Читать книгу Dem Licht entgegen - Liane Sanden - Страница 8

Fünftes Kapitel.

Оглавление

Weit ist das Land um den Kaukasus. Weit und grün sind seine Felder unter dem russischen Himmel. Grün sind seine Wälder und schwarz die Schluchten seiner Berge. Niemand kennt ihre Wege, niemand ihre Geheimnisse. Niemand die Seele der Kaukasier, ihre Liebe und ihren Hass. Nicht der Zar hat den Weg gefunden, nicht der rote Machthaber in der fernen Stadt, die Moskau heisst. Jetzt noch, wie einst, sind unberührte Felder, Weiden und die schwarzen Wälder. Noch jetzt singt man die alten Heldenlieder. Und in den Schänken beim Kachetinerwein tönt jetzt noch das uralte Heldenlied vom grossen Schamyl, der dem Zaren trotzte und der grösste Held war in den Schluchten des Kaukasus. Nicht der Zar konnte sie bändigen, die Leute um den Kaukasus — und nicht die rote Flut sie hinwegschwemmen.

Quietschend holperte die Arba über die Erdschollen.

„He, Brüderchen“, schrie Nasid, „vorwärts! Träumt nicht, meine Guten, es ist noch weit, und Tamara hat für heute Maiskolben versprochen, gute, fette Maiskolben, weiss wie Zähne kleiner Kinder — he!“

Er stiess mit dem Stock ermunternd vorwärts. — Starr auf dem Holzstamm sind die beiden Räder des Karrens aufgekeilt, es ist eine Kunst, sich bei dem Auf und Ab des dreieckigen Wagens festzuhalten. Aber Nasid sitzt fest — Tag für Tag, den Gott gibt, vom Frühling bis zum Herbst fährt er auf der Arba zum Feld und wieder heim. Gern hätte er ein Pferd gehabt, aber dazu hätte er nicht ein Ziehsohn sein dürfen, sondern ein reicher Bauernsohn, drüben aus der deutschen Ansiedlung in Georgenthal.

Während er weiterfährt, sieht er sehnsüchtig hinüber. Ganz hinten, verschwimmend im Lichterglanz, erkennt er mit seinen scharfen Augen das Büffelgespann eines Bauern. Er pflügt mit sechs Paar Büffeln. Nasid unterscheidet mit seinen Falkenaugen sogar die Farbe. Er unterscheidet die Furchen, in denen die Saat gesät ist. Schön in Reihen, nicht wie Kraut und Rüben durcheinander. Drüben müsste man sein!, dachte Nasid, dann würde man etwas lernen, vielleicht etwas werden. Aber so —? Sein braungebranntes Gesicht unter dem hellen Blond des Haares verschliesst sich. Es war besser, nicht hinüber zu denken. Auch nicht drüben an Maria. Man gehörte einmal hierher. Es war nicht anders. Gott hatte es so beschlossen. Wenigstens hatte er Tamara. Ein Lächeln ist in seinen Augen.

„He, meine Guten, schlaft ihr schon?“ ruft er das Ochsengespann an. „Denkt ihr nicht an das Heu, an das gute, duftende Heu, das Tamara euch in den Stall legen wird? Vorwärts, meine Guten!“

Der Himmel ist seidige Bläue. Die Sonne flimmert über den Feldern, den Schluchten. Am Waldrand blüht es weiss, rosa. Die Feigenbäume duften, und die Mandelbäume stehen in Rosa wie Mädchen, die sich zum Kirchgang ihr bestes Kleid angezogen haben.

Die Arba poltert weiter. Hügel auf und ab begleiten den Weg. Unten schäumt grün und glasig der Fluss. Am Hang blühen die weissen Sterne der Waldbeeren. Nasid schnalzt leise mit der Zunge. Das Wasser läuft ihm im Munde zusammen. Er fühlt schon den kühlen, duftenden Geschmack der reifen Beeren. Ein paar Wochen noch, dann wird man mit Tamara Beeren sammeln, nicht hier am Rande, wo das ganze Dorf zusammenläuft. Nasid weiss Stellen, ganz tief innen, tief versteckt, weit hinter der Schlucht. Die anderen Jungens fürchten sich: Luchse sollen da sein, Wildkatzen, und der grosse Bär, der im Winter bis an ihr Dorf herankommt, soll dort hausen, erzählen die Mädchen.

Aber Nasid fürchtet sich nicht. Er hat ein Kinjal, einen kaukasischen Dolch, so scharf und so kostbar, wie kein Junge. Umsonst macht er auch nicht jedes Jahr die Wanderung nach dem Badeort Borschom. Verkauft dort Obst und Handgewebtes von Mariat, seiner Ziehmutter. Kein Junge aus dem ganzen Aul verkauft so gut wie Nasid. Woran es liegt, weiss er nicht. Vielleicht daran, dass er nicht zerlumpt an der Ecke des Basars steht wie die anderen Jungen aus seinem Aul, dass er sich wäscht, nicht bloss vor jedem Feiertag wie sein Ziehvater, der alte Wachtang, und Mariat, sondern täglich. Das letztemal hatte er so viel Geld mit heimgebracht aus Borschom, dass er Tamara ein schönes Stück Schemacha aus dem Basar hatte mitbringen können. Schmuck hatte sie ausgesehen beim Tanz in der feierfarbenen Seide. Freilich nicht so schön wie Maria.

Er seufzte. Er war ärgerlich über sich selbst. Er fühlte dumpf, es tat nicht gut, immer Maria mit Tamara zu vergleichen.

Die Lehmhäuser kamen aus der Wegbiegung hervor. Nun bedurfte es keines Zurufes mehr, das Gespann presste die Steine auf die Seite.

„He, Nasid!“ schrie ein Tulchtschik, der, mit Wasserschlauch über dem Rücken, vom Brunnen kam. „He, Brüderchen, warum schmierst du deine Arba nicht? Die quietscht ja, dass man sein eigenes Wort nicht versteht. Deshalb hörst du wohl auch nicht das Schreien der alten Mariat! Mach nur, dass du nach Hause kommst. Wachtang ist gerade im Begriff, sie totzuschlagen, und Tamara dazu.“

Nasid war kreideweiss geworden. Er sprang ab und schoss in langen Sprüngen die Dorfstrasse entlang. Die Ochsen trotteten den bekannten Weg auch allein.

Nasids lange Beine flogen wie die eines edlen Tieres im gestreckten Lauf. Und schon klang ihm Geschrei, Weinen, eine tobende Männerstimme entgegen.

Das Zimmer war viereckig; der Fussboden, die Wände aus Lehm. An einer Wand stand Tamara. Ihr braunes Gesicht war vor Schreck aufgerissen, ihr Mund stand halb offen. Aber kein Schrei kam. Auf dem Boden lag die alte Mariat, wie ein hingeworfenes Bündel.

Wachtang, der Mann, stand mit blutunterlaufenen Augen im Zimmer. Sein Schnabelschuh stiess in besinnungsloser Wut nach dem Bündel. Jedesmal, wenn er traf, wimmerte es leise.

Mit einem Sprung war Nasid im Zimmer, warf sich gegen den Alten.

„Du Sohn von tausend Schweinen“, schrie Wachtang. Wie ein Stier, der stossen will, duckte er sich. Aber Nasid hatte ihn schon genommen und mit einer wilden Wut gegen die Wand geworfen. Oben von dem Wandbord polterten ein paar Tongefässe, und ein weisses Rinnsal von Mazoni, der gesäuerten Dickmilch, ergoss sich auf den Fussboden.

Tamara bekreuzigte sich.

„Lass, lass, Nasid!“ flüsterte sie angstvoll.

Der alte Wangtang sass betäubt von dem schweren Stoss.

Nasids Ziehmutter richtete sich zitternd auf. „Lass, lass, Nasid!“ wiederholte sie mit schleppender Stimme. Sie kroch auf allen vieren zur Tür. Sie schien Angst zu haben, den Blick ihres Mannes noch einmal auf sich zu ziehen.

„Du Hundesohn!“ Wachtang erhob sich taumelnd und ging auf Nasid zu.

Mit einem Ruck riss der seinen Dolch aus dem Gürtel. „Rühr mich nicht an! Rühr mich nicht an!“

„Hinaus“, schrie Wachtang, „hinaus, du Hundesohn! Ich hab genug von dir. Wenn du dich noch einmal blicken lässt, bringe ich dich um. Verreck auf der Landstrasse, wo du hingehörst.“

„Besser auf der Landstrasse, als in deinem Saustall, du Menschenschinder!“ brüllte der Junge zurück. Er wollte auf Wachtang zu. Tamara warf sich dazwischen.

„Willst du, dass er dich totschlägt, und uns alle dazu?“ flüsterte sie angstvoll. „Gib Ruhe, Nasid! Er meint es nicht so. Siehst du nicht — er ist berauscht!“

Wirklich, Wachtang war nach torkelnden Schritten auf die Tachta, die Schlafbank, gefallen. Seine Beine hingen lang herunter. Sein schwerer Oberkörper lag halb auf der Schlafbank, sein rotes, gedunsenes Gesicht auf dem Mutak, der Schlummerrolle. Er murmelte noch einige drohende Worte. Das Murmeln ging über in unverständliches Lallen. Ein röchelndes Schnarchen. Er schlief.

Tamara hatte Nasid nach draussen gedrängt.

„Was habt ihr denn wieder gehabt, Tamara?“ fragte Nasid finster. „Der alte Säufer wird euch noch einmal totschlagen.“

„Du solltest nicht so reden von ihm, Nasid. Er ist doch dein Ziehvater.“

„Wollte Gott, er wär’s nicht. Vielleicht wäre es besser, Tamara, ich wäre umgekommen, als kleines Kind, statt hier —“ Er verstummte, fuhr ungeschickt mit seiner Hand über das braune, schöne Gesicht Tamaras.

„Was hast du denn da?“ fragte er plötzlich misstrauisch.

Tamara legte schnell ihre Hand um den Hals.

„Der Karapet war da.“

Wieder stieg die Wut in Nasids blauen Augen auf.

„Der Karapet? Was wollte er, der alte Gauner?“

„Ich soll zu ihm kommen — in seinem Laden helfen“, sagte Tamara furchtsam. „Er hat dem Vater eine Flasche mit bestem Kachetiner mitgebracht, und mir eine bunte Kette. Zehn Rubel will er dem Vater erlassen, wenn er mich in die Stadt in seinen Laden bekommt.“

„Schöner Laden ...“, höhnte Nasid. „Der Laden wird das Bett sein.“

Mit einem Ruck riss er Tamara die Kette von dem schönen Hals. Mit lautem Klirren versprühten die Steine aus dem Lehmfussboden.

„Meine Kette!“ jammerte Tamara. „Oh, Nasid!“

Sie bückte sich weinend.

„Warum hast du sie genommen?“ fragte Nasid rasend. „Willst du so eine werden, wie die Boti vom Nachbar? Bei der hat’s auch angefangen mit einer Kette.“

„Ich will ja gar nicht zum Karapet, zu dem krummbeinigen Armenier. Die Mutter will es auch nicht. Und darum hat der Vater die Mutter verprügelt, aber die Kette konnte ich doch nehmen.“

Sie hockte noch immer auf der Erde, ihr braunes Gesicht sah kindlich und doch mit einer gewissen Gier zu Nasid auf. Unter dem weissen Scheitel lag das schwarze Haar. Es hatte einen braunen Glanz, wie das Gefieder der Bachstelze, wenn sie am Bergquell trinkt. Schön war Tamara, schön war seine kleine Ziehschwester.

„Lass die Kette, Tamara“, sagte er leise und befehlend. „Ich werde dir eine schönere kaufen, eine viel schönere.“

Tamara lachte spöttisch auf. Sie liebte Nasid. Sie liebte ihn mit der ganzen ungestümen Leidenschaft eines Naturkindes. Aber sie liebte auch Schmuck und Tand.

„Du wirst mir kaufen? Wovon? Hast ja selber nichts, Betteljunge!“

„Du wirst es schon sehen“, sagte Nasid. „Ich geh fort in die Berge. Ich werde den Schatz des Selim-Chan finden.“

Tamara erschrak.

„Heilige Mutter Gottes! Wer hat dir den Kopf verdreht, Nasid? In die Berge? Den Schatz des Selim-Chan? Weisst du nicht, dass die bösen Geister dort wachen?“

„Geist ist Unsinn“, belehrte Nasid sie. Er hat es drüben bei dem deutschen Lehrer gelernt. „Es gibt keine Geister. Es gibt nur den allmächtigen Gott.“

Tamara ist ein richtiges Weibchen. Sie fühlt sofort, woher Nasid der Mut kommt, so verächtlich von Geistern zu sprechen.

„Das hast du drüben von den Njemzi, den Deutschen, gelernt. Gib acht, Nasid, sie werden dich unglücklich machen, die Deutschen, und die Blonde, mit ihren scheinheiligen Augen. Glaubst du, die denkt im Ernst an dich? Die macht sich nur lustig über solch einen dummen georgischen Burschen wie du ...“

Sie verstummt entsetzt. Nasid, ausser sich, hat sich heruntergebeugt; es klatscht einmal durch den Raum.

„Da hast du für dein Schandmaul“, sagt Nasid.

Tamara hält sich jammernd ihre rot angelaufene Wange.

Nasid erschrickt. Was hat er da gemacht? Man ist sonst nicht sehr gefühlvoll hierzulande. Ein Schlag, wenn er nicht ans Leben geht, ist nichts. Warum hat er plötzlich ein so jammervolles Gesicht? Wie er Tamaras Gesicht sieht? Er hat sich herumgeprügelt mit den Jungens auf der Dorfstrasse. Er hat den alten Wachtang gegen die Wand geworfen, dass es nur so gekracht hat. Aber er hat noch nie eine Frau geschlagen. Auch das hat er hier vor sich gesehen von Kindheit an. Aber irgend etwas steigt in ihm wieder auf. Das hier durfte nicht sein. Er muss hier fort. Sonst endet er schliesslich auch einmal wie der alte Wachtang.

Dem Licht entgegen

Подняться наверх