Читать книгу Brücken, die die Sehnsucht schlug - Liane Sanden - Страница 6

Drittes Kapitel

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Jürgen war als erster beim Spritzenhause — sein Herz erstarrte — die Unzulänglichkeit der alten Feuerlöschgeräte, er hatte sie ganz vergessen! Erst vor kurzem war es erneut deshalb zwischen ihm und dem Vater zu einem Streit gekommen — nun war das Unglück da. Mit der kleinen Handspritze konnte man einen solchen Brand nicht löschen, da hätte eine richtige Motorspritze bereit sein müssen und nicht, wie hier, geborstene Schläuche und verrostete Geräte. Aber alle Vorwürfe halfen nichts. Jetzt musste man versuchen zu retten, was zu retten war. —

Als Jürgen mit den ersten Männern der freiwilligen Feuerwehr den Rettungsschuppen geöffnet und die Geräte heraustransportiert hatte, formierte sich bereits die Gutsund Dorfwehr. Aber während noch alles im Stadium der Vorbereitung war, krachte das leicht gebaute Schulgebäude schon in allen Grundfesten. Händeringend und weinend stand der Lehrer mit den Seinen vor dem Hause. Angstvoll duckten sich die Kinder — da schrie die Aelteste auf: „Die Ina, die Ina ist vorhin wieder auf den Boden gegangen zu der Bücherkiste, die Ina . . .“ Die Lehrersfrau stiess einen markerschütternden Schrei aus und sank in die Arme ihres Mannes, der schreckgelähmt auf das brennende Haus starrte.

„Gott erbarme dich unser —“ flüsterte er. Da hörte man auch schon ein klägliches Wimmern hoch oben, und in der Bodenluke, von Rauch und Flammen umloht, erschien ein verzerrtes Kindergesicht —

„Wasser“, keuchte Jürgen, „gebt Wasser!“ Aber der Schlauch, alt, morsch, überansprucht, barst in zwei Teile auseinander — er reichte nicht mehr nach oben. Ein Schrei der Angst ging durch die Menge — da stiess Jürgen einen der Feuerwehrleute von det Leiter, kletterte hinauf, Rauch und Feuer raubte ihm fast die Besinnung — aber er klomm weiter. Die Augen hielt er geschlossen, er achtete nicht auf die sengende Hitze, nicht auf den Rauch, der ihn zu töten drohte, denn er vermochte kaum noch zu atmen, nicht auf die Flammen, die ihn jede Sekunde in eine lebende Fackel verwandeln konnten. Er verfolgte weiter seinen Weg nach oben, erreichte das halb bewusstlose Mädelchen, packte es und hastete die Sprossen wieder hinunter. Er fiel mehr als er ging, und im selben Augenblick, als das Haus zusammenkrachte, legte er taumelnd der Mutter das gerettete Töchterchen in die Arme . . .

An dem Tage, der diesem Abend folgte, kam es zwischen Jürgen Hauer und seinem Vater Malte zum endgültigen Bruch. Die Versicherungskommission und die Untersuchungsbehörde, die zufälligerweise in einem der Nachbardörfer zu tun hatten, waren sofort nach Scholtenkamp gekommen, als sie von dem Brande erfuhren. Nachforschungen wurden angestellt, wie es mit den Feuervorsichtsmassregeln auf dem Gute Hauers, des Amtsvorstehers, stand, und ob alle Vorschriften genau beachtet worden waren. Der alte Hauer wollte sich damit herausreden, dass er die Feuerlöschgeräte für einwandfrei gehalten habe und von neumodischen Einrichtungen nichts verstünde. Jürgen aber erklärte mit blassem, steinernem Gesicht, dass er den Vater wie den Ober inspektor, der für alle Anschaffungen Prokura habe, erst kürzlich auf die vollkommene Unzulänglichkeit der Spritzen, Schläuche und sonstigen Gerätschaften aufmerksam gemacht hätte.

Ein rasender Zorn gegen den Vater hatte ihn ergriffen, der, ebenso wie der Inspektor, beinahe ein Menschenleben auf dem Gewissen gehabt hätte. Wäre er — Jürgen — nicht unter Gefährdung seines eigenen Lebens im letzten Moment der kleinen blondlockigen Ina zur Hilfe gekommen — das Kind lebte heute nicht mehr. Vielleicht hätte sich unter den anderen Männern des Dorfes noch irgendein Beherzter gefunden — aber schon der Augenblick des Zögerns hätte unwiederbringliche Zeit gekostet. —

Der Branddezernent machte ein sehr ernstes Gesicht, als Jürgen seine Angaben zu Protokoll gab. „Als Amtsvorsteher waren Sie verpflichtet, für tadellose Beschaffenheit der Feuerlöschinstrumente Sorge zu tragen, Herr Hauer“ — wandte er sich an Malte — „und auch die Versicherung wird sich wohl an Sie halten wegen Wiederaufbau des Schulgebäudes!“

Zähneknirschend hatte der Herr auf Scholtenkamp diese Worte mit angehört. Solange die Herren aus Stralsund noch im Hause waren, hielt er an sich. Doch dann tobte er besinnungslos vor Wut gegen den Sohn.

„Das verdanke ich dir“, schrie er Jürgen an. „Wie kannst du es wagen, etwas auszusagen, was deinen Vater belastet?“

„Wolltest du vielleicht, dass ich eine Lüge zu Protokoll geben sollte?“ hatte Jürgen flammend erwidert. „Dann schäme ich mich für dich Vater!“

Da hatte der alte Scholtenkamp, ausser sich vor Zorn, eine Bewegung auf seinen Sohn zu gemacht, als wollte er ihn schlagen. Jürgen, schneebleich, hob die Hand — „Vater, Vater“, sagte er, „wenn du mich anrührst, bei Gott, ich schlage wieder —“

„Hinaus!“ röchelte der Alte. „Hinaus — aus meinen Augen. Wenn du dich noch einmal auf meinem Grund und Boden blicken lässt, hetze ich die Hunde auf dich!“

Draussen vor der Tür ein Auffchrei — als Jürgen Hauer das Haus seiner Väter verliess, lag quer vor der Schwelle — ohnmächtig — Frau Renate.

Zwei Tage später stand ein totenbleicher junger Mann vor dem Hause von Kapitän Sverdrup in Gotenburg und fragte nach Fröken Märta. Ein freundliches blondes Mädchen in schwedischer Tracht, die Zöpfe um den Kopf gelegt, führte ihn durch eine eichengetäfelte Halle in ein helles Südzimmer mit grosser Glasveranda. Sein Atem stockte — das rotgoldene Haar von Sonne umflossen, sass dort Märta, das Haupt über eine Handarbeit geneigt.

Jetzt wandte sie sich um, starrte den still Dastehenden einen Augenblick an, als narrte sie ein Traumbild: „Jürgen“, schrie sie dann auf, flog auf den Jugenfreund zu, schlang ihre Arme um ihn, „Jürgen, du hier?“

Aber ihre Freude verflog schnell, als sie den schmerzverzerrten Zug um seinen Mund sah: „Jürgen, was ist mit dir geschehen, was ist vorgefallen?“ Sansft führte sie ihn zu einer Ecke, zwang ihn auf den bunten Bauernstuhl mit den lustigen handgewebten Stoffkissen nieder und streichelte seine Hände.

„Ich komme Abschied zu nehmen, Märta“, sagte er leise, „Abschied von Europa — von dir . . . “

Und dann erzählte er der fassungslosen Märta von dem, was sich auf Scholtenkamp ereignet.

Tief erschüttert hörte sie zu: „Mein armer, lieber Junge muss denn alles so ausgehen? Denke an deine Mutter, Jürgen, denk daran, dass sie, wenn sie sich auch nicht aufzulehen wagte gegen den Zorn deines Vaters, doch in dir ihr ein und alles sieht. Soll sie vor der Zeit dahinwelken wie Donna Carola? Und dein Vater? Er hat bestimmt seine Heftigkeit schon jetzt bereut, Jürgen, denn er ist nicht schlecht — nur masslos jähzornig. Kannst du nicht wieder zurück?“

„Nein, Märta, das kann ich nicht!“ In tiefem Weh, aber fest und bestimmt, kamen die Worte von Jürgens Lippen. „Diesmal hat mich ein gütiges Geschick noch davor bewahrt, dass ich die Hand gegen den eigenen Vater erhob. Beim zweiten Male“ — er schauerte zusammen — „ich musste gehen, Märta. Ich habe das unbändige Blut meines Vaters geerbt — besser, ich verlasse Scholtenkamp, ehe ich schwerere Schuld auf mich lade.“

„Und wohin willst du?“ fragte Märta leise.

„Zu Victor, Märta!“

„Aber niemand weiss, wo er ist.“

„Ich werde ihn finden“, sagte Jürgen fest. „Mir ist, als wäre in dem allem eine Bestimmung“.

„Du wirst ihn finden?“ Tränen strömten plötzlich aus Märtas wunderschönen grauen Augen. „Ach, Jürgen, nie, nie im Leben würde ich dir das vergessen . . .“

Eine solche Sehnsucht, so viel tiefes Weh lag in der Stimme des Mädchens, dass Jürgen wie von glühenden Pfeilen durchbohrt wurde. Sollte ihm dieser Tag, der ihm die Hiemat genommen, auch noch die einzige, süsse Hoffnung nehmen, die er im tiefsten Grunde seines Herzens gehegt?

„Märta“, sagte er leise, „leibst du Vic?“

Da senkte sich das schöne Mädchenhaupt mit dem rotgoldenen Haar tief, ganz tief. Tief senkte sich auch Jürgen Hauers Kopf.

Märta schien zu ahnen, was er empfand. Leicht, unendlich zart und liebevoll, glitt ihre Hand durch sein eng anliegendes, lichtes Haar.

„Jüregn“, sagte sie sanft, „meine Gedanken, meine Wünsche, meine Zuneigung begleiten dich wie die Wünsche und Zuneigung einer Schwester.“ Da beugte sich Jürgen über ihre Hände. Dann legte er sein Gesicht an ihre Brust, sie schlang die Arme um ihn — verharrte so — Mutter und Schwester zugleich.

Jürgen machte sich langsam frei, griff zart nach dem Gesicht des Mädchens, das ihn ruhig gewähren liess, sanft, ehrfürchtig beinahe küsste Jürgen die Freundin seiner Jugend zum Abschied.

„Märta, und wenn es mir zu einsam in der Fremde wird, wenn ich eine Schwester, eine Freundin brauche — wirst du für mich da sein? Ich darf dich nicht bitten, mein Weib zu werden, wenn ich dereinst sicheren Grund unter den Füssen habe, was ich zu Gott hoffe. Denn deine Liebe gehört ja nicht mir. Aber deine Freundschaft — und wenn ich ihrer bedarf?“

„Dann komme ich“, erwiderte Märta schlicht. Aber in ihren Augen stand es wie ein Gelöbnis.

Und noch lange nachdem Jürgen wieder fort war, dachte sie an dies Versprechen. Der Freund war gegangen, aber sie wusste, in seinem Herzen lebte sie weiter. Ob wohl auch der andere, der Verstummte, noch an sie denken mochte, er, dem sie die ganze ungestüme Liebe ihrer Kindheit und erwachenden Mädchenzeit geschenkt? Ob Victor ihrer noch gedenken mochte?

Das Herz war ihr schwer.

Brücken, die die Sehnsucht schlug

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