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Kapitel 1: Schutz

Es herrscht Finsternis um mich herum. Nur eine Kinderstimme dringt hallend durch die Schwärze:

„Mama? Wo ist Papa?“

Ein Schein leuchtet durch eine offene Tür. Man erkennt eine Silhouette, die weinend auf einem alten Stuhl hockt.

„Mama?“

Sie wendet sich zu mir und sieht auf mich herunter, als sei ich ganz klein. Daraufhin wischt sie sich die Tränen ab und sagt mit zittriger Stimme:

„Hey, Alex… Hör mal: Papa… kommt nicht nach Hause…“

„Wieso? Hat er sich verfahren?“

„Nein“, erwidert sie, „er sucht noch etwas…“

Ich lege meine kleinen Hände auf ihren Schoß.

„Bitte, nicht traurig sein. Er wird es schon finden! Was sucht er denn? Ich kann ihm ja helfen!“

Sie fängt langsam an zu lächeln und antwortet:

„Das ist ganz lieb von dir, mein Schatz, aber ich glaube, es ist besser, wenn Papa es selber findet.“

„Was sucht er denn?“, frage ich erneut.

Sie sieht traurig, aber zu gleich auch erleichtert in meine Augen und murmelt: „Schutz.“

Helle Blitze und zudem ein Donnerschlag reißen mich aus dem Traum und ich befinde mich wieder an einem viel kühleren Ort, als in unserem alten Haus. Erst als sich meine Augen an das Licht gewöhnen, erkenne ich einen Altar, ein paar Statuen und Kerzen. Die Kirche. Wie lange ich schon auf dieser alten Bank sitze? Bin ich etwa eingeschlafen? Mir wird ganz unwohl, da ich den Regenstrom von draußen mitbekomme. Das Gewitter will einfach nicht aufhören. Ich setze mich bequem hin und realisiere langsam meine Umgebung. Die Kälte, kein Lärm von Autos und dieses Gefühl von Ruhe. Wohlbefinden und Sicherheit. Benommen betrachte ich die Statuen am Hochaltar und erinnere mich an die alten Zeiten, in denen mich meine Mutter immer mit zur Kirche nahm. Ich konnte fast nie stillsitzen und musste immer irgendwo herumlaufen. Einmal hatte mich sogar der Pfarrer selbst vorsichtig an der Hand genommen und mich mit zu seinem Sessel geführt. Seitdem er mich auf diesem ,Thron‘ sitzen ließ, bin ich immer ganz brav und still bei den Messen gewesen. Nachdem mein Vater noch immer ,auf der Suche‘ war, fühlte sich meine Mutter nicht mehr wohl zu Hause und begann sich weinend im Bad oder im Schlafzimmer einzusperren. Ich wusste damals noch nicht, was mit ihr los war, begleitete sie aber trotzdem jeden Sonntag zur Messe, in der Hoffnung der Pfarrer könne sie trösten. Er sprach ihr Mut zu, gab ihr den Segen und sie beteten gemeinsam oft den Rosenkranz. Wie sollte man als Kleinkind so etwas verstehen? Und vor allem: Wieso tat der Pfarrer dies? Trotz der vielen Aufgaben und reichlichen Messen, fand er immer wieder Zeit, meiner Mutter zu helfen. Oft dauerte dies ein paar Stunden.

Fand sie etwa in ihm… Schutz? Aber vor was, oder vor wem? Es stimmt wirklich, damals konnte ich so etwas nicht verstehen. Aber wenn ich etwas verstand, dann, dass der Pater für mich damals eine Art ,Opa‘-Rolle übernahm. So etwas bedeutet viel für jemanden ohne Großeltern, Geschwister oder einen Vater.

Ich spiele mit dem Gedanken zu gehen, als plötzlich das Quietschen eines Hebels ertönt. Mein Blick fällt nach rechts auf die andere Seite, wo die zweite Bankreihe steht. Ein kleiner Mann, gehüllt in einen braunen Mantel, schließt mit diesem Hebel das hohe Fenster. Er dreht sich um und kommt auf direktem Wege zu mir.

„Habe ich dich geweckt?“, fragt seine ältere Stimme. Ich schüttle den Kopf. Er lächelt und fragt mit einer deutenden Handbewegung, ob er sich neben mich setzen könne. Schweigend nicke ich.

„Wie … wie lange habe ich geschlafen?“, frage ich neugierig.

Er schaut erstaunt auf seine alte Armbanduhr und nickt:

„Ach, sagen wir. eine Stunde? Oder doch besser zwei? Gleich nachdem du hereingekommen bist, hast du dich in die dritte Reihe gesetzt und bist erschöpft eingeschlafen.“

Was? Schon zwei Stunden?! Das kann doch nicht wahr sein! Ich seufze und will meinen Kopf zurückwerfen, dabei stoße ich mir mächtig den Schädel an der Säule hinter mir.

„Argh!“, rufe ich verärgert und drücke meine Hände auf die schmerzende Stelle am Hinterkopf. Mit gekrümmtem Oberkörper fluche ich. Der Pfarrer ist herrlich amüsiert. Peinlich berührt entschuldige ich mich für meine Wortwahl. Klar, wenn was von meiner Kindheit blieb, dann das Benehmen und den Respekt vor Gott.

„Du hast friedlich geschlafen, mein Kind. Ich wollte dich auf keinen Fall wecken.“

Seufzend erkläre ich:

„Pater Luis, ich werde heute 18 Jahre alt. Sie können jetzt gern aufhören, mich ,Kind‘ zu nennen.“

Er schmunzelt nur und erwidert:

„Tut mir leid, aber du wirst für immer ein Kind Gottes sein, und somit werde ich dich auch weiterhin so bezeichnen.“

Ich hasse es, wenn er das erwähnt: ,Kind Gottes‘ … Ich wurde zwar christlich erzogen, aber dennoch bezweifle ich, dass Gott mich wirklich schätzt. Zumindest sieht es gerade nicht danach aus.

Dieser Ort hier ist nur so friedlich, weil wenige Menschen hier sind. Ich mag Menschen, vor allem, wenn sie still sind. Im Café höre ich sie reden, schwätzen und lästern. Gerüchte über dies und Gerüchte über jenes. Sie reden nur und blicken dich dabei aus der Ferne an. Ob sie das Aussehen beurteilen? Die Flecken bemerken? Meckern, wenn das dunkle Haar ins Gesicht hängt oder gar einfach nicht damit klarkommen, dass auch junge Leute mit anpacken können? Möglich, dass ich es mitbekomme, weniger aber, dass ich darauf eingehe. Es stört nur auf Dauer, mehr nicht.

„Aber gut, dass du das erwähnst! Ich habe etwas für dich.“

Vorsichtig holt er ein Kästchen aus seiner Manteltasche und öffnet dies.

„Das ist für dich, mein Kind.“

Im Inneren des Holzkästchens liegt eine Kette mit einem Kreuz als Anhänger. Ist das Silber? Pater Luis nimmt es vorsichtig heraus und legt es mit Bedacht um meinen Hals. Er zeichnet das Kreuzzeichen auf meine Stirn und spricht mit klaren Worten:

„Möge Gott dich auf deinem Wege begleiten und dich beschützen!“

Ich bin mehr von der Kette berührt, als von seinem kurzen Gebet. Selten habe ich so ein schönes Kreuz gesehen. Die Form, die Zierde, die feine Detailarbeit. Ich schätze dieses Geschenk und traue mich nicht einmal nach dessen Wert zu fragen.

„Du bist mir sehr ans Herz gewachsen. Ich kann es kaum glauben, dass du schon ,erwachsen‘ bist. Möge der Herr besonders auf dich Acht geben, selbst wenn deine Hoffnungen zu Boden liegen.“

Kaum bemerke ich seine Worte, da fällt mir ein, dass ich mich noch gar nicht bedankt habe. Meine Umarmung überrascht ihn, aber ich merke gleich, wie er sich freut.

Erneut stehe ich vor dem Kirchentor. Tatsächlich regnet es immer noch und ich setze meine Kapuze auf. Mit den Händen in der Hosentasche stapfen die Beine den asphaltierten Hügel hinab. Irgendwann bleibe ich nachdenklich bei einer leuchtenden Straßenlaterne stehen. Einmal drehe ich mich noch um und bestaune den weißen Kirchturm in der Finsternis, zwar wenig, aber dennoch vom Mondschein bestrahlt. Mir ist es egal, ob ich jetzt durchnässt bin oder nicht, dieser Augenblick ist es mir wert. Schade, dass ich eine der wenigen Personen bin, der die Kirche heute noch etwas bedeutet. Die Jugend hat in diesen Jahren schon aufgegeben an Gott zu glauben. Traurig. Ich höre einen Wagen durch Pfützen fahren und bemerke hinter mir ein paar Scheinwerfer.

„Überfahr mich doch einfach, du Rowdy!“, murmle ich.

Was zum Teufel ist mit mir los? Es ist zwar nur ein Gedanke, aber kurz darauf erschrecke ich selber vor meinen Worten. Sofort bleibt das Auto neben mir stehen. Die Tür wird aufgerissen und eine zarte Person springt hektisch heraus.

„ALEX! Verdammt, wo warst du denn?!“

Mom? Bevor ich noch irgendetwas mitbekomme, fällt sie mir um den Hals. Ohne mich los zu lassen, fragt sie immer wieder nach, ob es mir gut ginge. „Keine Sorge, ich war bei Pater Luis, er hat auf mich aufgepasst“, versuche ich sie zu beruhigen.

„Komm!“, sie zieht mich in den Wagen und fährt los. Ich wische meine Tränen ab und zugleich bemerke ich, wie sie besorgt meinen Oberschenkel streichelt. „Es tut mir leid. Mein Akku war leer und ich wollte einfach nicht nach Hause kommen.“

„Ich weiß“, gesteht sie, „ist ja nicht das erste Mal.“

Dieses enttäuschte Lächeln, sie weiß genau Bescheid. Betrübt sehe ich aus dem Fenster in die Dunkelheit und denke nach, wie ich es ihr am besten sagen sollte.

„Weißt du, Mom…“, fange ich an.

„Bitte, Alex. Ich weiß, dass heute ein wichtiger Tag für dich ist. Deswegen habe ich mit dem Kuchen und dem Geschenk zu Hause auf dich gewartet. Da Sebastian aber früher heimkam als du, war ich besorgt. Sag mir einfach das nächste Mal wo du bist, ok?“

Ich nicke. Eigentlich wollte ich noch ein ,Danke‘ hinzufügen, aber sie fährt schon fort:

„Ich musste dein Geschenk leider schon wieder verstecken, wegen Sebastian… Aber wir können es gerne morgen Früh abholen!“

Ich atme tief ein:

„Bitte, Mom, ich wünsche mir nicht mehr, als dass du bei mir bist. Bitte lass mich nicht wieder allein zu Hause, nicht mit ihm.“

Verzweifelt sieht sie mich an, findet aber keine Worte mehr.

„Nur… Nur noch diesen Sommer, Schatz. Dann ist es vorbei.“

Es ist nicht einfacher geworden, seitdem ich die Schule abgeschlossen hatte. Ich kann erst im Herbst von hier abhauen. Früher kann ich nicht gehen, allein schon wegen meiner Mutter und ihrer Arbeit. Mein Job im Kaffee und ihre Putzaufträge schaffen es, uns gerade so über Wasser zu halten. Es funktioniert, aber es ist eine wackelige Angelegenheit. Vor allem wegen unserem Säufer.

„Ok“, gebe ich als Antwort, da mir ja auch nichts Besseres in diesem Moment einfällt.

Nach einiger Zeit erreichen wir das Haus, in dem wir schon seit 10 Jahren leben und jedes einzelne Jahr war zu viel. Das Gefühl, beschützt zu sein und sich wohl zu fühlen, ist schon lange verschwunden. Am liebsten würde ich zurück fahren zur Kirche. Dort herrscht, trotz der Kälte, mehr Wärme, als in den Räumen dieser Bruchbude. Wir steigen aus und laufen rasch zur Tür, doch, sobald wir eintreten, hören wir kein gutherziges ,Hallo‘, sondern verabscheuende Vorwürfe, besser gesagt, ich.

„Was zum Henker hast du dir dabei gedacht?! Einfach so abzuhauen, ohne ein Wort zu sagen? Man sollte dich anbinden, du…“, Sebastian holt zur Ohrfeige aus, doch meine Mutter kommt ihm zuvor. „Wer glaubst du eigentlich wer du bist?! Lass mein Kind sofort in Ruhe! Du solltest froh sein, dass Alex nichts passiert ist.“

Ich bin erstaunt. Selten habe ich Mom so erlebt. Anscheinend ist er genauso überrascht wie ich, lässt sich aber nicht wirklich beeindrucken und holt wieder aus. Dieses Mal reicht es mir und ich trete vor die Nase des riesigen Grobians.

„Lass sie in Ruhe! Sie hat nichts damit zu tun. Ich bin abgehauen, nicht sie!“

Sebastian richtet sich mächtig auf und beginnt das innere Feuer zu entfachen. Mom will wieder eingreifen, aber ich halte sie zurück und nicke. Eine drohende Stimme erklingt:

„Nach oben. In dein Zimmer.“

Ohne jegliche Worte gehorche ich und blicke dabei kein einziges Mal zu Mama. Ich kann ihre weinenden Augen nicht mehr sehen, es tut zu sehr weh. Keine Minute vergeht, in der ich nicht bete und warte, dass er endlich kommt. Ich sehe auf den Boden, höre aber wie er hereintritt:

„Ich habe deiner Mutter gesagt, dass wir ein ernstes Wörtchen reden werden.“

Innerlich bekomme ich es mit der Angst zu tun und fürchte mich, will dies aber nicht zeigen. Schweigend sitze ich auf meinem Bett und gebe keinerlei Emotionen von mir. Er zieht seinen Gürtel aus und befiehlt mir aufzustehen. Ich weigere mich und bleibe sitzen, dies hilft mir leider herzlich wenig, denn er packt mich wie einen Sack und zieht mich fest an sich. Zu meinem Bedauern hat er die Kette entdeckt und reißt sie mir sogleich herzlos vom Hals. Ohne eine einzige Frage, macht er das Fenster auf, wirft sie hinaus, macht das Fenster wieder zu und wendet sich erneut zu mir, so, als ob nichts gewesen wäre.

„Zieh dich aus“, befiehlt er erzürnt.

Ich schweige, ziehe mein Shirt über den Kopf und drehe mich um. Dieses Arschloch hat es nicht verdient, mich von vorne zu sehen. Mit einem festen Druck zwingt er mich auf die Knie, genießt dabei förmlich mich zu demütigen.

„Sei froh, dass ich zu deiner Mami etwas lieber bin“, behauptet er lachend.

„Fick dich…“, kommt es aus mir heraus und ein kräftiger Schnalzer ertönt. Ich schreie auf, als würde ich lebend verbrennen. Er schlägt kräftig und ohne Reue, dann lacht er:

„ Heute gibt es die doppelte Packung, da du abgehauen bist. Und noch ein paar dazu, wegen deinem Schandmaul.“

Ich halte mir ein Kissen vor das Gesicht, damit meine Mutter die Schreie nicht hören muss. Bis jetzt weiß sie nicht, welche ,ernsten Worte‘ wir eigentlich immer besprechen. Die Tür ist ja verschlossen und die Wände dicht, wie eine Steinmauer. Aber das Schlimmste von allem ist die Zeit. Es fühlt sich an wie Stunden, oder sogar wie Tage.

Na toll… Happy Birthday, Alex. Irgendwann höre ich auf zu beten und verliere das Bewusstsein. Hoffentlich hat er sich nicht verzählt.

Meine Sünde

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