissen unter den Kopf, breitete eine Decke über ihn aus, küßte ihn zärtlich und ging hinweg.

Ben Hur

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