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Kapitel 3

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Maya

»Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, so unwahrscheinlich sie auch ist.«

- Arthur Conan Doyle

»Eine andere Welt?« Maya stemmte die Hände in die Hüfte. »Klar doch, und ich bin die Kaiserin von China«, stieß sie hysterisch hervor.

Der Junge runzelte die Stirn. »Du siehst nicht aus wie eine Kaiserin.«

Fast hätte sie gelacht, aber als sie ihn genauer betrachtete, stellte sie fest, dass er ernsthaft verwundert war. »Das ist nur so 'ne Redewendung. Ihr müsst ganz schön weit weg von der normalen Zivilisation leben, sonst wüsstet ihr das.«

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Maya die beiden und hob den Finger. »Also, wo bin ich?«

Wieder antwortete der Junge, diesmal in einem leicht genervten Ton. »Das sagte ich schon, in Kaltru. Wir wissen nicht, wie du hier her gekommen bist …« Er wandte sich an Ercan, der ihn nicht so überzeugt ansah. »Außer sie ist ...«

»Außer ich bin was?« Maya sah zwischen den beiden Männern hin und her, bis Ercan schließlich ein leises Seufzen hören ließ und antwortete. »Er denkt, du bist die Weltenwanderin.«

Sollte ihr das jetzt etwas sagen? Zumindest ging keine Glühbirne in ihrem Kopf an.

Da fing Ercan – der Starke von beiden – an, zu erzählen. »Die Prophezeiung spricht davon, dass jemand mit der Bezeichnung Weltenwanderin in unsere Welt übergeht. Wir haben auf diese eine Person gewartet.« Kurz sammelte er sich, dann redete er weiter. »Es gibt die Erde und es gibt unsere Welt. Diese beiden Planeten sind Parallelwelten, die sich in den Landbeschaffenheiten gleichen, aber andere Bewohner beherbergen. Auf eurer Seite sind die Menschen, auf unserer … Na, das erfährst du noch früh genug.«

Er räusperte sich, bevor er weitersprach. »Jedenfalls steht in der Prophezeiung geschrieben, dass beide Planeten aufeinander zusteuern und durch einen Zusammenprall alles ausgelöscht wird. Die Weltenwanderin kann zwischen den beiden Welten wechseln und soll dies verhindern. Allerdings ...« Er sah zu den Sternen, als würden sie ihm wie Hoffnungslichter entgegenblinken. Dann senkte er seinen Blick wieder. »Allerdings sollte das schon geschehen sein, daher wurden einige von uns unruhig. Schlachtpläne werden entwickelt, wie man die Erde vernichten kann, bevor sie uns vernichtet.«

Auch Maya sah nun in den Himmel. Ein Teil von ihr war bestürzt über die Ereignisse und sagte ihr, dass sie vorsichtiger sein musste, um nicht in etwas Großes hineingezogen zu werden. Der andere Teil versuchte, alles zu verstehen, und kam zu einem Entschluss: Sie musste träumen. Das war die einzig logische Erklärung. Sie lobte leise ihre Fantasie für diesen Traum und beschloss, einfach mitzuspielen. Sie würde noch früh genug ihren nervigen Bruder, ihre gestresste Mutter und ihre Stifte wiedersehen. Sobald sie aufwachen würde. Diese Vorstellung ließ ihre ganze Anspannung von ihr abfallen und sorgte für einen klaren Kopf. »Wenn es stimmt, was ihr sagt … frage ich mich, warum sieht man die Erde nicht am Himmel? Oder einen anderen Planeten?«

Nun war es wieder der Junge, der antwortete. »Die Erde ist noch zu weit entfernt von unserer Welt. Sie kommt aber im rasenden Tempo näher und es bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Spezialisten schätzen zwei Monate. Und da sich auch dir bekannte Planeten ein gutes Stück entfernt befinden, kann man diese ebenfalls nicht sehen. Wir haben unsere eigenen Planeten, die uns mit Licht und Energie versorgen.«

Irgendwie klingt es schon plausibel, dachte sich Maya. Aber irgendwie auch nicht, denn wieso sollten sich die zwei Planeten selbst ansteuern? Sie äußerte ihre Frage und Ercan zuckte zur Antwort mit den Schultern.

»Es sind Parallelwelten. Es wird vermutet, dass nicht zweimal das Gleiche existieren kann, und um diesem Widerspruch zu entkommen, versuchen die Welten, sich gegenseitig zu vernichten. Es kann auch sein, dass sie sich gegenseitig anziehen, wie zwei Magnete. Niemand weiß das so genau …«

Maya nickte. Das verstand sie, auch wenn sie noch nicht ahnte, welche Wahrheit dahintersteckte. Vor allem fragte sie sich, warum die beiden Bescheid wussten und auf der Erde noch nie jemand von all dem gehört hatte. Oder doch? Vielleicht wusste sie einfach nichts davon. »Und es gibt verschiedene Wesen in den Welten?«

All das schien ihr doch zu abstrus, als dass sie es richtig ernst nehmen konnte. Ercan knackte mit seinen Knöcheln und ließ ein dröhnendes Gähnen hören. »Ja, aber … das wirst du noch erfahren. Eins nach dem anderen.«

Enttäuschung machte sich in ihr breit. So ein interessanter Traum, und dann erfuhr sie noch nicht mal alles!

Ihre Augen suchten die Umgebung ab. Es sah hier wirklich wie in ihrer Heimat aus: Vor ihr erstreckte sich eine lange Straße, die sich in der Dunkelheit verlor. Die Häuser wirkten wie bleiche Fassaden und ließen nichts von ihrem Charakter durchscheinen. In diesem fahlen Straßenlicht schien alles unwirklich und als sie die beiden Männer wieder ansah, bemerkte sie die dunklen Ränder unter deren Augen. Tatsächlich wirkten sie erschöpft.

»So, nun, wo geht es als Nächstes hin? Wo kann ich schlafen?« Die Hemmungen hatte sie wohl in dem Moment verloren, in dem ihr klar geworden war, dass all dies nicht Realität sein konnte. Ernsthaft etwas passieren konnte ihr ja ohnehin nicht.

Der Junge warf Ercan einen vielsagenden Blick zu, der anscheinend weniger überzeugt von der unausgesprochenen Idee war.

»Nein«, Ercan schüttelte den Kopf. »Unter keinen Umständen!«

»Ach, bitte. Du weißt, was passiert, wenn sie ins Hauptquartier gelangt … Wir müssen sie verstecken, bevor er sie findet.«

»Und das bei mir?« Ercan schnaufte verächtlich. »Wir wissen noch nicht mal, ob sie es ist.«

Plötzlich befiel Maya eine Welle der Müdigkeit. Ihre Augen wurden schwer und die Unterhaltung entglitt ihr, die Worte verwirrten sie nur noch … Sie starrte vor sich hin und wartete nur noch auf einen Entschluss.

»Wieso nimmst du sie nicht mit zu dir?«

Maya hatte schon fast vergessen, wie hochnäsig der Junge sein konnte, als er zur Antwort ansetzte. »Ich nehme doch kein Menschenkind mit zu mir! Bah! Nein, bei dir ist sie sowieso viel sicherer. Und mein Zuhause wäre außerdem viel zu gut für sie.«

Ihr wurde bewusst, wie sehr sie fror. Ihre Kleider waren noch immer nass und die Kälte drang bis in ihre Knochen. Bibbernd schlang sie die Arme um sich und betete um ein warmes Bett. Sicher würde sie bald aufwachen, daran hielt sie fest.

»Nun gut, ich nehme sie zu mir. Aber du solltest aufpassen, was du sagst. Sie ist vielleicht unsere Rettung.«

Dankbar warf sie dem großen Mann einen Blick zu. Von dem Jungen, dessen Namen sie nicht wusste, Beleidigungen hinzunehmen, war nicht sehr angenehm. Auch wenn ihr die Worte in diesem schläfrigen Zustand weniger ausmachten als im wachen. Die beiden Freunde brummten noch eine Verabschiedung und dann trottete Maya schräg hinter dem großen Ercan her, der sie durch die stillen Straßen führte.

Maya durchbrach schließlich das Schweigen. »Du glaubst nicht daran, oder?«

Ihre Stimme war leise, und so war sie sich nicht sicher, ob er sie gehört hatte. Unverwandt ging er weiter, nicht einmal den Kopf drehte er zu ihr nach hinten.

Nach einer Weile antwortete er dann doch. »Woran soll ich nicht glauben?« Im Gegensatz zu Maya sprach Ercan laut und scharf, als traue er ihr nicht, obwohl er sie in diesem Moment zu sich nach Hause führte.

Maya musste sich räuspern, ehe sie antworten konnte. Sie hob ihre Stimme an. »Daran, dass ich diese Weltenwanderin bin, wie der Junge es vermutet hat.«

Die Schritte von Ercan wurden langsamer, doch er drehte sich nicht zu ihr um. »Sein Name ist Ian. Und nein, das glaube ich tatsächlich nicht.«

»Wieso?«, drängte Maya weiter, denn sie hoffte sehr, nicht diese Person sein zu müssen. So viel Verantwortung und Aufmerksamkeit? Darauf konnte sie verzichten. Zwei Welten vor ihrer Zerstörung zu retten, wie sollte das gehen? Aber warum war Ian dann so überzeugt davon gewesen? Ian. So hieß er also. Der vorlaute Bengel, der ihr mit seiner arroganten Art gehörig auf die Nerven ging, obwohl sie ihn erst kennengelernt hatte.

Noch während sie auf Ercans Antwort wartete, wurde ihr bewusst, dass sie es diesmal vergebens tun würde.

*

Etwas an Ercans Haus kam ihr seltsam vor, aber in dem schlaftrunkenen Zustand, in dem sie sich befand, wollte sie einfach nicht darauf kommen, was es war. Zumal sie in der Dunkelheit sowieso nicht alles erkennen konnte. Morgen, wenn es hell ist, werde ich mir alles genauer ansehen. Irgendwie gelangte sie wohl ins Innere des Hauses und ehe sie sich versah, fiel sie auf das gemachte Bett, das vermutlich in einem Gästezimmer stand. Sie spürte bereits, wie ihre Augen zufielen, versuchte jedoch mit aller Kraft, wach zu bleiben. Dabei war ihr so schön warm und die Tatsache, dass sie sich in einem fremden Bett befand, störte das Gefühl der Geborgenheit kaum. Sie war so dankbar, sich nun endlich ausruhen zu können, dass sie kaum merkte, wie sie weiter abdriftete. In der festen Absicht alle Erinnerungen auch nach dem Aufwachen zu behalten, versuchte sie, die Geschehnisse dieses Tages durchzugehen, angefangen bei dem See …

Aber es war zu spät und so fiel sie in einen leichten Schlaf, der bald unterbrochen werden sollte.

Geweckt wurde sie von einem lauten Gong, der in jedem Winkel des Hauses widerhallte. Steif blieb sie liegen, da sie dieses ungewohnte Geräusch nicht einzuordnen vermochte, aber als eine Tür aufgemacht wurde, erkannte sie, dass es die Klingel gewesen sein musste, und entspannte sich.

»Du bist aber spät dran«, erkannte Maya Ercans Stimme wieder, dann kam eine zweite, tiefere dazu, die sanfter und leiser klang.

»Entschuldige. Es wird immer riskanter, hierher zu kommen ...«

Maya hörte, wie nun auch Ercan seine Stimme senkte. »Nebenan ist ein Mädchen, das plötzlich in dieser Welt aufgetaucht ist … Ian hält sie für die Weltenwanderin.«

Eine kurze Stille trat ein. Dann ein dumpfer Aufschlag. Jemand musste etwas abgestellt haben.

»Erzähl mir im Wohnzimmer mehr davon. Weiß sie, was wir sind?«

Seine Stimme klang besorgt und sie musste sich anstrengen, um sie überhaupt noch hören zu können.

»Nein … Und besser, sie erfährt es nicht.«

Die Schritte entfernten sich, eine Tür schlug zu und Maya war wacher denn je.

*

Es war ihr irgendwann gelungen, wieder einzuschlafen, allerdings hatte es einige Zeit gedauert. Viel geruht hatte sie also nicht.

Das Licht traf ihre Augen völlig unvorbereitet, sodass sie sich reflexartig eine Hand vor die Stirn hielt. Die Sonne schien hell durch ein riesiges, blitzsauberes Fenster. Als sie sich umdrehte, nahm sie das riesige blaue Himmelbett wahr, auf dem sie geschlafen hatte. Was für ein Gästezimmer! Tatsächlich war alles sehr schön eingerichtet. Gelbe und rote Blumen, deren Namen Maya nicht kannte, standen in allen Ecken des Zimmers. Der dunkelbraune Boden glänzte und die silberne Lampe, die einem kleinen Kronleuchter glich, ließ zarte Farbenspiele auf Boden und Wänden entstehen. Doch außer diesen Dingen war nichts in dem Raum, nur das Bett nahm einen großen Teil der freien Fläche ein.

Maya wollte gerade näher an das Fenster herantreten, eine Hand auf den Mund gelegt, um ein Gähnen zu unterdrücken, als es sachte an der Tür klopfte. Schnell setzte sie sich auf die äußerste Kante des Bettes, in der Erwartung, den grimmigen Ercan wieder zu sehen.

»Herein«, sagte Maya und ihre Stimme klang viel zu hoch in ihren Ohren.

Daraufhin öffnete sich langsam die Tür. Der Anblick überraschte sie. Ein Mann von dunkler Hautfarbe streckte sein schmales Gesicht durch den Spalt. Seine dunklen Augen schimmerten neugierig. »Entschuldige die Störung.«

Da, sie kannte die Stimme … Die Stimme von gestern Abend? Das musste Ercans Mitbewohner sein. Maya erwiderte nichts und der Mann wartete unschlüssig, bis er zu ihr hinein huschte. Er sah so anders aus als Ercan. Seine schokoladenbraune Haut hatte etwas Warmes an sich, das gut zu seinen ebenso braunen Augen passte. Die Haare jedoch waren blond gefärbt und hingen in Rastazöpfen seinen Rücken herunter. Und während Ercan mit seiner stämmigen Figur mächtig Eindruck machte, verlieh die schmale Gestalt dieses Mannes ihm etwas Erhabenes, tatsächlich wirkte er auch einen halben Kopf größer als Ercan.

Doch Maya versuchte, sich von diesem eindrucksvollen Anblick nicht irritieren zu lassen. Sie verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Nur weil er sympathisch schien, hieß das nicht, dass sie ihm sofort vertraute. »Wer bist du? Und wo ist Ercan?«

»Ich heiße Livian. Und Ercan ist auf der Arbeit. Ich könnte dich herumführen, wenn du magst ...« Seine Stimme wurde leiser, als er sah, wie Maya zurückzuckte.

»Warum bist du auf einmal so ängstlich? Ercan hat mir erzählt, dass du auf ihn ganz anders gewirkt hast. Eher … entschlossen.«

Maya war sich fast sicher, dass er ein anderes Wort im Sinn gehabt hatte, aber seine Worte führten zum gewünschten Effekt. Sie gab ihre verteidigende Haltung auf und stand langsam auf. »Es ist noch alles sehr neu für mich«, erklärte Maya. Und du verunsicherst mich, wollte sie noch hinzufügen, ließ es aber. Er schien so anders zu sein als Ercan und Ian, die ihr eher feindselig gegenübergestanden hatten. Was wollte Livian erreichen?

Sie seufzte leise und deutete auf die Tür. »Gut, ein Rundgang wäre nett. Und ein paar Auskünfte vielleicht?«

Livian zwinkerte ihr zu, bevor seine schmale Hand die Tür aufschob.

Zuerst wollte er ihr das Äußere des Hauses zeigen. Es sei wichtig für das Verständnis, wie sie lebten. Dort, wo kein Sonnenlicht war, kam ihr alles sehr kühl vor. Schließlich gingen sie hinaus und Maya fand sich in einer Art … Burghof wider. Vor ihr stand ein steinalter Brunnen, der von Efeu überwuchert wurde und vermutlich gar nicht mehr zu verwenden war. Stirnrunzelnd schaute sie hoch. Wie nobel und modern doch alles gewirkt hatte und nun, da sie draußen war, war alles wie im Mittelalter? Maya schmunzelte. Das hatte etwas.

»Warte.« Livian hielt sie sanft am Ärmel fest, als sie sich aus dem Hof hinausbewegen wollte, um die Burg von vorne zu sehen. »Warte bitte kurz hier.«

Als er sich umdrehte, bemerkte sie, dass sein langer Zopf nur von einem dünnen Band gehalten wurde, und fragte sich, wie lang es wohl halten würde.

Livian schien ihr sympathisch, trotzdem wäre das jetzt ihre Gelegenheit, sich auf eigene Faust loszumachen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie auf keinen Fall in einem Traum gefangen sein konnte. Das hier war wirklich. Echt. Träume konnten nicht so lange dauern. Sie hatte hier bereits zu viel Zeit verbracht.

Während die Wahrheit zu ihr durchdrang, lehnte sie sich an den defekten Brunnen. Die Sonnenstrahlen küssten sachte ihre Haut, als wollten sie sie beruhigen. Tatsächlich hätte es ein schöner Tag sein können, aber in ihr begann es zu toben. Ein Wirbel aus Emotionen, die ihr zuschrien, wegzulaufen, nach Hause zu kommen. Verzweiflung nagte an ihr. Es kostete sie all ihre Kraft, sich von ihr nicht auffressen zu lassen. Sie musste einige Male tief durchatmen. Das hier mochte real sein, aber das bedeutete nicht, dass sie für immer hier festsaß. Niemand durfte erfahren, wie schwach sie war, also baute sie erneut eine Mauer um sich herum.

Livian kehrte zurück. Er trug etwas Schwarzes auf seinen Händen.

»Was ist das?«, fragte Maya und betete, dass man ihr die Panik nicht ansah, die in ihr herrschte.

Doch Livian antwortete nicht, stattdessen breitete er das große Stück Stoff aus und legte es ihr über die Schultern. »Schieb die Kapuze nach oben, Chérie. Dann wird dich niemand erkennen.«

Maya tat wie geheißen und zum ersten Mal an diesem Tag schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Einen kleinen Moment lang vergaß sie ihre Angst. »Damit sehe ich ja aus wie ein Dementor.«

Livian runzelte die Stirn. »Bitte, was?«

Aber Maya schüttelte nur den Kopf. »Eine Figur in einem Buch … Ist nicht weiter wichtig.«

Sie gingen auf die Brücke, von wo aus Maya die Burg bewundern konnte. Tatsächlich erinnerten die Zinnen an Hexenhüte, der Stein jedoch war schmutzig und abgenutzt. Nun war es Livian, der ein Seufzen hören ließ.

»Ercan bemängelt immer meinen Hang zur Unordnung. Er meint, ich sollte mal alles putzen, aber darauf habe ich wirklich keine Lust. Und so sieht alles viel echter aus, nicht wahr? Wie früher. Dafür hält Ercan drinnen alles blitzblank, was mich, offen gestanden, manchmal fast wahnsinnig macht …«

Sie wischte nachdenklich ihre schweißnassen Hände an ihrer Jeans ab. »Ich habe euch gestern Nacht reden gehört«, sagte sie vorsichtig. »Ihr wollt nicht, dass ich erfahre, was ihr seid.«

Es war eine Feststellung, keine Frage und Maya spürte, wie Livian sich anspannte, wohl ohne es zu merken, denn er fragte höflich: »Ach wirklich?«

»Ja«, erwiderte Maya selbstsicher. »Aber ich muss euch enttäuschen, ich habe es schon von Anfang an vermutet. Aber keine Sorge, euer Geheimnis ist bei mir sicher.« Sie lächelte Livian aufmunternd zu, denn seine Miene schien so besorgt.

Mit einem Mal fiel seine Anspannung ab. »Das ist ja wunderbar! Keine Geheimnisse mehr, einverstanden, kleines Mädchen. So clever von dir ...«

Doch seine Lobrede wurde unterbrochen von einem lauten Gebrüll, das von dem dichten Gestein widerhallte, als hätte die Burg selbst gebrüllt. Da Maya aufgrund der Kapuze nichts im Augenwinkel wahrnehmen konnte, wollte sie sich gerade zur Seite drehen, um herauszufinden, woher das Brüllen stammte.

Doch es war zu spät. Ein Monstrum fegte sie um, ein erstickter Schrei entwich ihrer Kehle. Krallen wollten sich in ihre Brust bohren, Haare, nein, Fell bedeckte ihr Gesicht. Sie riss die Augen auf, erkannte die Mähne eines Löwen, der halb auf ihr lag, und nach einem weiteren Brüllen kamen seine Fangzähne näher, bald würde er ihr Genick durchbeißen …

Doch plötzlich wurde der Druck weniger und Maya rang nach Atem. Das Tier hatte direkt auf ihren Lungen gelastet.

»Was zum Licht machst du mit diesem armen Ding?« Maya blinzelte und atmete ein paar Mal tief durch, bevor sie es wagte, sich hinzusetzen. Doch wo sich der Löwe befunden hatte … war nun Ercan.

»Was ich mache? Ich dachte, einer von der Regierung wäre hier, der Umhang hat darauf hingedeutet! Ich dachte, sie wollen dich verhaften!«

»Mich verhaften?« Livian schüttelte den Kopf. »Und dann hättest du den vermeintlichen Gestaltwandler einfach umgebracht, der mit mir geredet hätte? Ich bin enttäuscht von dir!«

Ercan riss entsetzt die Augen auf, er schien mit sich zu ringen. »Warum sagst du das vor ihr? Sie sollte doch nicht wissen, was wir sind!«

»Tja, dank deinem Auftritt weiß sie das sowieso. Und nebenbei bemerkt wusste sie schon, was wir sind. Sie hat es mir gerade gesagt, als du auf sie draufspringen musstest!«

Maya schwirrte der Kopf. Mittlerweile hatte sie sich erhoben, wenn sie sich auch mit der einen Hand den Bauch hielt und mit der anderen das Gewirr aus Haaren durchkämmte. Sie musste wie eine Irre aussehen.

»Also«, meldete sie sich krächzend zu Wort, »eigentlich habe ich damit etwas Anderes gemeint.«

Beide Männer fixierten sie. Jetzt, wo sie nebeneinanderstanden, fiel der Gegensatz zwischen ihnen noch mehr auf. Der eine hell, der andere dunkel, der eine kräftig, der andere zart.

Aber in diesem Augenblick sahen die Beiden sie so zornig an, dass sie einmal schlucken musste, bevor sie fortfahren konnte. »Ich meinte … eigentlich eure … ähm … Beziehung. Es liegt doch auf der Hand, dass ihr beiden ein Pärchen seid. Dass du dich in einen Löwen verwandeln kannst … Nein, sowas habe ich nicht erwartet.«

Und es stimmte. Schließlich war Livian mitten in der Nacht erschienen und wohnte offenbar auch hier. Sonst hätte er sie niemals rumgeführt und ihr von Ercan erzählt. Außerdem schienen ihr die zwei Männer so gegensätzlich zu sein, dass sie perfekt zusammenpassen würden. Hatten sie wirklich gedacht, Maya würde keine Vermutungen anstellen?

Ercan und Livian sahen sich verblüfft an, aber der Zorn war offenbar noch nicht verraucht.

»Ich weiß nicht, was euer Problem ist. Aber ich lasse euch jetzt allein, bevor mich nochmal jemand von euch zu Boden haut.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt, als Ercans eisige Stimme zu ihr hinüber wehte. »Es hatte einen Grund, dass Livian deine Gestalt verdeckt hat, Mädchen.«

Abrupt blieb sie stehen, ehe sie ihre Hände zu Fäusten ballte. »Und zwar?«

»Ganz einfach: es darf dich niemand sehen! Wir alle wissen in dieser Stadt voneinander, dich jedoch kennt keiner. Du würdest Aufsehen erregen. Und unsere Regierung wäre nicht so erfreut, wenn sie feststellen müsste, dass die Weltenwanderin hier herummarschiert.«

»Ich dachte, du glaubst nicht daran, dass ich es bin?«

»Es ist aber nicht ausgeschlossen.«

Maya drehte sich langsam zu den beiden Männern um. »Ich dachte, diese Wanderin würde euch Frieden bringen, indem sie die Welten vor einer Kollision bewahrt?«

Ercan nickte steif. »Das stimmt. Aber … es ist kompliziert. Manche von uns suchen nur nach einem Grund, um die Menschen auszulöschen. Wenn wir sie zuerst zerstören, wie können wir dann vernichtet werden? Und … es gibt noch jemanden, dem du nicht in die Hände fallen solltest.«

Als Maya nichts sagte, meldete sich Livian mit seiner ruhigen Stimme zu Wort. »Egal, was du uns glaubst oder nicht, du bist bei uns im Moment sicherer als irgendwo anders.«

»Nein, das glaube ich nicht.« Ihr wurde auf einmal kalt ums Herz. »Zuhause wäre ich am sichersten.«

Da tauchten Bilder in ihrem Kopf auf. Bilder von ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder, wie sie gemeinsam am Esstisch saßen. Wie sie Leo durchkitzelte, weil er eine Wette verloren hatte. Sie dachte an die Leinwände, die sie noch mit Farbe beklecksen wollte. Und sie dachte an ihre Freunde in der Schule, die jetzt viel weiter weg waren als je zuvor.

Als könnte es etwas bewirken, legte sie die Arme um sich. Doch dies war eine andere Kälte. Sie kam von innen.

Ercan wollte etwas erwidern, doch Livian hielt ihn zurück. »Ich glaube nicht, dass du einfach so wieder zurückkannst. Deine Fähigkeiten sind noch nicht ausgereift.«

»Und ich bezweifle, dass du überhaupt weißt, wie du hierhergekommen bist«, fügte Ercan hinzu, worauf Livian ihm einen Stoß mit dem Ellbogen verpasste.

»Ist doch wahr, schau sie dir an! Sie weiß gar nichts über uns! Schön, sie hat gemerkt, dass wir zusammen sind – ich möchte dir auch raten, das für dich zu behalten, Mädchen! Aber sie weiß rein gar nichts über unsere Rasse, über die Gefahren hier … Sie weiß noch nicht mal, ob und welche Fähigkeiten sie hat.«

Wie durch einen Schleier nahm sie die Umgebung um sich herum wahr. »Ich dachte, ich weiß, wer ich bin«, sagte sie mit brüchiger Stimme und verstummte dann. Sie wollte nicht schwach wirken. Nicht vor Leuten, die sie kaum kannte.

Sie räusperte sich. »Wenn mich hier noch einmal irgendwer Mädchen oder Kleines nennt, setzt es was. Ihr könnt mir alles zeigen, was ich wissen muss. Und wenn ich hier nicht hergehöre, wovon ich überzeugt bin, werde ich schon bald verschwunden sein.« Das hoffe ich jedenfalls.

»Komm, Maya.« Livian streckte eine Hand nach ihr aus und Maya machte einen Schritt und ergriff sie. »Du hast bestimmt Hunger. Es war ganz schön viel auf einmal für diesen Morgen.« Widerwillig ließ sie sich wieder hineinführen.

Die Weltenwanderin

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