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Kapitel 4

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Alexis

Wenn man etwas anstarrt, dann meist aus Bewunderung oder Staunen. Manchmal ist es auch aus Verliebtheit oder Nachdenklichkeit.

Aber bei Alexis war es mehr als Nachdenklichkeit, und die Decke war auch nicht sonderlich bewundernswert. Seit Stunden lag sie wach in ihrem Bett und konnte nicht schlafen. Schließlich hatte sie das Licht angemacht und die weiße Zimmerdecke angestarrt, die immer noch genauso aussah wie vor drei Stunden. Auf die Decke jedoch kam es nicht an, vielmehr darauf, dass sie einfach keine Lösung finden konnte.

Es waren Milans Worte, die ihr durch den Kopf gingen. Wieder und wieder. Und obwohl es so unlogisch klang, waren es wahre Worte. Wie konnte es sein, dass sie urplötzlich in eine neue Klasse ging, obwohl sie sich an die vergangene Zeit erinnerte? Warum sah sie plötzlich wieder und warum wusste Milan mehr als sie, die ja wohl eher betroffen war als er?

Es ergab alles keinen Sinn und sie musste sich eingestehen, dass sie Milan treffen und mit ihm reden musste. Nach dem Kinobesuch war er so schnell weg gewesen, dabei schien er doch Antworten zu haben … Die Veränderungen machten Alexis Angst. Sie vertraute nun viel öfter auf ihre Sehkraft als auf ihren sechsten Sinn. Aber wenn es stimmte, dass Milan mehr über sie wusste, dann würde sie morgen alles erfahren … Alles …

*

»Das kann ja wohl nicht wahr sein! Ich fasse es nicht!« Alexis rieb sich die brennenden Augen.

»Hey, was hast du? Schon die ganzen Englischstunden warst du so aufgedreht und neben der Spur. Normalerweise liebst du das Fach doch?« Ihre Freundin klang mehr als besorgt.

Aber Alexis schüttelte den Kopf. »Milan ist nicht da.«

»Ja, und? Stehst du auf einmal auf diesen Idioten, oder was ist los?«

»Nein, ich … kann es schlecht erklären. Ich brauche Antworten von ihm. Das lässt mich die ganze Zeit nicht los, ich konnte kaum schlafen, weil ich einfach nicht mehr weiß, wer ...« Sie sah Aprils misstrauische Miene und schluckte einmal.

»Sprich ruhig weiter.«

In diesem Moment kamen ihr Aprils stachelartige Haare wie Dolche vor, die nur darauf warteten, ihren wunden Punkt zu treffen. »Ehm … Ach, ist nicht so wichtig, er hat nur … vergessen, mir was zu sagen.«

Aprils gerunzelte Stirn sagte alles: Sie glaubte ihr nicht.

»Okay. Ich glaube, es stimmt etwas nicht mit mir. Ich kann wieder sehen, toll, aber dafür verliere ich meine … Intuition.« Ein besseres Wort wollte ihr in diesem Moment einfach nicht einfallen. »Weißt du, ich glaube, etwas stimmt mit meinem Kopf nicht. Aber das geht bestimmt vorbei«, murmelte sie und klang dabei weniger überzeugend als erhofft.

April musste sich etwas auf die Zehenspitzen stellen, um an Alexis' Haare zu kommen, damit sie sie liebevoll verwuscheln konnte. »Kleine Identitätskrise, hm? Dann hoffe ich mal, dass der Idiot bald aufkreuzt und dir nicht noch mehr schlaflose Nächte bereitet. Und dass da oben nicht alles bei dir stimmt, wusste ich ja schon vorher.«

Aprils freches Grinsen erwiderte Alexis mit einem dankbaren Lächeln, ehe sie versuchte, sich auf die nächsten Unterrichtsstunden einzustellen. Andere Gedanken würden ihr guttun.

*

Tatsächlich fiel sie recht geschafft in ihr Bett. Sie hörte noch die gedämpften Stimmen ihrer Mutter Angelika und einem Mann. Wieder ein Neuer, dachte sie sich noch und schlief binnen Sekunden ein.

Sie spürte, wie sie sanft durch eine Wand glitt und fand sich in einer großen, weißen Halle wieder. Noch nie hatte sie so ein sauberes Zimmer gesehen: Wirklich kein einziger Fleck schien an den Wänden zu lauern. Und noch etwas war eigenartig: Es existierten weder Türen noch Fenster, weder Pflanzen noch Schränke, weder Betten noch Stühle … Der Raum schien leer und war es zugleich überhaupt nicht. Er schimmerte wie der Mondschein und doch strahlte er wie die Sonne. Obgleich sich keine Gegenstände in ihm befanden, schien Magie in ihm zu wirken.

Sobald sie den Raum betrat, fühlte sie sich gut. Es war ihr so wohlig warm, alles war so rein und vertraut. Sie hätte sich keinen Ort vorstellen mögen, an dem sie jetzt lieber gewesen wäre. Sie war zufrieden mit Allem: Zufrieden mit sich, mit den Menschen und mit der Welt, und hätte sie jemanden getroffen, sie hätte ihm eine Umarmung geschenkt und ihm keinen Wunsch abgeschlagen. Es war, als existierte ein Feuer in ihr, das beständig war und so viel Wärme und Liebe mit sich brachte, dass es für ganze Galaxien reichen würde. Es war also verständlich, dass sie dieses Feuer einfangen wollte. Vielleicht hätte sie das nicht tun sollen, vielleicht wäre es dann anders gekommen … Aber in dem Augenblick, in dem sie es versuchte, entwich es aus ihren Fingern. Als hätte jemand einen Eimer schwarzer Farbe genommen und ihn über ihr ausgekippt, färbte sich der Raum plötzlich dunkel. Das Feuer erlosch, der Friede mit ihm und weg war die Ruhe, die sich doch so angenehm angefühlt hatte …

Jetzt fror Alexis, sie zitterte am ganzen Körper und verspürte eine solche Angst … Eine Angst vor der Dunkelheit, wie nur Kinder sie haben. Der Raum musste sich verformt haben, denn ein gutes Stück entfernt konnte sie ein kleines Licht ausmachen. Als sie bibbernd nähertrat, wurde ihr klar, dass der Raum zu einem Tunnel geworden war.

Unsicher hielt sie sich an seinen Rändern fest, um hindurch zu gelangen. Sie steuerte das Licht an, das ihr hoffentlich das schöne Gefühl zurückbringen würde … Mit ihren schweißnassen Händen fuhr sie den Stoff hinunter, der ihren Körper umhüllte. Sie spürte eine Lähmung, es war, als komme sie nicht voran …

Irgendwann war sie so weit gekommen, dass sie Genaueres sehen konnte. Sie erkannte eine vage Gestalt vor dem Licht, breit gebaut und mit starkem Buckel. Ihr Haar glänzte, jedoch nicht vor Schönheit, sondern weil es fettig war. Fettig und hässlich, und trotzdem so lang, dass es ihr den ganzen Rücken hinunterreichte und beinahe mit dem dunklen Umhang verschmolz.

Alexis vermutete, dass die Gestalt sie nicht wahrnehmen konnte, ansonsten hätte sie sich schon längst umgedreht. Aber sie blieb still und kam näher, während sie erkannte, was die Gestalt verdeckte.

Da war kein eigentliches Licht. Es war eine Person, von der das Licht ausging. Sie lag, ähnlich einer Leiche, auf einem schmalen Bett, während das Licht sie umhüllte, oder viel mehr aus ihr heraussickerte.

Vorsichtig trat Alexis an der buckeligen Frau vorbei zum Fußende des Bettes. Sie betrachtete das weiße Tuch, das auf der lichtbenetzten Person ausgebreitet worden war, als wäre ihre Seele bereits im Jenseits.

Alexis musterte die schmale, an den Hüften leicht gerundete Statur, die schlanken Finger, die langen schwarzen Haare … Immer heftiger schlug ihr Herz. Wo war denn auf einmal die Luft hin? Warum konnte sie nicht mehr normal atmen? Alexis starrte auf das bleiche Gesicht, die dichten Wimpern und geschlossenen Lider … und hätte am liebsten laut aufgeschrien. Sie hielt sich zurück und presste eine Hand auf den Mund, so geschockt war sie.

Vor ihr lag … sie selbst. Niemand anders. Sah sie hier ihren eigenen Tod? Sie merkte erst, dass sie zurückgewichen war, als ihr die Entfernung zu der buckeligen Gestalt auffiel. Alexis konnte nicht fassen, dass ihr Körper neben einer schwarzen Hexe lag, während sie selbst kaum mehr als ein Zuschauer war. Das Gesicht der düsteren Gestalt drehte sich in jenem Moment zu ihr, als wollte sie ihr beweisen, dass sie die wache Alexis sehr wohl bemerkt hatte. Gelbe Schlitzaugen ließen ihr einen Schauer über den Rücken laufen.

Die Frau in dem schwarzen Umhang fing an zu murmeln … Alexis versuchte zu entschlüsseln, was sie sagte, obwohl sie es am liebsten nicht wissen wollte.

»Bald ...«, sprach die hexenartige Gestalt, »bald bist du mein … Bald wirst du nicht mehr geschützt sein!«

Als stellten sich tausend Nadeln auf, waren auf einmal Alexis' Arme mit einer Gänsehaut übersät.

Es waren die gelben Augen und das höhnische Grinsen, das sie als letztes sah, bevor sie aufwachte.

*

»Du siehst irgendwie so gar nicht gut aus.«

Alexis warf ihrer besten Freundin einen vielsagenden Blick zu. »Vielen Dank.« Etwas zu laut stellte sie ihren Kaffeebecher ab, bevor sie den Kopf auf den Tisch aufschlagen ließ.

»Willst du nicht doch etwas von mir mitessen?« Besorgnis lag in Aprils Stimme.

Das hatte ihr jetzt noch gefehlt. »Nein, wirklich. Ich … danke, ich weiß, dass du es lieb meinst.«

Als sie den Kopf hob, musterte ihre beste Freundin sie von Kopf bis Fuß. An ihrem Hals blieb sie mit ihrem Blick ein wenig länger hängen, wo sich, wie Alexis heute früh festgestellt hatte, rote Flecken gebildet hatten.

April biss sich auf die Lippe, sichtlich beunruhigt. »Hast du schon wieder nicht schlafen können?«

Es dauerte einen Moment, bis die Worte zu Alexis durchdrangen. Fahrig strich sie durch die dichten Haarsträhnen hindurch. »Hm? Ehm, nein. Diesmal habe ich einfach schlecht geträumt und konnte nicht wieder einschlafen.« Oder wollte es nicht.

»Weißt du, es könnte helfen, wenn du eine Nacht bei mir übernachtest. Das haben wir doch schon ewig nicht gemacht! Und oft spiegeln Träume unsere Ängste wider, oder das, was uns beschäftigt.«

Zwar hörte sich Aprils Vorschlag nicht schlecht an, aber ihr letzter Satz war genau das, was Alexis nicht hören wollte. Trotzdem ließ sie sie einfach weiterreden.

»Wovon genau hast du denn geträumt?«

»Ich … war an einem schrecklichen Ort, zumindest kam er mir so vor … Und dann habe ich meine Leiche gesehen und eine komische Hexe, die vor diesem toten Ich gebeugt stand und geredet hat … Irgendwas von wegen, dass ich bald ihr gehören werde oder so ...«

»Die eigene Leiche zu sehen ist natürlich gruselig«, erwiderte April nachdenklich und fasste sich an ihren blauen Ohrring, »aber so schlimm klingt es nun auch nicht.«

Alexis nickte langsam. »Ja, wenn man es so sagt … Aber ich hatte so eine Angst, April. Es war mehr das Gefühl, das mich nicht mehr schlafen ließ. Es war so … real, ich kann es kaum beschreiben.«

April strich sachte über Alexis´ Hand und lächelte aufmunternd. »Lexi, wenn du bei mir bist, bringe ich dich auf andere Gedanken. Und auf keinen Fall wirst du mit Angst im Bauch einschlafen oder aufwachen, dafür sorge ich! Außer, ich packe die Spinnen aus dem Keller, die brauchen mal ein bisschen Gesellschaft ...«

Als sie Alexis' Gesicht sah, prustete sie los. »Du müsstest dich mal sehen! Keine Sorge, ich lasse sie schon da, wo sie sind.«

Auch Alexis musste schmunzeln, obwohl sie es nicht annähernd so lustig fand wie April, die immer noch laut lachte. Sie hatte eine Heidenangst vor Spinnen, seitdem ihr Vater es für eine gute Idee gehalten hatte, seinem Kind die Angst zu nehmen, indem er ihr eine Vogelspinne die Hand gesetzt hatte, die daraufhin in ihren Ärmel gekrabbelt war. Nie wieder!, hatte sie sich damals geschworen! Aber als sie näher darüber nachdachte … war das nie passiert. Sie hatte nie eine Vogelspinne mit ihren eigenen Augen gesehen. Sie hatte noch nie bei April übernachtet. Und wo ihr Vater war, das wusste sie auch nicht. Was war nur mit ihr geschehen?

*

Der lange Pferdeschwanz wippte von links nach rechts und wieder zurück, immer wieder, während Alexis die Straßen entlang schlenderte. Sie konnte das vertraute Ziehen an ihrem Hinterkopf spüren.

Sie war auf dem Weg zu April und hatte sich geschworen, nicht mehr weiter darüber nachzudenken, was sie wusste oder was sie nicht wusste. Was sie nicht wusste, war im Moment nämlich um einiges mehr, als sie es für möglich gehalten hätte.

Die laue Brise strich ihr über das Gesicht und verursachte ein leichtes Gefühl der Schläfrigkeit. Auf dem Rücken konnte Alexis ihren robusten Rucksack spüren, der mit den Schulsachen für morgen gepackt war, sodass sie gleich morgen früh mit April zur Schule gehen konnte, ohne noch einmal nach Hause gehen zu müssen. Sie hoffte inständig, dass ihre Freundin recht hatte und sie bei ihr besser schlafen würde.

Das Gesicht der komischen Hexe mit den gelben Augen hatte sie noch gut in Erinnerung, aber immerhin verblasste allmählich Milans Gesicht in ihren Gedanken. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, ob sie jemals verliebt gewesen war. Und sie wusste, dass sie sicher nicht in Milan verliebt war, obwohl sie oft gehört hatte, dass, wenn man oft an jemanden denkt, man automatisch große Gefühle für denjenigen entwickelt. Alexis hielt das für Unsinn und überhaupt zog sie sich gerne vor Leuten zurück, die sie nicht kannte.

Sie fragte sich, ob die zwei Schüler, die verschwunden waren, genauso gewesen waren. Bestimmt hatten sie Leute, die sich um sie sorgten. Freunde, Familie. Vielleicht besaßen sie auch Haustiere, die jeden Abend auf sie warteten, und das vergeblich. Mit diesen Gedanken stieg Alexis die Stufen aus Stein empor und klingelte an dem Schild, auf dem in geschnörkelter Schreibschrift der Name Scott prangte.

April hatte ihr schon erzählt, dass manche Briefe nicht angekommen waren und dass das bestimmt an der unordentlichen Schrift ihrer Mutter lag. Susan, die Chaotin, wie ihre Tochter sie oft nannte.

Bereits in dem Moment, da sie den Gong im Flur des Hauses widerhallen hörte, erklang ein Bellen, das innerhalb von zwei Sekunden immens laut wurde. Als sich die Tür öffnete, stürmte der Hund sofort auf Alexis zu.

»Billy, zurück! Billy! Tut mir leid, Lexi ...«

Der Hund hatte sie bereits umrundet, war an ihr hochgesprungen und hatte ihre Hand abgeschleckt, die sie belustigt zurückzog.

»Ja, mein Guter, ich liebe dich ja auch«, sagte Alexis an den Hund gewandt, streichelte ihn kurz und blickte dann auf. »Kein Problem, Susan. Wo ist April?«

»Bin schon da!«, hörte sie eine Stimme rufen und dann schob sich April vorbei an ihrer Mutter, um Alexis eine kräftige Umarmung zu verpassen. Die mit Haarspray gestylten Haare trafen auf ihre Wange und kitzelten sie leicht.

Alexis schielte vorbei zu Susan. Sie hatte ihre Freundin einmal gefragt, warum sie ihre Haare nicht so schön lang werden ließ wie ihre Mutter. Diese hatte geantwortet, dass sie es genau aus einem Grund nicht tat: Sie würde haargenau so aussehen wie sie. Tatsächlich ähnelten die beiden sich sehr stark, sie hatten eine schmale Statur, feuerrotes Haar, trugen gerne enganliegende Sachen und hatten einen Hang zum Chaos, oder wie April sagte, zur künstlerisch ungeordneten Kreativität. Der einzige weitere Unterschied bestand darin, dass April viel kleiner war als ihre Mutter. Ob sie mit ihren 15 Jahren noch wachsen würde? Vielleicht, vielleicht nicht.

»Und jetzt muss ich entscheiden, welche Begrüßung mir besser gefallen hat? April, dein Hund macht dir Konkurrenz«, meinte Alexis lachend, während sie die Wohnung betrat.

Der Hund quetschte sich an ihr vorbei und sprintete nach vorne, aber Susan und April kamen ihr gemächlich hinterher.

»Untersteh dich! Meine Begrüßung war um Längen besser! Weißt du auch warum? Weil ich es war, die dich begrüßt hat!«

Alexis grinste nur als Antwort und trat in Aprils buntes Zimmer, das, wie es sich vermuten ließ, in vollkommener Unordnung war.

»Ich habe für dich aufgeräumt!«, verkündete April lachend und ironisch, als sie Alexis' Blick sah.

»Mhm, Mann, bin ich froh drum. Der Boden ist so frei und schau, wo man sich überall hinsetzen kann! Auf deinem Schrank ist glaube ich noch Platz.« Mit diesen Worten schaufelte sie ein paar Anziehsachen beiseite, ehe sie sich auf das Bett setzte und den Rucksack auf den Boden gleiten ließ.

»Ich weiß doch, dass du das hier vermisst hast.«

Nachdenklich nickte Alexis. »Das habe ich wirklich.«

April hatte sich inzwischen neben sie gesetzt. Ihre Haut schimmerte kontrastreich in einem gesunden Braun, während Alexis' Haut immer kränklich blass wirkte.

»Und, was machen wir heute?« Alexis warf April einen fragenden Blick zu.

Das helle Licht der Zimmerlampen ließ Aprils Stacheln aufblitzen. Tatsächlich war es bereits später Abend.

»Wir gucken etwas, Watson. Auf, rein mit dem Film!«

»War das eine Anspielung darauf, dass du mal wieder auf den Detektivfilm aus bist, Holmes?«

»In der Tat, nun warten Sie nicht länger!«

Schmunzelnd nahm sie die DVD, die April wohl am häufigsten geschaut hatte, und schob sie in den Rekorder. »Ich wünschte, Sherlock wäre jetzt wirklich hier und könnte mir sagen, was in meinem Leben vorgeht. Milan zum Beispiel«, sagte sie, während sie April einen Blick zuwarf, »wo steckt er, nachdem er mich neugierig gemacht hat? Das ist nicht fair. Manchmal habe ich das Gefühl, dass andere mehr über mich wissen als ich selbst. Und das ist ein komisches Gefühl.«

»Ach, denk nicht weiter über den Idioten nach. Wenn er aufkreuzt, wird er von uns mit Fragen bombardiert, da sollte er sich lieber Zeit lassen mit dem Zurückkommen.«

Alexis nickte. Sie wusste, dass für April nichts Faules an der Sache war und sie ihn mit einer Grippe im Bett vermutete, aber Alexis wusste, dass dies nicht stimmte. Es konnte einfach nicht stimmen. Trotzdem hielt April zu ihr und das berührte Alexis‘ Herz. Und nachdem ihre Freundin noch einmal hinausgerannt war (sie hatte die Chips vergessen) und sich anschließend neben Alexis hatte plumpsen lassen, drückte sie auf Play. Später würde es eine Nacht sein, in der Alexis zwar nicht lang, aber wirklich gut schlafen konnte.

*

»April?«, fragte Alexis schläfrig, während sie ihre Augen rieb. Das Laken war leer und von ihrem Bett gefallen war April auch nicht.

Alexis war gerade von der Toilette gekommen und hatte das Licht angemacht, doch der Rotschopf war nicht in dem Zimmer. Die Bettdecke war zur Seite geschoben worden, als ob sie bereits aufgestanden war.

Alexis kniff einmal fest die Augen zusammen und schaute dann noch einmal durch das Zimmer. »April?«

Mit torkelnden Schritten lief sie durch die Wohnung, als erstes in die Küche, falls sie sich bereits ein Frühstück gönnte. Doch dort war niemand … Da hörte sie plötzlich Schritte.

»April, da bist du -« Doch mitten im Satz hielt sie inne und starrte Susan Scott an, die sich schick gemacht hatte und mit einem Aktenkoffer vor ihr stehen geblieben war.

»Weißt du zufällig, wo April ist? Sie ist doch nicht etwa schon zur Schule?«

Alexis´ Blick glitt zu der Uhr an der Küchenwand, die Viertel vor Sieben ankündigte. Nein, spät dran war sie gewiss nicht.

»Sie ist nicht da?«, fragte Susan irritiert und zuckte mit den Schultern. »Bestimmt ist sie nicht weit, du kennst sie doch.«

Unbekümmert griff Susan nach ihrer Jacke, bevor sie die Hand an den Türknauf legte. Ein letzter Blick traf Alexis. »Sie ist bestimmt hier, keine Sorge. April ist manchmal sehr unvorhersehbar.« Sie hielt kurz inne, ehe sie die Jacke über die Schulter warf und die Tür hinter sich zu machte.

Alexis hingegen hatte ein komisches Gefühl in der Magengegend. Noch einmal rief sie nach ihrer Freundin, schaute überall nach, glaubte einen Moment sogar, ihr wäre ein Streich gespielt worden, bis sie schließlich ins Zimmer zurückkehrte und sich umzog. Vielleicht war April nur an die frische Luft gegangen, weil sie nicht schlafen konnte. Vielleicht war ihr dabei etwas zugestoßen … womöglich war sie entführt worden oder sie war irgendwo verunglückt …

Doch die Gedanken halfen nichts, Alexis musste zur Schule. Trotzdem war etwas faul. Es war aber nicht auszuschließen, dass sie sich unnötig verrückt machte.

Sie machte sich auf den Weg und sah schließlich wenig später das graue Gebäude vor sich aufragen. Wie ein Felsen stand es da und lud nur mithilfe seiner Lichter die Schüler und Lehrer dazu ein, näher zu kommen. Ihr Sinn zeigte ihr die verschiedenen Farben, die um das Gebäude flimmerten und ihr von den Stimmungen erzählten, die dort drinnen herrschen musste.

Bald saß sie im Klassenzimmer, das Buch vor sich aufgeklappt, doch die Augen hielt sie geschlossen. Lange durfte sie allerdings nicht so weitermachen, sonst würde sie noch einschlafen. Ihr Blick schweifte zu Aprils Platz: Leer.

»So. Jetzt, wo ihr alle die Arbeitsaufträge habt, werde ich mal die Namensliste durchgehen.«

Alexis runzelte die Stirn. Immer vergaß ihre Religionslehrerin, die Namen am Anfang der Stunde vorzulesen. Es irgendwo mittendrin zu tun, war eine nervige Angewohnheit von ihr. Aber immerhin lenkte sie so von den Arbeitsaufträgen ab.

Ein Name nach dem anderen wurde vorgelesen, doch bei Aprils stockte sie. »April? Ist sie da?«

»Frau Schmidt, ich glaube, April ist verschwunden. Ich habe bei ihr übernachtet, sie ist nicht krank. Ihr ist bestimmt etwas zugestoßen, als ich nicht da war.«

Frau Schmidt schob die große Brille zurück, die einen Großteil ihres Gesichts umrahmte. »Frau Scott … Nein, nein, ich erinnere mich und das sollten Sie auch, Tanner! Ihre Mitschülerin ist gestern in die Vereinigten Staaten geflogen, sie hat doch dieses Austauschprogramm, jaja … Nein, alles in Ordnung.«

Überzeugt schnappte sie sich ihren Stift, um eine Markierung hinter Aprils Namen zu hinterlassen. Als sie wieder aufschaute, neigte sie leicht verwirrt den Kopf. »Sie wirken etwas blass, meine Liebe. Ist Ihnen nicht gut?«

Alexis schüttelte den Kopf. Müssten Brillen nicht intelligenter machen? »Wie kommen Sie nur darauf? April ist verschwunden, ich -«

»Gehen Sie bitte an die frische Luft!«

Plötzlich erhitzte sich ihr Kopf und ihr Blick schweifte durch die Klasse. Alle schauten sie genervt oder besorgt an. Sie glaubten ihr alle nicht. April in Amerika? Das konnte doch nur ein Scherz sein!

Ihr Blick traf die grauen Augen von Milan. Sie zuckte zusammen. Er nicht. Alle taten so, als sei sie verrückt. Und wäre sie nicht felsenfest davon überzeugt, sie hätte sich selbst angezweifelt.

Ihr Kopf glühte, als sie den Klassenraum verließ, während das Getuschel sie begleitete.

Er war also wieder da. Aber was brachte das, wenn ihre beste Freundin verschwunden war? Und es war ihr fast so vorgekommen, als wäre Milans Blick ein Vorwurf gewesen.

Fahrig fummelte Alexis ihr Handy aus der Hosentasche und wählte Susans Nummer. Warum sie diese hatte, das wusste sie schon gar nicht mehr, aber sie war froh darüber, gerade jetzt.

»Hallo, Alexis, alles klar?« Susans Stimme klang unbeschwert und leicht. Alexis musste einmal schlucken, um nicht alle Worte auf einmal herauszuschleudern. Sie erklärte ihr, dass April verschwunden war und ihre Lehrerin meinte, sie sei in Amerika.

»Das ist völliger Irrsinn, April ist nicht hier, irgendwas stimmt nicht!«, beendete Alexis ihren Bericht.

Susan lachte herzlich in das Telefon. »Alexis, ist dir nicht gut? Sie ist doch gestern geflogen und heute Morgen angekommen!«

»Woher weißt du das? Hat April eine Nachricht hinterlassen? Wieso weiß ich nichts davon?«

»Nein, sie hat das doch schon wochenlang geplant! Du selbst hast mir erzählt, sie hätte dir in WordsApp, oder wie das heißt, eine Nachricht geschickt, sie wäre gut angekommen. Hast du eine Gehirnerschütterung? Ist was passiert?«

Alexis´ Blick erstarrte, ihre Hände zitterten. Was ging hier vor? Eine weitere Person, jetzt sogar ihre beste Freundin, verschwand und niemand kapierte es? Oder war Alexis verrückt geworden? Sie war ganz still, bis Susan schließlich fragte, ob sie noch da sei. Einmal. Zweimal.

Schließlich konnte sie ihre brüchigen Lippen auseinanderreißen. Die Worte klangen kalt, gestellt, aber was hätte sie sagen sollen? »Nein, mir geht es gut. Ich habe es nur vergessen, ich war heute Morgen wohl zu schläfrig. Entschuldigung für die Störung.«

Dabei erinnerte sie sich genau daran, dass auch Susan heute Morgen gefragt hatte, ob April weg war.

Gehirnmanipulation? Verfälschte Erinnerungen? Nur, an wem? An ihr oder all den anderen Menschen um sie herum?

Ihre Hand fühlte sich auf einmal schwer an, als sie sie sinken ließ und auf den roten Hörer drückte. Eiseskälte erfasste sie. Wie in Trance starrte sie auf einen Baum, dessen Blätter im Wind raschelten. Ein Schauer ging durch ihren Körper, als sich eine warme Hand auf ihre Schulter legte. Sie wollte sie wegschieben, aber dann stellte sie fest, dass es ihr egal war.

»Hey.« Es war Milans Stimme. »Ich wollte dir nur sagen, dass es April bestimmt gut geht. Ich habe eine Vermutung -«

»Was hast du mit ihr gemacht? Wo ist sie und wo warst du?! April hatte Recht, du bist so ein Idiot! Was hätte ich nur anderes erwarten sollen?« Sie zitterte vor unbändiger Wut, aber Milan blieb gefasst vor ihr stehen. Begriff er denn nicht, wie wichtig es war, herauszufinden, wo April steckte? Wie unfassbar qualvoll es war, über nichts Bescheid zu wissen, noch nicht einmal über sich selbst?

Milan pfiff durch die Zähne. »Wow, kannst du temperamentvoll sein. Hätte ich bei dir nicht gedacht.« Er biss sich auf die Lippe. Seine schwarzen Haare standen zerzaust in alle Richtungen. »Ihr geht es gut. Ich erkläre es dir.«

»Na dann los, mach schon! Ich warte.« Noch nie zuvor war Alexis bewusst gewesen, wie hysterisch sie klingen konnte. Doch dies war keine normale Situation.

Milans Stimme klang fast weich, weil er so leise sprach. »Es geht nicht jetzt, nicht hier ...«

Unauffällig sah er sich um und Alexis fragte sich unwillkürlich, wer denn so Spannendes in der Nähe sein konnte. Er warf ihr einen Blick zu, tat irgendwas, sie achtete nicht darauf. Schließlich berührte er ihre Hand und entfernte sich langsam von ihr.

»Ich sag ihnen, dir geht es nicht gut und du gehst nach Hause. Und lies!«

Und lies? Was meinte er damit?

Langsam setzte ihr Gehirn wieder ein, sie spürte etwas in ihrer rechten Hand. Ein Stück Papier. Sie schaute sich um, knüllte es auseinander und tat, was er ihr geraten hatte. Sie las.

Um 14 Uhr beim Bahnhof.

Alexis drehte sich um und ging nach Hause.

Die Weltenwanderin

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