Читать книгу Große Gefallen - Lillian Fishman - Страница 4
1. Teil Aufmerksamkeit 1
ОглавлениеAuf meinem Handy hatte ich Hunderte von Nacktfotos gespeichert, aber nie an jemanden verschickt. Die Aufnahmen meines kopflosen in Schlaf- und Badezimmerspiegeln schwebenden Körpers waren eher gewöhnlich, aber wann immer eine neue entstand, war ich für einen kurzen Moment verliebt. Dann beugte ich mich nackt über das kleine Display und hatte das starke Bedürfnis, diese neue Ansicht meines Körpers irgendwem zu zeigen. Doch jedes Foto wirkte intimer und unmöglicher als das zuvor.
Ich konnte darin etwas erkennen, was über das Begehren hinausging, härter und demütigender war. Wenn ich mir die Zähne putzte oder aus der Dusche trat und dabei meinen Körper sah, stellte sich eine überwältigende Ungeduld ein, ein Gefühl von Verschwendung. Mein Körper schrie mir entgegen, dass ich meine Bestimmung verfehlte. Ich war dazu bestimmt, Sex zu haben, vermutlich mit einer wahllosen Anzahl von Menschen. Möglicherweise war die Wahrheit noch erschreckender und ich nicht zum Ficken, sondern zum Geficktwerden bestimmt. Der allgemeine Sinn des Lebens blieb mir ein Rätsel, aber langsam dämmerte mir, der Sinn meines Körpers könnte völlig offenkundig sein.
Ich hatte zu viel Angst vor der Welt, um einfach rauszugehen und mich ficken zu lassen, denn ich wurde von Unsicherheit, Erinnerungen an lieblose Freundinnen und meiner Furcht vor Gewalt gequält. Stattdessen fotografierte ich mich. Auf den Fotos sah mein Körper hinreißend aus, makellos und oft leicht gekrümmt, als wollte er nach oben und aus dem Bildausschnitt entkommen. Ich fühlte mich wie eine alte, verklemmte Jungfer, betraut mit der Aufgabe, ein junges Mädchen zu beaufsichtigen, das die Ungerechtigkeit der Situation nicht begreift.
Eines Abends, als ich mich besonders schön und einsam fühlte, beschloss ich, meine Nacktbilder online zu stellen. Ich ging auf eine Website mit anonymisierten Usernamen und verschleierten IP-Adressen und lud drei Fotos ohne Begleittext hoch.
* * *
Am nächsten Morgen, ich war gerade bei meiner Freundin auf der Toilette, schickte Olivia mir eine Nachricht. Unter meinem Post hatten sich mehr Kommentare angesammelt, als ich lesen konnte. Es hätte mich kaum überraschen dürfen, aber weder die Anzüglichkeiten noch das Lob, nicht einmal die brutaleren Kommentare stellten mich zufrieden. In ihrer Anonymität wirkten die Fotos feige und die Betrachter so fern, dass ihr Urteil jedes Gewicht verlor. Aufregend fand ich nur, die Seite immer wieder neu zu laden und zu sehen, wie die Fotos sich abermals zusammensetzten, nicht in einem privaten Album auf meinem Handy, sondern in einem riesigen, offenen weißen Raum, der von allen Enden der Welt aus zugänglich war.
Dass ich die Seite aktualisierte, während ich mich in Romis Badezimmer versteckte, war ein deutlicher Hinweis auf die Sünde, die ich gerade beging. Romis Gesichtsreiniger – Eigenmarke der Drogerie – stand auf dem Waschbeckenrand, ihr gewaschener Krankenhauskittel hing an der Tür wie die schiefe Karikatur eines Menschen. Andererseits wurde mir beim Blick aufs Handy klar, dass die Fotos nichts mit ihr zu tun hatten. Sie zeigten nur meinen Körper, und mein Körper gehörte mir allein.
Wie hätte Romi reagiert, wenn ich ihr die Fotos gezeigt hätte? Sie wäre traurig gewesen und ein bisschen ratlos. Was kann ich tun?, hätte sie gefragt. Sie wäre überzeugt, dass irgendeine Unzulänglichkeit ihrerseits mich dazu trieb, mir Bestätigung durch fremde Leute zu holen.
Wahrscheinlich stammte die überwiegende Mehrheit der Rückmeldungen von Männern. Die Kommentare waren voller Tippfehler und Anspielungen auf Erektionen. Ich scrollte lächelnd weiter. Als ich die Seite erneut aktualisierte, erschien eine Nachricht von paintergirl1992. Ich las die Vorschau – »Entschuldigung« – und musste ein Lachen unterdrücken.
Entschuldigung, stand da, tut mir leid, dass ich dich so direkt anschreibe! Deine Fotos sind sehr schön. Danke, dass du sie teilst. Ich würde dich gerne auf einen Drink einladen – bist du in New York? Sorry, dass ich so dreist nachfrage. Wünsche dir einen schönen Tag – Olivia
olivia, schrieb ich zurück, wo in ny wohnst du?
Baby?, rief Romi durch den Flur. Alles in Ordnung da drin?
Alles gut, rief ich zurück.
Olivia antwortete in Echtzeit.
Clinton Hill, schrieb sie. BKLN! Du auch in NY?
ya
Wollen wir uns treffen?
wer bist du
Olivia schickte einen Link zu einem Social-Media-Profil.
Möchtest du einen Kaffee?, fragte Romi durch die geschlossene Tür.
Ich klickte Olivias Profil an und wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich legte das Handy weg. Ja!, rief ich über das Rauschen der Toilettenspülung.
* * *
Warum ich mir selbst nicht über den Weg traute, ist offensichtlich. Ich hatte überhaupt keinen Grund, mich so schön und einsam zu fühlen. Meine Freundin war wunderbar, selbstlos und voller Hingabe, sie war toll im Bett und hatte starke vom jahrelangen Rugby durchtrainierte Schultern und Arme. Doch aus Gründen, die ich noch nicht durchschaute, hatte ich am Vorabend, als ich keinen halben Meter von ihr entfernt saß, Nacktfotos von mir hochgeladen, nach dem Essen, während sie ihre E-Mails beantwortete.
Ich wusste nur, warum ich Romi die Fotos nie gezeigt hatte. Romi war der edelste Mensch, dem ich je begegnet war. Ich mochte radikale Ansichten und Leute, die eine klare Vorstellung vom Leben hatten. Wie es sich wohl anfühlte, so unerschütterlich gut zu sein? Romis selbstlose Art und ihre absolute Unempfänglichkeit für das Oberflächliche bildeten die Pole, zwischen denen ihr Edelmut sich aufspannte. Schon als Kind hatte sie einen Sinn für die eigenen Fähigkeiten entwickelt und einen festen Glauben daran, dass sie einen bedeutenden gesellschaftlichen Beitrag leisten würde. Nachdem sie kurz mit einer politischen Karriere geliebäugelt hatte, war ihre Wahl auf die Kinderheilkunde gefallen. In ihrer Freizeit half sie ehrenamtlich als Rettungssanitäterin aus.
Ihr Beruf beanspruchte Romi sehr und machte sie gegen Schönheit immun. Das Konzept war ihr bloß ein Mal begegnet, bei einer Einführungsvorlesung in Kunstgeschichte. Ihre Entscheidungen traf sie auf praktischer Grundlage. Das Apartmenthaus, in dem sie wohnte, war teuer, geschmacklos und hauptsächlich in Beige eingerichtet. Abgesehen von den besonderen Outfits, die sie zum Sport oder für Vorstellungsgespräche brauchte, hatte sie ihre gesamte Kleidung gratis erhalten, bei sportlichen Wettkämpfen und den jährlichen Familientreffen, zu denen ihre fitten, fröhlichen Verwandten bedruckte T-Shirts für alle mitbrachten. Sie ernährte sich von Sandwiches und Salaten, die sie ausschließlich in Schnellrestaurants aß.
Ihre Verlässlichkeit war perfekt. Dass sie sich zu mir hingezogen fühlte, war ihr klar, noch bevor sie eine Vorstellung von meinem Aussehen hatte – als sie, wie ich später gern witzelte, nur wusste, dass ich eine Frau mit einem ausgezeichneten Namensgedächtnis für Romanautoren war, die ich nie gelesen hatte. Wir hatten uns vor zwei Jahren über eine Kreuzworträtsel-App kennengelernt, die User mit vergleichbaren Fähigkeiten zusammenbrachte. Eigentlich war Romi viel besser als ich, aber ihre knappe Freizeit und ihr fehlendes Konkurrenzdenken bremsten sie aus. Während wir über Monate hinweg chatteten, wurde mir ihre großzügige Art immer sympathischer – sie lachte mich nie aus, selbst wenn ich spektakulär versagte –, ebenso die allgemeine Ausrichtung ihres Wissens: voller peinlicher Lücken in den Bereichen Kunst und Popkultur, doch immer zuverlässig in Bezug auf Politik, Geschichte und, was das Entscheidende war, die Kunst der Synonyme. Dass ich sie kennengelernt hatte, eine junge lesbische Frau, keine fünf Jahre älter als ich und nur wenige Kilometer entfernt, erschien mir wie ein Glücksfall.
Sie liebte mich nicht wegen meines Körpers. Als wir im Bett landeten, behauptete sie zwar, seine besondere Schönheit anzuerkennen, aber ich glaubte ihr kein Wort. Es war ihr egal. Die Basis für Romis Zuneigung war ganz offensichtlich unsere Onlinebeziehung. Und weil ich immer schon ausgesprochen oberflächlich war – nichts interessierte mich mehr als das Aussehen der anderen Frauen auf der Straße –, verbrachte ich einen kleinen mitleidlosen Teil meiner Zeit damit, mir vorzustellen, wie ich unsere Beziehung gegen die Wand fuhr. Um Romi zu verdienen, würde ich genauso aufmerksam sein müssen wie sie, genauso loyal und sexuell freigiebig. Dass ich keine Nacktfotos online stellen dürfte, verstand sich von selbst.
Aber abgesehen von Romi war mein Begehren lechzend und flatterhaft. Weil ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich treu sein wollte oder enthemmt, neigte ich zu Schuldgefühlen und Heimlichtuerei. In einer Urphantasie, die mich überallhin verfolgte, stand ich nackt in einer Reihe aus zwanzig oder hundert jungen Frauen, zwischen so vielen nackten Leibern, wie gerade in den Raum passten – ins Café, in die Eingangshalle von Romis Apartmenthaus oder den U-BahnWaggon. Ein Mann stand uns gegenüber und nahm uns in Augenschein. Wie er aussah, kann ich nicht beschreiben. Er war undefinierbar, irgendwie symbolisch. Im echten Leben würde ich niemals mit jemandem wie ihm schlafen. Nach etwa dreißig Sekunden hob er die Hand und zeigte, ohne zu zögern, auf mich.
* * *
Es war Sonntag. Meine Schicht im Café begann um halb acht. An den Wochenenden begleitete Romi mich trotz der frühen Uhrzeit auf meinem fünfzehnminütigen Arbeitsweg. Sie spülte unsere Kaffeetassen aus, packte einen Apfel und einen Schokoriegel in meine Tasche und bückte sich nach den zwei Regenschirmen, die neben der Tür am Boden lagen. Es gab keine Haken oder Ständer, um Mäntel oder Schirme aufzuhängen; zwei Jahre nach dem Einzug hatte Romi kaum mehr angeschafft als Stehlampen und ein paar Kochutensilien. Im Wohnzimmer stand ein einsamer Couchtisch, auf dem Fensterbrett stapelten sich Politikbiografien.
Brauchst du einen eigenen Schirm?, fragte sie. Oder wollen wir uns einen teilen?
Sie ging neben mir durch die Morgendämmerung und hielt den großen Schirm über uns beide. In der Nacht hatte es angefangen, ganz leicht zu schneien. In Romis Gegenwart – wenn sie mich zur Arbeit brachte, für mich kochte oder meine Tasche trug – hatte ich immer ein ganz bestimmtes Gefühl, diese Gewissheit, dass ich sicher, gewärmt und im Leben nicht allein war. Die kleinen Enttäuschungen des Alltags würden es nicht schaffen, mich zu zermürben, denn die Liebe schützte mich vor Ungemach wie ein Kind. Wie ein tapferer Held oder ein ehrbarer Liebhaber würde Romi mir nicht bloß irgendwelche kleinen Gefallen erweisen, sondern jedes Opfer für mich bringen, und sei es noch so außergewöhnlich. Und ich – was hätte ich geopfert? Während mein Arm im Gleichtakt mit Romis schwang, konnte ich den Betrug fast körperlich spüren; er war wie ein Makel, und ich wunderte mich, dass Romi ihn nicht sehen konnte.
Wie so oft unterhielten wir uns über unser Leben vor zehn oder zwölf Jahren, als wir einander noch nicht gekannt hatten. Wir teilten ein besonderes Gefühl, das fast alle queeren Menschen für sich beanspruchen, das Gefühl, unsere ersten Erfahrungen mit Mädchen hätten uns zueinandergeführt, gerade so, als wären wir damals durch eine Falltür in einen kleinen hellen Raum gestürzt, und dort hatten wir einander zwischen den wenigen anderen Menschenseelen, die es ebenfalls geschafft hatten, endlich gefunden.
Früher war alles so anstrengend, sagte Romi. So schwierig. Meine Freundin wollte keinen Sex, also haben wir es nicht drauf angelegt, sondern uns einfach nur so getroffen. Wir fingen an zu knutschen und … Na ja, dann ist doch was passiert. Es war ja nicht so, als hätte ich es geplant; wenn sie nicht da war, dachte ich kaum darüber nach. Aber ihre Nähe war einfach so intensiv. Ich habe sie gestreichelt und gefragt, ob es okay ist, und sie sagte, ja, es ist toll, absolut okay.
Und danach war sie sauer?
Nein, lachte Romi. Danach sagte sie immer: Also, das war ja jetzt gar kein richtiger Sex. Wir sind jedes Mal ein kleines bisschen weiter gegangen und haben Sachen gemacht, von denen sie vorher behauptet hatte, sie würde sie nicht wollen. Und hinterher sagte sie, es wäre egal, das sei ja gar kein richtiger Sex gewesen. Dabei hatten wir am Ende ganz offensichtlich Sex. Ehrlich, ich habe sie so richtig gefickt! Ich habe sie gefingert und geleckt. Die meiste Zeit habe ich mich auf ihre Vorstellung eingelassen und tatsächlich geglaubt, es gäbe da irgendwo noch eine Grenze. Aber manchmal dachte ich: Habe ich irgendwas übersehen? Gibt es da noch irgendwas, was wir nicht machen? Denn ich fand es ziemlich gut.
Romi nahm meine Tasche und hängte sie sich über die Schulter. Ein Mann im Parka überholte uns, gefolgt von zwei Hunden, deren struppiges Fell sich vom leuchtenden Schnee abhob. Ich staunte über Romis Laufschuhe und ihre Daunenweste. Keine Handschuhe, kein Schal. Sie hatte keine Lust, auf das Wetter Rücksicht zu nehmen, oder vielleicht vertraute sie voll und ganz auf ihre undurchdringliche Widerstandskraft.
Aber etwas hat mir Sorgen gemacht, sagte Romi langsam. Mit meiner Art, sie anzusehen, stimmte etwas nicht. Der Sex an sich war in Ordnung, aber … Ich weiß auch nicht … Es lag eher daran, dass ich Sex wollte, dass ich sie manchmal auf eine bestimmte Weise ansah und dabei an Sex dachte. Dass ich lesbisch war, hat mich nicht gestört, eher schon der Gedanke, ich könnte zu aufdringlich sein. Du weißt schon, wie ein Mann.
Bist du aber kein bisschen! Nicht mal, wenn ich es mir wünschen würde, sagte ich kokett.
Romi lächelte. Sie redete von ihrer ersten Freundin, mit der sie acht Jahre zusammen gewesen war. Außer mit dieser Ex hatte Romi nur mit mir geschlafen; in der Hinsicht war sie die Unschuld vom Lande. Ihre Erfahrungen mit der eigenen Sexualität oder mit Beziehungen überhaupt hatten sich auf dieses Furcht einflößende erste Mal beschränkt, als scheinbar jeder Wunsch und jede Geste vorherbestimmten, wer sie für den Rest ihres Lebens sein würde. Doch genau diese Unschuld zog mich zu ihr hin, selbst jetzt, während sie erzählte. Ich konnte spüren, wie schwer die alte Beziehung auf ihrer Erinnerung lastete.
Bei mir, sagte ich, war es das genaue Gegenteil. Wir wollten Sex, ich und meine Freundin in der Highschool, aber eigentlich hatten wir keinen, wir haben nur rumgemacht. Einmal ist sie dann trotzdem gekommen, aber eher versehentlich, wir waren nämlich immer noch komplett angezogen. Wer weiß, vielleicht war ihr das noch nie passiert? Denn plötzlich war es, als hätte sie etwas gesehen, worauf sie nicht gefasst gewesen war, und jetzt konnte sie den Blick nicht mehr abwenden. Wir wussten beide, was los war. Wir hatten nicht gewusst, dass es so sein würde. In dem Moment waren wir beide schockiert. Und das wars dann.
Ich sah auf unsere Stiefel im Schneematsch hinunter und erinnerte mich, wie ich damals geglaubt hatte, Sex wäre ein Orakel. Ein Wahrsager, der nur darauf wartete, mich zu durchschauen.
* * *
Während der Schicht ging ich stündlich auf die Toilette und überprüfte mein Handy. Ich scrollte an den neuen Kommentaren und Anfragen vorbei bis nach ganz unten zu Olivias Nachricht. Das Profil, das sie mir geschickt hatte, sah echt aus. Ihre Seite war fünf Jahre alt, ein Hinweis darauf, dass ich es wohl kaum mit jemandem zu tun hatte, der regelmäßig irgendwelche Fake-Profile erstellt und wieder löscht. Zudem wirkten ihre Fotos irgendwie unbefangen, uneitel, geradezu schüchtern. Olivia war klein und schmal und hatte eine dichte Wolke aus lockigem Haar auf dem Kopf, die ihr intellektuelles Gesicht noch zarter erscheinen ließ. Sie trug Schwarz und Marineblau – schlichte hochgeschlossene Kleider und teure Pullover aus Dreifachgarn. Eifrig postete sie Tierbilder, Selbstgebackenes und Heimkonzerte von Hobbymusikerinnen. Einige davon mochte ich sogar, ich hätte es aber nie gewagt, mich online dazu zu bekennen. Dass jemand sich die Mühe gemacht haben sollte, ein Fake-Profil anzulegen, nur um dann eine so brave und humorlose Person zu erfinden, erschien mir unwahrscheinlich, doch genauso unglaubwürdig war, dass diese Frau sich im echten Leben anonyme Nacktfotos nicht bloß ansah, sondern auch noch den Mut aufbrachte, mir eine Nachricht zu schreiben. Andererseits – hatte nicht gerade ihre förmliche Entschuldigung mein Interesse geweckt?
Noch vor zwei Uhr nachmittags erklärte sie sich bereit, mich am nächsten Abend auf einen Drink in Bed-Stuy zu treffen.
* * *
Für den Rest des Tages stakste ich so steif durchs Leben wie eine arglose Spielshowkandidatin, die gerade erst begriffen hat, dass sie vor der Kamera steht. Nach der Schicht holte Romi mich mit dem großen Regenschirm und einem Keks vom Café ab. Obwohl es erst Nachmittag war, wurde die Luft jetzt schon schwer. Auf dem Weg zu Romis Wohnung hatte ich wenig zu sagen und ein hohles Gefühl im Bauch. Schweigend fuhren wir mit dem Aufzug nach oben. Als wir im zwölften Stock ankamen, ließ der Ton mich zusammenzucken. Ich sah auf mein Handy, aber da war nichts.
Lass uns rummachen, sagte ich, als Romi die Tür aufschloss. Ich zog mir Stiefel und Kleider aus und schob sie zu einem Haufen am Boden zusammen. Ich fühlte mich wie in einer Verkleidung und hatte das brennende Bedürfnis, sie abzulegen. Romi verschwand lächelnd im Bad, um den Strap-on anzulegen. Wenn sie sich umzog, war sie lieber unbeobachtet; es gab da ein stilles Einvernehmen in unserer Beziehung, eine Ahnung, das Reden über Sex könnte ihm etwas von seiner Reinheit nehmen.
Die Matratze lag im Schlafzimmer auf dem Teppichboden, daneben stand eine einsame Trinkflasche aus Edelstahl. Ich streckte mich aus und betrachtete meinen Körper. Ich hatte versucht, mir unter den Rollkragenpullis die nackte Olivia vorzustellen. Knabenhaft, fast kindlich. Ich fragte mich, ob Olivia mich perfekt finden würde. Oder tat sie das bereits? Würde sie meinen Körper auch in echt mögen, seine Größe und sein Gewicht, seine Reflexe? Warum wollte ich mich überhaupt mit ihr treffen? Ich bezweifelte, dass sie so aggressiv oder fordernd auftreten würde wie der Mann, der sich in meiner Phantasie vor der Reihe aus wartenden Frauen aufbaute. Ihre sanfte, höfliche Art hatte es mir überhaupt erst ermöglicht, meine Angst zu überwinden und mich mit ihr zu verabreden. Und jetzt? Hatte sie mich wegen meiner Schönheit ausgewählt und aus keinem anderen Grund, gerade so, als wäre ihr das genug?
Romi betrat das Zimmer. Sie trug ein weißes T-Shirt, der Dildo baumelte von ihrer Hüfte wie ein Arm. Sie dimmte das Licht mit zögerlichen Bewegungen, als fiele ihr das, wozu sie fest entschlossen war, nicht ganz leicht. Ihren kräftigen Körper füllte sie so voll und ganz aus, dass er nicht erst durch Sex erfunden werden musste. Sie kniete sich auf die Matratze, ich drehte mich zu ihr um und entspannte jeden Muskel.
Sie fickte mich so, wie es ihr gefiel: als wären wir längere Zeit getrennt gewesen. Den Moment des Eindringens zögerte sie so lange wie möglich hinaus. Ich redete leise auf sie ein, wollte sie zum Sprechen bringen. Das Reich der Dinge, die durch sie geläutert wurden, sollte sich vergrößern. Erzähl mir, was jetzt passiert, flüsterte ich ihr ins Ohr. Sag mir, wie dein Schwanz sich anfühlt. Sag mir, wie ich aussehe. Baby, sagte sie, mehr nicht: Baby. Das Zimmer wurde dunkler und blauer und die Luft schwül, als hätten wir unserer persönlichen Jahreszeit Leben eingehaucht. Ich war den Tränen nah. Ich war so überwältigt, dass ich nicht mehr wusste, ob Lust oder Herzschmerz in mir anschwoll. Ich zog Romi fest an mich. Ihre Brüste, die sie normalerweise unter Sport-BHs oder Bandagen versteckte, wirkten an ihrer athletischen Figur ziemlich groß. Meine Hände lagen an ihrem Rücken, unter dem T-Shirt-Stoff sammelte sich der Schweiß. Ihr nackter Körper war bar jeder Verstellung und keine Offenbarung mehr, sondern eine Erinnerung an das, wofür ich mich immer wieder entschied, an die Sicherheit, die ihre Umarmung bedeutete.
Als ich kam, fühlte es sich an wie ein gewaltiger Hustenreiz, als versuchte mein Körper vergeblich, einen Stein auszustoßen.
* * *
Die Wohnung, die ich mir mit meiner Freundin Fatima teilte, lag fünfzehn Gehminuten von Romis Apartment entfernt. Während unserer gemeinsamen Jahre hatte sich in den drei kleinen Zimmern ein Haufen bunt zusammengewürfelter Möbelstücke angesammelt, einige davon mit Hussen und verschiedentlich gemusterten Kissen, und dazu jede Menge Pflanzen, die Fatima am Leben hielt. Unsere Wohnung verströmte eine muffige Süße, einen Geruch nach Kakao und Leinen. Bis auf einen Kessel auf dem Tresen waren alle Abstellflächen in der Küche leer. Wir pflegten seit vielen Jahren ein kleines Ritual: Wenn wir beide zu Hause waren, setzten wir uns mit einem Tee aufs Sofa.
Fatima war überrascht, mich so spät noch zu sehen. Meistens übernachtete ich bei Romi, wo wir die ganze Wohnung für uns hatten.
Wie war es bei der Arbeit?, fragte Fatima.
Verlegen zeigte ich ihr Olivias Profil.
Eine Stammkundin aus dem Café, log ich. Heute hat sie mir beim Bezahlen ihre Nummer zugesteckt.
Aber warum?, fragte Fatima. Ich meine, was ist mit Romi?
Darf ich jetzt nicht mal mehr eine Handynummer annehmen?
Kommt mir ein bisschen unehrlich vor. Andererseits – Fatima zog die Augenbrauen hoch – weiß ich ja, wie gerne du neue Bekanntschaften machst.
Während sie sprach, hängte sie Teebeutel in zwei große Becher. Sie war ein hübsches, pragmatisches Mädchen, das zuverlässige Männer anzog. Wie mühelos sie ihr seelisches Gleichgewicht hielt, fand ich ebenso erstaunlich wie beneidenswert. Sehr oft wollte sie genau das, was man wollen sollte, und wenn sie es dann bekam, konnte sie es genießen. Beispielsweise einen Freund, der sie vergötterte. Zu der Zeit war sie in einen Programmierer namens Jeremy verliebt.
Und? Wie findest du sie?, fragte ich. Olivia. Die Frau.
Eigentlich nicht dein Typ.
Du meinst, weil sie so hetero aussieht?
Ja, lachte Fatima und goss Wasser aus dem Kessel auf. Das wollte ich damit wohl sagen.
Ich fühle mich irgendwie seltsam, sagte ich. Ich weiß auch nicht.
Was soll das heißen? Stimmt bei dir und Romi irgendwas nicht?
Ich nahm Fatima die Becher ab und trug sie ins Wohnzimmer. Ich hatte unbedingt über Olivia sprechen wollen, aber nun wünschte ich mir, ich hätte den Mund gehalten. Dass ich Fatima angelogen und die Sache mit den Nacktfotos unterschlagen hatte, gefiel mir gar nicht, und noch weniger gefiel mir, dass sie wusste, was ich vorhatte. Das Schlimmste war, dass sie sich kein bisschen wunderte.
Woran merkst du, fragte ich ohne Überleitung, dass du mit jemandem schlafen willst?
Das weißt du genauso gut wie ich.
Nein, im Ernst. Gibt es da was Bestimmtes? Gewisse Anzeichen? Oder ahnt man nichts, bis die andere Person den Anfang macht oder es sich einfach so ergibt?
Eve, genauso gut könntest du dich fragen, woran du gemerkt hast, dass du lesbisch bist.
Ich lachte. Woran hatte ich gemerkt, dass ich lesbisch war? War ich lesbisch? Mit fünfzehn hatte ich mich in ein Mädchen verliebt, das im selben langweiligen Kaff in Massachusetts aufgewachsen war wie ich. Ihre Mutter besaß eine riesige Farm nördlich der Stadt. Nachmittags gingen wir in die Scheune, um zu knutschen und an unseren Shirts herumzuzupfen. Sie war sehr schön, und sie war mir näher als alle anderen. Wenn ich mit ihr zusammen war, spürte ich eine Zielstrebigkeit, wie ich sie nur vom Langstreckenlaufen kannte, eine Ahnung, dass ich ans Ziel kommen und einen sauberen Sieg hinlegen würde; dann verstand ich, wozu mein Körper geschaffen war. Auf unserem Morgenspaziergang hatte ich Romi von dem Tag erzählt, als ich meine Bestimmung zum ersten Mal erkannt und erfüllt hatte. In den zehn Jahren, die seither vergangen waren, hatte ich überall und in jedem weiblichen Körper nach dieser köstlichen Gewissheit gesucht.
Damals war es mir unmöglich gewesen, meine Gefühle mit den Folgen in Einklang zu bringen – damit, dass das Mädchen nach ihrem ersten Orgasmus unsere Freundschaft aufgab, die vielen gemeinsamen Jahre, die Stunden, die wir im See geplanscht, und die Nächte, in denen wir uns Taschenlampen ans Kinn gehalten hatten, die vielen Stunden auf dem Fußballplatz, die im selben Bad zum Trocknen aufgehängten Shorts und Badeanzüge, die Schuhe im Partnerlook, in denen wir auf den immer gleichen Wegen durch den Wald gelaufen waren. Nicht auszuschließen, dass Olivia diesem Mädchen ein kleines bisschen ähnlich sah.
Weißt du, sagte ich zu Fatima, ich habe keine Ahnung. Ich glaube, zuerst muss ich bekommen, was ich will, und dann kann ich erklären, warum ich es wollte oder ob es gut ist.